Dienstag, 11. Oktober 2022

Mein erster Kinobesuch seit Beginn der Pandemie führte mich ins Isabella, eine kleine Schachtel, in die ich zu Fuß eilen konnte, als ich spontan Lust auf „No Fear“ hatte, eine Dokumentation über Igor Levit. Das klangtechnisch besser ausgestattete City hätte ich nicht mehr geschafft, aber ich ahne, dass ich den Film noch einmal sehen möchte, dann vielleicht eher im Surround Sound. Denn auch mit dem zu leisen Ton aus den Boxen neben der Leinwand hat mir der Film sehr gefallen.

Er beginnt Ende 2019, und wie im Trailer schon angedeutet wird, war das Jahr 2020 eigentlich mit Konzerten so richtig schön vollgepackt. Wir wissen alle, wie 2020 aussah, und ich mochte es sehr, dass der Film darüber fast nonchalant weggeht, keine Aufnahmen von leeren Straßen, es wird irgendwann mal „ein Virus“ erwähnt und dann beginnen schon die Hauskonzerte, die Levit mit dem Handy streamt. Ich ahne, dass man einiges von Levit in den vergangenen Jahren mitbekommen haben muss, um zu verstehen, was da passierte, aber vielleicht unterschätze ich das Publikum auch. Wobei ich glaube, dass den Film nur Menschen sehen werden, die Levit auch sonst verfolgen. So kam mir jedenfalls das Publikum gestern abend vor: fast alles Menschen, die ich sonst im Herkulessaal für klassische Konzerte sehe, nur wenige unter 60. Diese Aufmerksamkeit für konzertante Musik schlug sich im seltsamen Kinoverhalten nieder: Während auf der Leinwand Interviews zu sehen waren oder Szenen, in denen Levit nicht am Klavier sitzt, wurde sich gerne mal unterhalten oder das Handy gecheckt. Aber sobald Klaviermusik ertönte, waren alle mucksmäuschenstill. Und nach dem Abspann wurde geklatscht, wie man das halt so macht nach Musik.

Ich habe einen guten Einblick erhalten in die Arbeit einen klassischen Pianisten und fand vor allem die Szenen aufschlussreich, in denen Levit eine CD einspielt. Das Arbeiten mit dem Toningenieur (ich hoffe, das ist die korrekte Bezeichnung), die Diskussionen, das gemeinsame Abhören fand ich sehr spannend. Gleichzeitig haben sie mein Bild von Levit, das hauptsächlich durch die sozialen Medien geprägt ist, verändert: Wo ich ihn online immer sehr stark und forsch wahrnehme, sah ich hier einen durchaus anlehnungsbedürftigen und manchmal unsicheren Menschen. Es wurde eine Zartheit sichtbar, die ich zwar während seines Spiels wahrnehme, die ich aber komischerweise noch nie mit seiner Nicht-Pianisten-Person verbunden habe.

Unerwartet gerührt hat mich eine Aufnahme eines Hauskonzerts, das er in München einspielte. Die Kamera fokussiert auf ihn am Flügel, im Vordergrund ist unscharf das übertragende Handy zu sehen, auf dem wir aber die ganzen Herzen und Kommentare erahnen können, die sekündlich aufpoppen. Dann fokussiert die Kamera auf das Handy, und wir können die Kommentare lesen: Danke. Danke. Danke. Ich erinnere mich an diese Dankbarkeit, die ich auch gespürt habe, als ich fast jeden Abend um 19 Uhr auf Levits Aufführung wartete. Ich spürte sie gestern wieder, denn seit den Hauskonzerten habe ich ihn ein-, zweimal live gesehen und mich seitdem auch durch fast seine gesamten Aufnahmen gehört. Er hat mir persönlich die Welt des Klavierkonzerts eröffnet, die ich vorher als zu anstrengend und sperrig und piepsig im Vergleich zum fetten Orchester empfunden habe. Wie falsch ich damit lag, weiß ich erst, seitdem ich ihm mit miesen Sound am heimischen Schreibtisch zugehört habe, mitten in einer Pandemie, die ich kurz vergessen konnte, weil er mich so fesselte, mit Stücken, die ich größtenteils nicht kannte.

Levit erzählt, dass die meisten Reaktionen auf eher herausfordernde Stücke kamen wie Ronald Stevensons „Passacaglia on DSCH“ oder Morton Feldmans „Palais de Mari“. „Die Leute sind offen für sowas.“ Ja!

Direkt nach dem Kinobesuch (mit Maske) hatte ich das Gefühl, dass der Film mit seinen zwei Stunden einen Hauch zu lang gewesen war, aber auch heute morgen weiß ich nicht, was man hätte schneiden sollen. Überhaupt: Weswegen ich alleine schon den Film noch einmal sehen möchte, war der ewig lange Ausschnitt aus der „Waldstein-Sonate“. Ich meine, das war der komplette dritte Satz, bei dem wir Levit arbeiten und schwitzen sehen und ja, ein bisschen schnaufen hören, weil es offensichtlich echt anstrengend ist, was er da so tut. Das fand ich äußerst souverän, das einfach zehn Minuten lang laufen zu lassen anstatt nach 45 Sekunden rauszugehen. Und wie schon erwähnt: mucksmäuschenstill im Saal. Das war schön.