Tagebuch Freitag, 22. Oktober 2021 – Konzertbesuch
Und zwar ein richtiger, nicht nur so vom Balkon runtergucken.
Der Tag und die Woche waren eher stressig gewesen, ich war latent genervt und überlegte ernsthaft, zu Fuß zur Location zu gehen, um den Kopf freizukriegen, aber dann hätten mich meine Nachbarn gehasst, weil ich vermutlich wie ein Fitnessstudio geduftet hätte. Das kam eh irgendwann nicht mehr in Frage, weil ich noch auf meine geliebte Biokiste wartete, die immer Freitags geliefert wird. Bisher kam sie immer um die Mittagszeit, einmal gegen 15 Uhr, aber gestern wurde es 18 Uhr, und sie war immer noch nicht da. Spätestens um 18.30 wollte ich aufbrechen, denn der Veranstalter hatte schon im Vorfeld kundgetan, dass die Impfausweise bzw. Testergebnisse geprüft würden, man solle etwas mehr Zeit für den Einlass einplanen. Um 18 Uhr 15 whatsappte ich meiner Nachbarin, ob sie meine Kiste entgegennehmen könnte – ich konnte nicht zu ihr hoch, weil natürlich genau dann die Isarländer Kistenjungs geklingelt hätten, ist klar –, also ob es okay wäre, wenn ich unten einen Zettel an die Haustür usw. Sie sagte natürlich ja, ich malte den Zettel, warf mich in die Konzertklamotte – und in dem Moment, wo ich aus der Tür wollte, kam die Kiste. 18.26 Uhr. Schnell noch den Salat in den Kühlschrank gelegt, aber dann hurtig los, denn Herrn Levit lässt man nicht warten.
Der Einlass war stressfrei, ich zeigte die Corona-App, es wurde genau aufs Datum geschaut und mit dem Perso verglichen, und dann durften F. und ich rein. Sein Mütterchen wartete schon drinnen auf uns, wo F. drei alkoholfreie Sekte anschleppte, denn bei über 1000 Leuten und nur 3G und nicht 3G+ darf angeblich kein Alkohol ausgeschenkt werden. Ich komme nicht mehr mit mit den Vorschriften, ich gehe einfach weiterhin so gut wie nirgends hin und trage FFP2-Masken, fertig.
Das Konzert sollte eigentlich schon im April stattfinden und eigentlich sollte es die Waldsteinsonate geben sowie „The people united will never be defeated“. Besonders darauf hatte ich mich schon sehr gefreut, denn das Stück hatte ich durch Levits Twitterkonzerte kennen- und schätzen gelernt. Stattdessen gab es 24 Fugen und Präludien von Schostakowitsch (1950/51), wofür ich im Nachhinein sehr dankbar war. Von Schostakowitsch kannte ich nur eine Oper und wusste daher gar nicht, was mich erwartet. Aber das ist ja eine Geisteshaltung, die einen seit Monaten durch die Pandemie begleitet. Und alle so yeah.
Sobald es losging, kamen wie erwartet die Tränen, war klar, damit hatte ich schon gerechnet. In solchen Momenten denke ich immer an meine Gesangslehrerin, die meinte, das sei so toll, dass ich so nah an meinen Emotionen wäre. Aber das nervt halt auch. Wo andere denken „Da sitzt ein Mann am Flügel und macht Musik“, ist es bei mit immer „Da VOR MEINER NASE sitzt ein Mann DEN ICH VON DUTZENDEN TWITTERKONZERTEN KENNE DIE ECHT OFT DEN TAG GERETTET HABEN und macht MÜSIQUE OMG SO SCHÖN ACH HERRLICH TASCHENTUCH ACH NEE MASKE“. Okay, Maske hat sich vielleicht bald erledigt, aber gestern wurde die im Saal von allen brav getragen. Auch Herr Levit kam mit schwarzer medizinischer auf die Bühne und legte sie lässig auf den Steinway, bevor er spielte.
Ich versuche hier gar keine Beschreibung. (Was hab ich eigentlich in zwei Semestern Musikwissenschaft gelernt?) Es gab Fugen und Präludien, bei denen ich den Atem anhielt, andere, bei denen ich dachte, gleich brechen Finger oder Tasten, wieder andere, bei denen ich doch etwas ratlos abschweifte, aber dann hatte mich Levit gleich wieder. Ich war völlig gebannt von seiner Spannung, die er selbst zwischen den Stücken irgendwie aufrecht erhielt. Erst Ende des zweiten Teils ging mir so langsam die Puste aus, auch das Publikum wurde leider immer unruhiger. Das Konzert begann um 8 und ging ernsthaft bis 23 Uhr. Ne Menge Musik auf harten Stühlen. Ich war recht dankbar, dass es keine Zugabe gab; erstens war das wirklich genug, und nach diesem dicht geschlossenen Zyklus hätte alles andere deplatziert gewirkt. So gab es Applaus, Blumen und dann gingen F. und ich zu Fuß ein Stündchen durch München.
Die Fuge 15 in Des-Dur war die, bei der ich Knochenbrüche erwartete. Ein völlig irrer Ritt, bei dem danach der halbe Saal hörbar ausatmetete und erleichtert war, dass wir da alle heil durchgekommen waren. Und direkt danach kam das Präludium in b-moll, bei dem dann nochmal die Tränen flossen. Warum auch immer fühlten sich diese beiden Stücke für mich wie ein Bild der Pandemie an: zunächst die Wut, das Unverständnis, das Zusammenreißen, das dann nicht mehr haltbar ist und irgendwann haut man auf den Tisch, an die Wand, brüllt vom Balkon, keine Ahnung. Bam. Huch? Was jetzt? Verdammt. Und nach einer kurzen Atempause guckt man um sich rum, wie es einem so geht, wie es den Lieben geht – und wagt sich vorsichtig wieder vor die Tür, zu Treffen mit mehreren Menschen. Und irgendwann in ein Klavierkonzert. Das Präludium hörte sich für mich so an, als wäre die Spannbreite der Oktaven nicht sehr weit, noch begrenzt, da sind noch eine Menge Tasten rechts und links der Hände, da ginge noch was. Aber noch nicht. Jetzt noch nicht. Noch reißen wir uns zusammen und nehmen mit, was geht, ohne es zu überreizen. Wie Abende mit einem Mann am Flügel, der Musik macht.