Donnerstag, 11. März 2021 – Accepted with minor revisions

Fürchterlich schlecht geschlafen, ich lag bis vier mehr oder weniger wach. Ich weiß nicht, ob es am bevorstehenden Gespräch mit dem Doktorvater lag, dem ich das stark überarbeitete Diss-Dokument geschickt hatte, oder daran, dass ich nach fast zwei Wochen Quasi-Abstinenz unbedingt zwei Liter Tee trinken musste, die letzte Tasse dann auch locker um 21 Uhr abends, ich Hirn.

Das Gespräch war dann äußerst erfreulich, auch die zweite Herausgeberin nach dem Herrn Erstprüfer ist dafür, mich in der gemeinsamen Reihe zu verlegen; fehlt nur noch der Verlag, aber da der ja mein Geld kriegt und nicht umgekehrt wie in der Belletristik bzw. Populärwissenschaft, wüsste ich nicht, was er dagegen haben sollte. (Knurr.)

Die Mitherausgeberin hatte allerdings ein paar Anmerkungen, die Papa und mir völlig durchgerutscht waren, Betriebsblindheit irgendwann, bei mir inzwischen eh, ich habe überhaupt keinen Abstand mehr zu meinem Text, obwohl ich bei der Überarbeitung genau darauf noch einmal geachtet hatte. Aber ausgerechnet im Inhaltsverzeichnis, also der Visitenkarte des ganzen Dings, nutzte ich einige Begrifflichkeiten, an die ich dringend noch einmal ran muss. Generelle Mitteilung war auch, und darüber musste ich als Immer-auch-noch-Werberin innerlich sehr lachen: „Das klingt noch wie eine Diss – das darf mehr wie ein Buch klingen.“ Anders formuliert: mehr werbischer werden, damit jemand das Buch lesen will. Das kriege ich hin.

Wir sprachen auch über die Inanspruchnahme meiner Arbeit durch eher unangenehme Zeitgenoss:innen bzw. auf die aller, die sich mit dem Thema NS beschäftigen. Dadurch, dass ich eine lange Arbeit über Protzen veröffentlichen werde, in der auch Abbildungen enthalten sind, hole ich diese Werke in den Diskurs, aus dem sie bisher ausgeschlossen waren. Ich zeige diese Werke zwar in einem streng wissenschaftlichen Kontext und mache auch im Text meinen kritischen Zugriff sehr deutlich, aber auch das wird mich vermutlich nicht davor bewahren, dass irgendwelche rechtsdenkenden Menschen jetzt schönes neues Bildmaterial haben, das sie unwissenschaftlich und unkritisch nutzen könnten. Oder die Autobahn selbst, die manchmal von einer bemerkenswerten Geschichtsblindheit überfallen wird.

Auch deswegen sollte ich im Inhaltsverzeichnis noch einmal sehr genau schauen, ob dieser kritische Zugriff nicht noch deutlicher formuliert werden könnte. Die Kapitelüberschrift „Gemälde aus den besetzten Ostgebieten“ kann man mit sehr viel geistiger Verrenkung auch im Sinne von „Guck mal, der Osten gehört jetzt uns, hier sind hübsche Abbildungen“ lesen anstatt in meinem Sinne von „Abbildungen aus den besetzten Ostgebieten machten Protzen zum wissentlichen Akteur eines unmenschlichen Systems“.

In den nächsten Tagen gehe ich an diese Baustelle also noch einmal ran, dann kriegt der Verlag Post und dann darf ich mich um 130 Abbildungen kümmern, von denen ich diverse einkaufen muss. Seufz.

Spotify spülte mir gestern KT Tunstall in den Mix der Woche. Die Songzeile „There is paradise / In the loneliness / But I’m counting on you coming by“ fand ich zu COVID-Zeiten sehr passend.

Der Account Midwest Modern (gefunden über, ich glaube, @LangeAlexandra) erfreute mich gestern mit hübschem Geschirr.

Montag bis Mittwoch, 8. bis 10. März 2021 – Gute Laune, schlechte Laune

Ich bin nach der Woche im Norden meist erstmal erledigt und will nur rumliegen, das habe ich am Wochenende auch großflächig gemacht, neben dem Tartebacken. Außerdem stellte ich überrascht fest, dass die Knieschmerzen fast weg sind, wenn ich im Vierfüßlerstand auf der Yogamatte bin oder Ausfallschritte mache. Hat das ewige schmerzhafte Treppensteigen der letzten Woche vielleicht doch einen guten Nebeneffekt gehabt. Fight fire with fire!

Montagabend genoss ich einen Vortrag von Henrike Naumann, deren Arbeiten ich seit längerem verfolge. Als F. und ich das letzte Mal in Wien waren, unserer zweiten Heimat, irgendwann ziehen wir da hin, es hilft ja nichts, sahen wir ein Ausstellungsplakat am Bahnhof, woraufhin wir dann gleich nach dem Kofferauspacken ins Museum gingen. Und die Ausstellung im Haus der Kunst nahmen wir auch noch mit, bevor alles geschlossen wurde.

Naumann sprach per Zoom im Kunstverein Hannover, nicht nur über die Installationen zu Reichsbürgern und ähnlichen, die ich kannte, sondern auch zu Hannover-zentrierten wie „Mensch. Natur. Twipsy“ (2019), für die sie ins Originalkostüm von Twipsy schlüpfen durfte. Alle Hannoveraner:innen kennen Twipsy und wissen, dass „Mensch. Natur. Technik“ das Motto der Expo 2000 in Hannover war. Ich erinnere mich noch lebhaft an die unwürdigen Diskussionen, dass Kraftwerk (KRAFTWERK!) Geld für den Jingle zur Ausstellung haben wollte, diese unverschämten Wegelagerer. Beim Wiederanschauen: Ich mag das wabernde Logo der Expo immer noch.

Naumann sprach über ihre ortsinspirierten Installationen, über die Materialien und die Rechercheprozesse. Normalerweise will ich gar nicht wissen, was Künstler:innen zu ihren Werken sagen, das ist ja mein Job, mir darüber Gedanken zu machen, aber ich hörte sehr fasziniert zu. Auch weil sie fast nebenbei den Effekt von bildender Kunst erklärte, ohne es zu wollen: Sie wurde gefragt, ob sie Worte oder Bilder der Neuen Rechten gefährlicher fände – siehe den dusseligen Schamanen beim Sturm aufs Kapitol, der jetzt schon eine gewisse ikonische Wirkung hat –, und in der mäandernden Antwort meinte sie, dass man bei Texten immer so viel erklären müsse, während Bilder, Objekte, Installationen bei jedem andere Reaktionen hervorriefen, jeder empfände diese Dinge anders. Anders formuliert: Bilder wirkten stärker, weil sie assoziativer sind. Tach, Kunst.

Das erinnerte mich an mein Lieblingszitat von Gerhard Richter, der in den 60ern, wenn ich mich richtig erinnere, mal meinte, er könne nur mit Malerei ausdrücken, was er zu sagen hätte; wenn er es mit Worten könne, würde er schreiben. Das habe ich gerne im Hinterkopf, wenn ich in meinen Bildbeschreibungen zu blumig, zu persönlich oder zu weit weg von allem werde und mich ermahnen muss, schlicht aufs Bild zu schauen und nicht schon rumzuinterpretieren. Das ist erst der zweite Schritt.

Seit ein paar Tagen weiß ich, dass ich Prio 2 bei den Impfungen bin, aber das kann ich leider nirgends auf der bayerischen Seite anklicken, auf der man sich anmelden soll. Laut der bin ich nämlich Prio 3, wie das in einer älteren Verordnung festgelegt wurde. Die Nummer beim Imfpzentrum, die ich mich gestern traute anzurufen, fragt per Menü erstmal ein paar Dinge ab, bevor sie einen weiterverbindet, nämlich ob ich über 80 bin und Pflegepersonal etc., und weil ich das wahrheitsgemäß verneinte, flog ich aus der Leitung: „Sie sind noch nicht dran, bitte informieren Sie sich in den Medien, wann Ihre Gruppe geimpft wird.“ Hmpf. Die bundesweite Nummer will ich nicht wählen, weil die vermutlich irre oft von anderen gewählt wird, die noch nicht wissen, wo ihr Impfzentrum ist. Überhaupt will ich mich nicht vordrängeln oder ähnliches, aber wenn ich Prio 2 bin, würde ich auch gerne früher rankommen. Ich nehme auch AstraZeneca. Ich nehme Sputnik, wenn’s sein muss!

Launig textete ich F., dass meine Hausärztin mich vermutlich eher impfen würde als das Impfzentrum, aber dann kam gestern die Nachricht, dass man darüber wohl nochmal nachdenken müsse, Anfang April ist ja auch echt überstürzt, Mitte des Monats reicht auch, die zwei Wochen mehr machen uswusf. Ich mag nicht mehr. Ich will nicht mehr auf gute Nachrichten hoffen, ich lese jetzt einfach ein halbes Jahr keine Nachrichten mehr, warte ergeben darauf, dass mein Handy pingt und mir einen Impftermin nennt, von mir aus mit Sägespänen, ich kann dieses Gefühl nicht mehr ertragen, dass unser aller Gesundheit an Bürokratie, Dokumentationswahn und Logistik hängt.

Vorgestern schrieb mich eine Neu-Doktorandin meines Doktorvaters an (der Herr verknüpft uns gerne alle miteinander). Sie arbeitet zu einem weiteren Künstler aus dem Münchner Raum, über den es kaum bis gar keine Literatur gibt, und wie es der Zufall will, hat der Mann auch mindestens eine Autobahn gemalt. Dazu wusste die Dame nichts, kein Wunder, es gibt ja auch keine Literatur zu diesen Bildern, BIS JETZT, MUHARHAR!, also fragte sie mich und ich konnte sehr viel schreiben. Das hat mich gefreut zu merken, dass ich doch ein, zwei Dinge rausfinden konnte in den letzten Jahren.

Apropos: Heute abend um 18 Uhr gibt es einen Online-Vortrag von dem Herrn, der mein Kontakt in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen war, wann immer ich eine wilde Frage zu Protzens Werken im Haus hatte. Gramlich stellt sein Buch Begehrt, beschwiegen, belastend. Die Kunst der NS-Elite, die Alliierten und die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (1943–2020) vor, und aus berufener Quelle wurde mir gesagt, dass auch ein Werk von Protzen auf einer Powerpoint-Folie zu sehen sein wird, ich tippe natürlich auf die Donaubrücke bei Leipheim, weil die von einem NS-Funktionär gekauft wurde und 1953 als sogenannte Überweisung aus Staatsbesitz im Depot der Pinakotheken landete. Schalten Sie ein, schauen Sie Autobahnen! Oder wenigstens eine.

Für das bzw. die Foto/s der Schokoladentarte probierte ich tagelang mit den neuen, alten Tellern rum, die ich aus dem Norden mitgeschleppt hatte. Ich habe keine Ahnung, warum ich, die gerne so schlicht wie möglich wohnt, auf einmal überkandidelte Blümchenteller mit Goldrand mag, aber egal, dann ist das jetzt so, dann verbiedermeiere ich jetzt halt. Auf simples Skandinavisches gucke ich seit 30 Jahren, vielleicht ist jetzt die Zeit für Schnörkel gekommen. (ORNAMENT UND VERBRECHEN!)

Daher esse ich seit Tagen mein Käsebrot von bunten Tellerchen, und gestern trug ich erstmals eine der alten Tassen an den Schreibtisch.

Das ist, wie ich merkte, eine Rechtshänderinnentasse. Wenn man sie mit links greift, sieht man keine Blume, sondern nur weiß. Gemein!

Schokoladentarte

Ich teste anscheinend gerade alle Mürbeteige dieser Welt an. Dieser hier – zusammen mit dem Schokoschlotz oben drauf – stammt aus Die neue bayerische Küche von Florian Lechner. Mir gefiel daran das deutliche Zitronenaroma, das bei der Menge an Schokolade dringend nötig ist. Außerdem ließ er sich ausnehmend gut verarbeiten und war nicht so eine rissige Diva, was Mürbeteige beim Tarteformauskleiden ja gerne mal sind. Ein netter Teig.

Aus der untenstehenden Menge ist bei mir eine 28-cm-Form entspannt voll geworden plus zwei kleine Tarteletteförmchen. Ich bin immer zu faul zum Umrechnen; wenn ihr keine kleinen Förmchen habt, backt einfach ein paar Kekse aus dem Rest. Oder macht vom ganzen Rezept inklusive Füllung nur drei Viertel, das müsste auch halbwegs hinkommen.

360 g Mehl, Type 405, mit
120 g Puderzucker,
20 g Speisestärke,
15 g Vanillezucker und
der abgeriebenen Schale einer Biozitrone vermischen. Im Rezept stand was von 2 EL, ich rieb zu enthusiastisch, ließ es dabei und fand es super.

Aus den trockenen Zutaten einen kleinen Berg bauen, in der Mitte eine Mulde formen, darin
30 g Eigelb geben, das waren bei mir zwei kleine Eier.
220 g kalte Butter in Würfeln auf dem Berg verteilen und dann alles mit einem großen Messer grob hacken, bis sich alles verbindet und man einen glatten Teig kneten kann. Man kann auch alles in den Zerkleinerer werfen, aber ich habe gehackt. Mürbeteig ist bei mir Tagesform.

Den Teig zu einer dicken Scheibe formen, diese in Klarsichtfolie wickeln und für mindestens 30 Minuten im Kühlschrank parken. Danach zwischen zwei Lagen Folie oder Backpapier ausrollen, ich nehme immer die Folie, in die der Teig eingewickelt war plus eine Lage Backpapier oben drauf.

Die Tarteform buttern und mit
2–3 EL braunem Zucker bestreuen. Form mit dem ausgerollten Teig auskleiden, den Teig etwas andrücken, mit einer Gabel ordentlich einstechen und erneut zehn Minuten kühlstellen. Danach im auf 170° Ober- und Unterhitze vorgeheizten Ofen für etwa 20 Minuten backen. Der Rand sollte goldig-braun sein, die Mitte soll durchgebacken aussehen.

Mir ging der Boden etwas zu stark auf, weswegen ich nach der Hälfte der Zeit die Form mit Backpapier ausgelegt und meine Blindbackkugeln darauf verteilt habe. Im Buch steht nichts vom Blindbacken, aber ich meine, bei Tartes ist das gesetzt. Ich erinnere daran, vor allem alle Leute, die per Google hier vorbeischauen, dass ich keine Foodbloggerin bin, diese Rezepte sind meine Gedächtnisstütze für die nächsten Versuche. Wenn ich nett bin, editiere ich dann den Text. Wenn ich faul bin, dann nicht, was mich im letzten Jahr beim Stollenbacken, das ich jahrelang nicht gemacht hatte, etwas in den Hintern biss, aber ich schweife ab.

Den gebackenen Boden auskühlen lassen.

In einer Schüssel im Wasserbad
250 g Zartbitter-Kuvertüre und
200 g Butter schmelzen.

In einer weiteren Schüssel
80 g Mehl mit
6 g Backpulver und
20 g dunklem Kakaopulver mischen.

4 Eier mit
100 g Vanillezucker schaumig aufschlagen. In diese Masse nun nach und nach die Mehlmischung geben. Zum Schluss die Kuvertüre-Butter-Mischung geben und alles noch einmal gründlich durchrühren. Auf den Mürbeteigboden geben, glattstreichen und im auf 175° Ober- und Unterhitze vorgeheizten Ofen für etwa zehn Minuten backen. Vollständig auskühlen lassen, erst dann anschneiden, ja, das tut weh, ich weiß.

Zum Servieren kann man das Prachstück erneut mit dunklem Kakao und/oder Puderzucker bestreuen. Die Tarte ist, wer hätte es gedacht, irre süß und verträgt sich daher hervorragend mit säuerlichem Obst. Ich bin immer Team Himbeer.

Donnerstag bis Sonntag, 4. bis 7. März 2021 – Kulenty, Kracht, Suk

Die Tage im Norden sind immer anstrengend und sie sind vor allem auf immer neue Art anstrengend, weil ich vorher nie weiß, wie es Papa geht. Ich war im November nach meiner Verteidigung und vor der zweiten Welle da, danach blieb ich lieber zuhause, wobei das eine gute Vorbereitung war, denn alle Kontakte, die ich mir in den letzten drei Monaten verkniffen hatte, bekam ich jetzt in einer Woche: mehrere Pflegende, Physio- und Ergotherapeut:in, Hauswirtschaftshilfe, Putzfrau, ein winziger Einkauf, Nachbar, Schwester und Mütterchen, die sich natürlich alle Termine in diese Woche gelegt hatte, so dass ich indirekt noch drei Ärztewartezimmer mitbekam. Ich trug den ganzen Tag Maske, außer beim gemeinsamen Essen, weswegen der Rest der Zeit vermutlich egal oder Placebo war.

Papa findet immer schwerer Worte, er spricht kaum noch aus eigenem Antrieb, nur wenn man ihn etwas fragt, und dann muss man meist soufflieren, weil er nicht mehr weiß, was er antworten soll. Ich weiß nicht, ob das an den neuen Medikamenten liegt; vor wenigen Wochen konnte er gar nichts mehr sagen, woraufhin die damals ausprobierten Tabletten sofort abgesetzt wurden. Es ist also wieder besser geworden, aber trotzdem deutlich schlechter als es im November war. Er spricht fast nur noch im Falsett, warum auch immer, wiederholt fiepsend Phrasen, schreit laut auf, als ob er Schmerzen hätte, wenn ihm Dinge herunterfallen. Er erkennt mich noch, auch mit Maske, er stiert aber sehr oft einfach vor sich hin, schaut einen nicht mehr an, wenn man mit ihm spricht, er lächelt nicht mehr so oft, die alten Kalauer klappen noch, aber so langsam verschwindet mein Vater, wie ich ihn kannte, vor meinen Augen.

Auf der Zugrückfahrt hörte ich die 23. Episode des Beethoven-Podcasts und dementsprechend die 23. Klaviersonate, die „Appassionata“. Das war schön, aber ich muss nach Tagen im Norden immer aufpassen, im Zug nicht zu heulen, weil dann alles hochkommt. War dieses Mal egal, dann heule ich halt im Zug, sieht eh keiner, war netterweise recht leer.

Gabriel Yoran schreibt einen Newsletter, in dem er Klassikstücke vorstellt. Gleich das erste war ein Volltreffer: Hanna KulentysConcerto Rosso“ (2017), zu dem Yoran meinte, es klinge wie Minimalismus auf Speed, was genau die Art von Musik ist, die ich dringend hören wollte. Da hüpfen ein paar Geigen in der Gegend rum und plötzlich kommt die Streichergang aus der Nachbarschaft und die beiden beefen miteinander, aber zum Schluss gibt’s ein Bierchen beim Sonnenuntergang.

Das gefiel mir so gut, dass ich auf Spotify einfach noch ein Stück von Kulenty hörte, zu dem ich entgeistert twitterte: „Jetzt höre ich schon freiwillig Cembalo! Ich mag gar kein Cembalo!“ Nerviges Plinkerding, aber „GG Concerto“ ist fast genauso toll wie „Concerto Rosso“, weil das Cembalo hier den totalen Punk macht.

Zuhause erwarteten mich ein Buchgeschenk und Schokolade und abends F., endlich wieder gemeinsam einschlafen. Sonntag konnte ich mich dann ein paar Stunden „Eurotrash“ von Kracht widmen, denn länger braucht man nicht für das schnelle Buch, wie immer. Ich mochte es sehr, das überrascht jetzt vermutlich niemanden, aber ich mochte es jetzt gerade besonders, weil es Dinge verband, die eh gerade in meiner Wahrnehmung herumwabern bzw. mit denen ich mich beschäftige: Nazischeiß und Familie.

„Eurotrash“ erzählt von einer Reise durch die Schweiz, die ein Autor namens Christian Kracht mit seiner Mutter unternimmt, die eigentlich glaube, man würde nach Afrika fliegen. Deswegen wird ordentlich Bargeld in einer Plastiktüte von der Bank geholt, man schnappt sich ein Taxi und fährt durch die Gegend, Kracht immer bemüht, die Fassung zu wahren, während die laut Kracht geisteskranke Mutter ungeniert Wodka säuft, Pillen schluckt und bündelweise Geld verschenkt. Trotz der schlichten Handlung und der zunächst groben Schilderung gerade der Mutter ist das Buch überraschend zärtlich, weniger oberflächlich als andere Krachts, auch wenn unter dieser Oberfläche natürlich viel mitschwingt.

Dieses Mitschwingen wird hier deutlicher: Kracht wirft mit Namen, Jahreszahlen und Chiffren nur so um sich und entblößt die NS-Vergangenheit seiner fiktiven Familie mit übergroßer Geste. Opa war Untersturmführer der SS, da nimmt es der Erzähler schon ganz genau, und ließ sich gerne von isländischen Arierinnen sadomasochistisch quälen, auch der Patenonkel war dieser Spielart zugeneigt und verbarg hinter einem „unbezahlbaren Gobelin“, auch hier immer schön auf die Details achten, ein geheimes Zimmer, „ganz genau wie beim Vater meiner Mutter, nur in viel prächtigeren Ausführungen, Dildos aus Gold etwa, Kettenkaskaden, schöne Gasmasken und schwarze, augenlose Kapuzen aus Samt und Stahl.“ SS, Gasmasken, Stahl, ist klar, später fallen mitten in irgendwelchen Absätze noch Begriffe wie Eichenlaub, Osten und Gutshof. Die Eltern besaßen expressionistische Kunst, Kracht lässt gerne Maler- und Werknamen fallen, erinnert so auch an Kunstraub und NS-Kunstpolitik, erwähnt Ralph Giardono, Axel Springer und Heinz Rühmann, die man als Codes lesen kann für „Vergangenheitsbewältigung und Scham“, „Wiederaufbau und Antikommunismus“ und „Wir machen einfach so weiter wie vorher, weil Filme ja keine Nazis waren“. Es liest sich distanziert (auch der fiktive Kracht ist Schweizer) und gleichzeitig intim, wie Familiengeschichten nun mal so sind, und über allem liegt das Verzweifeln an Deutschland genau wie an der Schweiz; wo hier alles nationalsozialistisch und geil ist und durch „das große, jahrzehntelange, jahrhundertelange Schweigen, das eingefressene, eingefräste, verbohrte, verbiesterte Schweigen“ nicht vom Fleck kommt, genau wie die eigene Familie, die auch großflächig schweigt, ist dort alles zu teuer, trübe, kalt, protestantisch und schrecklich. „Und das Essen in der Schweiz, das immer viel besser schmeckte als anderswo, es war von Kindersklaven mit irgendwelchen Drogen versehen von der Firma Nestlé, damit die Menschen es gerne aßen und auch spurten und gute Schweizer blieben.“

Man mag einige biografische Details ernster nehmen als andere, wenn der fiktive Kracht seine Mutter einen Missbrauch erleben lässt, der dem echten Kracht angetan wurde, man kann aber auch diese Sätze in die Reihe der vielen anderen stellen, die die Leserin bewusst in die Irre führen wollen, was bei Kracht dann so klingt: „Na jedenfalls, und jetzt komme ich drauf, waren die Figur oder dessen Monologe, denn Dialoge kamen in dem Buch ja gar nicht vor, so glaubhaft, daß die Leser von Faserland dachten, das sei tatsächlich ich, der da so schrieb.“ Und nur zwei Seiten später, als er erzählt, dass sein Großvater „nach der Zeit im Entnazifizierungslager seine Kenntnisse aus der Reichspropagandaleitung direkt bei der Werbeagentur Lintas anwenden durfte“ und sich dort die Produktnamen Badedas und Duschdas ausgedacht hätte: „Es war kaum zu glauben eigentlich, wenn man einmal wirklich darüber nachdachte.“

(Bei Lintas muss ich immer an den alten Hamburger Großkotzwerberwitz denken, wenn eine Idee nur so mittel war, dann sagte der CD, nicht die CD, nein, meist der: „Du, bei Lintas würden die sich das auf den Flur hängen.“)

Ich fand die vielen Anspielungen charmant und anstrengend gleichzeitig, weil man sich nie sicher sein kann, was ernst gemeint ist, was wirklich eine Botschaft transportiert und was nur hübsches Wortgeklingel ist. Aber so schreibt Kracht immer und ich lese es gern.

„Erzähl mir doch etwas.“
„Wahrheit oder Fiktion?“
„Das ist mir egal. Entscheide Du.“

Abends im Bad blieb ich bei Josef SuksSerenade für Streicher Es-Dur, op. 6“ hängen, die gerade im Deutschlandfunk lief. Das Adagio kannte ich sogar, das kam in der langen Liste von „Year of Wonder“ vor und gefällt mir sehr gut. Die Playlist gibt es auf Spotify, aber netterweise auch auf YouTube.

Ein mülliges Dankeschön …

… an eine:n unbekannte: Leser:in, der oder die mich mit Christian Krachts Eurotrash überraschte. Das Buch lag im Laufe der vergangenen Woche in der Packstation, von wo es der liebe F. auf meinen Küchentisch transportierte, damit ich etwas Schönes hatte, das auf mich wartete nach der Woche im Norden. Der gute Mann legte gleich noch ein paar Nougatherzen und frische Brötchen vom Lieblingsbäcker dazu, hach!

In meiner Twitter-Timeline kommt Kracht nicht ganz so gut weg, aber was soll ich sagen, ich lese den Mann offensichtlich ganz gerne. Vor wenigen Wochen las ich Faserland noch einmal, das hat sich meiner Meinung nach als eine Art Zeitkapsel recht gut gehalten. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut und für heute eine schöne Tagesbeschäftigung.

Mittwoch, 3. März 2021 – Unerwarteter Muskelzuwachs

Die Ergotherapeutin, die mich seit November nicht mehr gesehen hatte, fragte, ob ich abgenommen hätte. Ich weiß inzwischen schon gar nicht mehr, wie ich auf diese Frage reagieren soll, weil ich mich von Menschen, die sowas fragen, sehr weit entfernt halte. Ich verneinte wie schon tausendmal in meinem Leben, woraufhin sie meinte, vielleicht wären die Klamotten gerade sehr schmeichelnd.

Ich trage hier im Norden die ältesten Shirts und Hosen, die ich habe, weil ich hier den halben Tag rumlaufe, koche, schwitze und Zeug mache, was ich zuhause nicht in diesem Tempo erledige bzw. da eher am Schreibtisch sitze. Gekocht wird zuhause in Rumschlumpfklamotten, denen es egal ist, ob sie Tomatensauce abkriegen; mit Schürzen bin ich nie zurecht gekommen, ich suche immer noch eine, die mich nicht wahnsinnig macht, zum Beispiel durch Bänder im Nacken. Vielleicht sollte ich mal eine Art Dirndlschürze ausprobieren, ich kleckere sowieso eher unterhalb der Gürtellinie rum bzw. will meine Hände irgendwo abwischen, weswegen ich beim Kochen immer ein Leinentuch über der Schulter habe.

Was ich sagen wollte: An den Klamotten dürfte der anscheinend positive Gesamteindruck nicht gelegen haben. Dann fiel mir ein, dass F. ja auch mal meinte, ich würde mich anders anfühlen nach den launigen Sportprogrammen. Gestern bat mich das Mütterchen um Hilfe beim Abtauen der Truhe, was wir im letzten Jahr schon einmal gemeinsam erledigt hatten. Und dabei merkte ich dann auch, wofür die ganzen seltsamen Ausfallschritte, das Balancieren, Dehnen, die Planks, Liegestütze, die weiteren Bauchmuskelübungen und das Rumgezerre an Therabändern gut gewesen waren. Ich beugte mich ständig nach vorne, um aus den Tiefen der Truhe Zeug zu holen, was meinem Rücken völlig egal war. Danach schleppte ich wannenweise Gefrorenes in die Garage, wo es zwischenlagerte, wobei ich auf einem Bein stehend die Türen öffnete, ohne dabei umzufallen (das war nett). Nach dem Abtauen wischte ich die Truhe mit Handtüchern trocken, und auch dabei zickte der Rücken nicht ein einziges Mal, während ich erneut auf einem Bein stehend kopfüber in der Truhe steckte. In die Truhe hatten wir zwei Eimer mit heißem Wasser gestellt, um das Abtauen zu beschleunigen. Die hob ich nun wieder hinaus, wrang ein Dutzend Handtücher mit dem Abtauwasser in ihnen aus, was sie noch schwerer machte – und trug dann beide gleichzeitig und innerlich achselzuckend, weil piece of cake, aus dem Keller.

So anstrengend die Zeit hier auch immer ist und so sehr mein Knie die ganzen Treppen hasst – das fand ich ausgesprochen schön zu merken, dass ich anscheinend wirklich an Kraft, Stabilität und Mobilität zugelegt hatte, ohne es wirklich mitzukriegen.

Und eben beim Frühstück guckte ich einer keckernden Elster zu und einem Eichhörnchen auf seinem lustig gehüpften Weg über zehn Bäume, die hier halt rumstehen. Das war auch schön.

Montag/Dienstag, 1./2. März 2021 – Ankommen, absahnen und aufatmen

Der erste Tag im Norden ist immer erstmal wieder reinkommen, sich an all die vielen Handgriffe erinnern bzw. dafür in der langen Liste nachschauen, die ich irgendwann mal angelegt habe. Die Medikation von Vaddern hat sich seit meinem letzten Besuch im November vor der zweiten Welle leicht geändert, das muss ich anpassen, der Geschirrspüler funktioniert noch wie immer, gut. Papas Zustand ist etwas schlechter, leider erwartbar. Das Mütterchen wartet auf ihre Kur, die ihr zwar bewilligt wurde, für die sie aber nach Sachsen an einen Ort soll, wo jetzt gerade ein Inzidenzwert von über 230 herrscht. Wir sind darüber nicht ganz so glücklich, auch weil man in das kleine Kaff nur mit mindestens dreimal Umsteigen und einer Fahrtzeit von über sechs Stunden kommt; für eine allein reisende Ü80-Dame nicht ganz so entspannt. Es ist auch abgemacht, dass sie erst nach der Impfung fährt, aber Niedersachsen ist ziemlich weit hinten mit dem Impfen. Schwesterchen hat sie auf eine Warteliste bekommen, und daher warten wir.

Bei den Eltern sein bedeutet für mich immer, alten Kram abzusahnen. Dieses Mal war es ein Berg Sammeltassen – im Bild ist die Hälfte zu sehen –, die ich jahrelang total albern fand, aber jetzt gerade total toll. Instagram kann sich schon mal auf viele neue Kuchenfotos freuen. Evil plan: immer dasselbe Stück Marmorkuchen auf 15 verschiedenen Tellern. Wird super.

Gestern nachmittag war eine Helferin bei Vaddern und fuhr mit ihm bei besten Wetter ein bisschen im Rollstuhl um den Block. Daher hatte ich frei, spazierte zur Schwester und knipste ein bisschen Fachwerkromantik. Seit F. den ganzen Tag fotografiert und ich sehe, was mit einer guten Optik machbar ist, kann ich meine iPhone-Fotos nicht mehr so gut leiden.


Aber meine Heimatbibliothek musste ich dann doch ablichten. Ich habe recht wenige Erinnerungen an meine Kindheit – ist auch schon lange her –, aber an die Bibliothek mit am meisten. Ich weiß noch genau, wie es aussah, wenn man reinkam, ich weiß, wo die damalige Multimedia-Ecke war, die vermutlich aus Hörspielkassetten bestand, ich kann mich noch an einige Regale erinnern, weil ich die fast komplett der Reihe nach durchgelesen habe, und ich weiß noch, an welchem Platz ich gerne saß, weil da die Sonne hinschien, ohne zu blenden oder zu heiß zu sein. Hinter einem der Fenster links im Bild.

Ich fragte mich schon öfter, wann das aufhörte, dass ich gerne in Bibliotheken ging, und ich finde es schade, dass ich es erst mit Ende 40 wiederentdeckte. Aber immerhin.

Um kurz nach 22 Uhr abends pingte WhatsApp. Das Schwesterchen schrieb mit diversen Sektglas- und Jubeltröten-Emojis, dass das Mütterchen ihre Impftermine hätte: Ende März den ersten und drei Wochen später den zweiten. Google verriet mir, dass sie dann vermutlich Biontech bekommt, weil das in diesem Abstand gespritzt wird; Moderna im Abstand von vier Wochen, AstraZeneca neun bis zwölf, sagt jedenfalls das Interweb, dem ich ja alles glaube. Das beruhigte sie sehr, denn eine der Pflegenden hatte uns von ihren zwei eher unerfreulichen Tagen nach einer AstraZeneca-Impfung erzählt. Das klang wie eine nervige Grippe, was bestimmt nicht schön war, aber verdammt nochmal ich nehme auch eine Grippe, wenn ich danach einen halbwegs okayen Impfschutz habe. Aber gut. Jetzt ist das Mütterchen dran. Als über 80-Jährige pflegende Angehörige mit einer Lungenvorerkrankung ist sie dann Ende April geimpft. Das läuft alles total supi. Ich will mich nicht mehr aufregen, weil ich eh nichts machen kann, aber ich rege mich trotzdem auf. Egal. IMPFTERMIN! JUBELTRÖTE!

Ach ja, weil Papa eher immobil ist, muss er warten, bis die Hausärzte zu ihm kommen können. Eine Jubeltröte mussen wir leider abziehen.

Sonntag, 28. Februar 2021 – Beim Zugfahren ansatzweise heulen

Ich hatte tagelang Panik vor der Zugfahrt, weil ich es seit einem Jahr relativ konsequent vermeide, in geschlossenen Räumen mit mehreren Menschen länger zusammenzusein. Ich weiß immer noch nicht, wie ich mich in den Tantris-Besuch im November reingequatscht habe. Vermutlich weil es das Tantris ist.

Der ICE war netterweise leerer als die Sternebude, ich meine, wir waren nie mehr als zehn Menschlein im Großraumwagen (erste Klasse). Ich las Klemperer, bis mir einfiel, dass ich seit November nicht mehr Zug gefahren und auch seit dieser Zeit nicht aus München rausgekommen bin, also guckte ich aus dem Fenster, nachdem wir Ingolstadt hinter uns hatten. Das ist immer die erste und letzte Hürde auf der Fahrt nach Hannover: Bis Ingolstadt zieht sich’s, wo ich gefühlt schon in Nürnberg bin, und auf der Rückfahrt zieht sich’s, weil wir doch schon aus Nürnberg raus sind, da muss doch jetzt München kommen. Ingolstadt nervt immer. Würzburg hingegen nervt nie: Obwohl es ungefähr in der Mitte der Strecke liegt, denke ich in Würzburg immer, egal ob Richtung Norden oder Süden, jetzt hab ich’s gleich geschafft, schon fast zuhause, keine Ahnung, warum. In Richtung Norden kommen danach die ganzen Halte im Halbstundentakt, Fulda, Kassel, Göttingen, da hat man immer das Gefühl, voranzukommen. Auf dem Rückweg kommt nach Würzburg nur noch Nürnberg (ich ignoriere Ingolstadt, bis wir da im Bahnhof stehen), das ist ja schon fast München.

Mein Gehirn war vor der Pandemie auch schon so, was Entfernungen angeht, das liegt ausnahmsweise mal nicht am Virus.

Wie immer im Zug hörte ich den Beethoven-Podcast mit Herrn Levit, gestern gab’s die Sonate Nummer 22, und Levit spielte zwischendurch mal eben „das Lied von der Teekanne“ aus Disney’s „Beauty and the Beast“, litt unter einem schlimmen Kalauer seines Gesprächspartners – „da erzähle ich dir seit Jahren die besten jüdischen Witze und dann kommt sowas“ – und erklärte, dass er sich wie ein Tausendfüßler fühle, wenn er im zweiten Satz sei. Danach hörte ich die Sonate ganz und musste völlig unvermittelt meine Tränen unterdrücken. F. und ich haben theoretisch Karten für Levit Anfang April in München, aber ich gehe davon aus, dass das Konzert verschoben wird. Damit rechnen wir seit Monaten, aber gestern erwischte die Traurigkeit darüber mich ganz frisch.

Schnell Popmusik hören, da werde ich anscheinend weniger sentimental. Mit 80er-Jahre-Kram auf den Ohren in Hannover eingefahren.