Tagebuch Samstag, 5. Dezember 2020 – Keks- und Lesetag
Zu. Viele. Kekse. Gegessen. (Ächz.)
Ansonsten nicht geputzt, nicht nachgedacht, keine Bewerbungen geschrieben, nur mit Tee auf dem Sofa gelungert und gelesen. Ein Geschenk zu meiner Diss war ein Buch (Danke, Mama von Nathalie), das ich schon mal hier im Blog erwähnt hatte: Das Buch Alice. Es liest sich sehr entspannt weg, wenn mich auch die populärwissenschaftliche Schreibe manchmal irritiert; zu vielem werden Endnoten angeboten, bei genauso vielem aber auch nicht, ich sehe da noch kein System.
Um die Atmosphäre im Wien der 1920er-Jahre zu verdeutlichen, zitiert Autorin Urbach sehr oft ein anderes Buch: Die Tante Jolesch von Friedrich Torberg, auch mal im Blog erwähnt. Das Werk kann man quasi komplett zitieren, es findet sich immer etwas Passendes, aber gestern las ich vergnügt den folgenden Abschnitt, der dazu diente, die Stimmung im Jahr 1918 zu verdeutlichen:
„Der Kaiser verlor zwar über Nacht seine Autorität, doch in jüdischen Familien überlebten die Hierarchien, Revolution hin oder her, wie folgende Anekdote über Paul und Egon Erwin Kisch zeigt. Der rasende Reporter und glühende Kommunist Egon Erwin Kisch versuchte am 12. November 1918 mit der Roten Garde in das Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse einzudringen und stieß im Treppenhaus auf seinen Bruder Paul, Wirtschaftsredakteur der Presse. Paul versperrte Egon den Weg mit den Worten:
„Was willst du hier, Egon?“
„Das siehst du ja. Wir besetzen eure Redaktion.“
„Wer – wir?“
„Die rote Garde.“
„Und warum wollt ihr gerade die Presse besetzen?“
„Weil sie eine Hochburg des Kapitalismus ist.“
„Mach dich nicht lächerlich und schau, dass du weiterkommst.“
„Paul, du verkennst den Ernst der Lage. Im Namen der Revolution fordere ich dich auf, den Eingang freizugeben. Sonst …!“
„Gut, Egon. Ich weiche der Gewalt. Aber eins sag ich dir: ich schreib’s noch heute der Mama nach Prag.“Nach dieser furchteinflößenden Drohung zog sich Egon Erwin Kisch zurück. Die Authentizität dieser Geschichte ist bezweifelt worden, obwohl die Neue Freie Presse tatsächlich von der Roten Garde kurzfristig besetzt wurde. Zeitgenossen, die Mama Ernestina Kisch noch persönlich kannten, beschwören den Wahrheitsgehalt.“
Karina Urbach: Das Buch Alice: Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten, Berlin 2020, S. 41. Das Zitat im Zitat: Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, Wien 1986, Teil 1 und 2 (Erstausgabe 1975), S. 29.
Aus dem Buch auch gelernt: Alice Urbach etablierte 1932 Wiens ersten „Lieferservice für fertig zubereitetes Essen“. (S. 61)