Tagebuch KW 29 – There and back again

Die letzte Etappe in der alten Heimat umfasste für mich 12 Tage, am vorletzten Tag kam das Mütterchen aus der Reha wieder zurück – ihre Kur war um eine Woche verlängert worden –, und am letzten Tag reiste ich nachmittags wieder nach München. Ich musste in Würzburg umsteigen, hörte das „Rheingold“ einmal komplett durch und las endlich das dicke Wagner-Buch und empfehle es euch nach 100 Seiten schon allerwärmstens weiter.

(Einschub: Ich erzählte gestern morgen im Bett F. die auch für mich neue Story, dass Wagner das Bayreuther Festspielhaus nur aus günstigen Materialien für eine einzige Spielzeit errichten und dann wieder abreißen wollte. F. nur so schnaubend: „Ein fürchterlicher Mensch!“ Ich mag es sehr, wenn ich F. dazu kriege, mit den Augen zu rollen und sich über irgendwas zu entrüsten. Also wenn ich es nicht bin, über die sich entrüstet werden muss. Wagner geht immer, wie ich inzwischen weiß. Zurück zur Bahnfahrt, wagalaweia:)

In Hannover war ich noch ganz vorne in den ICE gestiegen, was mich immer freut, denn dann komme ich auch in München ganz vorne an, und der Weg zur U-Bahn ist nur ungefähr 300 Meter lang. Durch den Umstieg landete ich aber nun für die letzten zwei Stunden ganz am hinteren Ende zweier miteinander gekoppelter ICEs und stieg so in München gefühlt an der Hackerbrücke aus. Weg zur U-Bahn: MINDESTENS ein Kilometer. Bauchgefühl siegt über Schrittzähler.

Apropos Schrittzähler: Ich stellte äußerst erstaunt fest, dass ich im Norden täglich um die 10.000 Schritte erreichte, ohne je das Haus zu verlassen. Es ist offensichtlich zu groß bzw. verfügt über viel zu viele Treppen.

Die zweite Etappe fühlte sich deutlich anders an als die erste. Wo ich beim ersten Mal vom Dasein als Alleinversorgerin für Vaddern mindestens drei, vier Tage völlig überfordert und panisch war, wusste ich dieses Mal, was auf mich zukommt. Daher habe ich auch nur noch zweimal weinen müssen, einmal, weil Papa Dinge (zeitweilig) nicht mehr konnte, die er sonst seit zwei Jahren täglich macht und ich schlicht nicht wusste, wie ich ihm erklären sollte, wie die Tätigkeit „Trinken“ funktioniert, das andere Mal, als eine Pflegerin noch da war und ich das Gefühl hatte, ihr die Arbeit eher zu erschweren als zu erleichtern. (War nicht so.) Es bleibt weiterhin kompliziert, aber das Grundgefühl meiner Schwester und mir vor vier Wochen – ACH DU HEILIGE GROSSE SCHEISSE – wich irgendwann einem halb resignierten, halb aktionistischen „Wird schon, geht doch“. Wir versicherten uns gegenseitig, das alles sehr ordentlich gewuppt bekommen zu haben, ich mit fast finalem Verlagsdokument in Arbeit, sie und ihr Mann mit Vollzeitjobs und einem eigenen Haushalt. Meine Balkonkräuter haben es nicht überlebt, aber ich fand es wirklich albern, F. zu bitten, zweimal am Tag vier 2,50-Euro-Pflänzchen zu gießen.

Auch Papa habe ich gefragt, ob wir uns denn gut um ihn gekümmert hätten, woraufhin er meinte: „Ich habe nichts zu beanstanden.“ Da kam dann wieder eine alte Floskel aus dem Berufsleben durch, die hat er inzwischen auch fast alle vergessen.

Was sich auch anders angefühlt hat: das Wohnen im alten Elternhaus. Nach zwei Tagen zog ich aus meinem blöden Kinderzimmer (Südseite) in Papas altes Schlafzimmer (Nordseite), hatte nun kühlere Temperaturen, eine härtere Matratze und das Gefühl, erwachsen zu sein. Ich war zum ersten Mal nicht Tochter, sondern Hausherrin, was ziemlich schnafte war.

Wie schon beim ersten Mal genoss ich den Morgenkaffee und den Feierabendsekt auf der Terrasse im Grünen sehr, den Morgenkaffee vielleicht sogar noch mehr, auch wenn er für die innere Uhr viel zu früh gekocht werden musste. Aber auch daran gewöhnte ich mich, wobei mir das im Winter vermutlich deutlich schwerer gefallen wäre, um 5.45 Uhr aufzustehen. Dafür war ich abends immer um 21.30 Uhr im Bett, und weil es immer noch kein Internet gibt, konnte ich auch keine Zeit in ihm verdaddeln oder vor Netflix versinken. Insgesamt drei Bücher durchgelesen, das obige Wagner-Ding immerhin angefangen. Weiterhin in Etappen lese ich das Buch über philippinische Esskultur; nur den (gekürzten) Klassiker von Friedländer habe ich in vier Wochen nicht angefasst.

Um den Garten kümmerten sich eher Schwester und Schwager, die dort vor allem Dinge erledigten, die nicht gehen, wenn das Mütterchen da ist. Nun gibt es an einer Stelle des Gartens endlich einen gepflasterten Weg, wo vorher nur ein huckeliger Trampelpfad war, auf dem wir das Mütterlein innerlich ewig hatten stürzen sehen. Außerdem muss sie nun nicht mehr drei uralte Sprenger und tonnenschwere Schläuche quer über das Grundstück zerren und mit gefühlt 17 Weichen in unterschiedlichen Durchmessern miteinander verbinden. Der tolle Schwager verlegte ein neues System; nun muss man nur noch den Wasserhahn aufdrehen und an einigen leicht zu bedienenden Wippen den jeweiligen Sprenger anwählen, der gerade arbeiten soll. Das kapierte sogar ich und ließ es am vorletzten Abend ordentlich regnen. (Beim Sekt.)

Im Haus sorgte ich hingegen für Ordnung und warf behutsam weg; es wird dem Mütterchen vermutlich nicht auffallen, dass von den 20 aufgehobenen leeren Kartons fünf fehlen, ein paar fledderige Kinderbücher oder dass das Programm der hannöverschen Theater von 2006 jetzt auch im Altpapier liegt. Außerdem ordnete ich Dinge hübsch rechtwinklig an, staubte ab, saugte Staub und jetzt sieht das Haus wieder sehr ordentlich aus. Womit ich nicht sagen will, dass es vorher nicht ordentlich war, aber wenn man 80 ist und sich alleine um einen Patienten kümmert, inklusive sehr, sehr, sehr viel Briefverkehr mit Krankenkassen, Pflegemittelversendern und KTW-Anbietern, haben Staubwischen und Dinge rechtwinklig anzuordnen logischerweise nicht unbedingt Prio 1. Völlig zu recht. Ich hatte beim zweiten Durchgang inzwischen eine gewisse Routine, ließ den Papierkram auch wie besprochen links liegen und konnte daher ein bisschen was erledigen, wofür das Mütterlein schlicht keine Zeit hat.

Bevor sie wiederkam, wurde die Bodenvase in der Diele mit einem neuen Strauß aus dem Garten bestückt, im Wohnzimmer stand ein kleiner Strauß, auch die winzige Vase, die vor dem Foto der verstorbenen Oma, Opa und Omi steht, bekam ein paar Blümchenchen (kein Schreibfehler, die Vase ist größenmäßig eher ein Schnapsglas). Zusätzlich bekam ihr Schlafzimmer eine Blume sowie eine Schachtel meiner Lieblingspralinen, gleich mit einem Tellerchen aus ihrem Lieblingsservice dazu, damit sie sich ein paar herausnehmen und den Rest in den Vorratskeller tragen konnte. Das hat sie alles sehr gefreut.

Im Wohn- und Esszimmer hängen die üblichen Alte-Leute-Gardinen, schwer, tausend Rüschen und Röschen und Bänderchen. Die wollten wir gar nicht anfassen, aber: Am Montagmorgen ging der elektrische Rolladen nicht mehr hoch. Da Papa inzwischen dort in einer Zimmerhälfte schläft und die Pflegenden auch gerne Licht haben, wollten wir nicht warten, bis das Mütterlein wieder zuhause ist und uns sagen kann, ob wir die Tapete abreißen dürfen, um an den damit verkleideten Kasten zu kommen.

Stattdessen riefen wir den Nachbarn, der mit Papa 40 Jahre lang gemeinsam Dinge repariert hat und nun eine Art Faktotum fürs Mütterchen geworden ist. Er ist gelernter Elektriker, prüfte zunächst, ob die Steuerung eine Macke hatte; hatte sie anscheinend nicht, also mussten wir an den Kasten ran. Schwesterchens Mittagspause war schon rum, sie fuhr wieder ins Home Office, während ich den Part übernahm, die eine Hälfte der 2,50-Meter-langen Abdeckplatte festzuhalten, während der Nachbar die letzten Schrauben auf der anderen Seite löste. Er hatte die Tapete nur eingeschnitten, damit wir die Platte abnehmen könnten und fand per Magnet die Schrauben. Ein guter Mann.

Als wir beide auf Leitern standen und nun die Platte lösen wollen, fragte er in dem Moment, als sie uns entgegenkam: „Hast du eigentlich Angst vor Spinnen?“ Ich konnte nur noch „ÄH BITTE WAS?“ sagen, als ich die Platte in den Händen hatte – und dahinter, 40 Zentimeter vor meinem Gesicht, diverse Langbeine um die schwere Stange wuselten, an der eigentlich der Rolladen hängen sollte, dessen Riemen aber von ihr abgerutscht waren. Klar, der Kasten ist von außen zugänglich, aber darauf war ich nicht ganz so vorbereitet.

Wir legten die Platte ab, Nachbar holte den Industriestaubsauger von drüben, ich beobachtete misstrauisch, ob von den Spinnen ein paar in Richtung Wohnzimmer anstatt in Richtung Draußen wandern wollten, wollten sie aber nicht, da hatten sie Glück, auch wenn ich nur den kleinen fiepsigen Normalstaubsauger als Waffe hatte.

Der Nachbar befestigte die Riemen wieder – „das hatten wir bei euch in der Küche schon mal“ –, wir schraubten die Platte wieder an, und dann warf ich die mehrteilige Monstergardine in die Wäsche. Schwesterchen und ich brauchten ungefähr anderthalb Stunden, bis wir sie wieder in der richtigen Reihenfolge und mit den gleichen Schwüngen wie ihr Pendant auf der anderen Raumseite angebracht hatten und fluchten die ganze Zeit wie die Rohrspatzen.

Dummerweise sah diese Seite nun ein bisschen heller aus als die andere, aber wir brachten es einen Tag vor der Rückkehr des Mütterchens nicht mehr über uns, auch noch das andere Monster abzunehmen, zu waschen und vor allem wieder aufzuhängen. Schwester und Schwager mussten sich nämlich auf den Weg nach Sachsen machen, um das Mütterchen wieder abzuholen, und alleine hätte ich die Dinger nie wieder ans Fenster bekommen. Das ist jedenfalls die offizielle Sprachregelung. UND DIE TOTALE WAHRHEIT!

Ja, das war alles ganz fürchterlich anstrengend, aber es hat sich gut angefühlt, mal was Sinnvolles zu machen. Also bis auf das Rüschenordnen der Gardine.

Den Donnerstagabend verbrachte ich nach der Rückreise stumm und allein und das war dringend nötig.

Freitag zur Date Night gab es Bringdienst-Pizza und Rosé-Champagner und das war ebenfalls dringend nötig.

Ich habe eben einen kleinen Spaziergang über den Lieblingsfriedhof gemacht, weil es mir fehlt, morgens Grün zu sehen. Das kann ja heiter werden.

Tagebuch KW 28 – Im Norden

Am Sonntagvormittag saß ich mal wieder in einem ICE, dieses Mal kam ich ohne Umsteigen nach Hannover, wo ich sonst derzeit wegen Bauarbeiten oder irgendwas anderem in Nürnberg oder Kassel Koffer wuchten muss. Wir gondelten über Augsburg, was auch mal wieder schön war. Der Besitzer „meiner“ Dauerkarte beim FCA fragte letzte Woche, ob ich diese wieder übernehmen möchte, wobei mir auffiel, dass Fußball zurzeit sehr weit von mir weg ist. Ich kann es mir gerade nicht vorstellen, mit tausenden von Leuten im Stadion zu sitzen und noch weniger, eng gedrängt mit ihnen in der Tram zur Arena zu stehen. Es ist auch noch überhaupt nicht klar, wieviele Zuschauer:innen demnächst überhaupt ins Stadion dürfen, es gab noch keine Mail vom Verein dazu. Daher ahne ich, dass ich auch in dieser Saison eher Fernsehzuschauerin sein werde.

Ab Augsburg überlegte ich nebenbei, was ich abends im Norden wohl essen würde. Mein Schwager und meine Schwester hatten die letzte Woche plus zwei Tage übernommen, ab Sonntagabend war Papa dann wieder meine Aufgabe. Die beiden kochen gerne, daher hoffte ich auf andere Vorräte als die, die mein Mütterchen sonst vorhält. Gleichzeitig dachte ich über das italienische Restaurant am Ort nach, von dem man sich eine Pizza holen könnte, aber vielleicht ist der Laden ja geschlossen wegen des Finales? Gibt es überhaupt einen Bringdienst am Ort? Ich hatte es mir in der Woche in München sehr gut gehen lassen und trauerte meiner kleinen Asiaecke schon im Zug hinterher. Netterweise kam in Würzburg eine WhatsApp vom Schwesterchen: „Wir grillen übrigens heute.“ Aufatmen und Vorfreude meinerseits.

Die beiden hatten im Haus Dinge erledigt, die man am besten machen kann, wenn das Mütterchen nicht da ist. Genau wie ich hatten sie einige der täglichen Abläufe anders organisiert, so dass sie für sie besser passten. Außerdem dübelte der Schwager gerade eine Fritzbox an OMG ES GIBT BALD INTERNET HIER DASS ICH DAS NOCH ERLEBEN DARF, auf mich wartete schon ein selbstgemachter Gurkensalat und ich wurde liebevoll auf die Kiste Augustiner im Keller hingewiesen. Vaddern war entspannt, erkannte mich und überstand auch Pflege und Ins-Bett-Gehen ohne Probleme. Es gab schon schlechtere Starts in die Woche.

Am Montag entdeckte ich freudig Fischsauce und Koriander im Dorfsupermarkt und bastelte Crossover-Essen aus Sandwich und Gemüse mit Nuoc Cham für mich. Vaddern wird wochentags in der Tagespflege versorgt, der hat vermutlich irgendwas mit Kartoffeln bekommen. Er weiß es abends leider nicht mehr, wenn ich danach frage.

Dienstag wurde Papa zweitgeimpft. Der Hausarzt machte seinem Namen alle Ehre und kam ins Haus. Papa erkannte ihn, vergaß aber nach fünf Minuten, dass er dagewesen war und wunderte sich über das Pflaster am Handgelenk, wo ihm Blut abgenommen wurde, wenn der Doc schon mal da war.

Daher blieb er an diesem und am Folgetag zuhause; nach der Erstimpfung war er sehr müde gewesen. So war es auch dieses Mal, er hatte auch keinen Hunger und döste quasi dauernd vor sich hin. Sobald er wach war, versuchte ich Flüssigkeit in ihn reinzukriegen, was nur so mittelerfolgreich war. „Ich mach dir noch ne Apfelschorle, ja?“ „Nimmst du noch einen Schluck Wasser, bitte?“ „Hier, dein Tee.“ „Trink mal aus, dann kann ich die Tasse wegräumen.“ „Du wolltest noch Wasser trinken, stimmt’s?“ Ich bin eine Schallplatte mit Sprung.

Ich muss mir leider eingestehen, dass ich es wirklich genieße, morgens den Kaffee auf der Terrasse zu trinken und abends den Feierabendsekt. Meist (nicht immer) ohne Handy, einfach nur ins Grüne starren, durchatmen und sich entweder für den Tag wappnen oder ihn abhaken. Das hat jedesmal sehr gut getan und verwirrt mich jetzt sehr: Muss ich ernsthaft auf ein Häuschen im Grünen sparen und es in den Lebensplan einbauen? Vielleicht reicht auch erstmal eine VR-Brille für den städtischen Balkon.

Gelesen: The Girls von Emma Cline. Es wird recht schnell klar, worum es geht – ein Mädchen gerät 1969 in eine sektenähnliche Gruppe, von denen schließlich einige vier Menschen umbringen, alles recht nah an der Manson-Story. Trotzdem liest es sich spannend, und weil die Hauptperson nicht zu den Mordenden gehört und wir ihren inneren Monologen daher etwas unvoreingenommener folgen können, fühlt man sich manchmal unangenehm als Komplizin. Die Geschichte ist auch eher das Trägermaterial für größere Themen: Liebe, Selbstliebe, irgendetwas, was man sich als Liebe einbildet, aber etwas ganz anderes sein kann, Sehnsucht, Geborgenheit, „we all want to be seen“. Manche Sätze waren mir zu sehr auf Effekt geschrieben, aber ich habe das Buch sehr gern gelesen. Vor allem die zweite Ebene, die der erwachsenen Hauptperson, die rückblickt, hat für mich das Buch sehr rund gemacht.

Aus Gründen musste ich am Donnerstag die 112 anrufen, nichts Schlimmes, nur etwas Unangenehmes, nur, haha, aber das war halt das Prozedere, zu dem mir die Pflegenden rieten. Ich stellte fest, dass eine Notrufzentrale andere Dinge fragt als die, die ich bei „9-1-1“ so gerne höre und sehe. Ich wusste auf die Schnelle ernsthaft nicht, wie alt Papa ist, ich habe mich um ein Jahr vertan. Außerdem stockte ich bei der Frage „Erdgeschoss oder weiter oben?“ Eigentlich Erdgeschoss, aber zur Haustür geht eine größere Treppe hoch. Was sagt man denn da?

Eigentlich wollte ich schreiben, dass es das erste Mal, dass ich diese Nummer wählen musste, aber dann fiel mir ein, dass ich ja selber auch schon mal in einem Krankenwagen gelegen habe, den ich mir selbst ordern konnte. Seitdem schicke ich immer ein kurzes inneres „Get well soon“ oder „Gute Besserung“ ins Universum, wenn ich irgendwo eine Sirene höre.

Papa war nach zwei Stunden wieder zuhause, alles gut. Tolle Sanis, trotzdem ungern wieder.

Meine Mutter bügelt alles, vermutlich sogar Socken. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, wenigstens die T-Shirts nicht zu bügeln, denn: Deswegen sind es ja T-Shirts, die muss man nicht bügeln, die ziehen sich glatt, sobald man sie am Körper hat (meine jedenfalls). Einige Male musste ich den Pflegenden aber zur Hand gehen, weil Papa sich an schlechten Tagen wehrt oder mindestens unkooperativ ist. Dabei lernte ich, dass Shirts immer so glatt wie möglich gezogen werden müssen, denn Papa versteht manchmal den Zusammenhang zwischen Kopf und Körper nicht mehr, und obwohl er es physisch könnte, sich mehr oder anders zu bewegen, weiß er das nicht und ist daher unbeweglich oder hält sich nicht ganz aufrecht im Rollstuhl oder ähnliches. Daher müssen die Shirts glatt sein, auf denen er liegt oder die er im Rücken spürt, damit sich dort keine Falten bilden, die nach stundenlanger Fast-Bewegungslosigkeit in die Haut drücken.

Ich bügele jetzt also Shirts.

Nach einem eher doofen Tag erstmals vor der Pflegekraft geheult. Haben wir das auch hinter uns.

Das Mütterchen mag keine Hilfsmittel wie schnabeltassenähnliche Becher, aber ich orderte trotzdem mal zwei über das große, böse Internetkaufhaus, weil ich hier halt nicht mal eben solche Dinge beim Händler um die Ecke kriege. Wegen seiner Bewegungslosigkeit hielt Papa den Kopf mehrere Tage hintereinander immer schiefer, je länger der Tag dauerte, und konnte so nicht mehr vernünftig trinken, weil er nicht verstand, dass er dafür den Kopf gerade halten musste. Also stand ich mit dem Handtuch neben ihm und drückte es an seine Wange, damit sein Shirt nicht nass wurde, das ich ihm alleine nicht wechseln kann, was ich für keinen vernünftigen Zustand hielt.

Jetzt hat er einen blauen Becher mit Deckel und Schnabelaufsatz und ich habe gestern über zwei Liter Flüssigkeit in ihn reinbekommen, ohne Kleckern. Geht doch.

Ein schönes Gefühl: wenn man morgens in Sandalen über den Rasen geht, um Wasser im Vogelbad nachzufüllen, und dabei vom Tau nasse Füße bekommt.

Ein beschissenes Gefühl: wenn der Vater sich nicht wohl fühlt, dir aber nicht sagen kann, was wo weh tut und man nichts tun kann außer ihn zu streicheln, zu heulen und hundertmal „Ist alles gut, Papa“ zu sagen, obwohl es Bullshit ist.

Ein schönes und ein beschissenes Gefühl: zu merken, dass man mehr Geduld hat als man von sich dachte, sie aber doch irgendwann zu Ende ist.

Ich will viel schreiben, aber ich will es nicht im Internet lesen.

Balut im Kontext

Vor einigen Wochen verlinkte ich einen Artikel aus dem New Yorker, der sich mit dem Museum of Disgusting Food in Malmö befasste. Die Autorin wies darauf hin, dass für den einen etwas eine Delikatesse ist und für die andere schlimmes Zeug – weil wir alle andere Geschmäcker haben und vor allen Dingen in unterschiedlichen Kulturräumen aufwachsen. Für sie als Chinesin war vieles der westlichen Küche unverständlich, an das sie sich erst heranessen musste. Daher wäre die Bezeichung „disgusting food“ mindestens unsensibel gegenüber Esskulturen der nicht-westlichen Welt, wobei das Museum durchaus auch Dinge wie Sauerkraut und Lakritz präsentiert.

Sie erwähnt, dass dem Museumsdirektor nur von einer Spezialität schlecht geworden sei: balut. „Ahrens found plenty of the foods unpleasant, but he got sick only after tasting balut, a Filipino egg-fetus snack that is eaten straight from the shell—feathers, beak, blood, and all.“

Klingt erstmal fürchterlich, würde ich auch nicht dringend probieren wollen. Aber dann las ich in einem meiner neuen Bücher über philippinische Esskultur einen etwas längeren Absatz über diese Eier – und verstand auf einmal, warum sie gut und wichtig und auch durchaus ein angenehmes Esserlebnis sein können. Daher die Überschrift: Wie immer ist der Kontext wichtig. Und dass die philippinische Variante meist nicht „beak, feathers, blood, and all“ enthält.

„[…] Balut is sold all the time and everywhere – on streets, at stalls, outside movie houses, outside nightclubs and discos, in markets; by vendors walking, sitting, or squatting; at midnight and early dawn, at breakfast, lunch, merienda, and dinner time. My first introduction to the sounds of Manila as a student was being wakened by the early morning vendor calling “Baluu-u-u-ut” along Mayhaligue Street in Sta. Cruz.

Balut is fertilized duck egg, boiled, and eaten by cracking the wide end, making a hole, sprinkling a little salt, sipping the broth, and then cracking the whole open to savor the red yolk and the tiny chick inside. The perfect balut, to the Filipino, is 17 days old, at which stage the chick is still wrapped in white (balut sa puti), and does not show beak or feathers (Vietnamese and Chinese like their balut older, the chick larger). A Pateros balut-maker explains that the best specimens are sold to his special customers, who become connoisseurs and will have nothing older or younger than perfection. (In the U.S. it is usually sold at 16 days, so as to be less threatening to those unused to this cultural experience.) Older specimen (the balut continues to grow until boiled) are sold to ambulant nighttime vendors, whose customers are not so particular or steady, and the 19-day holdovers (chicks almost ready to hatch) are sold only by bus terminal vendors, who will never see their customers again, will not hear recriminations, or form friendhips with them.

Balut is popularly believed to be an aphrodisiac, or at least to have invigorating powers, and so is sold even in the late evening and early mornings. It is always carried around in padded baskets, so that the eggs are kept warm, and the seller supplies rock salt as well in little twists of paper, and chili-flavored vinegar, if desired.

Some years back, one vendor in Cubao startet to sell fried balut. These were cracked eggs, which couldn’t be sold as balut, since the broth had seeped out. She peeled them, rolled them in flour, fried them in her cart and seved them in bowls with a little salt, vinegar, and chili. Now the fried balut or penoy (the unfertilized egg) are the current fad: rolled in orange-colored batter, fried, and sold all over Cubao; eaten from the little bowls, while standing up and finetuning the flavor to one’s taste by adding condiments.

Somewhat related to balut is the day-old chick. Poultries only keep female chicks to grow into fryers; male chicks used to be dumped into the sea – until someone fried them whole, into what is sometimes called “super-chicks” or “Day-O“. These too are sold in streets and carts – and at beer places, as pulutan.

Balut is, as poet Tom Agulto says, deeply embedded in Philippine food culture. It is practical, inexpensive, nutritious, and available in all seasons. Prices change only slightly accoding to place and time. “One can call it“, he believes, “the national street food of the Philippines.”“

Doreen G. Fernandez: Tikim. Essays on Philippine Food and Culture, Erstausgabe Mandaluyong City 1994, hier die Neuauflage von 2020, S. 12/13. Ich schrieb schon kurz über das Buch.

Das Kapitel zu Balut steht im Buch im Überkapitel „Food and Flavors“. Darin wird auch etwas zur Restaurantkultur – oder der damals, Anfang der 1990er Jahre noch fehlenden gesagt. Ich ahne, dass sich das inzwischen geändert hat, aber zur Einordnung fand ich es interessant: Die Restaurantkultur begann gerade erst, sich zu etablieren, und die ökonomischen Bedingungen ließen für viele Menschen neben Street Food gar keine andere Möglichkeit zu, zu fertigen Mahlzeiten zu kommen: „Street Food is for workers or passersby who cannot afford restaurants, or to go home to eat. It is for the traveller, the wanderer, the worker who keeps odd hours or has no food waiting at home; for schoolchildren who only have 15-minute-class breaks; for the husband or wife who does not want to go home empty-handed, or has no time to create home-cooked meals.“ (S. 13)

Man kann darüber diskutieren, ob man für diese Zeitpunkte unbedingt angebrütete Küken frittieren muss, aber mir kam die Speise nach der Lektüre dieser Zeilen nicht mehr ganz so seltsam vor.

Das Museum hat inzwischen eine Dependance in Berlin eröffnet. Dort werden die Exponate immerhin in der Berichterstattung etwas eingeordnet, wie ich in der FAZ erfreut feststellen konnte:

„Man gerät bei Speis und Trank schnell in kulturchauvinistische Abgründe. Als im Frühjahr 2020 SARS-CoV-2 nach Europa kam, hörte man in dem angewiderten Ton, in dem über den chinesischen Wildtiermarkt gesprochen wurde, von dem das Virus womöglich stammt, neben berechtigter Kritik auch das Klischee von der unzivilisierten chinesischen Esskultur. [Museumsdirektor] Völker erklärt das mit der emotionalen Bindung von Essen an die soziale Zugehörigkeit: „Der Geschmack ist das Erste, was uns ein Heimatgefühl gibt, sozusagen mit der Muttermilch.“ Und wo Heimat eine Rolle spielt, lauert bekanntlich die Herabwürdigung anderer. Die Philosophin Martha Nussbaum beschreibt den Ekel etwa als historisch-politisches Werkzeug zur Unterdrückung sozialer Gruppen wie Juden, Frauen und Homosexueller.

Zu Völkers Arbeit als Museumsdirektor gehört ausdrücklich die Vermeidung von Völkerkunde qua Kulinarik. Anders als das Pendant in Malmö habe er auf jegliche „Ethno-Anmutung“ verzichtet. In der schwedischen Ausgabe laufe der Besucher über einen nachempfundenen chinesischen Markt, „und bei den Fröschen“, so Völker, stehe eine Puppe „mit Anden-Mütze und Panflöte im Anschlag. So was wollten wir unbedingt raus lassen. Am Ende muss das Produkt zählen, ohne dass man die Assoziation ermöglicht: Ach, guck mal, da in den Anden. Oder: Hier bei den Chinesen, da gibt es das, und das essen die jeden Tag. Weil das so auch gar nicht ist.““

Und der Tagesspiegel erwähnt, dass auch in Westeuropa durchaus seltsames Zeug verzehrt wird:

„Ein mit blauen Schimmeladern deftig durchzogener Roquefort oder eine glitschige rohe Auster mögen den frankophilen Gourmet erfreuen, andere wenden sich bei dem Anblick womöglich mit Schaudern ab. Was ekelerregend ist, liegt oft im Auge und in der Nase des Betrachters, und der ist in seiner Kultur verfangen. […]

Man muss gar nicht unbedingt weit reisen, um gewöhnungsbedürftige Speisen zu erleben. Gleich neben dem sardischen Pecorino-Käse-Laib, in dem fröhlich die Maden herumwimmeln, gibt es den Milbenkäse aus Sachsen-Anhalt zu sehen, der inzwischen ebenfalls als hochpreisiger Leckerbissen gehandelt wird.“

Tagebuch KW 27 – Dazwischenwoche

Wenn man sein eigenes Diss-Dokument seit April nicht mehr in großen Brocken oder gar ganz durchgelesen hat, liest sich das an manchen Stellen wirklich nochmal überraschend. Und gut. Ich bin zufrieden mit dem Ding. Ich weiß leider, was ich alles rausgestrichen habe, sonst wäre das Buch 800 Seiten dick geworden und das braucht kein Mensch, aber so ein bisschen trauere ich doch ein paar Darlings hinterher, die aus Platzgründen sterben mussten.

Ausgelesen: Wolfgang Rupperts Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000. War als Hintergrund für die Kunststadt München – so nannte sich das Örtchen hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts – und damit auch für meinen Künstler ziemlich ergiebig. Ich fand die Außensicht auf die Stadt spannend, also die Wahrnehmung anderer, so zum Beispiel die von Lovis Corinth, der die Münchner Akademie als die „in Deutschland am berühmtesten“ bezeichnete und 1880 aus Königsberg wechselte. Dass die Akademie nach dem Ersten Weltkrieg beharrlich Dinge wie den Blauen Reiter ignorierte und bis auf einen Lehrer arg konservativ blieb, war dann wieder für mich wichtig, weil Protzen von 1920 bis 1925 hier studierte. Trotzdem stelle ich die These auf, dass die Außenwirkung der Stadt möglicherweise Einfluss auf seine Entscheidung gehabt haben könnte, aus Paris, wo er seit 1908 gelebt hatte, und der folgenden Zivilgefangenschaft auf Korsika zwischen 1914 und 1918 nicht nach Leipzig zu seiner Familie zurückzukehren, sondern sich eine neue Heimat zu suchen.

Münchens Ruf und der im Vergleich zu anderen Städten hohe Künstleranteil hatte auch Einfluss auf die Wohnkultur: Gerade in den bürgerlichen Mietshäusern in Schwabing wurden von vornherein große Atelierräume mit üppiger Fensterfront nach Norden eingeplant. Und so ziemlich jede dritte Kneipe in Schwabing bzw. der Maxvorstadt hat auf seiner Karte launige Anekdoten von Künstlerfesten oder Stammpublikum. („Thomas Mann hat hier seine Spiegeleier gegessen.“ Erfundenes Zitat, ich war zu lange nicht mehr irgendwo ein Bier trinken.)

Nebenbei lernte ich auch viel über Künstlervillen (hier vor Ort Villa Stuck oder das Lenbachhaus), Atelierausstattung sowie den Künstlerhabitus. Der Malerkittel, den ich zum Beispiel von einem Porträt Leo von Weldens kenne (S. 26), oder Handwerkszeug wie der Malstock auf diesem bekannten Gemälde von Georg Friedrich Kersting, das Caspar David Friedrich zeigt, waren eine Zeitlang gerade keine Abbildung wert. Ende des 19. Jahrhunderts malten sich Maler „in den gängigen bürgerlichen Kleidercodes und symbolisierten somit primär eine sozialgeschichtliche Verortung zwischen Bürgertum und kleinbürgerlichen Schichten.“ Aber: „[A]ndere Zeichen wurden zu Chiffren für den Künstlerhabitus. Durch Richard Wagner gewann das Tragen des Samtbaretts und einer Samtjacke den Codewert des Künstlers in einer die Sparten überwölbenden populären Bedeutung. Aus der Zeit um 1890 wird von einer Mode berichtet, nach der sich ‚der heutige Maler‘ mit einer ‚manirierten‘ Samtjacke kleidet. Als weitere Distinktionszeichen dienten eine besondere ‚Krawatte‘ oder die lange ‚Künstlermähne‘.“ (S. 313) In der Fußnote steht noch mehr zur Mähne: „Lange Haare waren im 19. Jahrhundert als ein Zeichen des Freiheitswillens aufgeladen. So gehörten sie bereits neben Freischarenmantel und schwarzroter Mütze um 1819 zur sogenannten Nationaltracht. In der Revolutionsbewegung um 1848/49 galten sie ebenfalls als Muster der kollektiven Verständigung über Zuordnungen.“

Ebenfalls durchgelesen: Kristine Bilkaus Die Glücklichen. Och jo. Konnte man machen, ich werde mich aber in vier Wochen schon nicht mehr an die Story eines gutbürgerlichen Paars erinnern, die beide arbeitslos werden und nun der vielleicht-bald-schon-nicht-mehr städtischen Altbauwohnung hinterhertrauern. Außerdem gemerkt: Das Wort „Reiswaffeln“ ist für mich Chiffre für Prenzlau-Eppendorf-Bogenhausen, wenn es um die Fütterung des Nachwuchses geht. Isst die irgendjemand wirklich gern? Sind die das Äquivalent zum Zwieback, an dem meine Generation rumlutschte?

Ebenfalls durchgelesen: Siegfried LenzDer Überläufer. Hier fand ich die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte spannender als das Buch, in dem es genau eine weibliche Figur gibt, die mal was Längeres sagen darf, nämlich die der Partisanin, die mit dem deutschen Soldaten schläft, der ihren Bruder erschossen hat und ja, genauso habe ich auch geguckt. Alter! Dass sie nebenbei durch schlanke Beine, eichhörnchenbraunes Haar und dem „herausfordernden Profil ihrer Brüste“ charakterisiert wird, hat mir das Buch noch madiger gemacht. Ab der Hälfte habe ich es quergelesen, weil mich Männer im Krieg und danach Männer in der SBZ nicht ganz so interessierten wie ich dachte, auch wenn ich Lenz’ Stil sehr mag. Aber für die Entstehungsgeschichte, die ich im Nachwort kennenlernte, hat es sich dann doch gelohnt (mehr im obigen FAZ-Link): Das Buch sollte in den 1950er-Jahren als Fortsetzungsroman erscheinen – aber dann doch nicht, weil das Thema Überläufertum nicht ganz so en vogue war in einem Land, das gerade aggressiv damit beschäftigt war zu verdrängen, was zwischen 1933 und 1945 so passierte bzw. sich davon zu überreden, dass die Wehrmacht doch eigentlich voller netter Jungs gewesen war. Also erschien das Buch erst jetzt vor wenigen Jahren, ist aber eigentlich Lenz’ zweiter Roman.

Sehr viele Dinge mit Fischsauce gegessen, viel Chili in alles geworfen. Als die Textarbeit erledigt war, habe ich mich weiter durch das Marvel Cinematic Universe gearbeitet, um anständig auf Loki vorbereitet zu sein.

Endlich mal beim Brantner Croissants erwischt. Die kann man nämlich nicht vorbestellen, sondern muss hoffen, rechtzeitig im Laden zu sein, bevor sie weggekauft sind. Wie erwartet, sind sie so großartig wie alles andere von dort. Das wird mein Ruin werden.

Heute geht es wieder in den Norden. Ich bin nicht mehr ganz so angespannt wie beim letzten Mal, weil ich jetzt das Ende sehen kann; vor der letzten Fahrt wusste ich, ich habe nur eine gute Woche Pause dazwischen und dann geht alles wieder von vorne los, aber wenn ich jetzt wiederkomme, darf ich erstmal länger zuhause bleiben. Dass man sich mal so auf seinen Schreibtisch freuen kann, um dann in Ruhe die letzten Handgriffe für die Diss-Veröffentlichung zu erledigen.

In den letzten Tagen haben Schwester und Schwager übernommen, die im selben Dorf wie meine Eltern wohnen, weswegen sie etwas mehr ins Haus schleppen konnten als ich, die immer nur ihre Lieblingsmesser mitnimmt, um nicht wahnsinnig zu werden. Sie trugen unter anderem ihr gesamtes Bettzeug rüber, und, und das fand ich sehr schön, auch Klopapier. Mein Mütterchen kauft seit den schlimmen 80er Jahren, als es die ersten Bioläden bei uns auf dem Dorf gab und damit fürchterliches Brot und „Schokolade“ aus Johannisbrotbaummehl und stinkende Kernseife, auch recyceltes Klopapier. Innerlich denke ich immer, wenn ich es benutze, „Sind wir hier in der Zone?“ und schäme mich dann brav dafür, aber dieses Mal habe ich mir ausbedungen: weiches, weißes Klopapier von den fiesen Supermärkten oder no deal. Also bekam ich mein geliebtes dreilagiges Edekapapier, weswegen ich sehr grinsen musste, als meine Schwester ihr vierlagiges von Rossmann anschleppte.

Ich kaufte auch Seife im Spender, den man mit dem Ellenbogen bedienen kann, wenn man von draußen kommt, sowie Spülschwämme, weil ich nicht gerne mit Spülbürsten arbeite. Mal sehen, was Schwester und Schwager noch alles geändert haben; die freuten sich jedenfalls sehr über die Schwämme.

Dann wollen wir mal wieder. Mein Koffer besteht zur Hälfte aus Büchern, die ich erst lesen wollte, wenn der Disstext fertig ist. Zum ersten Mal seit Jahren schleppe ich gerade kein Buch mit mir rum, was direkt mit dem NS zu tun hat. Endlich Muße und den Kopf für den Wagnerschinken, auf den ich mich seit Monaten freue. Nein, das hat nichts mit dem NS zu tun! … Okay, ein bisschen.

Tagebuch KW 26 – Vom Norden in den Süden

Ich war über eine Woche im Norden, wo ich meine Mutter antrieb, ihre Koffer für die Reha zu packen, wofür sie sechs Monate Zeit hatte, aber mei, dann machen wir das halt am Tag der Abreise. Schwester und Schwager luden schließlich vier halbvoll gepackte Koffer und ein sehr schlecht gelauntes Mütterchen ein und brachten sie persönlich nach Sachsen. Ich hatte erwartet, enterbt zu werden, aber Schwesterchen meinte, das ging nach wenigen Kilometern wieder. Gut, dass ich sehr viel Schokolade und Kekse eingepackt hatte.

Dann genoss ich eine Fahrt im mütterlichen Auto zum Dorfsupermarkt; ich hatte sie tagelang daran erinnert, mir die Fahrzeugpapiere da zu lassen, legst du mir die Fahrzeugpapiere raus, denkst du bitte an die Fahrzeugpapiere. Ratet, was ich im Rucksack nach München getragen habe. Gut, dass Schwester und Schwager eigene Autos haben. Ich schreibe mir jetzt ein Post-it, mit dem ich mich selbst für den nächsten Termin daran erinnere, die Fahrzeugpapiere rauszulegen, denkst du bitte an die Fahrzeugpapiere, um sie dieses Mal da zu lassen, wo sie hingehören.

Im Supermarkt warteten alle brav, bis andere ihre Einkaufswägen hatten, ließen einander vor, winkten sich gegenseitig in Parklücken; eine Mitarbeiterin mit einem Riesentrolley ließ mich vor: „Kunde hat immer Vorfahrt.“ Der Nachbar kam schon wenige Stunden nach Abreise des Mütterchens rüber, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist und kümmerte sich um Rasenmähen und Sprenger; das Ehepaar, von dem Mama einmal in der Woche Eier holt, was ich schmählich vergaß, richtete meiner Schwester aus, dass das doch überhaupt kein Problem sei. Das Dorf war sehr gut zu mir. Vielleicht war das Dorf schon immer gut zu mir, aber ich habe es nicht mitbekommen, weil ich bloß schnell in die Stadt wollte.

Sich alleine um jemanden mit Pflegegrad 5 zu kümmern, ist deutlich anstrengender als wenn das Mütterchen als Puffer dazwischen ist. Ich habe jeden zweiten Tag geweint und die Wände angebrüllt, aber sonst ging’s. Es war zu 90 Prozent fürchterlich und ich möchte das nie wieder machen müssen. Ich dachte, ich wäre vorbereitet, weil ich es ja schon mehrfach (zu zweit) mitgemacht hatte, aber einen Scheiß war ich.

Nach den wenigen Mund-Nase-Schutzen, die ich aus Stoff im letzten Jahr hingestümpert hatte, habe ich kaum noch genäht. Ein bisschen ist aber doch hängengeblieben, wie ich freudig feststellte: Ich konnte einige von Papas Shirts ausbessern. Ich ahne aber, dass die Arbeit nicht lange halten wird, denn wie ich inzwischen weiß, sind die Kräfte, die auf ein Stoffstück einwirken, das dir jemand anders anzieht, sehr andere als die beim Selbsteinkleiden.

Immerhin konnte ich wochentags tagsüber ein bisschen arbeiten, weil Vaddern dann in der Tagespflege ist. Der allerletzte Korrekturgang für meinen Diss-Text steht an, ich bin seit gestern zur Hälfte durch. Die Bilder, die mir vorliegen, sind bearbeitet und haben finale Namen, die sich der Verlag gewünscht hat und die mich irre machen (allesineinemwort). Die Bilder, die mir noch nicht vorliegen, machen mich weiterhin nervös, aber es ist alles bestellt und kommt hoffentlich irgendwann. Die darf ich auch nachreichen, die müssen nicht mit dem textdissfinal.docx am 29. Juli zum Verlag. Und dann kann ich Protzen endlich loslassen.

Wie ich gestern beim Textvergleich festgestellt habe, habe ich mir eine Fußnote in der Wikipedia verdient. Ja, ich zitiere die Wikipedia in der Diss, fight me. (Bite me.)

Ich habe beim gemeinsamen Fernsehen mit Papa viel kennengelernt, zum Beispiel durch „Terra X“ die Botanistin Jeanne Baret. Die Sendung ordnet immerhin halbwegs den westlichen Blick auf Tahiti ein, nicht vom Vorschaubild auf der ZDF-Seite abschrecken lassen.

Außerdem werde ich nie wieder (oder nur in begründeten Ausnahmefällen) über Fußballkommentatoren lästern. Das Spiel Deutschland-England sahen wir auch gemeinsam, aber ohne Ton, von dem war Papa genervt. Also erzählte ich ihm die ganze Zeit über, was passiert, was gar nicht so einfach ist, wenn man von nur acht der elf deutschen Spieler die Vereinszugehörigkeit und keinen Deut mehr weiß und von den Engländern noch weniger. Meist beschränkte ich mich darauf, „Der spielt bei Bayern“ zu sagen oder ihm zu erklären, was die Firmen herstellen, deren Namen er von den Banden ablas. (Danke, Google.) Dass die Deutschen „die Schwarzen“ waren, musste ich fünfmal in einer Halbzeit sagen, dann kam die Abendpflege und er verschlief den Schluss. Er fragte am nächsten Tag auch nicht nach, wie das Spiel ausgegangen war, weil er schon vergessen hatte, dass wir es angesehen haben.

Ich habe Papa jeden Morgen vor der Pflege geweckt, damit er nicht aus dem Tiefschlaf gerissen wird, habe ihm zu trinken gegeben, gelüftet, nochmal geguckt, ob alle Klamotten für ihn rausgelegt sind – das hatte ich einmal vergessen, jetzt hängt ein Post-it an seiner Zimmertür. Da hat man schon eine zehnseitige Liste mit Dingen, die gemacht werden müssen, und vergisst doch was, komisch.

Nachdem er wach war, ging ich immer in die Küche, ließ dort das Licht ausgeschaltet, öffnete die Terrassentür weit und kochte Kaffee. Der Rechner stand immer brav auf dem Tisch, ein Buch daneben, ich hätte theoretisch arbeiten können, während Papa nebenan für den Tag fertig gemacht wird. Stattdessen habe ich immer eine Stunde lang mit dem Kaffee in der Hand stumm und still über die Terrasse und den Rasen auf die Nachbargrundstücke geguckt, über die Rosenbüsche und Kirschbäume und Kastanien bis zu den Riesenbäumen da hinten, von denen ich keine Ahnung habe, was sie sind. Das war die beste Zeit des Tages, kurz nach Sonnenaufgang, es war noch alles ruhig, ich hatte Kaffee und guckte ins Grüne.

Abends gegen 20.30 Uhr, wenn Papa im Bett war, habe ich das gleiche gemacht, nur mit Sekt. Jeden Abend ein Glas und damit ins Grüne gucken. Das war schön. Und der Moment, auf den ich mich 14 Stunden lang gefreut habe.

Sag mir, was in deinem Einkaufskörbchen liegt, und ich sage dir, in welcher Stadt du gerade bist.

Am Mittwochnachmittag war ich wieder in München, Donnerstag genoss ich Udon-Nudeln und Tofu, Freitagabend gab’s Adobo für F. und mich, genauer gesagt, Adobo Manok at Baboy, also mit Huhn und Schwein, und als Nachtisch wollte ich eigentlich Ube-Eis machen, aber mein Stamm-Asiamarkt hat diese Yams-Art nie, wie ich jetzt weiß, nein, leider auch nicht in irgendeiner tiefgefrorenen oder eingekochten Variante. Stattdessen wurden mir Eddoes empfohlen, die ich genau so verarbeitete wie ich es mit Ube gemacht hätte: Abschrubben, vierteln, ein halbes Stündchen dämpfen. Das Fruchtfleisch aus der Schale kratzen und zu Püree stampfen (dann hat man halaya). Mit Kokosmilch und Kondensmilch köcheln lassen, dabei rühren, bis es eindickt. Ich hatte übersehen, dass die Rührzeit im philippinischen Kochbuch mit „20 bis 30 Minuten“ angegeben wurde; also hörte ich nebenbei eine Vorlesung per Macbook und rührte und rührte und rührte.

Ich wartete die ganze Zeit darauf, dass sich alles leicht violett einfärben würde; die Dame im Asiamarkt hatte mir neben den Knollen noch fertige Süßigkeiten daraus gezeigt, die fliederfarben waren. Es blieb aber alles beige, auch nachdem ich aus der nach 25 Minuten Rühren enstandenen Paste eine Eismasse gemacht hatte; dazu Eier und Zucker aufschlagen, mit warmer Milch aufrühren, alles zusammen erhitzen, bis es eindickt, dann mit Sahne und eben dem Püree verbinden, stundenlang in den Kühlschrank stellen, dann in die Eismaschine. Das freute mich sehr, dass ich die mal wieder verwenden konnte; die stand jahrelang rum, zum Schluss in einer Hamburger Umzugskiste auf dem Dachboden meiner Eltern, bis ich sie im letzten Jahr in einer blauen Ikeatasche nach München trug. Läuft wie am ersten Tag.

Das Eis färbte ich schließlich mit Speisefarbe ein, damit F. raten konnte, was es (theoretisch) war. Gut war’s.

Vor dem Einkauf ging ich mit den Ausdrucken aus dem Impfzentrum und dem Perso in eine Apotheke und muss nun nicht mehr meinen Impfpass mit mir rumtragen, ich bin jetzt zertifiziert geimpft und habe die Corona-App damit (hoffentlich) durchgespielt.

Am Donnerstag war ich nach sieben Monaten wieder im ZI OMG SIEBEN MONATE? und arbeitete die letzten gelb markierten Stellen im Dokument ab. Das war noch schöner als mit Sekt auf der Terrasse zu sitzen.

Noch sieben herrliche Tage im Süden und viel herrliche Schreibtischarbeit, bevor ich wieder in den Norden muss. Ich werde jetzt viel Zeug mit Fischsauce, Limetten und Chili essen und schlafe jetzt schon schlecht, weil ich weiß, dass es nochmal fürchterlich werden wird.

Bitte keine Ratschläge, es ist alles schon anstrengend genug.