Freitag, 26. Januar 2024 – Lotto und Orwell
F. und ich schafften es endlich in die Ausstellung zur venezianischen Malerei, die noch eine Woche in der Alten Pinakothek zu bewundern ist. Ich freute mich vor allem über ein Wiedersehen mit meinem Lieblings-Lotto, der seit einiger Zeit nicht mehr in der ständigen Sammlung zu sehen ist (WIESO NICHT?). Und sobald ich vor dem Werk stand, fiel ich wieder in den grünen Samtvorhang, der die Szene umschirmt und war mit der Welt versöhnt.
Lorenzo Lotto: „Die mystische Vermählung der hl. Katharina“, um 1506, Holz, 71.3 x 91,2, Bayerische Staatsgemäldesammlungen.
Unter den Links verbergen sich deutlich bessere Abbildungen als meine schnellen Handyfotos, die ich nur gemacht habe, damit ich mir merken konnte, zu welchen Werken ich etwas erzählen möchte.
Von Lotto hingen mehrere Werke in der Ausstellung, was mich sehr gefreut hat. Diese Dame hatte es mir angetan:
Lorenzo Lotto: „Bildnis einer Frau“, um 1505, Holz, 36 x 28 cm, Musée des Beaux-Arts, Dijon. (Ich muss nach Dijon.)
Erstens: Auch hier ein grüner Vorhang. Zweitens: Ich fühlte mich gesehen. Die Frau ist nicht besonders hübsch oder besonders schlank, aber hey, sie wurde für würdig gehalten, gemalt zu werden. Eat this, überirdisch schöne Allegorien und griechische Göttinnen, die überall rumhängen und -stehen. Ich mochte das Bild einfach, es war so, Vorsicht, doofes Wort, normal.
Noch etwas normales. Der normalste Jesus, den ich je gesehen habe.
Venezianisch: „Kreuztragender Christus“, um 1515, Holz, 63 x 46,3 cm, Kunsthistorisches Museum Wien.
Ich frage mich, ob wir an dem Jesus in Wien immer vorbeigelaufen sind, weil dort sehr, sehr, sehr viele Jesusse hängen oder ob der im Depot war; in der Online-Sammlung scheint er nicht zu sein Edit: danke für den Hinweis, er ist doch online). Hier, in einer deutlich kleineren Ansammlung, fiel er total auf und hat es auch aufs Ausstellungsplakat geschafft.
Mich faszinierte der Blick über die Schulter, auf der gerade nicht das schwere Kreuz liegt, das der Mann zu seiner eigenen Hinrichtung schleift. Und dieser Blick passt so gar nicht zu der abgebildeten Tätigkeit. Ich fand ihn, wie eben erwähnt, so normal, was für mich zunächst nicht stimmig war, aber dann genau doch.
Ich musste an die Kurzgeschichte „A Hanging“ von George Orwell denken, die ich seit über 20 Jahren im Hinterkopf habe. Hier der entscheidende Ausschnitt, in dem Orwell einen Gefangenen beschreibt, der auf dem Weg zum Galgen ist:
„It was about forty yards to the gallows. I watched the bare brown back of the prisoner marching in front of me. He walked clumsily with his bound arms, but quite steadily, with that bobbing gait of the Indian who never straightens his knees. At each step his muscles slid neatly into place, the lock of hair on his scalp danced up and down, his feet printed themselves on the wet gravel. And once, in spite of the men who gripped him by each shoulder, he stepped slightly aside to avoid a puddle on the path.
It is curious, but till that moment I had never realized what it means to destroy a healthy, conscious man. When I saw the prisoner step aside to avoid the puddle, I saw the mystery, the unspeakable wrongness, of cutting a life short when it is in full tide. This man was not dying, he was alive just as we were alive. All the organs of his body were working –bowels digesting food, skin renewing itself, nails growing, tissues forming–all toiling away in solemn foolery. His nails would still be growing when he stood on the drop, when he was falling through the air with a tenth of a second to live. His eyes saw the yellow gravel and the grey walls, and his brain still remembered, foresaw, reasoned – reasoned even about puddles. He and we were a party of men walking together, seeing, hearing, feeling, understanding the same world; and in two minutes, with a sudden snap, one of us would be gone – one mind less, one world less.“
So schaut für mich Jesus. Er weicht hier keiner Pfütze aus, aber vielleicht hat jemand in der Menge nach ihm gerufen und er dreht sich nach dorthin um, wie man sich eben sein ganzes Leben lang jemandem zuwendet, der den eigenen Namen ruft. Er sieht für mich nicht so aus, als würde er in diesem Moment an seine Aufgabe denken, die vor ihm liegt, der fürchterliche Tod, das lange Leiden. Er lebt, er ist mitten im Leben und er hat kurz vergessen, dass dieses in nicht allzulanger Zeit vorbei ist.
(Ich muss immer eine kurze Pause machen, wenn ich an diese Short Story denke. Deswegen hier ein schönes Frauenporträt, zu dem ich nichts zu sagen habe, aber ich mochte es sehr gern.)
Sebastian del Piombo: „Bildnis einer jungen Frau“, um 1506/07, Holz, 33,6 x 28,6 cm, The Faringdon Collection, Buscot Park. Die Website ist fürchterlich, bitte selbst nach der Dame suchen (Katalognummer 48). Wobei hier mein Handyfoto echt besser ist als das auf der Website. Seufz.
Lorenzo Lotto: „Bildnis eines Mannes (Mercurio Bua?)“, um 1535, Leinwand, 118 x 105 cm, Galleria Borghese, Rom.
Diesen Lotto mochte ich auch sehr gern, auch wenn das Licht etwas genervt hat. Die dunkle Kleidung vor dunklem Hintergrund ist auch äußerst foto-unfreundlich, als ob Herr Lotto das vor 500 Jahren geahnt hat und er uns sagen möchte, da müsst ihr schon selbst vorbeikommen und gucken, das bringt online nix, stellt euch selbst vors Bild, ihr Nasen. Hab ich gemacht, recht lange sogar. Ich konnte mich vom Detail der rechten Hand nicht losreißen, die nicht nur Blütenblätter zerquetscht, sondern unter der sich auch ein winziger Totenschädel verbirgt.
Die italienische Malerei ist so gar nicht mein Fachgebiet, ich versuche in solchen Ausstellungen zwar immer das wenige zusammenzukratzen, was ich im Bachelor dazu mitbekommen habe, aber meist bin ich hier totale Laiin und denk mir nur, ach schön, ach spannend, ach, hier bleib ich einfach länger stehen und gucke. Dass der Totenkopf ein Hinweis auf unsere Sterblichkeit ist, habe ich mir immerhin gemerkt, und ich ahne, dass auch die Blütenblätter in diese Richtung gehen, aber eigentlich war es mir egal – ich fand das Detail einfach spannend. Hatte ich in dieser Kombi noch nie gesehen.
Woran ich mich aber gut erinnere, ist Hans Memling, den ich im allerersten Semester kennengelernt habe, aww, ich war so klein.
Hans Memling: „Bildnis des Bernado Bembo“, um 1480/1510, Holz, 35,7 x 22 cm, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen. (Ich muss nach Antwerpen.)
Über den Herrn und seine Diptychen habe ich eins meiner ersten Referate gehalten. Die Porträts Memlings mag ich sehr gern; das hier kannte ich noch nicht im Original und habe mich sehr gefreut, dass die Ausstellung damit begann. Der Herr war Botschafter in Venedig, wie mir die Antwerpener Website verrät. Das wäre vielleicht auch in interessantes Detail für den nicht vorhandenen Wandtext am Bild gewesen.
Bernadino Licinio: „Das Konzert“, 1518/20, Leinwand, 114 x 172 cm, Privatsammlung. (Privatsammlung!)
Als Rausschmeißer das Werk, vor dem ich am längsten gestanden habe und über das ich dringend Dinge im ZI nachlesen möchte. Sind das vier Stände oder Berufe, die dort abgebildet sind? Soldat, Student (?), Musikant(in?), Kaufmann? Warum hängen über allen vier verschiedene Blumen und Früchte? Was bedeuten sie? Für wen ist dieses Konzert? Für wen wurde das Werk gemalt? Ich hatte viele Fragen. Auch die nach einem Wandtext, wie überall. Es gab Einleitungstexte für Werkgruppen, die ich manchmal arg beliebig fand, aber an den einzelnen Werken stand bis auf Künstler, Werktitel und Entstehungsdatum nichts. Nicht mal das Material, was ich bei den Arbeiten auf Papier doch gerne gewusst hätte. Reines Interesse. Die Basics der Kunstgeschichte halt.
Ich hadere ein bisschen mit der Ausstellung, weil sie ihr Versprechen im Titel „Die sanfte Revolution“ nicht so recht einlöst – was genau war denn nun diese Revolution? Die Farbigkeit? Die lyrischen Männerporträts? Wobei mir das erst beim Rausgehen auffiel, das mir das nicht so recht klargeworden war. Könnte auch daran liegen, dass ich den einleitenden Wandtext nicht gelesen habe, dort stand gerade eine Führung, wie gestern fast durchgängig irgendwo. Freut mich, dass so viele Besucher*innen kommen, aber wenn man dann nicht mehr zu den anderen Räumen gelangt, weil alles vollsteht und die Aufseher einen nicht zu nahe an die Werke kommen lassen (völlig zu Recht!), um an den Gruppen vorbeizukommen, dann hinterfrage ich doch etwas die Planung.
Das habe ich der Ausstellung aber trotzdem verziehen, weil ich einige spannende Werke kennengelernt habe. Und halt meinen geliebten Lotto wieder anschauen konnte. Ich hoffe sehr, dass er bald wieder nach oben in die Dauerausstellung darf. Er hängt zwar als Druck in meiner Küche, aber es war so schön, wieder vor dem Original zu stehen und sich in den Vorhang fallenlassen zu können. Das Werk hat eine derart beruhigende Wirkung auf mich, die mich immer wieder erstaunt.