Donnerstag, 11. Juli 2024 – Blond

Das Buch „Blonde Roots“ von Bernardine Evaristo durchgelesen. Es kehrt die Geschichte der Sklaverei um und macht Schwarze Menschen („Blaks“) zu den Besitzer*innen von weißen Menschen („whytes, wiggers“). Letztere versuchen, sich mit Dreadlocks, Cornrows und Lehm im Gesicht dem Schwarzen Schönheitsideal anzupassen. Sie bekommen nach ihrem Raub vom „grauen Kontinent“ Europa, der laut der Landkarte, mit der das Buch beginnt, südlich von „Aphrika“ liegt, aphrikanisch klingende Namen als „slave names“. Die Hauptfigur heißt also nicht mehr Doris Scagglethorphe, sondern Omorenomwara, die als Mädchen entführt und versklavt wird und eines Tages als junge Frau die Gelegenheit zur Flucht bekommt.

Im Buch kommen fast nebenbei lauter Klischees vor, die ich mit Schwarzen oder weißen Menschen verbinde, mit den Kulturen von Europa und Afrika, und jedesmal musste ich kurz im Kopf umdenken, weil ich durch meine Schulbildung, meine eigenen Erfahrungen, dem Medienkonsum von 40 Jahren und auch der universitären Ausbildung, gerade in Kunstgeschichte, gnadenlos festgeschriebene Empfindungen und Vorstellungen im Kopf habe. Das war im besten Sinne irritierend.

Was mich aber bis zum Schluss des Buchs fertiggemacht hat, weil ich es nicht abschütteln konnte, worüber ich noch nachdenke: dass ich bei jeder Beschreibung von Sklaverei oder Sklaven und Sklavinnen automatisch Bilder von nicht-weißen Menschen im Kopf hatte. Das Buch bemüht sich auf so gut wie jeder Seite, mich daran zu erinnern, dass die Hauptperson weiß ist und ihre Besitzer*innen Schwarz, aber in meinem Kopf war es immer umgekehrt. Wenn die Wunden einer Auspeitschung beschrieben werden, hatte ich automatisch Bilder eines Schwarzen Rückens im Kopf, vermutlich, weil ich noch keine anderen gesehen habe – oder im Vergleich zu den Bildern der US-amerikanischen Sklaverei viel zu wenige. Wie gesagt: im besten Sinne irritierend.

Die Geschichte liest sich genauso schmerzhaft wie alle anderen Storys über Sklaverei, aber der simple Trick, Schwarz und weiß und die dazugehörigen Machtverhältnisse umzukehren, macht es trotzdem zu einem sehr lesenswerten und erstaunlich unterhaltsamen Buch.

Ich frage mich gerade, ob ich es als unterhaltsam empfunden habe, weil ich weiß, dass es Fiktion ist. Wobei ich natürlich bequem ignoriere, dass diese Fiktion auf einer furchtbaren Wahrheit beruht. Ich wiederhole mich erneut: irritierend.

Ein französisches Dankeschön …

… an Anna, die mir per Patreon einen kleinen Betrag zukommen ließ, damit ich mir den Comic „La vision de Bacchus“ von Jean Dytar bestellen konnte. Ich schrieb schon einmal über diesen Vorgang und beendete den Eintrag mit den launigen Worten: „Sprachunterricht und Bücher in einem Aufwasch. Die [Buchhandlung] Librairie Française wird mein Ruin werden.“

Letzte Woche war der Band da und ich schlenderte vorbei, um ihn abzuholen. Und weil ich schon mal da war, fragte ich nach einer Empfehlung für Anfängerinnen der französischen Sprache. Die Inhaberin (?) erkundigte sich nach meinem Sprachniveau – „B1?“ – „Höchstens.“ (Eher noch A irgendwas, aber egal, man braucht ja Ziele im Leben) – und fragte dann: „Wie wäre es mit einer Geschichte über eine alleinstehende Frau, die eine Buchhandlung eröffn…“, woraufhin ich innerlich mit „Tais-toi et prends mon argent!“ antwortete, was laut Deepl „Shut up and take my money“ bedeutet. Äußerlich drückte ich mich gewählter aus: „Ja, das klingt gut, danke!“ Statt einem also zwei Bücher bezahlt und zufrieden den Laden verlassen. Vielen Dank für immerhin eins der Werke, ich habe mich sehr gefreut!

Lektüre im zweiten Quartal 2024

(Erstes Quartal 2024)

Zwei Sterne: sehr gut
Ein Stern: gut
Kein Stern: immerhin durchgelesen

Ich notiere in einem schönen, alten klassischen Word-Dok direkt nach dem Zuklappen des Buchs meine Eindrücke. Deswegen kommt im folgenden Eintrag das Wort „lesen“ ungefähr zwanzigmal vor. Das muss so.

April

Brigitte Reimann: Die geliebte, die verfluchte Hoffnung. Tagebücher und Briefe 1947–1972 **

Mit großem Gewinn gelesen. Hier und hier erwähnt.

Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne **

Tolles Buch, zu recht ein Klassiker. Wieso kannte ich das als Westdeutsche nicht? Wieso kannte ich auch Frau Reimann nicht? Wieso kannte ich so viele bildende Künstler*innen der DDR nicht?

Norbert Frei: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949–1994, München 2023 **

Viel gelernt, lesbar verpackt, wenn der schlechte-Laune-machende Inhalt nicht wäre, gerne wieder.

Mai

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand **

Irre viel Geschichte, NS, DDR, alles spannend, aber es passiert dann doch recht wenig. Das Spannende und für mich Aufschlussreiche passiert in den langen Beschreibungen vom Alltag. Daher: große Empfehlung. (Ich musste allerdings ab und zu mal querlesen auf den letzten 100 Seiten.)

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend **

Eine Familiengeschichte durch fast das gesamte 20. Jahrhundert, immer unterbrochen vom Tod einer Tochter, die im nächsten Kapitel wieder aufersteht und eine andere Handlung ermöglicht. Das fand ich einen sehr schlauen Kniff. Gern gelesen.

Juni

Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß **

Autobiografisch gefärbter Roman, der Kindheit und Jugend in der DDR, der Wendezeit und den sogenannten Baseballschläger-Jahren behandelt. Ganz nebenbei auf Dinge aufmerksam gemacht worden, über die ich Wessi nie nachgedacht hatte. Beunruhigt gelesen.

Uli Oesterle: Vatermilch, Band 1: Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoß **

Halbbiografischer Comic, der im München der 1970er und 2000er Jahre spielt. Sehr gern gelesen; mich über das gezeichnete Tantris gefreut.

Uli Oesterle: Vatermilch, Band 2: Unter der Oberfläche **

Geht weiter in den 1970er Jahren. Der Band erschien erst 2023, ich ahne, dass ich bis zum Ende der Story im vierten Band noch ein paar Jahre warten muss.

Isabel Kreitz: Die Entdeckung der Currywurst *

Graphic Novel nach dem Roman von Uwe Timm, laut dem die Currywurst in Hamburg und nicht in Berlin erfunden wurde. Ich mochte die gezeichnete Nachkriegszeit.

Deniz Ohde: Streulicht **

Roman über ein Mädchen mit Migrationshintergrund, das zu einer jungen Frau wird, der das immer klarer wird und die diesem Umstand trotzdem schutzlos ausgeliefert ist. Ich musste oft kurz aufhören zu lesen, weil sich einiges so absurd und schmerzhaft liest in seiner total gut gemeinten Gehässigkeit oder im besten Falle Gedankenlosigkeit. Empfehlung.

Samstag, 29. Juni 2024 – Erstes Mal Elphi

F. und ich waren für einen sehr kurzen Kurztrip in Hamburg, Freitag am späten Nachmittag angekommen, ging es Sonntagmorgen schon wieder zurück. Für die Statistik: Hinfahrt fast pünktlich OMG, Rückfahrt 30 Minuten Verspätung. Für mich eine noch recht neue Erkenntnis: um wie viel schneller die Zeit vergeht, wenn man nicht liest, sondern Podcasts hört. Vermutlich auch, weil ich bei denen dauernd wegnicke, was überhaupt der beste Zeitvertreib auf langen Zugfahrten ist.

Ich hörte dieses Mal den Sommelier-Podcast von Silvio Nitzsche. So ganz glücklich bin ich mit seiner Gesprächsführung noch nicht, denn ein Teil des Konzepts ist es, allen Gästen dieselben Fragen zu stellen. Und die eingesprochenen Werbeblöcke sind unerträglich in ihrer Künstlichkeit. Trotzdem habe ich die gut zwei Stunden komplett gehört, denn die aktuellen Gäste sind unsere Lieblingswirte aus dem Lieblingsgasthaus, dem Waltz.

Gegessen und getrunken haben wir unter anderem in der Bar Three Fingers, die sich im Hotel Pier Drei in der Hafencity befindet. Die Drinks auf der Karte waren okay, wir bestritten mit ihnen höflicherweise auch die erste Runde, aber danach zauberten wir dem Barkeeper ein Lächeln ins Gesicht mit unseren Extrawünschen, denn inzwischen haben wir in der Bar Tantris gelernt, was uns schmeckt. F. bat um einen Old Fashioned, bei dem erstmal die Whiskysorte besprochen wurde. Ich wünschte mir einen Rum-Martinez, bei dem der Barkeeper überlegen musste, ob er eine bestimmte Zutat im Haus hätte – ob ich sonst einen Espresso Martini mal mit Rum probieren wolle? Das klang auch spannend, aber anscheinend war alles Notwendige vorrätig, ich bekam den Martinez und war glücklich.

Einen Abend später nahmen wir den Absacker nach unserem ersten Konzert in der Elbphilharmonie in einer weiteren Hotelbar, nämlich die, die auf der Ausgangsebene der Elphi liegt: das Blick im Westin. Die Drinks waren ebenfalls okay, mir ein bisschen zu gewollt anders, und hier sah es auch nicht so aus, als ob wir jemanden mit Sonderwünschen glücklich gemacht hätten. Aber als Ausklang eines etwas seltsamen Abends völlig in Ordnung. Und natürlich bester Blick aller Zeiten auf Hamburg.

Eigentlich hätte ich am späten Freitagabend einen Termin in Hamburg gehabt, um den wir dann noch den Besuch in der Elphi rumstrickten, aber diesen Termin sagte ich aus Gründen ab. Stattdessen sah ich meinen ältesten Freund wieder und es gab nach einem Burger mit der ganzen Familie die oben genannten Drinks, was ich für eine weitaus bessere Nutzung meiner Zeit halte.

Samstag morgen sahen wir eine Ausstellung mit Fotografien von Henri Cartier-Bresson im Bucerius-Kunstforum, nachdem wir zunächst im Falke-Store im Hanseviertel neue Socken für Herrn F. erstanden, der eben diese vergessen hatte, und zu einem schicken Anzug für die Elphi gehören halt auch schicke Anzugsocken.

F. als Hobbyfotograf nahm vermutlich mehr aus der Ausstellung mit als ich; ich fand sie anstrengend gehängt und verlief mich dauernd zwischen den vielen Themen. Womit sie mich allerdings total kriegte: mit einem halbstündigen Film, den Cartier-Bresson 1945 (!) mit Kriegsgefangenen in Deutschland drehte, die nach Frankreich zurückkehrten. Was ich vorher nicht wusste: Cartier-Bresson war selbst seit 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen, aus der er nach zwei vergeblichen Fluchtversuchen 1943 entkommen konnte. Der Film „Le Retour (Die Rückkehr)“ zeigt Szenen aus deutschen (Konzentrations-)Lagern, die von der US-Armee bzw. der Roten Armee befreit wurden. Er beschreibt in wenigen Worten und vielen Bildern, wie Millionen von Displaced Persons nun versuchen, in ein anderes Leben zurückzukehren oder aufzubrechen. Der Tonfall ist weniger verherrlichend ob der gelungenen Militäroperation, als ich erwartet hatte; Teile des Bildmaterials wurden von der US-Armee in anderen Zusammenhängen verwendet, wo der Tonfall deutlich anders war; ich las im Foyer den betreffenden Aufsatz im ausliegenden Katalog und hoffe, ich zitere halbwegs korrekt.

Ich habe vom Film hauptsächlich eine große Empathie für Menschen mitgenommen, die ich auch in vielen der Bilder von Cartier-Bresson wiederfinde. Die hatte ich vorher nicht unbedingt mit ihm verbunden, ich hatte ihn eher als unbeteiligten Chronisten wahrgenommen. Das Bild konnte die Ausstellung absolut erweitern.

Danach Geld in einem Kunstantiquariat gelassen. Eine Ausgabe von Erna Lendvai-Dircksens „Ein deutsches Menschenbild“ (1961) gefunden, das vor 1945 noch „Das deutsche Volksgesicht“ hieß. Außerdem ein gefühlt zehn Kilo schweres Buch ins Hotel geschleppt, das den wunderbaren Titel „Der Bergbau in der Kunst“ (1958) trägt und vom Verlag Glückauf, Essen, herausgegeben wurde. Ich bin kunsthistorisch bei den Autobahnen gelandet, weil ich Darstellungen von technischen Werken so mag, und es gibt erstaunlich wenig Literatur zu diesem Thema.

Lecker Galettes und Crêpes im Ti Breizh genossen, das kannte ich noch aus meiner Zeit in Hamburg.

Und abends dann aufgedotzt für unseren ersten Besuch in der Elbphilharmonie. Wir freuten uns sehr auf einen tschechischen Abend: Es sollte Smetana, meinen Liebling Martinů sowie Grandmaster Dvořák geben, aber ein paar Tage vor dem Konzert erreichte uns eine Mail, dass der Sologeiger Leonidas Kavakos aus gesundheitlichen Gründen nicht Martinů mit dem Orchester spielen würde, sondern – Mozart. Ausgerechnet. Fucking Mozart! Ich überlegte ewig, was wohl diese Gründe waren, denn auf der Bühne sah der Herr nicht gebrechlich aus, aber ich ahne, dass er im Vorfeld des Konzerts zu lange an irgendwas laboriert hatte, um das Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 H. 293 (1943) einzustudieren. Für den Mozart kann man ihn wahrscheinlich nachts um 4 wecken und den fiedelt er runter.

Aber egal, erstes Mal Elphi ist erstes Mal Elphi. Wie erwähnt trugen wir unseren feinsten Zwirn, wie es sich gehört und wie wir in Münchner klassischen Konzerten immer aussehen – und waren total overdressed. Schon im Hotel-Fahrstuhl wurden wir gefragt, wo wir denn so elegant hingingen, und die jungen Herren, die auf den Fleetstufen rumchillten und zwischen denen wir durchstapfen mussten, meinten auch, wer so gut aussehe, dem mache man doch gerne Platz. Ich nehme Komplimente, wo ich sie kriegen kann, behaupte aber weiterhin, dass sie eher F. galten in seinem hellgrauen Slim-Fit-Anzug und Ray Ban als mir verschwitzer Kugel in dunkelblauem Rinaldi.

An der Elphi musste ich außen natürlich das obligatorische Foto machen, alle danach habe ich vergessen, denn das Gebäude ist noch viel schöner als ich es erwartet hatte. Die lange Rolltreppe bringt einen auf die Höhe der Plaza (8. Stock), wo geschwungene Glastüren einen auf den Umgang führen, auf dem man einmal komplett um das Gebäude rumwandern und sich Hamburg von oben angucken kann. An zwei der Seiten gab es sogar Sitzgelegenheiten, die aber alle besetzt waren, kein Wunder. Das würde ich als Hamburgerin ja dauernd machen: Snack und Champagner einpacken, ein Plaza-Ticket erwerben und dann bei Sonnenuntergang über den Hafen gucken (und das mir neue, unglaublich hässliche „Frozen“-Musicaltheater ignorieren, das direkt neben dem zum „König der Löwen“ steht).

Wir gingen also nur rum, guckten runter, gingen wieder rein und betraten eine Stunde vor dem Konzert die schicke Treppe, die uns auf unsere Etage führte. Jedenfalls ging F. ganz bis oben zu Fuß, ich nahm irgendwann einen Fahrstuhl. Das wäre auch mein einziges Gemecker über die Innenarchitektur: wunderschöne Treppen, hell, groß, aber total seltsame Stufenbreiten, die sich auch dauernd ändern.

Im 13. Stock angekommen, bewunderten wir erneut die Aussicht und nahmen ein kleines Getränk zu uns. Der Saal selbst öffnete eine halbe Stunde vor Beginn, bis dahin genoss ich noch die vielen Blickachsen in die Stockwerke unter dem, in dem unser Saaleingang lag und fand alles schick. Wir meckern ja gerne über die Isarphilharmonie, die ein Behelfsbau ist, bis vielleicht irgendwann auch die CSU mal verstanden hat, dass für eine Stadt, die drei Orchester von Weltrang hat, auch ein dementsprechendes Haus ganz angemessen wäre. Bis dahin quetschen wir uns in ein zu kleines Foyer und über zu enge Treppen; auch deswegen mochte ich die Weite der Elbphilharmonie sehr gern.

Der Große Saal selbst sieht unhöflich ausgedrückt wie ein Wespennest aus: Das Orchester sitzt unten in der Mitte, das Publikum wabenförmig mehrere Ränge nach oben gestaffelt darum. Über die einzigartige Akustik wurde schon alles geschrieben, weswegen ich sehr gespannt war, sie selbst einmal zu hören.

Wir begannen mit dem Smetana, der freundlich an mir vorbeilief. Er fing mit zwei Harfen an, die glasklar durch den Saal schnitten. (Sie können übrigens mithören, während Sie lesen: Hier ist die Aufzeichnung.) Danach setzten die Bläser ein und ich war begeistert. Aber dann kamen die Streicher dazu – und ich war irritiert. Sie klangen, als ob sie unter einer Wachsschicht aufspielten und das änderte sich auch den ganzen Abend lang nicht. Ich hörte Holz- und Blechbläser so deutlich wie noch in keinem anderen Saal, aber die ganzen Saiteninstrumente erschienen mir seltsam gedämpft, wie eine einzige Masse, und damit meine ich nicht einen einheitlichen Orchesterklang, sondern undeutlich, unspezifisch. Ganz komisch.

Was mir auch auffiel: wie konzentriert der Klang beim Orchester blieb. Es fühlte sich für mich so an, als ob das Orchester in einer Blase sitzt oder einem Glaskubus: Ich sah alles, aber der Klang kam nur bis zu einer Wand und ich saß auf meinem Platz auf der anderen Seite dieser Wand. Es erreichte mich emotional so wenig wie in keinem anderen Saal. Und nach der Pause gab es Dvořáks 9. Sinfonie, eines meiner Lieblingsstücke, das ich quasi mitpfeifen kann und das mich gerne zu Tränen rührt. Hier zog es perfekt und seelenlos wie auf einer CD an mir vorbei. Ich verstehe diesen Saal noch nicht, möchte aber dringend noch einmal hin, um zu hören, wie ein anderes Programm auf einem anderen Platz klingt.

Und dann gerne mit einem anderen Publikum. F.s erste Bemerkung, als wir uns in der Pause wiedertrafen (wir saßen nicht zusammen, es hatte nur noch Einzelplätze gegeben): „Ich lästere nie wieder über das Münchner Publikum.“ Was uns so irritierte: dass ein Großteil der Zuschauer*innen vermutlich sonst nie in klassische Konzerte geht.

Nach dem Smetana kam Mozart, bei dem ich fast eingeschlafen wäre, hätte nicht der Violinist mich wachgehalten. Aber nach dem ersten Satz des Konzerts für Violine und Orchester Nr. 3 G-Dur KV 216 kam nicht die erwartete Stille, sondern – Applaus. In mehrsätzigen Werken wird zwischen den Sätzen nicht geklatscht, und die Stille gehört für mich zum Stück, das kurze Innehalten und Durchatmen, bevor es weitergeht. Aber die gab’s hier nicht, sondern es gab Applaus. Nach dem ersten Satz dachte ich noch, okay, man bedankt sich beim Solokünstler, aber als auch nach dem zweiten Satz geklatscht wurde, war ich nachhaltig irritiert. Vor allem von der Menge an Menschen, die anscheinend nicht wussten, dass man eben nicht klatscht. Beim Dvořák ging es blöderweise damit weiter, es gab Applaus, als ob man dafür was geschenkt bekäme, und nach dem dritten Satz, vor dem dramatischen Finale, wurde ich dann auch mal laut, zischte ein „Shhh!“ in die Runde und machte eine entsprechende Handbewegung (F. auch, wie er mir nachher erzählte). Der Dirigent hatte auch keine Lust mehr auf die Faxen, weswegen es nach dem dritten sehr schnell im vierten Satz weiterging, und das nehme ich den Nasen schon ein bisschen übel, dass ich den Satzanfang nicht vernünftig hören konnte, denn der ist großartig.

Wir fragten uns nach dem Konzert, woran das liegen könnte, und ich ahne, dass viele Menschen im Saal waren, die als Tourist*innen in Hamburg sind, wozu anscheinend heutzutage ein Besuch in der Elbphilharmonie gehört. Was ich ja großartig finde, dass Menschen mal so in Kontakt mit dieser Musik kommen. Aber vielleicht braucht es dann doch eine winzige Gebrauchsanweisung im Programmheft, das man netterweise umsonst bekommt. Denn woher soll man wissen, wie ein derartiges Konzert funktioniert, wenn man noch nie in einem war? Oder ich bin inzwischen eine alte Prusseliese, die halt zwischen den Sätzen ihre Ruhe will, kann auch sein.

(Edit nach einem Hinweis auf Masto: Die Elbphilharmonie-Website erklärt sogar das Klatschen.)

Nach dem Schlussapplaus deutete Dirigent Alan Gilbert mit seinen Händen übrigens zwei Nullen an und machte eine Fußballbewegung, das war mal ein hervorragender Service für alle Leute, die bei der Ticketbuchung nicht den EM-Spielplan im Kopf hatten.

Nach unserem Barbesuch hatten wir die lange Rolltreppe, die uns in die Elphi hineingebracht hatte, ganz für uns alleine, das war schön. Und ich höre jetzt weiter Martinů auf YouTube. Sagt mir Bescheid, wenn er mal wieder in der Elphi gegeben wird, dann muss ich ein Ticket kaufen.

Mittwoch, 26. Juni 2024 – Wagnbruck

Wir saßen mal wieder in der Isarphilharmonie. Ich so gerade eben, denn das gestrige Gewitter hatte irgendwas an der U3 kaputtgespielt, weswegen ich den längeren Weg per Bus zur Spielstätte nehmen musste, der quasi aus Prinzip nie pünktlich ist. Ich kam erst gegen 19.20 Uhr im Haus an, das Konzert begann um 19.30, ich musste zwar nicht zur Garderobe oder zum Klo, aber ich bin trotzdem lieber früher da. Auch weil wir gerne Karten in der Mitte haben, und wir hassen ja alle die Leute, die in der Mitte sitzen, aber erst als letzte kommen, damit auch alle anderen in der Reihe auf jeden Fall aufstehen müssen. Leicht angeschwitzt fächerte ich, bis Dirigent Andris Nelsons die Bühne betrat, dann war ich still und lauschte Wagner.

Eigentlich hätte Alban Berg auf dem Spielplan gestanden, aber die Violinistin Baiba Skride musste leider pausieren. Deswegen gab es vor der geplanten 7. Sinfonie von Bruckner ein bisschen was von dem Komponisten, von dem Brucki Fanboy war. Zunächst hörten wir die Ouvertüre zum „Tannhäuser“, die ich sehr gerne mag und bei der ich ein bisschen feuchte Augen bekam, ich Memme. Hier eine Aufnahme der Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada.

Wie schon die Wikipedia erwähnt, genau wie das gestrige Programmheft, musste Wagner für die Pariser Aufführung der Oper noch ein blödes Ballett schreiben, wie es damals angesagt war. Genau diese Musik wurde direkt hinter die Ouvertüre gesetzt – und ich verlor schlagartig das Interesse. Ich hatte Wagner noch nie konzertant gehört und merkte gestern erstmals sehr deutlich, dass seine Werke dafür auch nicht so recht geeignet sind. Dem restlichen Publikum ging es ähnlich, ich würde den Applaus als freundlich-lauwarm bezeichnen.

Nach der langen, langen Bruckner-Sinfonie gab’s ein bisschen mehr Enthusiasmus, aber ich ahne, dass alle irgendwie weichgekocht waren und nur nach Hause wollten. Zwei Verbeugungen, nicht mal das übliche Umdrehen des Orchesters zum Balkon, auf dem die Zuschauenden die Musiker*innen bisher nur von hinten gesehen hatten, das war’s. War mir auch recht, ich konnte nicht mehr sitzen. Keinen Drink danach, wir waren beide müde.

Das war nicht ganz so mein Abend, aber selbst bei den langweiligen Stellen dachte ich, vielleicht auch zur Selbstaufmunterung, dass das schon sehr toll ist, Livemusik hören zu können. Egal ob man sich jetzt beim Punkkonzert durchschwitzt oder hier stumm vor sich hingrübelt, es ist immer etwas Besonderes. Das war schön, trotz meines versteckten Gähnens so ab 21 Uhr.

Hier eine Aufnahme der Siebten mit dem HR-Sinfonieorchesters, immer gerne von mir verlinkt, unter der Leitung von Christoph Eschenbach, dauert eine Stunde und zehn Minuten. Auf YouTube gibt es auch eine Aufnahme mit Sergiu Celibidache, der die Berliner Philharmoniker knappe anderthalb Stunden spielen ließ.

Dienstag, 25. Juni 2024 – Mieze und Welsch

Zu zweit im wunderbar entspannten Tschecherl gewesen. Einen ebenso entspannten Welschriesling getrunken. Zum Nachtisch für mich Palatschinken mit Marillenmarmelade, auf die ich mich den ganzen Tag vorgefreut hatte. F.s Wahl, Erdbeeren „Mieze Schindler“ mit Jogurteis, war aber ebenso hervorragend (selten eine so tolle Erdbeere probiert).

Einen Hauch angeheitert den Einzug von Österreich ins Achtelfinale bejubelt, dann das Elend England gegen Slowenien nach 20 Minuten ausgeschaltet und früh schlafen gegangen.

Samstag, 22. Juni 2024 – Besuch im Ostpreußischen Landesmuseum

Das Mütterchen stammt aus Ostpreußen, verließ 1947 mit ihrer Mutter, ihrer Tante und deren zwei kleinen Kindern das nun polnische Gebiet und kam in die SBZ. 1951 siedelten sie alle nach Westdeutschland über. 1981 besuchte sie mit ihrer Tante erneut das ehemalige Heimatdörfchen in der Nähe von Bartenstein (Bartoszyce), legte Fotos von der Reise in einem dicken Ordner ab und schrieb ihre Gedanken dazu auf.

Das Ostpreußische Landesmuseum wurde 1958 als Jagdmuseum gegründet. Auf seiner Website steht mehr zur Geschichte und auch, warum es ausgerechnet in Lüneburg ist:

„Niedersachsen wird nach dem Zweiten Weltkrieg Hauptansiedlungsgebiet von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den damals deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße. In der Lüneburger Region sind Anfang der 1950er Jahre so viele Ostpreußen ansässig, dass man hier zeitweilig vom ‚Klein-Ostpreußen in der Lüneburger Heide‘ spricht.“

Die derzeitige Dauerausstellung wurde erst 2018 eröffnet, was man merkt: Sie ist didaktisch ziemlich weit vorn. Ich zitiere erneut die Website:

„Auf 2.000 qm ist, über drei Etagen verteilt, eine abwechslungsreiche, vielfach zum Ausprobieren und Mitmachen einladende Ausstellung entstanden, die sich an Familien und Touristen richtet. Neben einer möglichst vollständigen Darstellung der faszinierenden Kulturgeschichte und einzigartigen Landschaft Ostpreußens sind eine eigenständige Deutschbaltische Abteilung sowie ein großes Modul über das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 hinzugekommen.“

Schwester, Schwager, das Mütterchen, F. und ich besuchten das Museum am vergangenen Wochenende und schwärmten auf der Rückfahrt recht ausführlich davon, wie gut alles aufbereitet und betextet war. Ich nehme die Pointe der folgenden vielen Zeilen schon mal vorweg, wir haben ja alle keine Zeit: Fahrt da mal vorbei, das lohnt sich. Nicht von der etwas trutschigen Website abschrecken lassen.

Nachdem wir unsere Eintrittskarten hatten und vor dem ersten Raum standen, fragte uns eine freundliche Dame, die uns Flyer mit Stockwerkübersichten und Sonderausstellungen in die Hand drückte, warum wir denn hier seien. Schwager meinte, dass das Mütterchen aus Ostpreußen stamme, woraufhin der Satz kam: „Das ist hier aber kein Heimatmuseum.“ Wir wussten also schon von Anfang an, dass es hier nicht darum ginge, die gute, alte Zeit, die eh keine gute war, wieder aufleben zu lassen, womöglich noch revisionistisch geschönt. Das gefiel.

Wir begannen im Erdgeschoss, wo es historisch losging: Wer waren diese Prußen denn überhaupt, was war der Deutsche Orden bzw. dessen Staat und was gab’s noch so in der langen Geschichte des Landstrichs. Dem Deutschen Orden war ich schon in der Diss begegnet, weil die Marienburg ein Motiv war, das Protzen in seiner unrühmlichen Serie „Deutscher Osten“ mehrfach gemalt hatte. Ich zitiere die eben verlinkte Wikipedia: „Ab 1933 ideologisierte der Nationalsozialismus den Deutschen Orden und damit auch die Marienburg, ähnlich wie das Tannenberg-Denkmal.“ Ostpreußen war auf einmal schon immer deutsch, obwohl es, soweit ich es bisher überblicken kann, eher ein wildes Gemisch an Kultur, Sprache und Menschen war.

Gleich im zweiten Raum sah ich zum ersten Mal eine sogenannte Schrein-Madonna (1400/1401) und ab da hatte der Laden gewonnen. Die Madonna kann man auch im ersten der virtuellen Rundgänge gleich zu Beginn gut sehen.

Im geschlossenen Zustand sieht man eine Madonna, die ein Jesuskind im Arm hält. Im geöffneten Zustand „drängen sich Frauen und Männer verschiedener gesellschaftlicher Stände, König, Papst, Bischof, Adelige, Bürger, Geistige“ unter den „goldenen Mantel, den Maria mit ihren Armen aufzuhalten scheint. […] Alle knien anbetend vor dem Bild des thronenden Gottvaters, der den gekreuzigten Christus präsentiert.“ Schon hier spürbar: gute Texte, kein Geschwafel, nicht zu lang, auf den Punkt und informativ.

Im nächsten Raum wartete das Gold der Ostsee auf uns: der Bernstein. Ich hatte erwartet, dass man ein bisschen Schmuck rumliegen lässt, aber stattdessen gab es schönstes Kunsthandwerk, unglaublich toll ausgearbeitet, dazu die Story vom Bernsteinzimmer per Foto und eine riesige Wand mit lauter einzelnen Steinen, die man per Lupe genauer betrachten konnte. Außerdem hing dort ein Gemälde, das einen Bernsteinfischer zeigte. Generell gab es nicht nur Vitrine, Text, Vitrine, Text, schnarch, sondern alles wurde immer durch besondere Exponate um etwas Fassbares, Nahbares erweitert.


Heinrich Rudolf Krauskopf: „Bernsteinfischer“ (1920er Jahre).

Im Nebenraum konnte man sich über Flora und Fauna des Ostseeraums informieren, da schlenderte ich nur durch, nutzte aber die Gelegenheit, Felle von Elchen, Schafen und noch mehr Tieren anzufassen, die dort für Kinder bereit lagen (und für neugierige Ankes). Überhaupt war, soweit ich mich erinnere, in so gut wie jedem Raum irgendwas für Kinder. F. meinte im Nachhinein, dass er sich gerade zu den Themen NS und Flucht immer die Kindertexte durchgelesen habe. Das hätte ich auch machen sollen, er fand sie alle sehr gut. Das glaube ich ihm mal.

In einem abgetrennten Raum konnte man sich selbst an einem Glockenspiel versuchen – mit „Noten“ anbei, also 1, 3, 5 oder so für die Tonfolge der fünf kleinen Glocken. Mit einem Gummiklöppel durfte man auch auf etwas größeren Glocken rumdengeln. Erneut: schon gewonnen. Über all dem Spaß habe ich natürlich vergessen nachzulesen, auf was ich gerade rumdengele.

Im Erdgeschoss gab es außerdem noch eine kleine Ecke zu Literaten (weiß gerade nicht, ob auch Frauen dabei waren) aus Ostpreußen; natürlich war auch Ernst Wiechert vertreten, von dem ich im letzten Jahr mehrere Bücher gelesen hatte. Ihn kannte ich aus dem mütterlichen Bücherregal, sie hat einige Werke von ihm.


Leo von König: „Der Schriftsteller Ernst Wiechert“ (1939).

Im ersten Stock ging es für mich gleich mit Kunst weiter. Ein Wandtext wies darauf hin, dass es nicht viele bekannte ostpreußische Künstler*innen gäbe, was auch damit zusammenhinge, dass viele durch Krieg und Flucht ihre Werke verloren hätten. Das lasse ich mal so stehen, auch wenn ich behaupte: Wenn es welche gegeben hätte, hätten wir heute ein paar Ausstellungskataloge, Auktionsergebnisse oder simple Presseberichte. Die bekanntesten Künstler*innen aus dieser Ecke sind vermutlich Lovis Corinth und Käthe Kollwitz, von der auch eine tolle Pieta zu sehen ist: Sie stammt aus dem Nachlass von Wiechert.


Käthe Kollwitz: „Pieta“, Zinnguß von 1942.

Ich gucke bei Kunst ab 1933 ja generell kritisch auf alle Schildchen an den Werken; bei einem weiblichen Akt am malerischen Ostseestrand von 1939 wurde immerhin der von der „nationalsozialistischen Kunstpropaganda bevorzugte Stil“ sowie der „im ‚Dritten Reich‘ propagierte Typ des ‚arischen‘ Menschen“ erwähnt. Bei den meisten anderen Landschaften oder Gebäudeansichten wurde mir etwas zu oft der neusachliche Malstil erwähnt, der diese Werke elegant verbal von der offiziellen Kunst abgrenzt, ohne dass sie es wirklich waren. Aber wir sind hier ja nicht in einem Kunstmuseum, und dafür fand ich den Bereich sehr ordentlich und ausführlich.

Der erste Stock beschäftigt sich nämlich vor allem mit der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, Weimar und der Zeit des Nationalsozialismus. Was ich nicht wusste: dass Menschen bereits im Ersten Weltkrieg schon einmal aus Ostpreußen fliehen mussten. Wie ein Wandtext richtig sagte: Bei WWI denke ich eher an die Westfront und Verdun, aber nicht an die Angriffe der russischen Armee im Osten des Deutschen Reichs. Die Geflohenen konnten bereits nach relativ kurzer Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren, was nach 1945 die Hoffnung aufrecht erhielt, erneut wiederkehren zu können. Das war mir nicht klar, dass diese Hoffnung durch etwas bereits Erlebtes verstärkt wurde und nicht nur irrationale Sehnsucht war.

Für mich ebenfalls faszinierend: ein Exemplar des Versailler Vertrags. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass dieses Dokument natürlich erst einmal etwas ist, was auf Papier vor mir liegt. Für mich ist „Versailles“ durch die ganze Beschäftigung mit dem NS ein blödes Schlagwort geworden. Und so stand ich etwas länger vor der Vitrine, wo genau dieser Vertrag lag, in englischer und französischer Antiqua sowie in deutscher Fraktur.

Das Thema NS begann mit einer riesigen Karte, die die Verluste der Zivilbevölkerung sowie der Armeen der jeweiligen Länder visualisierte. Das fand ich sehr clever, gleich von Anfang an klarzumachen, welches Unheil von Deutschland und den Achsenmächten über die Welt gebracht wurde. Keine Ausrede für das zweite Stockwerk möglich, in dem es dann um die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten ging. F. merkte allerdings kritisch an, dass zum Beispiel einige Opfer Japans nicht aufgeführt waren wie die Philippinen. Ich meine, auch Korea war nicht erwähnt, das von Japan (bereits vor 1933) besetzt war; das erfuhr ich übrigens erst durch den Roman „Pachinko“, das wusste ich vorher nicht, ich hatte immer nur China als besetztes Land wahrgenommen. Ja, man kann nicht alles wissen, aber mir wurde wieder einmal klar, wie eurozentriert meine Bildung war und vermutlich immer noch ist.

Bisher waren wir alle in unserem eigenen Tempo gegangen, ich hatte auch schon den zweiten Stock halb durch, als das Mütterchen und meine Schwester die Treppe hochkamen. Ab da an blieben wir zusammen, weil ich Mama mit dem Thema Flucht und Vertreibung nicht alleine lassen wollte. Es gab einige Hörstationen, teilweise mit einer Art Hologramm der Erzählenden, die von ihrer Flucht aus Ostpreußen berichten. An einer Hörstation war auch eine heutige Perspektive zu hören, weil Fluchterfahrungen ja anscheinend nie aufhören. Das fand ich sehr gut, das so simpel klarzumachen. Es gab Schaukästen mit Daten und Zahlen, zum Beispiel die oben angesprochenenen Flüchtlingszahlen, die unterbrochen wurden mit Objekten aus der Zeit, Dinge, die mitgenommen wurden, Dinge, die nun neu hinzukamen und jahrzehntelang aufbewahrt wurden. Mit hat besonders eine weitere Hörstation gefallen, an der man ostpreußische Dialekte hören konnte, die inzwischen vermutlich so gut wie ausgestorben sind. Meine Omi hat so eine Art Plattdeutsch gesprochen, aber ich habe das immer irgendwie an die westdeutsche Nordseeküste verortet, nie in den Osten, wie mir ernsthaft erst im Museum auffiel. Wenn sie ihren Dialekt sprach, konnte ich sie nicht mehr verstehen. An der Station war auch die inoffizielle Hymne zu hören, „Land der dunklen Wälder“. Das erwischt mich leider immer, nicht weil ich mich auch nur im Ansatz irgendwie ostpreußisch fühle, sondern weil es ein fieser Tränendrücker ist.

Ich verlinke mal nicht die unvermeidliche Heino-Version. Die YouTube-Kommentare sind da besonders aufschlussreich: von „Wir sollten es wieder heimholen“ bis „Das ganze Deutschland soll es sein.“ Herrgottnochmal.

Die Ausstellung endet mit dem Ankommen in Niedersachsen, der Vertriebenenpolitik in Bundesrepublik und DDR sowie der heutigen Erinnerungskultur. Eine Tafel wies darauf hin, dass die übernächste Generation sich der Heimat der Vorfahren unbefangener nähern kann und schlichtes Interesse am heutigen Polen bzw. an Litauen zeigt. Hätte ich bis zum Lesen der Heino-Kommentare auch abgenickt. Eines meiner liebsten Exponate war ein Kochbuch, das ewig beim Mütterchen im Schrank stand und heute bei mir wohnt sowie ein paar Rezeptkarten zum Mitnehmen, nach denen ich jetzt ostpreußisch kochen kann. Das Rezept mit Pansen lasse ich einfach mal weg.

Abends beim gemeinsamen Grillen sprachen wir weiter über das Gesehene, das Mütterchen hatte in der Ausstellung natürlich auch schon erzählt, aber so konnten wir nochmal über alles in Ruhe reden. Sie bedankte sich quasi alle fünf Minuten für den schönen Tag. Sie meinte auch, natürlich wusste man im Erdgeschoss schon, was oben für ein Thema kommt, aber sie konnte vorher beide Stockwerke interessiert mit uns begehen und hat sich gefreut, dass wir oben bei ihr waren und Fragen gestellt haben.

Ich blätterte danach noch einmal den Ordner durch, in dem sie ihre Reise von 1981 nicht nur in Fotos, sondern auch in kurzen Texten festgehalten hatte. Auf der ersten Seite schrieb sie vom Beginn der Reise, auf der fast alles Menschen im Alter meiner Tante waren, also die Jahrgänge um 1920, meine Mutter gehörte zu den Jüngsten, und fast alle hatten Flucht oder Vertreibung hinter sich. Daher waren die ersten Gespräche auch alle eher traurig, man berichtete von schlimmen Ereignissen. Im Laufe der Tage in Polen wich das aber anscheinend einfach der Erinnerung an Orte und Personen. Hier ein paar Sätze von der letzten Seite im Ordner:

„Abschließend kann man über unsere Reise nach Ostpreußen wohl sagen, dass wir manchmal die Tränen nicht zurückhalten konnten, oft wehmütig gestimmt waren, dass wir aber selten enttäuscht und nie verbittert, dass wir vielmehr oft fröhlich waren und viel gelacht haben, so dass es weniger ‚eine Reise in die Vergangenheit‘ war als vielmehr eine Reise zu Stätten, die für uns Vergangenheit und Gegenwart sind, für die dort lebenden Menschen jedoch Stätten der Gegenwart und der Zukunft.“

Da hat das Mütterchen mal eben einen für mich sehr großen Satz runtergeschrieben.

Aus dem Museumsshop nahm ich mir von Andreas Kossert „Ostpreußen. Geschichte und Mythos“ mit. Vom Verfasser las ich vor zwei Jahren „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“, das ich sehr empfehlen kann.

Ich sag das nochmal zur Sicherheit, die Erwähnung ist ja schon ein paar Zeilen her: Besucht doch mal das Ostpreußische Landesmuseum.

Donnerstag, 20. Juni 2024 – Semesterende

Mein Blockseminar endete etwas verfrüht (Terminkram), was ich doch mehr bedauerte als gedacht. Das war eine ganz tolle Studierendengruppe, und ich habe aus dem Feedback der letzten beiden Semester anscheinend auch das Richtige mitgenommen. Alle glücklich.

Mein Zug fuhr! Er fuhr pünktlich! Er kam nur eine Minute zu spät an! Okay, es war ein Ersatzzug und statt meines schönen Einzelsitzes am Fenster hatte ich einen Doppelsitz mit Wand vor der Nase, aber immerhin einen freundlichen Sitznachbarn bis Hannover. Komplette erste Klasse ausreserviert, das habe ich auch noch nicht oft gehabt.

Neueste Folge von „Terroir und Adiletten“ gehört und mein erstes Weinpaket geordert. Ich bin jetzt anscheinend an die Herren verloren. Und ich war überrascht, dass überhaupt noch ein Paket der 99 da war. Ha! (Ist inzwischen ausverkauft.)

Beim Podcasthören allerdings dauernd weggenickt, was nicht an ihm lag, sondern daran, dass mal wieder eine Ladung Stress von den Schultern gefallen war. Ich legte die Noise-Cancelling-Kopfhörer aber doch lieber weg und las ein Buch, bevor ich komplett einschlafen und erst in Berlin wach werden würde.

Verwandte besucht, einen Schrank begutachtet, alte Bücher durchstöbert, einen Garten bewundert. Je älter ich werde, desto lieber hätte ich einen Garten. Der sich von alleine erledigt und immer top aussieht, ist klar.

Mit Mama Spanien gegen Italien geguckt, aber in der Halbzeit ins Bett gegangen. Mich daran erinnert, dass ich die letzte EM 2021 noch mit Papa geschaut habe und ihm immer erklären musste, was gerade passiert. Wenn die Pflege ins Haus kam, hieß es gern, dass der Fernseher ruhig weiterlaufen könne, „ist ja EM!“

In den Austragungsorten der Spiele stehen schöne EURO-2024-gebrandete Wegweiser, wie man zu den jeweiligen Arenen kommt. Gestern in Düsseldorf freute ich mich über die Hinweise darüber, wie man stattdessen zum Bahnhof kommt, denn in der Station Heinrich-Heine-Allee verlaufe ich mich immer, ich komme nie da raus, wo ich rauskommen will bzw. finde nie das Gleis zum Bahnhof. Danke, EURO 2024, hat wunderbar geklappt.

Mittwoch, 19. Juni 2024 – 80 Minuten

„Verspätung aus vorheriger Fahrt“, „Unwetterauswirkungen“, „Unbefugte Personen im Gleis“, „Reparatur an der Strecke“, „Unwetterschäden“ zwischen Nürnberg und Würzburg. Von letzteren wusste ich vorher, alles andere kam so launig auf der Fahrt hinzu, weswegen die gut 80 Minuten Verspätung, mit denen ich in Düsseldorf eintraf, ja fast schon lächerlich sind. War für mich aber nicht ganz so lächerlich, denn so wurde mir mein Nachmittagsprogramm etwas zu knapp, vor allem, weil ich wusste, dass ich genau die U-Bahn-Linien dafür benutzen müsste wie die ganzen Leute, die zur Fanzone der EM wollen. Also ließ ich das ausfallen, rollerte ins Hotel und guckte immerhin halbwegs gut gelaunt mit Bahnhofsfutter und Apfelschorle im Hotelzimmer Fuppes.

Dienstag, 18. Juni 2024 – Zeuch

Unterrichtsvorbereitungen abgeschlossen. Jemandem zum Geburtstag gratuliert. Köfferchen gepackt. Dankbar für die Außenrolläden gewesen am ersten richtig heißen Tag des Jahres.

Das TikTok-Universum der (extremen) Rechten – Trends, Strategien und Ästhetik in der Social Media-Kommunikation. Eine Analyse sowie Empfehlungen der Bildungsstätte Anne Frank, hier als praktisches PDF zum Download.

Montag, 17. Juni 2024 – Führerschein und Tempeh

Aus meinem vor 30 Jahren mal mitgewaschenem, labberigem rosa Führerschein von 1987 wurde gestern eine langweilige Karte mit doofem Foto. Egal. Ab ins Portemonnaie, brauche ich eher selten. Außerdem kenne ich nun auch die Führerscheinstelle des KVR, wobei ich ahne, dass ich dort erst in 15 Jahren wieder hin muss. Ich stellte irritiert fest, dass Führerscheine nun ein Ablaufdatum haben. Meine Mama hat immer noch ihren grauen Führerschein von … keine Ahnung … 1958 oder so. Der hat kein Ablaufdatum. Fies!

In der U-Bahn waren viele Menschen durch Kleidung oder Accessoires als Fan von Rumänien oder der Ukraine erkennbar. Ich mag diesen Teil von Fußball.

Auch an der Münchner Uni steht ein kleines Protestcamp mit Palästina-Flaggen. Bei der Demo für Demokratie erzählte F., dass es immerhin ein kleines „Gegencamp“ mit Israel-Flaggen gegeben hätte. Ich musste in der Unibib ein Buch abholen und wollte kurz eine Solidaritätsbekundung dalassen, aber ich fand das Camp nicht mehr. Nur eine einzelne Dame mit umgehängter Flagge war damit beschäftigt, von allen Laternenmasten der Umgebung dusselige Aufkleber mit Melonen und dem unzutreffenden G-Wort abzuknibbeln. (Ihr alle, die es benutzt: Googelt das doch bitte mal, ja?) Ich fragte, ob es das Camp noch gäbe, und lernte, dass stattdessen jeden Abend (?) um 18 Uhr eine Mahnwache am Geschwister-Scholl-Platz stattfände. Hiermit weitergesagt.

Tempeh nach den Meal-Plan-Angaben zubereitet. Dieses Zeug hatte ich mir bisher nur einmal gegönnt und fand es fürchterlich. Aber wie ich gestern feststellen durfte: kleingekrümelt, so richtig fies angebraten und dann in Limette und Sojasauce mariniert ist es ziemlich nett. Im Rezept waren für die Tortillas nur der Tempeh, eine schlotzige Avocado-Koriander-Creme sowie eingelegte Schalotten vorgesehen, aber ein bisschen Paprika geht ja immer.

Ansonsten den ganzen Tag Studi-Arbeiten korrigiert. Ich kam nicht mal zum Fußballgucken! Erst das 21-Uhr-Spiel konnte ich in Ruhe anschauen und jammerte über die Niederlage Österreichs. Sonst halte ich immer zu Frankreich, aber gestern wollte ich den Gegner gewinnen sehen. Meh.

Sonntag, 16. Juni 2024 – Sonntach

Genug zu tun gehabt, quasi nichts davon gemacht, Sonntagsruhe eingehalten. War nötig. (Bei jedem Fußballspiel eingenickt.)

Samstag, 15. Juni 2024 – Béla Bartók und Brandy Alexander

F. und ich saßen endlich mal wieder in der Isarphilharmonie. Merke: Der Winter ist erst rum, wenn du nichts mehr an der Garderobe abgeben musst, bevor du in den Saal gehst. Das war gestern.

Die Münchner Philharmoniker haben die sympathische Angewohnheit, ihr Programmheft grundsätzlich ewig im Vorfeld schon als PDF online zu stellen, das heißt, man kann theoretisch schon vorher etwas zu den Stücken lesen. Mache ich eher selten, mich interessiert aber immer, von wann die Musik ist, die ich hören werde. Gestern war ich irgendwie verpeilt und vergaß das, okay, Bartók konnte ich noch halbwegs zuordnen, Tschaikowsky eh, aber bei Zoltán Kodály musste ich passen und hoffte aufs 20. Jahrhundert. Normalerweise kauft sich F. immer ein Programm zum Andenken, und ich kann spicken, aber: Die freundliche Dame in ihrer Programmheftbox musste uns leider sagen, dass es keine gäbe, hier ein ausgedruckter Zettel mit der Abfolge.

Als wir im Saal saßen, betrat dann auch neben dem Orchester und der Gastdirigentin Joana Mallwitz noch ein Herr mit Mikro die Bühne, der uns darüber aufklärte, dass die gedruckten Programmhefte schlicht verschwunden sind: „Wir können sie nicht finden.“ Das sei eine Premiere. Ob das auf dem Weg von der Druckerei nach München oder sonst wo passiert ist, erfuhren wir nicht, aber als Ausgleich hatte sich Mallwitz dazu bereit erklärt, zum Stück von Kodály nach der Pause etwas zu sagen.

Aber erstmal gab’s von Bartók „A csodálatos mandarin“ (Der wunderbare Mandarin), eine Pantomime in einem Akt von Menyhért Lengyel, op. 19 Orchestersuite Sz 73. Das fand ich ganz großartig und freue mich, es in einer Aufführung vom hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada auf YouTube gefunden zu haben, die ich beide sehr schätze. Worum es im Stück ging, las ich erst eben im oben schon erwähnten Programmheft-PDF nach. Machen Sie das auch mal, ich zitiere nur ein bisschen Aufführungsgeschichte:

„»Wie soll ich aber beschreiben, welchen Skandal dieses Werk beim Publikum und besonders bei der Presse hervorrief!« Mit einem Stoßseufzer leitet der ungarische Dirigent Jenő Szenkár eines der aufregendsten – und deprimierendsten – Kapitel ein, die er in seinen Memoiren zu berichten weiß: die Uraufführung des »Wunderbaren Mandarin«, der »Pantomime in einem Akt« seines Landsmanns Béla Bartók. Als Generalmusikdirektor in Köln war es Szenkár gelungen, sich das Privileg der historischen Premiere zu sichern, die am 27. November 1926 im alten Opernhaus am Rudolfplatz über die Bühne ging. Aber die Zuschauer, sofern sie nicht schon vorzeitig den Saal verlassen hatten, dankten ihm dieses Verdienst nur schlecht. Wütendes Zischen, Pfiffe und Pfui-Rufe, Geschrei und Beschimpfungen schlugen dem Komponisten und seinem getreuen Kapellmeister am Ende entgegen. Und die aggressive Empörung wogte in konzentrischen Kreisen durch die ganze (zutiefst katholische) Stadt, rief Politik und Kirche auf den Plan, zog Krisensitzungen und Protestkundgebungen nach sich und in der Presse nicht enden wollende Tiraden über das »Dirnen- und Zuhälterstück mit Orchestertamtam«.

Schließlich wurde Szenkár ins Amt des Oberbürgermeisters zitiert, zu Konrad Adenauer. »Ich ahnte Böses!«, gestand der Maestro im Rückblick auf diese denkwürdige Begegnung. »Dr. Adenauer empfing mich kühl und reserviert, platzte aber sogleich mit der Sprache heraus, machte mir die bittersten Vorwürfe, wie es mir eingefallen wäre, so ein Schmutzwerk aufzuführen, und forderte die sofortige Absetzung des Werks! Ich versuchte ihn von seinem Irrtum zu überzeugen; Bartók sei unser größter zeitgenössischer Komponist, man möge sich nicht vor der musikalischen Welt lächerlich machen! Doch er beharrte auf seinem Standpunkt, das Stück musste vom Spielplan verschwinden!« Wie befohlen, so befolgt. Auch wenn Jenő Szenkár zeitweilig seinen Rücktritt erwog, konnte er nicht verhindern, dass der erste Abend des »Mandarin« in Köln vorläufig auch der letzte war. Und Konrad Adenauer ging damit in die Musikgeschichte ein.“

Nach diesem aufwühltenden Beginn wurde es erwarteterweise plüschiger. Es gab Tschaikowskys Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 mit Anna Vinnitskaya am Klavier, und wenn Sie das Stück anspielen, haben Sie nach drei Takten Lust auf Jogurt. Hier eine Aufnahme mit Khatia Buniatishvili und dem Orchestre de Paris unter der Leitung von Klaus Mäkelä. Eigentlich wollte ich das nur kurz anklicken, um den Link zu copypasten, aber jetzt höre ich es doch weiter – was mich erstaunt, denn gestern abend war ich einen winzigen Hauch gelangweilt, so direkt nach dem Bartók.

Ich hätte Wetten darauf angenommen, dass die Glocken, die im Hintergrund bei den Percussionisten rumstanden, für Tschaikowsky wären, aber nein, die kamen erst nach der Pause bei Zoltán Kodálys „Háry János“-Suite zum Einsatz. Hier erneut das hr-Sinfonieorchester, dieses Mal unter der Leitung von Juraj Valčuha. Auch dieses Stück ist eine vertonte Geschichte, die uns Mallwitz in Kurzform erzählte; ich habe ihr gern zugehört.

„Das Singspiel »Háry János« hatte 1926 in Budapest Premiere und fand durchaus Anklang. Einen großen Erfolg auf den europäischen Musikmarkt konnte sich aber keiner so richtig vorstellen. Kodály arbeitete daher Teile der Musik um. Die »Háry-János«-Suite ist eine Art marktgerechtes »Best of« des Singspiels. Sie ist kostengünstiger aufzuführen, da man weder Kostüme noch Bühnenbild braucht. Auch lässt sie sich international besser vermarkten, da sie nicht an den ungarischen Text gebunden ist. Kodály wählte für die Suite vorwiegend Instrumentalmusik aus dem Singspiel. Nach der Einleitung folgen fünf Sätze. Kodály ordnete die Stücke so, dass sich Tempo, Form und Besetzung abwechseln: Einleitung, dann ein zügiges Rondo, ein liedhaftes Stück, ein überzeichneter Marsch, ein rascher Tanzsatz und ein groteskes Finale. Damit ist die Reihenfolge eine andere als im Singspiel. Viel über die Handlung muss man also nicht wissen, wenn man die Suite im Konzert hört. Die aussagekräftigen Überschriften lenken die Ohren und die Wahrnehmung. Aber an manchen Stellen, wie etwa dem Anfang, schadet es nicht, etwas mehr zu wissen.“

Der Anfang ist das Niesen der Studenten, denen Kriegsveteran Hary seine wilde Räuberpistole erzählt, in der Napoleon, seine Frau und die Habsburger vorkommen. Das erwähnte auch Mallwitz, die aber auch – richtigerweise – sagte, eigentlich muss man zu Musik überhaupt nichts wissen, man kann sie auch einfach so genießen. Finde ich ehrlich gesagt auch: Ich wusste nichts von der Bartók’schen Handlung, und das Stück war mein liebstes gestern abend.

Die Samstagskonzerte fangen meist schon um 19 Uhr an, so dass wir bereits um kurz nach 21 Uhr mit allem durch waren. Es war also noch Zeit für einen winzigen Drink in der Bar Tantris, oder wie F. es ausdrückte: „Fahr’n ma zum Jörg.“

Dieses Mal wollten wir etwas zum Wachwerden, woraufhin wir einen Ramos Gin Fizz erhielten, der uns mit Sahne und Eiweiß überraschte, aber trotzdem total erfrischte. Da wir sonst nie Dinge mit Sahne ordern, nutzten wir den Abend, um bei dieser Art Cocktail zu bleiben und bekamen als Nachfolger einen schönen, altmodischen Brandy Alexander, in den ich mich genau wie in den ersten Drink hätte reinlegen wollen.

(Ist mir erst nach dem Fotografieren aufgefallen: Hinten könnt ihr die heilige Küche mit den bekannten orangenen Kacheln sehen, weil die Schiebetür gerade kurz geöffnet war.)

Einen dritten Sahne-Cocktail wollten wir dann aber nicht mehr, uns gefallen die klareren Sprit-Dinger doch besser. Ich erinnerte mich an den wunderbaren Vieux Carré aus meinem Solo-Bar-Abend, der auch gerade den Gästen neben uns an der Bar serviert wurde. F. schaffte noch einen vierten Cocktail, eine äußerst sprithaltige Eigenkreation, vor der ich die Waffen strecken musste.

Was ich viel lieber gehabt hätte: eine Zigarette. Als ehemalige Raucherin habe ich so zwei-, dreimal im Jahr Lust auf eine einzige Kippe, das Gefühl, sie in der Hand zu halten, der Genuss, den Rauch auszuatmen. Nachdem ich sinnloserweise alle Gäste beobachtet hatte, ob einer von ihnen vor die Tür ginge, wo ich gnadenlos geschnorrt hätte, fragte ich den Barkeeper, ob er wüsste, wo ich eine einzige Zigarette herbekäme. Woraufhin kurze Zeit später jemand aus der Küche kam und mir ein kleines Tellerchen überreichte, auf dem eine gestärkte, gefaltete Serviette lag, darauf eine einzelne Zigarette, daneben ein Streichholzbriefchen mit dem Tantris-Logo. „Ist Camel okay?“ War total okay, kein Light-Scheiß, danke an den unbekannten Koch oder Spüler, der eine Zigarette entbehren konnte. Ich schulde dir was! Das war ganz herrlich, damit vor dem Restaurant zu stehen und, ähm, mich ein bisschen am Logo abstützen zu müssen, weil halt viele Drinks. Das war dann auch der Moment, in dem ich merkte, dass F. meinen vierten Cocktail austrinken musste, während ich beim Wasser blieb.

Ich hätte den schönen Teller mit der einzelnen Zigarette fotografieren sollen, aber da hatte die Gier schon gesiegt.

Freitag, 14. Juni 2024 – Französisch und Fuppes

Eine Blogleserin hatte mir etwas Geld gespendet und mir den Titel eines französischen Comics empfohlen, den ich mir bitte davon kaufen sollte. Die Lieblingsbuchhandlung kam leider nicht an das Buch ran, riet mir aber, es doch mal in einem Laden zu versuchen, der sich auf spanische und französische Literatur spezialisiert hat. Der liegt direkt gegenüber vom Lieblingsbäcker und ist mir peinlicherweise noch nie aufgefallen.

Ich spazierte also gestern dorthin, traf (vermutlich) die Ladenbesitzerin, die gerade mit einem Mädchen an der Kasse beschäftigt war, Tochter, Schülerpraktikantin, keine Ahnung, auf jeden Fall sprachen sie französisch miteinander. Ich fragte auf Deutsch, ob ich auch Bücher bestellen könne, natürlich, ich reichte den Zettel mit Titel und Autor über den Tisch, damit ich mir keine Blöße bei der Aussprache geben musste, die Dame las und fragte: „Auf Spanisch oder Französisch?“ Anscheinend stimmt „La vision de Bacchus“ in beiden Sprachen. Ich meinte: „Französisch“, die beiden suchten im Internet, sprachen dabei weiter französisch miteinander und dann wandte sich die Dame an mich und erzählte mir, glaube ich, dass das Buch vorhanden und bestellbar sei. Ich nickte total wissend, gab dann aber doch zu, noch totale Französisch-Anfängerin zu sein und möglicherweise nicht alles korrekt verstanden zu haben.

Und dann fragte die Dame, was ich total super fand, ob sie lieber auf Deutsch mit mir sprechen solle oder wir es weiter auf Französisch versuchen sollten? Ich sagte: „Französisch“, sie nickte, sprach langsamer und deutlicher als eben und ich meine verstanden zu haben, dass der Band nächste oder übernächste Woche da sei, was er kostet und dass ich per Mail benachrichtigt werde, die Adresse müsste ich bitte hier noch eintragen. Ha!

Sprachunterricht und Bücher in einem Aufwasch. Die Librairie Française wird mein Ruin werden.

Abends Fußball geguckt und mich mitgefreut. Letzte Woche in Düsseldorf, als mir die ersten Horden weißer Shirts am Bahnhof begegneten und man den Plakatierungen der UEFA EURO 2024 ES WIRD SO SUPI nicht mehr entgehen konnte, dachte ich noch, hmpf, bin eigentlich gar nicht in Stimmung, aber der Account von muenchen.de hatte auf Insta in den letzten Tagen kein anderes Thema mehr als „Yay, irre viele Menschen aus Schottland in der Stadt und alle haben gute Laune“, was mich irgendwie angesteckt haben muss. Jedenfalls saß ich gestern hibbelig vor dem Stream und bin kurz davor, mir einen Plüsch-Albärt zu kaufen.

Donnerstag, 13. Juni 2024 – Im Waltz

Mal wieder im emotionalen Supports-Wirtshaus vorbeigeschaut, dieses Mal zu dritt und mit guter Laune.

Lamm-Ćevapčići mit eingelegtem und frischem Salat sowie Käferbohnen-Hummus.

Rindsgulasch mit Butterspätzle und Salat. F. durfte meine Restspätzle essen, die Portion hat mich überfordert.

Endlich mit dem verdienten Champagner angestoßen, danach gab’s den nächsten Burgunder von Michel Lafarge, wir trinken alles von ihm in ganz München weg, und zum Abschluss einen ebenso feinen Jean-Jacques Confuron, den kannten wir noch nicht, können ihn aber hiermit dringend weiterempfehlen. Das Nachtischfoto ist fürchterlich geworden, das zeige ich nicht her, aber die Mascarponemousse mit Sauerampfersorbet war – natürlich – sehr gut.