Mittwoch, 3. April 2024 – Zuschauende und Restitution

Lesetag am heimischen Schreibtisch. Unter anderem einen Aufsatz zum „unschuldigen Zuschauer“ in der NS-Zeit sowie einen zu Raubkunst und Restitution nach 1945. Beide Zitate sind wegen der besseren Lesbarkeit nicht eingerückt.

„Als die Entnazifizierung abklang und Verstöße, die geringere Strafen nach sich zogen, nicht mehr bestraft wurden, konnten neue Verhaltensweisen eingeübt werden. Seit den 1950er Jahren unterstützte die selektive Betonung von Aspekten des Schreckensapparats der Nationalsozialisten – insbesondere in Bezug auf die SS, die von einem Historiker als »Alibi einer Nation« bezeichnet wurde – das verbreitete Narrativ von der mangelnden Handlungsfähigkeit, dem anderen entscheidenden Element der Geschichte von den »unschuldigen Zuschauern«.

Verstärkt wurde das alles durch den besonderen Charakter der »Vergangenheitspolitik« in allen drei Nachfolgestaaten des Dritten Reiches. Mit je nach geopolitischem Ort und den Entwicklungen des Kalten Krieges unterschiedlicher Modulation wurde der Kreis der Schuldigen immer enger gezogen; der Raum für die Behauptung, nur ein unschuldiger Zuschauer gewesen zu sein, wurde entsprechend immer größer.

Die Narrative des Nichtwissens und der Unschuld wurden in Westdeutschland unter Adenauer durch die Rehabilitation und Reintegration derjenigen gefördert, die als »nominelle« Mitglieder der NSDAP eingeschätzt wurden, und sie ermöglichten Amnestien selbst für bedeutende Täter, die Ende der 1940er Jahre langjährige Haftstrafen erhalten hatten. Ironischerweise war ein ähnlicher Prozess auch im ostdeutschen »antifaschistischen Staat« mit seinem offiziellen Mythos von unschuldigen »Arbeitern und Bauern« evident, die von der Roten Armee »befreit« worden waren. Es bedurfte des Wettbewerbs zwischen Ost- und Westdeutschland in den späten 1950er Jahren um die Frage, wer besser bei der Überwindung der Vergangenheit« war, um erneute rechtliche Aktivität zu stimulieren – im Westen gestützt durch die Einrichtung der Zentralen Stelle Ludwigsburg. Aber der Kreis der Schuldigen wurde immer enger gezogen.

Trotz der massiven Aufmerksamkeit für den »Umgang mit der Vergangenheit« in Westdeutschland war die Zahl derjenigen, die angeklagt wurden, minimal; die Urteile fielen oft schockierend milde aus. Als Oskar Gröning 2018 im Alter von 96 Jahren starb, bevor er seine Haftstrafe antrat, war er erst der 6657ste NS-Täter, der in der Bundesrepublik verurteilt wurde. Die Situation in Ostdeutschland war strenger. In der SBZ und in der DDR gab es bis 1989 insgesamt 12.890 Verurteilungen (oder 9495 ohne die Schnellverfahren der Waldheimer Prozesse). Berücksichtigt man die jeweilige Bevölkerungszahl, bedeutet das, dass in Ostdeutschland ehemalige Nationalsozialisten mit sechs- bis siebenfach höherer Wahrscheinlichkeit vor Gericht gestellt wurden als in Westdeutschland; überdies waren die Urteile strenger. Aber die Politisierung der Strafverfolgung, die die Präsenz ehemaliger Nationalsozialisten in Westdeutschland hervorhob und gleichzeitig zur politisch genehmen Verdeckung und zum Kleinreden der Kontinuitäten im Osten herangezogen wurde, befleckte dann bald den Ruf der DDR, ehemalige Nationalsozialisten konsequenter vor Gericht zu stellen.

Es lohnt sich, eine Nebenbemerkung über Österreich hinzuzufügen, das selbsternannte »erste Opfer der NS-Aggression«, wo die ursprüngliche Konfrontation mit der einheimischen Beteiligung am Nationalsozialismus bald einer massiven Entlastung von wichtigen Kriegsverbrechern Platz machte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg waren die Zahlen der Gerichtsverfahren vor dem Volksgericht für ein Land mit einer so geringen Bevölkerungszahl hoch, auch wenn es oft um relativ geringfügige »inländische« Verstöße wie die damals illegale Mitgliedschaft in der NSDAP vor 1938 ging. Aber in den Jahrzehnten nach der Abschaffung der Volksgerichte gab es nur 39 Fälle vor Gerichten, und wichtige Prozesse endeten oft mit schockierenden Freisprüchen selbst für die manifest Schuldigen.

Zu den bemerkenswerten Beispielen zählen die Freisprüche von Franz Murer 1963, dem »Schlächter von Vilnius«, von Walter Dejaco und Fritz Ertl (die die Gaskammern von Auschwitz entworfen hatten) sowie des SS-Wachmanns in Auschwitz Otto Graf 1972 in Wien und die Prozesse gegen Johann Vinzenz Gogl, ehemals Wachmann im Konzentrationslager Mauthausen und im Nebenlager Ebensee, der 1972 in Linz (unter dem Jubel der im Gerichtssaal anwesenden ehemaligen SS-Angehörigen) und 1975 in Wien freigesprochen wurde. Während dieser Prozesse wurden die überlebenden Zeugen häufig verspottet und gedemütigt.

Der westdeutsche Umgang mit der Vergangenheit war weit entfernt von einer ungetrübten Erfolgsgeschichte, wie sie die Bundesregierung manchmal präsentierte. Die Anwendung des Strafrechts zur Definition von Mord als Tat von subjektiver Motivation und übermäßiger Brutalität erwies sich als vollkommen inadäquat für den Umgang mit organisiertem Massenmord und führte zu zahlreichen Freisprüchen oder übertrieben milden Urteilen. Die Justiz, die hohe Beamtenschaft und andere Berufsgruppen (darunter namhafte Mediziner, die am Euthanasieprogramm T4 beteiligt gewesen waren) wurden überwiegend nicht zur Rechenschaft gezogen, während die entnazitizierte Anwaltschaft sich sogar für nicht schuldfähig erklärte, da sie nur die Gesetze des NS-Regimes angewande habe. Die juristische Auseinandersetzung in Westdeutschland läst sich eher als Topographie des Unrechts betrachten: die winzige Minderheit der tatsächlich verurteilten Täter, die politischen Entscheidungen über legale Praktiken, die Eliten, die sich der Justiz entzogen, und nicht zuletzt das schreckliche Ungleichgewicht zwischen dem Wohlstand vieler früherer Täter und der anhaltenden Not der Uberlebenden, die weder Anerkennung noch Entschädigung erhielten, was manche Gruppen sehr viel härter traf als andere.“

Mary Fulbrook: „‚Unschuldige Zuschauer‘ in deutscher Geschichte und Erinnerung“, in: Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß, Annette Weinke (Hrsg.): Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020, S. 51–64, hier S. 58–60.

„Etwas mehr Zeit brauchten die Alliierten, um die innere Rückerstattung von Vermögenswerten, die innerhalb des Deutsches Reichs verfolgungsbedingt entzogen worden waren, anzugehen. Während die Sowjetunion kein Interesse an der Wiederherstellung privater Eigentumsverhältnisse hatte und auf diesem Gebiet entsprechend zurückhaltend agierte, konnten sich auch die Westmächte nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Die amerikanische Militärregierung erließ am 10. November 1947 unilateral das Gesetz Nr. 59, das die »Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen« regelte. Demnach konnten alle Personen, die »aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus« Vermögen verloren hatten, die Rückerstattung beantragen. Neben direkten Enteignungen durch Staat und Partei – die Bundesländer bzw. die Bundesrepublik agierten hier als Rechtsnachfolger – konnten auch private Rechtsgeschäfte angefochten werden, wenn sie dem Druck der Verhältnisse geschuldet waren. Anträge auf innere Rückerstattung mussten bis zum 31. Dezember 1948 bei einem Zentralanmeldeamt in Bad Nauheim eingereicht werden und wurden vor deutschen Behörden und Gerichten verhandelt; ein Board of Review der amerikanischen Militärregierung griff bei Streitfällen in letzter Instanz ein. Die Franzosen erließen zeitgleich eine vergleichbare Verordnung, die Briten zogen erst im Frühjahr 1949 nach.

In der deutschen Bevölkerung waren diese Restitutionsgesetze überwiegend unbeliebt. Zwar galt die Rückerstattung von Vermögen, das durch die NSDAP oder den Staat enteignet worden war, mehrheitlich als gerecht. An der Möglichkeit zur Rückabwicklung privater Rechtsgeschäfte entzündete sich hingegen scharfer Protest, auch weil sie viele Privatleute direkt betreffen konnte. In den westlichen Besatzungszonen bildeten sich Lobbygruppen, die sich 1950 zur Bundesvereinigung für loyale Rückerstattung zusammenschlossen und mit der Zeitschrift Die Restitution ein eigenes Publikationsorgan unterhielten; die teilweise scharfen Debattenbeiträge machen auch das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments sichtbar. Die ablehnende Haltung ging aber weit über diese Interessenverbände hinaus. Sie war symptomatisch für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die an die Vergangenheit eher nicht erinnert und keine Schuld an den Verbrechen der NS-Zeit zugewiesen erhalten wollte. Die Verantwortung wurde allein Staat, Partei und oberster politischer Führung zugeschoben.“

Johannes Gramlich: „NS-Raubkunst und die Herausforderungen der Restitution. Ein Überblick“, in: Magnus Brechtken (Hrsg.): Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021, S. 584–613, hier S. 610/611.

Dienstag, 2. April 2024 – Lektüre im ersten Quartal 2024

Zwei Sterne: sehr gut
Ein Stern: gut
Kein Stern: immerhin durchgelesen

Januar

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück **

Eine Mischung aus Roman, Essay und Dokumentation, die sich mit der eigenen, (hoffentlich) teilweise fiktiven Familiengeschichte auseinandersetzt, die sich von der NS-Zeit über die DDR bis in das neue, wiedervereinigte Deutschland zieht. Mir hat der Stil gefallen, weil ich gerade bei diesen Themen doch dringend lieber Sachbücher lese, und die kurzen Einschübe, die die Recherchearbeit der Erzählerin dokumentieren, haben mir das Romanhafte leichter gemacht.

Friedrich Ani: Letzte Ehre *

Ich haderte erneut mit Gewaltdarstellungen gegenüber weiblichen Körpern und Seelen, da half auch die weibliche Hauptfigur nicht und dass so ziemlich alle Männer im Buch Unsympathen bis armselige Deppen sind. Aber wie immer bei Ani unwiderstehlich geschrieben, las sich in wenigen Stunden runter.

Bov Bjerg: Serpentinen **

Ein Mann ist mit seinem Sohn unterwegs und verarbeitet Familientraumata. Klingt fürchterlich, liest sich aber hervorragend. Mein bisher liebster Bjerg.

Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen *

Sahl verarbeitet seine eigene Emigration aus dem NS-Deutschland in diesem 1959 erschienenen Roman. Mich persönlich haben natürlich die Schilderungen aus Deutschland am meisten interessiert, aber auch seine Zeit in Frankreich und New York habe ich gern gelesen, wenn auch etwas mehr quer.

Carolin Würfel: Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf **

Ich kannte weder Wander noch Reimann, wollte danach aber dringend etwas von ihnen lesen.

Maxie Wander: Leben wär’ eine prima Alternative. Tagebücher und Briefe **

Ich hätte nicht gedacht, dass ich aus einem Tagebuch, das mit einer Krebserkrankung beginnt, viel über die DDR lernen würde, aber so war’s.

Friedrich Ani: Ermordung des Glücks

Der erste für mich etwas langatmige Ani. Trotzdem durchgelesen, denn ich wollte wissen, wer der Mörder war, logisch.

Februar

Pascal Bresson, Sylvain Dorange (Christiane Bartelsen, Übers.): Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger *

Comic über die titelgebenden Menschen. Nazijagd im Zeitraffer. Las sich gut runter, macht aber nicht so viel Spaß wie Comics mir machen sollten. Dieses verdammte Thema.

Friedrich Ani: Bullauge *

Nicht so langatmig wie „Glück“, dafür eine ewig lange Exposition für ein Hauruck-Ende.

Marina Weisband, Eliyah Havemann: Frag uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben **

Lesenswert, wissenswert, Empfehlung. Hier ausschnittsweise verbloggt.

Friedrich Ani: All die unbewohnten Zimmer *

Das Thema „ewig lange Exposition“ hatten wir gerade, das war auch hier mein Problem. Aber als dann endlich mal zur Sache ging, gefiel es mir sehr. Erstmal weitere Anis in der Stadtbibliothek vorbestellt.

März

Brigitte Reimann: Ankunft im Alltag **

Von 1961 und das liest sich auch so. Leider anstrengende Geschlechterstereotype, aber für mich sehr spannend: ein Roman aus den Anfangsjahren der DDR. Ich konnte nach den Tagebüchern von Maxie Wander erstmals nachvollziehen, wie groß der Aufbruch sich angefühlt hatte. Kein Vergleich zur westdeutschen Lektüre.

Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich **

Strobl schreibt dreißig Jahre nach ihrer gut zweieinhalb Jahre in Gefängnissen in München und Essen über diese Zeit. Dabei reflektierte sie in Einschüben ihre eigenen Erinnerungen und ordnet quasi ihren Text neu ein. Sie schreibt über die Bücher und die Musik, die ihr halfen, sowie die Arbeit an ihren eigenen Büchern. Und sie erwähnt einige Mitgefangene und deren Schicksale. Alles äußerst lesenswert; es hat meinen Blick auf die RAF-Hysterie der Bundesrepublik erweitert.

Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft **

Las sich viel zu schnell runter, diese letzte Begegnung vieler großer Namen der deutschsprachigen Literatur, bevor sie emigrierten, verhaftet wurden, sich zu Tode tranken. Mir fehlten wie immer Quellenangaben, aber ich habe noch während der Lektüre weitere Bücher bestellt, so neugierig war ich auf so vieles.

Friedrich Ani: Idylle der Hyänen *

Erstes Buch mit Polonius Fischer, ehemaliger Mönch, nun Kommissar. Bisschen viel Gott-Gequatsche, trotzdem komme ich mit Fischer momentan besser klar als mit Tabor Süden, den Kommissar der ersten gefühlt 80 Ani-Bücher, die ich las. Der ertrinkt nämlich in seinen ganzen Bieren und das nervt irgendwann.

Friedrich Ani: Hinter blinden Fenstern *

Zweites Buch mit Polonius Fischer. Weniger Gott, las sich gut weg.

Friedrich Ani: Totsein verjährt nicht *

Drittes Buch mit Polonius Fischer. Hat mir bisher am besten von allen dreien gefallen. Reicht jetzt aber erstmal wieder mit Ani; den snacke ich zwischendurch gespannt weg, will aber eigentlich was anderes lesen.

Montag, 1. April 2024 – Ostermontag

Totaler Rumlungertag.

Sonntag, 31. März 2024 – Ostersonntag

Mich wie seit Wochen über die kleinen Holzeier gefreut, die schon zu meinen Kinderzeiten im elterlichen Haus hingen und seit ein paar Jahren bei mir sind. Eine Schale von Oma? Omi? mit Schokoeiern befüllt und dekorativ rumstehen lassen. Für ungefähr acht Stunden, dann war sie leergegessen.

Morgens bei den Quasi-Schwiegereltern gefrühstückt und zwei Hefezöpfe verschenkt, nachmittags beim Fußball auf dem Sofa eingeschlafen. Abends kam F. vorbei, noch in Stadionklamotten, und wir tranken einen Burgunder, der bei mir schon etwas länger rumlag. Bei einem unserer letzten Waltz-Besuche hatte F. einen der Gastwirte, der uns bediente, gefragt, warum er diesen Burgunder jetzt aus einem Bordeaux-Glas serviere, woraufhin er meinte, dass er den Wein aus diesem Glas ausdrucksvoller fände; sein Mitinhaber nehme gerne die großen Gläser, er lieber die etwas weniger bauchigen, das müsse man einfach ausprobieren, was einem besser gefiele.

Das setzten wir gestern erstmals um, auch wenn ich natürlich nörgelte, dass ich jetzt noch mehr Gläser mit der Hand spülen müsste, aber was tut man nicht alles für Wein. Wir stellten interessiert fest, dass die Nase merklich anders ist bei unterschiedlichen Gläsern, was ich ja nie so recht glauben wollte. Auch der Geschmack war zunächst anders, glich sich aber bei längerem Rumstehen immer mehr an. Wir müssen die Versuchsreihe fortsetzen, das ist noch nicht wissenschaftlich valide.

(Links Burgunderglas, rechts Bordeaux.)

Dann vielleicht mit einem anständigen Lätzchen und was besserem als dem schnell geschmierten Käsebrot, das ich nach den ganzen Schokoeiern dringend brauchte.

Samstag, 30. März 2024 – Krankenkassenkarte

Da ich in diesem Quartal schon zur Covid-Impfung bei meiner Hausärztin gewesen war, hatte ich am Donnerstag die brillante Idee, doch mal um ein Rezept für meine Dauermedikation zu bitten, das auf meine Krankenkassenkarte aufgespielt werden sollte (ist „aufgespielt“ das richtige Wort?), ohne dafür aus dem Haus gehen zu müssen. Meine Praxis hat sogar eine App, die zwar eigentlich nett ist, aber ich tippe nicht gerne Nachrichten auf dem Handy, wozu habe ich denn ein formschönes Macbook. Egal, Nachricht in meinem Ein-Finger-Boomer-System zusammengestümpert anstatt elegant mit zehn Fingern und anständigen Tasten eine E-Mail zu komponieren, abgeschickt – und ein Stündchen später kam die Antwort, dass mein Rezept auf der Karte sei.

Gestern ging ich dann todesmutig in die Apotheke, zückte die Karte, und oh Wunder, die Zukunft ist da, das Rezept war vorhanden, es hatte funktioniert. Man ist ja schon für solche rudimentären Dinge dankbar. Jetzt müsste nur noch das doofe quartalsweise Auftauchen in der Praxis irgendwie ignoriert werden können, aber das dauert vermutlich nur noch weitere zehn Jahre.

Die letzten Schokoeier vom Edeka bekommen, der neuerdings auch zwei Selbstscankassen hat, die ich im netto ausschließlich frequentiere. Die funktionieren aber so gut wie nie, irgendeine Fehlermeldung kommt immer. Gestern auch. Zukunftsoptimismus sofort wieder dahin.

Tag wieder gerettet, indem ich mir einen neuen Blumenstrauß gegönnt habe, mir war danach. Und nach Ranunkeln.

Nach dem Foto habe ich die Vase wieder direkt vor die Bücherstapel geschoben, wo sie hingehört.

Mich beim Fußballgucken dabei erwischt, Leverkusen die Daumen zu drücken, so weit ist es schon. Niederlage der Bayern war mir sehr egal. Das Spiel habe ich eh nicht komplett verfolgen können, denn wir haben mit Quasi-Schwager und Quasi-Schwägerin mal das Mastava angetestet. War gut, kann man machen.

Freitag, 29. März 2024 – Rumkruschteln

Zwei unerbittlich wachsende Zimmerpflanzen umgetopft in größere Töpfe, die ich am Donnerstag im Baumarkt erworben hatte. So lange es gewichtsmäßig im Rahmen bleibt, kann ich auch Baumarktbesuche ohne Auto machen, aber ich ahne, dass ich doch mal über Car Sharing nachdenken müsste, denn mein Balkon ist total nackt und braucht Grün. Wofür ich Erde brauche. Und Blähton. Und ungefähr fünfzehn Pflanzen. Halt den ganzen schweren Kram, den ich mit der guten, alten, unverwüstlichen blauen Ikea-Tasche, die jetzt um die 30 Jahre auf dem Buckel haben müsste, nicht transportieren kann.

Zweite Möglichkeit: einfach ein Taxi rufen, wenn man mit palettenweise Zeug vor dem Gartencenter steht. Das ist im Moment noch mein Favorit. Ich ahne nur, dass Taxifahrende nicht ganz so glücklich über krümelnde Pflanzen im Kofferraum sind.

Drei Hefezöpfe gebacken.

Geputzt, gesaugt trotz Feiertag, it’s fine, das Haus ist entspannt bzw. hier wird auch Sonntags mal kurz gebohrt, passt schon, Bad gewischt, Küche kommt heute dran, die war mir gestern zu schlachtfeldig.

Eine flache, uralte Silberschale mal wieder geputzt. An der scheitert die Methode Alufolie, Salz, kochendes Wasser immer, die wird nie sauber. Also greife ich einmal im Jahr zum Putztuch und scheuere. Gestern habe ich erstmals nach Silberpolitur oder anderen Helferlein gegoogelt, weil ich das Ding partout nicht wieder glänzend bekomme. War sie nie, ich weiß schon gar nicht mehr, bei welcher Verwandtschaft die ewig rumgelegen hat, ich benutze sie als Drop-Zone im Flur, da kommt alles rein, was ich nicht vergessen sollte (Bonbons für Konzerte, Münzen für Bibliotheks- und Museumsschließfächer, Taschentücher, im Winter Maske). Man sieht sie also eh kaum, weil immer Zeug in ihr liegt, weswegen ich den Nicht-Glanz ertrage, aber es ist trotzdem schade.


Den Geburtstagsblumenstrauß, der fast zwei Wochen halbwegs durchgehalten hat, ausgeflöht und die noch vorzeigbaren Reste in Einzelteilen auf drei Vasen verteilt, die nun im Flur, in der Bibliothek und im Arbeitszimmer stehen. An einigen Dekozweigen sind kleine grüne Blätter gewachsen, das schmeiße ich noch nicht weg, sondern gucke, was da noch so passiert.

Mich generell über das zarte Grün an den Bäumen vor meinem Fenster gefreut. Es wird.

Donnerstag, 28. März 2024 – Literatur und Kunst aus der jungen DDR

Ich lese gerade Brigitte Reimann: Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher und Briefe 1947–1972, herausgegeben von Elisabeth Elten-Krause und Walter Lewerenz, 1983 erstmals im Verlag Neues Leben in der DDR erschienen, vor mir liegt die Lizenzausgabe „für die Bundesrepublik Deutschland, West-Berlin, Österreich und die Schweiz“. Ich stolpere immer gerne über Dinge, die mal völlig normal für mich waren und heute Geschichte. („West-Berlin“)

Ich stolperte auch über zwei Einträge vom Oktober 1955, wo Reimann über ihr zukünftiges Buch Kinder von Hellas nachdenkt, weil in ihnen so nebenbei die Planwirtschaft und die Zensur erwähnt werden:

„Das NL [Neues Leben] will gleich einen Vertrag auf mein neues Buch machen (Arbeitstitel ‚Mädchen von Chronos‘), obgleich sie es noch gar nicht kennen. Ich bin vorerst nicht darauf eingegangen – wenn es nun nicht gut wird? So ein Vertrag auf Treu und Glauben käme von seiten des Autors beinahe einem Betrug gleich. Das habe ich Lewerenz auch geschrieben, und ich habe ihn gebeten, die Sache noch aufzuschieben. Zudem wurmt es mich, daß ich in den Plan für 1956 nicht mehr hineinkommen kann – was ist das für ein Blödsinn, ein fertiges Manuskript ein ganzes Jahr lang liegenzulassen? Einerseits schreien sie nach guten Jugendbüchern, andererseits aber klammern sie sich stur an ihren Plan … ich will sie ein bißchen unter Druck setzen – vielleicht erreiche ich noch eine Veröffentlichung meines Buches im Jahre 1956.“ (30.10.1955, S. 31)

„Der kleine Lewerenz macht mich bange: Sein Chef Peterson habe getobt wegen des Abenteuerheftes, weil der Verlag es nicht hinbekommen hat. […] Peterson warnte mich: Es sei ein diffiziles Thema, da die Meinungen über den griechischen Befreiungskampf geteilt seien, auch wisse man nicht, wie sich unsere Beziehung zu Griechenland entwickeln werde etc. Das kratzte mich schon wieder: als ob Literatur von politischen Tagesfragen abhängig sei. … Der Partisanenkampf war zu seiner Zeit gut und richtig, außerdem geht es mir um das Schicksal meiner Liebenden, ihren menschlichen Konflikt.“ (9.11.1955, S. 32)

Ein paar Seiten weiter las ich erstaunt, dass Reimann ihr Buch Ankunft im Alltag, das ich gern und aufmerksam gelesen habe, als „Mädchenbuch“ bezeichnet. Überdenke gerade mein komplettes Leseerlebnis.

Privater Kunsthandel nach 1945 in Dresden

Von dem Forschungsprojekt hatte ich auf meiner Provenienzforschungsfortbildung schon gehört. Per Insta wurde ich auf das Online-Magazin „Voices“ der SKD aufmerksam, das gerade einen Blogeintrag zum Projekt veröffentlichte:

„Erste Untersuchungen zeigen, dass sich bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder ein privater Handel etablieren konnte. Gemälde, Grafiken, Antikmöbel, Porzellan und Münzen wurden angeboten und verkauft; Dresden galt als eine der wichtigsten Kunsthandelsstädte in der DDR. Auch die staatlichen Kunstsammlungen Dresden erwarben regelmäßig Kunstwerke bei hiesigen Händlern, mit denen die Institution ebenso im fachlichen Austausch stand.

Nach dem Führungswechsel in der SED (1971) und nach der Gründung der Staatlichen Kunst und Antiquitäten GmbH (1973) wurde dieser Privathandel jedoch durch Behörden wie die Staatssicherheit zunehmend kontrolliert und eingeschränkt, zum Teil der Steuerhinterziehung bezichtigt und schließlich bis auf wenige Ausnahmen zerschlagen. Ein zentrales Anliegen des Projekts ist, diesen bisher meist vergessenen Firmen und Personen eine Sichtbarkeit und Neubewertung zu geben.“

Die Ausstellung im Albertinum dazu ist noch bis 21. April zu sehen, lohnt sich.

Das Wandgemälde „Lebensfreude“ im Hygienemuseum Dresden, die Diplomarbeit von Gerhard Richter von 1956, wird teilweise freigelegt. Das Gemälde ist nicht in Richters Werkverzeichnis aufgeführt, das erst 1962 beginnt; laut eines Kommentars zur hauseigenen Insta-Reel hat er dem Projekt aber zugestimmt. Vielleicht wird das Archiv ja auch noch erweitert?

Mittwoch, 27. März 2024 – Bohnen und Bohnen

Mein Publikationsverzeichnis aktualisiert. Im Oktober 2022 gab es ja eine schöne Tagung in Bamberg, auf der ich etwas zu Herrn Protzen erzählen konnte und vielen weiteren spannenden Vorträgen lauschte. Im üblichen Gletschertempo der Wissenschaft erscheint nun im April endlich das Buch dazu.

Ein Kilo Espressobohnen gekauft.

Fenchel mit weißen Bohnen im Ofen geschmort, Fenchel bleibt tagesformabhängiges Gemüse, das nächste Mal nehme ich nur grünen Spargel oder ähnliches, die Gewürze waren nämlich super und weiße Bohnen gehen auch immer.

Richard Serra ist gestorben. Diese Absätze aus der NYT (ohne Paywall), die beschreiben, warum Serra die Malerei hinter sich ließ, fand ich aufschlussreich:

„In interviews and conversations, Mr. Serra’s telling, and retelling, of the important events in his life created an aura of singularity and destiny. For example, when he went east from the West Coast for the first time to study painting at the Yale School of Art and Architecture, his first off-campus trip was not to New York to see Jackson Pollock’s work, he said, but to the Barnes Foundation, then outside Philadelphia, for “my first good look at Cézanne.”

After Yale, while visiting Paris on a travel grant, he began to move away from painting with almost daily visits to Brancusi’s reconstructed studio — then housed at the Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris — to repeatedly draw the simplified forms of that Romanian modernist’s sculpture and bases.

But it wasn’t until he got to Madrid and saw Velazquez’s “Las Meninas” at the Prado Museum there that he realized that he could not be a painter. As he told Mr. Tomkins: “I thought there was no possibility of me getting close to that. Cézanne hadn’t stopped me, de Kooning and Pollock hadn’t stopped me, but Velazquez seemed like a bigger thing to deal with.”“

An „Las Meninas“ erinnere ich mich auch gern, genau wie an „Guernica“. Man müsste mal wieder nach Madrid.

Dienstag, 26. März 2024 – Spätzle und Sterne

Eigentlich wollte ich abends zu einem Vortrag ins NS-Dokuzentrum gehen. Also „wollte“ im Sinne von „müsste ich wohl“. Aber dann hatte F. die hervorragende Idee, um 17 Uhr im Tschecherl einzukehren, die kleine nette, neu eröffnete Schwester vom Ein-Sterne-Restaurant Sparkling Bistro, in dem wir schon viel zu lange nicht gewesen sind. Als wir uns dem Laden näherten, trafen wir auf gleich zwei bekannte Gesichter aus dem Waltz und dem Brothers und dazu noch den uns bisher nur von Insta bekannten Küchenchef des Bistros. Anstatt irgendwo Platz zu nehmen, saßen wir plötzlich neben den dreien, unser Ruf eilte uns voraus – „bringst den beiden bittschön die große Weinkarte von nebenan“ –, der Rotwein lief gut, das Essen aus unter anderem Paprikahuhn, Spätzle und Palatschinken war hervorragend, die Gespräche noch mehr, und deswegen saß ich gegen kurz nach 19 Uhr nicht konzentriert bei Nazischeiß, sondern einen Hauch angeheitert vor dem Livestream des Guide Michelin, in dem die neuen Sterne für Deutschland für 2024 verkündet wurden.

Die SZ berichtet ein bisschen lokalpatriotisch:

„Von 32 Restaurants, die an diesem Abend erstmals mit einem Stern ausgezeichnet wurden, liegen mehr als ein Drittel, elf nämlich, in Bayern, quer über den Freistaat verteilt. Dazu gibt es drei neue Zwei-Sterne-Lokale, unter denen gleich zwei bayerische Häuser sind. Außerdem, das ist die wichtigste Nachricht, hat Deutschland einen neuen Drei-Sterne-Koch: Edip Sigl ist Küchenchef im Restaurant “Es:senz”, das in Grassau im Achental liegt, eindeutig Oberbayern also.“

F. und ich freuen uns besonders für Rosina Ostler, deren Menü im Alois uns an meinem Geburtstag überzeugen konnte. Und die aus dem Ganzen eine nicht mehr ganz so jungshaltige Jungsveranstaltung macht.

„Auch anderswo geht der Ausbau Oberbayerns zur Gourmethochburg weiter. Im “PUR”, dem Restaurant des Hotels “Kempinski” in Berchtesgaden, freuen sich Ulrich Heimann und sein Team über den zweiten Stern, 19 Jahre nachdem Heimann den ersten für das Haus erkocht hatte. In München wurde das “KOMU”, das neu eröffnete Restaurant von Christoph Kunz, aus dem Stand mit zwei Sternen bedacht. Einerseits ist das eine Seltenheit, doch war Kunz schon als Küchenchef im “Alois – Dallmayr Fine Dining” mit zwei Sternen dekoriert gewesen. Seiner Nachnachfolgerin Rosina Ostler wiederum gelang es, die beiden Sterne für das “Alois” zu halten. Ostler, die aus Oslo abgeworben wurde, ist erst seit November im Amt und nun bereits – neben Douce Steiner – Deutschlands höchstdekorierte Köchin.

Herausragende Restaurants etablierten sich stets dort, wo bereits Exzellenz vorhanden sei, die Gäste über die nötige Kaufkraft verfügten und gute Küche zu würdigen wüssten, sagt Michelin-Chefredakteur Ralf Flinkenflügel. Mit seinen nun 17 Sternerestaurants und den vielen weiteren Gourmetzielen im nahen Alpenvorland verfügt München, vor allem gemessen an seiner Größe, über eine konkurrenzlose Dichte an Spitzenadressen.“

Die SZ spricht aber auch Dinge an, über die wir nachdenken, unter anderem, dass es eben doch meist die halbwegs noch französische Küche ist, die irgendwann den dritten Stern bekommt. Wir drücken ja seit Jahren Tohru die Daumen und fragen uns schon, was er noch auf den Teller bringen muss.

„Sorge bereitet vielen Edelgastronomen allerdings, dass zu viele Tische zu oft leer bleiben. Im vergangenen Jahr gab es deshalb bereits mehrere Treffen in der bayerischen Landeshauptstadt, wie das zu ändern sei. Die vielen Auszeichnungen des deutschen Michelin sind oft auch ein Bekenntnis zur klassischen Küche. Das muss nicht verkehrt sein, die Qualität ist in der Fläche heute hervorragend, doch fehlt es an Alleinstellungsmerkmalen, an Innovation mit überregionaler, besser noch internationaler Strahlkraft, an Netzwerken und gutem Marketing.

Der Michelin definiert die Lokale seiner beiden höchsten Bewertungskategorien mit den Attributen “eine Reise wert” oder mindestens “einen Umweg wert”. Doch als kulinarische Ziele spielen München und Bayern international bisher – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. In ganz Deutschland gibt es bis heute, anders als in Österreich, der Schweiz, Italien oder Spanien (von Frankreich und Skandinavien zu schweigen), kein wirklich führendes Restaurant.“

Alle Sterne auf einen Blick, darunter auch unser geliebtes Broeding, das gestern erstmals einen grünen Stern für Nachhaltigkeit bekam.

Montag, 25. März 2024 – Tee und Tippen

Schreibtischtag im Home Office mit Omis Teekanne hinter mir. Habe nun für ein Projekt den Ordner „Finale Dokumente“. Und Gott lachte.

Sonntag, 24. März 2024 – Bild und Ton

Noch kurz vor Schluss endlich die Ausstellung „Günter Fruhtrunk. Die Pariser Jahre (1954–1967)“ im Lenbachhaus gesehen. Sie läuft nur noch bis zum 7. April, schnell hin, lohnt sich. Mein Liebling war das hier:

Günter Fruhtrunk: Weiße Positionen, 1957–59, 125 x 185 cm, Lorenzelli Arte, Mailand.

Generell fand ich die 1950er Jahre einen winzigen Hauch spannender als die 1960er, weil ich dem Künstler gefühlt dabei zuschauen konnte, seine Sprache zu finden. Sprache war überhaupt ein Thema, das ich im Hinterkopf hatte. Mir fehlte früher etwas der Zugang zur konkreten Kunst, weil ich immer versuchte, die Farben und Formen in irgendwas zu übersetzen, zu dem ich eben Zugang habe: in Worte. So sprachen F. und ich gestern viel über einzelne Kreise, Linien und Raumempfindungen, aber was mir das Bild sagt, um mal diese einfache Formulierung zu nutzen, weiß ich nie. Das fand ich früher schwer auszuhalten, inzwischen ist es für mich befreiend. Dieses Werk will überhaupt nichts von mir, es ist einfach da.

Ich musste an den Podcast Hotel Matze denken, in dem letzte Woche Igor Levit zu Gast war. Der Gastgeber gibt irgendwann im Gespräch zu, keinen Zugang zu klassischer Musik zu haben – weil ihm der Text fehlt. Es fehlt ihm also etwas, das er, sorry, doofes Wort bei Kunst, versteht, mit dem er etwas anfangen, an dem er sich festhalten kann. Und auch hier merkte ich, wie sich mein Hören von klassischer Musik verändert hat. Ich komme aus der Oper, wo ich Text habe, wo ich ein Libretto nachlesen kann, wo es im besten Fall eine sinnvolle Geschichte gibt, der ich folge. Seit einigen Jahren bin ich aber eher bei Orchesterwerken oder Klavierstücken, wo ich zwar meine rudimentären Kenntnisse aus zwei Semestern Musikwissenschaft ausbuddeln und bei Igors Beethoven-CD den Sonatensatz aufspüren kann. Will ich aber gar nicht. Ich möchte im Konzertsaal sitzen und einfach nur zuhören, so wie ich ins Museum gehe, um einfach nur zu schauen.

Dass ich sowohl bei bildender Kunst als auch bei Musik irgendwann anfange, nach Schemen zu suchen, nach Haltegriffen, nach Wiederholungen, nach Strukturen, ja, logisch, so funktioniert mein Gehirn nun mal. Aber meist komme ich davon schnell wieder weg und denke einfach in der Gegend rum. Ich habe noch nie ernsthaft meditiert, aber so stelle ich mir das vor: den Geist einfach wandern lassen und gucken, wo er mich hinführt. Und notfalls aushalten müssen, dass ich in Sackgassen lande. Aber sehr oft lande ich auf weiten Anhöhen, von denen ich die halbe Welt überblicken kann. Wie großartig.

Zu Fruhtrunk hat die Kuratorin der Ausstellung einen sehr lesenswerten Blogbeitrag geschrieben:

„Ausgehend von seiner frühen Naturbeobachtung und dem Aquarellieren von Landschaften, einer Praxis, die er interessanterweise im Privaten immer beibehielt, gelangte Fruhtrunk von der gegenständlichen zur gegenstandslosen, zur konstruktiven und schließlich zur konkreten Malerei. Er nahm diese (Fort)Schritte von Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre im Eiltempo. Von Anfang an haftet seinen Bildschöpfungen etwas Elementares an, selbst kleine Formate wirken nie “kleinlich”, sondern eher monumental. Das zeigt sich am besten vor den Bildern selbst, vor verwandten Motiven, die er in unterschiedlichen Größen ausführte.

Mit großer Präzision und Geduld malte er Bilder, die von allem Persönlichen befreit, nur Formen und Farben wirken lassen, jedes Element beeinflusst das nächstliegende – ein Prozess, den die Bilder festhalten. Ein Film von 1962 am Anfang der Ausstellung zeigt das besser als man es mit Worten beschreiben könnte.

Inzwischen gelang es Fruhtrunk, einen in der Bewegung des Auges auf der Bildfläche entstehenden Licht-Raum zu schaffen. Das klingt erst mal paradox. Doch gerade durch die Überforderung des Auges, das versucht, in dem übersteigerten Zusammenwirken von Formen und Farben ein Prinzip zu erkennen, entsteht die Illusion eines Lichtraums. Dieser Lichtraum ermöglicht, ja fordert, freies, aber intensives Schauen.“

Der Film „No Fear“ über Igor Levit ist seit gestern auf arte.tv zu sehen (bis 21. Juni). Mir hat der Film 2022 im Kino gut gefallen.

Samstag, 23. März 2024 – Erdnuss und Soja

Katerchen auskuriert mit einer ordentlichen Portion Nudeln mit Gemüse und Erdnuss-Soja-Sauce. Chili Crisp hilft auch immer. So halb nach diesem Rezept, nur mit Tofu statt Hack und noch einer Runde Spinat dazu.

Ansonsten Fußball geguckt (Frauen WOBFCB, Herren FRAGER), am Handy rumgedaddelt, nichts gemacht. Ganz hervorragender Tag.

Freitag, 22. März 2024 – Adonis und Oliven

Mit F. ein zweites Mal „Die Passagierin“ gesehen. Macht auch aus dem Rang keinen Spaß, hat uns aber erneut sehr gut gefallen und den Rest des Abends beschäftigt.

Nach dem ersten Besuch wollten wir dringend irgendwo hin, wo es uns immer gut geht, also wurde es das charmante Waltz, wo wir sonst immer gut gelaunt reinrollen und viel Spaß mit viel Rotwein haben. Nach der Oper waren wir aber erschüttert und überwältigt – und sahen anscheinend auch so aus. Wenn ich mich richtig erinnere, kamen nacheinander Cheffe und eine der Servierkräfte jeweils zweimal zu uns an den Tisch, um nochmal und nochmal nachzufragen, ob’s uns denn wirklich gut ginge.

Gestern war es schon zu spät für das Waltz, aber noch früh genug für unseren anderen Wohlfühlort in München: die Bar Tantris. Die Küche hatte schon fast geschlossen, aber einen sehr guten Käseteller gab’s noch, und dazu die gewohnt optimale Betreuung durch den Barchef. Es wurde zum Käse ein Adonis, darauf folgte ein extrem klassischer Martini mit drei Oliven drin, der vermutlich erwachsendste Cocktail, den ich je hatte. Dann ließen wir uns einen Martinez schmecken, den ich in der Bar bisher zweimal mit Rum hatte, was für mich der tollste Drink ever war, aber auch die Gin-Variante, also das Original, gefiel. (Rum ist mir trotzdem gerade lieber.) Als Rausschmeißer bat ich um einen Drink, der irgendwie um alles ein Schleifchen bindet, und das wurde dann, perfekter Name auch noch, ein Last Word.

Lustigerweise wurden wir auch gestern nach dem Platznehmen an der Theke gefragt, wie’s uns denn ginge; obwohl wir ja schon wussten, was in der Oper auf uns zukommen würde, hatte es uns erneut so mitgenommen wie beim ersten Mal. Vielleicht nicht ganz so wuchtig, aber immer noch genug, um etwas stiller zu sein als sonst. Aber wie im Waltz war das auch in der Bar kein Problem. Ich wusste das sehr zu würdigen, dass wir mitten im Freitag-Händehoch-Wochenende-Trubel einfach nur da sitzen und nippen konnten.

Donnerstag, 21. März 2024 – Frei und Weizsäcker

Abends die Buchvorstellung von Norbert Frei angeschaut, auf die ich gestern hingewiesen habe. Ist leider nicht mehr als Video online; manchmal belässt das Fritz-Bauer-Institut Veranstaltungen auf YouTube. Falls das Video online geht, gerne nachschauen, das war eine spannende Stunde.

Erschrocken festgestellt, dass die Rede zum 8. Mai 1985 von Weizsäcker fast 40 Jahre her ist. Kann gar nicht sein, das war gefühlt vorgestern. Außerdem gelernt, dass diese Rede die national und international am meisten beachtete und erforschte Rede eines Bundespräsidenten ist. Und dass bis kurz vor Schluss noch ein Gnadengesuch für Rudolf Heß drin stand. Ähem.

Ich copypaste (aka fotografiere mit dem iPhone den Text, das Handy erkennt ja Text und schicke diesen dann per Mail an mich, um ihn hierhin zu kopieren) mal vier Seiten aus Freis Buch dazu. Der besseren Lesbarkeit wegen habe ich ihn nicht eingerückt:

„Die Ambivalenz, mit der Weizsäcker am 8. Mai 1985 – wie in seinen am Ende nur wenigen noch folgenden Reden über die Vergangenheit – einerseits die Autorität des Zeitzeugen in Anspruch nahm, andererseits aber seine persönlichen Erfahrungen weitestgehend beschwieg, unterschied ihn nicht von Carstens oder Scheel, die ebenfalls Uniform getragen hatten, und letztlich auch nicht von den älteren Vorgängern im Amt. Was ihn heraushob und seiner Rede Gültigkeit verlieh, war die Haltung, in der er zu sprechen verstand. Denn wirklich Neues sagte Weizsäcker ja selbst nach eigenem Dafürhalten nicht, und er ging auch nicht über das Mitte der achtziger Jahre gesellschaftlich Diskutierte hinaus. Aber wenn er konstatierte, dass «jeder Deutsche» miterleben konnte, «was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zum offenen Hass», wenn er fragte, wer «arglos bleiben» konnte nach den «Bränden der Synagogen», dann tat er dies mit der Macht und Sprachgewalt des Staatsoberhaupts, das im Namen der Deutschen Zeugnis ablegte: «Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.»

Präziser und zugleich eleganter – auch in der Differenzierung von Schuld und Verantwortlichkeit – konnte man das kaum sagen, ohne genauer von sich selbst zu sprechen: «Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, da beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.»

Das war einerseits deutlich, beließ anderseits aber jedem, der die Rede verfolgte (die ARD übertrug live aus dem Bundestag), die Möglichkeit individueller Selbstexkulpation: Wenn «allzu viele» sich auf Nichtwissen beriefen, beriefen sich manche eben doch zu Recht darauf, zumal in Verbindung mit dem zweifellos gern gehörten, von vielen wohl geradezu erwarteten nächsten Satz: «Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.» Aber auch darauf folgte sogleich wieder eine Einschränkung, zutreffend und vieldeutig und sehr protestantisch: «Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.»

Auf solchen Sätzen, gesprochen von einem Präsidenten, der sich auf religiöse Metaphern und liturgische Formen verstand, beruhte zweifellos ein Großteil der Wirkung von Weizsäckers Rede. Allein die Entscheidung, von seinem einleitenden Kurzpsychogramm des Kriegsendes nicht sogleich in die historische Darstellung überzugehen, sondern im Duktus säkularisierter Fürbitten zunächst der einzelnen Opfergruppen zu gedenken, veränderte den Rezeptionsrahmen und setzte einen sehr besonderen, erhabenen Ton. Dahinter verschwanden manche Defizite: Sei es, dass sich Weizsäcker des fragwürdigen Begriffs der «Verstrickung» bediente, sei es, dass er an keiner Stelle von der Verantwortung der Eliten sprach oder dass er Hitler gewissermaßen als Einzeltäter auftreten ließ, der das «ganze Volk zum Werkzeug» seines Judenhasses gemacht hatte. Oder dass er, im Grunde nicht anders als einst Heuss oder Lübke, die Deutschen am Ende des Krieges von Hitler «gequält, geknechtet und geschändet» sah.

Selbst professionellen Beobachtern scheint derlei seinerzeit entgangen zu sein, zumal den vielen Gesinnungsfreunden des Präsidenten. Marion Gräfin Dönhoff und Fritz Stern, die die Ansprache vor dem Bildschirm verfolgten, hörten die «unerschrockenen, eloquenten und irgendwie tröstlichen Worte» – und waren sich, so erinnerte sich der Historiker, einig: «Es war die wichtigste Rede, die nach dem Krieg in Deutschland gehalten worden war. Es war die Abrechnung eines echten Konservativen, genau zur rechten Zeit und Gelegenheit.» (S. 275/276)

Die Resonanz auf Weizsäckers Rede war gewaltig. Nach den bedrückenden Debatten um den Staatsbesuch des US-Präsidenten und dem Fiasko von Bitburg wirkte der Vormittag geradezu befreiend, im Parlament wie für Hunderttausende vor den Bildschirmen oder am Radio. Die bundesrepublikanische Presse berichtete anderntags auf ihren Titelseiten, zahlreiche Redaktionen druckten die Rede im Wortlaut und stellten anerkennende Kommentare dazu. Aber auch weltweit, vor allem in den USA und in Israel, wo es zuletzt harsche Kritik am Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit gegeben hatte, gingen die Medien vielfach ausführlich auf die Ansprache ein.

So eindeutig allerdings, wie es der Aufmacher der Süddeutschen zusammenfasste – «Weizsäcker: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung» –, war die Botschaft zunächst jedoch nicht überall verstanden worden. Im Unterschied zur Frankfurter Rundschau, die ähnlich formulierte, und der Welt, die zusätzlich «kein Tag zum Feiern» in die Überschrift nahm, gab sich die Frankfurter Allgemeine, die Kohls Bitburg-Kurs bis zuletzt verteidigt hatte, eher zugeknöpft: «Weizsäcker: Ein Tag der Trauer und der Hoffnung».

Wirkungsmächtiger als der Tagesjournalismus war ohnehin das sich rasch erweisende – und anhaltende – gesellschaftliche Interesse an der Rede. Friedbert Pflügers effiziente Offentlichkeitsarbeit mochte dazu einiges beitragen, auch wenn es zum Beispiel eine Schallplatte, von der die Produktionsfirma zehntausend Exemplare für weiterführende Schulen zur Verfügung stellte, schon zu Zeiten von Theodor Heuss gegeben hatte, 1952 nach seiner Belsen-Rede. Doch mit guten Kontakten in die Medien und in die Landeszentralen für politische Bildung ließ sich weder erklären, dass die Nachfrage nach dem Text über viele Monate anhielt, noch, dass sich das Präsidialamt veranlasst sah, Ubersetzungen in zwanzig Sprachen in Auftrag zu geben. Gunter Hofmann, damals Bonner Bürochef der Zeit, brachte die eigentümliche Wirkung der Rede später auf den Punkt: «Uns jungen Journalisten, die sich vielleicht ein paar mehr Verstöße gegen die herrschenden Denkmuster gewünscht hatten, wurde dennoch unmittelbar bewusst, dass nichts davon eine Selbstverständlichkeit war. Das war die Paradoxie: Neu waren die Einsichten nicht, und trotzdem zogen sie einen Schleier weg. Man atmete durch.»

Aus der inzwischen nahezu verdoppelten zeitlichen Distanz zum Kriegsende 1945 lässt sich konstatieren, dass keiner anderen politischen Rede, die seitdem in Deutschland gehalten wurde – auch nicht in den geschichtsträchtigen Jahren 1989/90 – ein ähnliches Maß an Beachtung und internationaler Anerkennung zuteil geworden ist wie jener Weizsäckers am 8. Mai 1985. Und unübersehbar ist auch: Die Ansprache des sechsten Bundespräsidenten gehört in die Reihe jener erinnerungspolitischen Großereignisse, die 1979 mit der Serie «Holocaust» begonnen hatte und jene «Erinnerungskultur» begründen sollte, die das vereinte Deutschland bis in die Gegenwart prägt. Zum Ende von Weizsäckers Amtszeit 1994 war «die Rede» in einer Gesamtauflage von zwei Millionen Exemplaren verbreitet, darunter auch eine Ausgabe bei Siedler, in Leinen gebunden wie einst die Heuss-Texte bei Leins.“ (S. 279/280)

Aus: Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949–1994, München 2023.

Mittwoch, 20. März 2024 – Hopfen und Malz

Seit wenigen Tagen gibt es endlich auch von der schnuffigen Augustiner-Brauerei alkoholfreies Helles. Das konnte ich gestern bei einer Verabredung mit einer Ex-Kollegin aus dem Lenbachhaus gleich mal im Obacht antesten. Erster Eindruck: Das Etikett ist schon mal hübsch. Zweiter Eindruck: schmeckt und löscht den Durst. Das macht Apfelschorle allerdings auch, wenn ich keinen Alkohol trinken möchte. Nach dem alkoholfreien bestellte ich dann doch lieber noch zwei mit Umdrehungen. Aber ich finde es gut, dass es nun die Alternative gibt.


Ein kleiner Veranstaltungshinweis für Frankfurt und das Internet: Heute stellt Norbert Frei beim Fritz-Bauer-Institut das Buch vor, mit dem ich seit Weihnachten hadere. Ab 18.15 Uhr kann man auch per YouTube dabei sein.