Wir mäandern um die Sammeltasse

Ich erwähnte vor einigen Wochen, dass ich mal wieder Geschirr aus der alten Heimat in den Süden geschleppt habe. Dieses Mal: Sammeltassen. Und weil ich mich neugierig ein bisschen für diese seltsamen Teile interessierte, reiche ich meine bescheidene Recherche hier an euch weiter. Bescheiden, weil ich gerade nicht in der Bibliothek sitzen möchte und nur weniges zum Ausleihen bzw. online gefunden habe. Im ZI hätte ich mich jetzt stundenlang in die Porzellanherstellung im 19. Jahrhundert vertieft, aber das muss leider ausfallen.

Die Wikipedia ist ziemlich weit vorne mit ihrem Eintrag, aus dem ich mal zitiere:

„Die Tradition der Sammeltasse geht zurück auf die Zeit des Biedermeier. Im frühen 19. Jahrhundert wurde Porzellan preiswerter, und es entwickelte sich in bürgerlichen Kreisen der Brauch, Tassen zu sammeln oder zu besonderen Anlässen zu verschenken, auch als Freundschaftsgabe und oft mit namentlicher Widmung. Als Souvenir waren Sammeltassen wie sonstiger Nippes aus Porzellan bereits im 19. Jahrhundert weit verbreitet. […] Auf die zunehmende Lust am Sammeln von Geschirr reagierten die Hersteller mit immer umfangreicheren Modellpaletten. Die Porzellanmanufaktur Fürstenberg entwickelte zum Beispiel im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts über einhundert verschiedene Tassenformen und entsprechend viele Dekore. 1860 umfasste der lieferbare Bestand 91 Modelle, und 1926 wurden rund 200 zum Teil hochwertig dekorierte Sammeltassen und die um 1900 aufgekommenen kleineren Mokkatassen angeboten.

Die Blütezeit der Sammeltassen im 20. Jahrhundert währte bis in die 1930er Jahre. Nach wie vor wurden sie nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt und waren beliebte Geschenke für die Aussteuer oder zum Geburtstag. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Tradition noch für zwei Jahrzehnte fort, bis sie in den 1970er Jahren schließlich endgültig an Bedeutung verlor. Für ältere Stücke entwickelte sich dann in den 1990er Jahren ein Sammlermarkt. Zugleich kreierten Künstler neue, dem Zeitgeschmack in Form und Dekor angepasste Einzelgedeck-Kollektionen, deren Erfolg aber nicht zuletzt von dem Verlangen junger Käufer nach spülmaschinenfestem Gebrauchsgeschirr bestimmt wird.“

In den wenigen Literaturangaben dort findet sich ein Katalog zur Kunst des Biedermeier, der netterweise bei mir zuhause im Regal steht. Den hatte ich noch vor dem Studium erworben, weil ich das Titelbild so mochte und weil ich vermutlich gerade aus der Hamburger Kunsthalle gekommen war, deren Sammlung zum 19. Jahrhundert ich sehr mag, allen voran natürlich Herrn Leibl, ich weiß, ihr könnt das nicht mehr hören, aber ich nutze jede Gelegenheit, das Gemälde der drei Frauen in der Kirche zu verlinken weil toll.

Zurück zu den Sammeltassen. Im Katalog gibt es ein Kapitel zur Kunst des Biedermeier, wo neben Gemälden, Skulpturen und Architektur auch über das Kunstgewerbe gesprochen wird, also über Möbel, Glas und Porzellan. Ich lernte, dass die europäischen Porzellanmanufakturen zur Zeit des Wiener Kongresses und danach Blütezeiten erlebten. Fürstenhöfe orderten „umfangreiche prunkvolle Services“, auf denen Ereignisse und Orte im Leben des damit zu Ehrenden abgebildet waren.

„In Bayern wurde die Manufaktur aufgewertet, indem man die Malerei von der Produktion trennte. Während letztere in Nymphenburg verlieb, wurde die Malerei nach München verlegt. In der räumlichen Nähe der Gemäldegalerie und der Akademie der bildenden Künste wurde sie in den Rang einer ‚Kunstanstalt‘ erhoben. Alle Löhne der Maler wurden erhöht, ein Generaldirektor ernannt.“ [1]

Die Blüte war nur von kurzer Dauer, die Aufträge von oben konnten die Manufakturen finanziell nicht über Wasser halten. Man verlegte sich auf günstiger zu produzierendes Steingut, das im späten 18. Jahrhundert erfunden worden war. Erst in den 1830er-Jahren erfolgten größere, betriebswirtschaftliche Umgestaltungen in diversen Manufakturen.

„Einzelne Erfindungen, größere und kleinere Verbesserungen im Produktionsablauf gab es aber immerhin schon im Biedermeier. So wurde in Meißen beispielsweise 1817 der Etagenofen eingeführt, wordurch die Produktion allmählich vervierfacht, Personal- und Heizkosten eingespart werden konnten. Im selben Jahr hat dort Gottlob Kühn das Chromoxydgrün als neue Unterglasurfarbe entwickelt, offenbar gleichzeitig mit Georg Frick in Berlin. Ein wichtiger Schritt hin zu billiger Produktion war zehn Jahre später Kühns Erfindung des Glanzgoldes, das nicht nur kostbares Material einsparte, da es nicht poliert werden musste. Es ist dies der erste aus merkantilen Gründen bewusst herbeigeführe Qualitätsverlust.“ [2]

Der Aufsatz erwähnt, dass zu den damals produzierten Kaffeegeschirren eine Kaffee- und eine Teekanne gehörten, ein Milchkännchen, eine Zuckerschale sowie Tassen mit Untertassen. Kuchenteller gehörten noch nicht dazu, sie wurden erst im 20. Jahrhundert Standard, als die Sammeltassen nicht nur ein Geschenk, sondern wirklich ein Gebrauchsgegenstand wurden. Als Dekor setzte sich, gerade für die günstigere Massenware, hauptsächlich die Blumenmalerei durch. Bei den hochwertigeren Geschenktassen des 19. Jahrhunderts gab es mehrere Ausfertigungen:

„Ganz besonders verbreitet waren bei den Geschenktassen Landschaftsdarstellungen oder Städteansichten, die dann zumeist die vordere Hälfte der Tasse vollständig bedeckten. Berühmte Baudenkmäler waren beliebt, auch Innenansichten. Ein großer Teil der Erinnerungstassen enstand aber durch unmittelbaren Auftrag, wobei Porträts, das eigene Wohnhaus oder gar das Wohnzimmer Thema der Darstellung sein konnten, oder auch Blumen so angeordnet wurden, dass die Anfangsbuchstaben ihrer Namen einen bestimmten Text ergaben.“ [3]

Müßig zu sagen, ich erwähne es trotzdem: Alleine dass ein Wohnzimmer zur Verfügung stand, weist den zu Beschenkenden als Teil des Bürgertums aus. Er oder sie scheint in einem Haushalt zu wohnen, der es sich leisten kann, mehrere Zimmer zu haben, darunter das repräsentative Wohnzimmer. Ich verweise auf eine alte Hausarbeit von mir, wo es auch nebenbei um Wohnkultur bzw. das Wohnzimmer geht, hier die S. 16/17.

Die Wikipedia erwähnt, dass die Sammeltasse bis in die 1930er-Jahre hinein beliebt war. Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin Teil der bürgerlichen Selbstinszenierung war; viele Arbeiterfamilien hatten weder das Geld noch den Raum, um sich dieses dekorative Geschirr anzuschaffen. Gerade Arbeiter bzw. Handwerker in Städten zogen oft um, arbeiteten von zuhause oder vermieteten Schlafstellen ihrer engen Wohnungen unter, um überleben zu können. Nur die unteren Beamten- und Angestelltenschichten oder Arbeiter mit wenigen Kindern hatten die finanziellen Möglichkeiten, größere Wohnungen zu bewohnen.

„So heißt es in einem Bericht über die kleinbürgerliche Behaglichkeit eines Münchner Graveurs aus dem Jahre 1907/08, der eine Ehefrau und drei Kinder zu versorgen hatte: ‚Die dreiräumige Wohnung ist in dem ersten Stockwerk eines Rückgebäudes gelegen und mit eigenem Vorplatz und Abort für sich abgeschlossen. Die Wohnstube hat 3,30 mal 5 Meter Bodenfläche und, ähnlich den anderen Räumen, 2,75 Meter Höhe. Sie hat zwei mit hellen Gardinen versehene Fenster nach verschiedenen Seiten und ist mit hübschen, gut erhaltenen Möbeln ausgestattet. In der Mitte der Stube steht ein Sofa mit einem Tische, an der Seite ein Bett. Drei Schränke verteilen sich auf die Wände, eine Nähmaschine, einige Stühle und mancherlei Bilder und Nippsachen vervollständigen das Bild. Die gut gelüftete, aber etwas feuchte Schlafstube ist nur 3 mal 4,30 Meter und einfenstrig. Sie ist mit zwei großen Betten und einem Kinderbett, einem Kinderwagen und dem sonst höchst selten vorhandenen Waschtisch reichlich ausgefüllt. Hiernach ist in dieser Wohnung für jedes Familienmitglied ein besonderes Bett vorhanden, was hervorgehoben zu werden verdient. Der dritte Raum ist die Küche von 2,70 mal 3,25 Meter Größe. Hier nimmt die Familie auch ihre Mahlzeiten ein. Das ganze Hauswesen macht den Eindruck einer guten Führung und kleinbürgerlichen Behaglichkeit.‘“ [4]

Bürgerliche Familien verfügten über fünf bis acht Zimmer, die teilweise eher repräsentativen Charakter hatten. Ich las vor kurzem Gabriele Tergits Effingers auch im Hinblick auf derartige Schilderungen sehr fasziniert durch: Sie gibt gerade am Anfang des Buchs, das Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts stattfindet, Beschreibungen von Möbeln, Räumen, Kleidung und Salons viel Raum. Der Erste Weltkrieg zerstörte tradierte Gesellschaftsmodelle, auch durch die folgende Inflation. Ebenfalls bei den Effingers las ich, dass nun auch viele bürgerliche Familien Zimmer untervermieteten, um finanziell über die Runden zu kommen.

In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre entstanden vielerorts bezahlbare Wohnungen für Arbeiter, während gleichzeitig die vielzimmerigen Häuser des Bürgertums blieben oder wieder nur von einer Familie bewohnt wurden. Ebenso herrschte ein Nebeneinander von unterschiedlichem Design und Gestaltung, elitärer Ästhetik und Massenkultur. In der Alltagsgestaltung, also auch bei Geschirr, setzte sich eine moderne Formensprache durch, die auch unter den Nationalsozialisten nicht rückgängig gemacht wurde. Ich habe in den letzten Jahren diverse Bände an Kunstzeitschriften durchgeblättert und fand auch das Konsumgüterdesign stets spannend. Neben den ollen altdeutschen Schrankwänden gab es durchaus schlicht gestaltetes Geschirr, bei dem ich nicht hätte sagen können, dass es 1938 entworfen wurde, wenn ich es nicht gewusst hätte. Auch in den diversen Jahrgängen von technischen Zeitschriften, die ich für die Diss las, fielen mir oft modern gestaltete Anzeigen auf, aus denen ich leider keinen Twitter-Thread gemacht habe (1, 2, 3, 4).

Der Genuss von Kaffee war inzwischen auch nicht mehr den bürgerlichen Salons vorbehalten; in einer Schilderung aus der Zwischenkriegszeit, Anfang der 1930er-Jahre, findet sich die Erwähnung von Kaffee oder sogar Kuchen als etwas Besonderes, das neben der notwendigen Kalorienaufnahme zelebriert wurde. [5] Ob dafür auch besonderes Geschirr benutzt wurde, habe ich bei meinen, wie erwähnt, recht oberflächlichen Recherchen nicht herausfinden können, aber ich fand es spannend zu lesen, dass selbst in Notzeiten die knappen Finanzmittel auch für etwas nicht Überlebenswichtiges genutzt wurden. Dabei wandelten sich die Einkäufer: Vor dem Ersten Weltkrieg gaben Arbeiterhaushalte für Genussmittel wie Alkohol, Kaffee, Tee, Tabak und Süßwaren mehr aus als die bürgerlichen; nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich dieses Verhalten um. [6]

Der Zweite Weltkrieg sowie die Erfahrungen des Nationalsozialismus veränderten die Gesellschaft erneut, der Wunsch, zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückzukehren, sorgte vermutlich auch dafür, dass die 1950er-Jahre im Rückblick wie eine Rückkehr zum Puppenstubenwohnen wirken. Wenn ich die Forschung halbwegs richtig im Blick habe, geht man heute davon aus, dass das sogenannte Wirtschaftswunder erst am Ende des Jahrzehnts spürbar war, davor herrschten die Erfahrungen von Mangel, Hunger und Einschränkungen vor.

Im eben schon zitierten Buch Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre werden Haushaltsbücher seit Ende der 1940er-Jahre ausgewertet. Im Juli 1949 kam die vierköpfige Familie Z. auf 500 DM Monatsverdienst, in den 200 DM Weihnachsgeld einflossen; in normalen Monaten reichte das Geld anscheinend kaum aus, es wurde Geld von Eltern und Schwiegereltern geborgt. Im Haushaltsbuch wurden die üblichen Ausgaben notiert. Zum Tanz in den Mai 1950 gönnte man sich drei Glas Bier, zehn Zigaretten, Bonbons, Eintritt und Garderobe für insgesamt 5,30 DM. Im September 1949 erhielt Herr Z. zum 25. Geburtstag „zwanzig Zigaretten und zwei Paar Socken, Frau Z. vierzehn Tage später eine Sammeltasse, der Sohn zum vierten Geburtstag 1950 ein selbstgebautes Dreirad und zwei Paar Kniestrümpfe.“ [7] Eine Dissertation, die ich sehr gerne gelesen habe, beschreibt das Alltags- und das Sonntagsgeschirr, das im Laufe der 1950er-Jahre in vielen Haushalten angeschafft wurde. Dort wird der Preis einer Sammeltasse zweiter Wahl – also Tasse, Untertasse und nun auch Kuchenteller – mit 1,50 DM angegeben, beim Kaufhaus Hertie, „um 1955“. [8]

Hier trifft der Begriff der Sammeltasse, also eines zu sammelnden Sets, wieder zu: Wo im 19. Jahrhundert Erinnerungsstücke gesammelt wurden, dienen die günstigen Tassen nun schlicht dazu, ein Service zu vervollständigen. In der eben zitierten Diss berichten viele Frauen davon, ihr Geschirr stückweise eingekauft zu haben; gerade Mädchen wurde spätestens ab der Konfirmation Hausrat für die Aussteuer geschenkt. Das kenne ich auch noch von mir: Meine Schwester und ich durften uns ein Muster für Silberbesteck aussuchen, das wir nach und nach von allen Verwandten geschenkt bekamen. Ich erzählte das schon einmal im Blog: Wir konnten uns auf kein Muster einigen und entschieden uns für das, das bereits unsere Mutter besaß. Was sie und ihre Mutter sehr freute, denn letztere besaß dasselbe.

Ein Telefonat mit einer Zeitzeugin – aka dem Mütterchen – später kann ich diese Zeilen tippen: Meine Omi, also die Mutter meiner Mutter, kam mit ihrer Schwester und den ingesamt drei Kindern als Flüchtling aus dem ehemaligen Ostpreußen über die DDR in die Bundesrepublik. Ab 1951 arbeitete Omi als Haushälterin bei einer etwas begüterten Familie; meine Mutter erinnerte sich daran, dass sie neben dem Gehalt auch des Öfteren praktische Gegenstände geschenkt bekam, „denn wir hatten ja nur die Dinge, die wir am Leib trugen, als wir ankamen.“ Ab und zu erhielt Omi auch Geschenke, die „nur für sie“ bestimmt waren – schöne Dinge, die nicht alltags benutzt wurden. Das Silber, dessen Muster anscheinend drei Generationen gefällt, war ein Geschenk der Arbeitgeberin, die Omi davon sechs Gabeln und sechs Löffel schenkte, meine Mutter tippte auf 1956. Sie selbst begann 1958, das Silber zu sammeln; sie war 18 und brauchte eine Aussteuer. Weil sie immer noch sehr beengt lebten, riet meine Omi ihr dazu, eher Besteck als Tischwäsche zu sammeln, schlicht aus dem Grund, weil es weniger Platz wegnahm. Meine Mutter war damals schon berufstätig und investierte nun also in Besteck. Von wem welche Sammeltasse war, die nun bei mir ist, wusste sie allerdings nicht mehr. Sie beschrieb es genau so, wie ich es auch in den Büchern gelesen hatte: Die Tassen waren ein beliebtes Mitbringsel, solange man noch kein vollständiges, zueinander passendes Service hatte, denn durch ihre Einzigartigkeit konnte man sie wild durcheinander aufdecken.

Unser Silber wird übrigens weiter lustig ergänzt, meine Fischbestecke sind aus dem Interweb, die hatte niemand in der Familie im erbbaren Bestand. Im Zuge des Musteraussuchens lernte ich den Begriff der „Nachkaufgarantie“, der mich seitdem fasziniert, der für mein Silber aber leider nicht mehr gegeben ist, daher Ebay.

In einem weiteren Buch fand ich die Sammeltasse in einer Beschreibung zu Kaffeegenuss in den 1950er-Jahren, der noch nicht alltäglich war. Die Beschreibung des Mahlens, des Aufdeckens der guten Tischdecke und der Benutzung der Sammeltasse statt der alltäglichen zeigt hier, dass die Sammeltasse auch mehr sein konnte als das ständig genutzte Geschirr. So kenne ich es auch von zuhause: Die Sammeltassen standen im Esszimmer- und nicht im Küchenschrank und wurden, wenn überhaupt, nur Sonntags oder mit Gästen genutzt.

„In der so genannten ‚schlechten Zeit‘, als es fast überall nur Ersatzkaffee gab, Muckefuck genannt, hat meine Tante Lene arg gelitten. Sie trank leidenschaftlich gern Kaffee – echten Bohnenkaffee –, doch der war nach dem Krieg nur sehr schwer zu bekommen. Tante Lene tauschte daher so manches gute Stück aus ihrem Wäscheschrank gegen eine kleine Tüte ‚richtigen‘ Kaffee ein. Wenn sie diesen Kaffee dann aufbrühte, war es wie ein Ritual. Immer wieder roch sie kurz mal in die Tüte. Sie glich in dem Moment einem leidenschaftlichen Raucher beim Inhalieren. Vorsichtig nahm sie dann eine ganze Bohne in den Mund und zerkaute sie […]. Dann holte sie die hölzerne Kaffeemühle aus dem Regal und schüttete so viel Kaffee hinein, dass dieser für zwei Tassen reichte. Noch immer auf der Bohne kauend, klemmte sie die Mühle, auf einem Stuhle sitzend, zwischen ihre Beine und fing langsam an zu mahlen. Während dieser Zeit summte auf dem Herd schon der Wasserkessel. Das Kaffeemehl kam nun in eine kleine Kanne, und aus der Mühle wurde mit einem Pinsel jedes verborgene Stäubchen herausgeholt. Das sprudelnd kochende Wasser goss Tante Lene schließlich über den gemahlenen Kaffee. Der Duft, der daraufhin durch den Raum zog, machte sie fast – heute würde man sagen: high. Wie immer, hatte sie eine schöne Tischdecke aufgelegt. Nun holte sie eine ihrer Sammeltassen aus dem Schrank. Dann endlich wurde der gebrühte Kaffee durch ein Sieb gegossen, und nun hatte sie ‚Genuss pur‘ – zwei Tassen voll! Am Tag darauf wurde das Kaffeemehl von ihr noch einmal aufgebrüht. Ein drittes und schließlich ein viertes Mal kochte sie den Kaffeesatz in einem kleinen Topf auf. Dann kam keine Decke mehr auf den Tisch, und das nun nur noch leicht gefärbte Wasser wurde aus einer einfachen Tasse getrunken.“ [9]

In anderen Zeitzeugen-Interviews werden die Muster der Tassen beschrieben, weswegen ich oben die Blumen und den Goldrand erwähnte. Alltagsgeschirr war meist schlicht, sowohl in Form als auch in Farbigkeit oder Verzierungen. Beim Sonntagsgeschirr wurde allerdings Wert auf Dekor gelegt, das nicht als modisch angesehen wurde, sondern allein durch das Material der Goldauflage einen „beständigen und dauerhaften Wert“ symbolisierte. Im eben zitierten Text wird gerade das Gold bei Sammeltassen erwähnt, das diesem eher preiswerten Stück einen imaginierten Wert einschrieb. [10]

Seit den 1970er-Jahren ist der Kaffee in Westdeutschland ein Alltagsgetränk, Jugendliche und junge Erwachsene konnten dem Getränk allerdings lange Zeit nichts abgewinnen, erst Ende der 1980er-Jahre wandte sich die Werbung dieser Zielgruppe zu. Ich erinnere mich vage an Werbespots für irgendeinen schwarz verpackten Kaffee, dessen Name mir nicht mehr einfällt. Twitter sei Dank, Jacobs Swing hieß das Zeug, hier ein schlimmer Artikel von 1987 dazu. Da Kaffee keine Besonderheit mehr war, war auch kein besonderes Geschirr mehr nötig. Über den Niedergang der Sammeltasse konnte ich nicht wirklich etwas finden, obwohl mir Google Scholar einen kleinen Snippet anzeigt, laut dem angeblich schon in den 1970er-Jahren Jugendliche den Kram ihrer Eltern schnafte fanden und ironisch benutzten. Hm. Spannender fand ich den Hinweis auf die neuen Sammeltassen, die keine sind: Gerade in den 80er-Jahren begannen Jugendliche und junge Erwachsene, auch hier eher wieder Mädchen, Gläserserien von Leonardo oder Ritzenhoff zu sammeln. Auch die Swatch wurde von vornherein als Sammelobjekt aufgelegt, das durch seinen eher günstigen Preis dazu verführt, mehrere Modelle zu besitzen. [11] Und moderne Espresso-Marken bieten ganz selbstverständlich auch Geschirr an: Das hat dann zwar keine Blumen mehr oder Goldrand, wird aber vermutlich auch nur zum Zweck des Kaffeetrinkens benutzt.

Auch beim Googeln entdeckt: ein Buch über Altenpflege, in dem Techniken beschrieben werden, wie man ältere Menschen geistig aktivieren kann. Darin findet sich eine stichwortartige Liste von Fragen, mit denen das Gedächtnis angestupst werden soll: Wann haben Sie Sammeltassen bekommen? Wie sahen sie aus? Welche Muster waren abgebildet? Kennen Sie noch den Hersteller? Und abschließend soll eine Kaffeetafel gedeckt werden, um auch andere Sinne anzusprechen.

Ich persönlich fand die Sammeltassen jahrelang albern, aber jetzt gerade mag ich sie gern. Im Gegensatz zu meinen Eltern stehen sie bei mir wild gemischt: ein Teil liegt in den Ikea-Körben, in denen der Großteil meines Sonntagsgeschirr liegt – das von Oma mit dem Goldrand –, ein Teil steht in der Küche und wird täglich benutzt, übrigens genau wie mein Silber („Für gut“). Nur für die Saucieren und riesigen Platten habe ich alltags eher wenig Verwendung, die kommen aber in der Spargelzeit auf den Alltagstisch. Momentan wechsele ich beim täglichen Teetrinken zwischen einer blau- und einer gelbgeblümten Sammeltasse hin und her, Kaffee habe ich allerdings noch nicht aus ihnen getrunken. Aber vielleicht mache ich das mal, wenn wir uns alle wieder besuchen können: Ich backe wild Kuchen und lade so viele Menschen ein, wie ich unterschiedliche Tassen habe. Auf Spotify wird die Playlist „Wirtschaftswunder“ gebastelt und dann lassen wir es uns gut gehen. Mit Goldrand.

Nachtrag: Die Kunsthistorikerin und Kunstsachverständige Diana Lamprecht bloggte vor Kurzem über bayerisches Nachkriegsporzellan, danke für den Hinweis per Twitter.

[1] Himmelheber, Georg: „Kunst des Biedermeier“, in: Kat. Ausst. Kunst des Biedermeier 1815–1835, Bayerisches Nationalmuseum 1988/89, München 1988, S. 20–52, hier S. 46.
[2] Ebd., S. 46/47.
[3] Ebd., S. 49.
[4] Saul, Klaus u. a. (Hrsg.): Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 1982, S. 88/89, zitiert bei Von Saldern, Adelheid: „Schlafgänger, gute Stube und Frankfurter Küche. Wohnkulturen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 9 (2020), S. 27–38, hier S. 31.
[5] Wildt, Michael: Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt am Main 1996, S. 19.
[6] Ebd., S. 22.
[7] Ebd., S. 42/43.
[8] Günter, Bettina: Blumenbank und Sammeltassen. Wohnalltag im Wirtschaftswunder zwischen Sparsamkeit und ungeahnten Konsummöglichkeiten, Berlin 2002, S. 283.
[9] Sigmund, Monika: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten, Berlin/München/Boston 2015, S. 31.
[10] Günter 2002, S. 297/298.
[11] Mohr, Ernst: Die Produktion der Konsumgesellschaft. Eine kulturökonomische Grundlegung der feinen Unterschiede, Bielefeld 2020, S. 277/278.