Tagebuch 6. September 2015 – Amsterdam, Tag 4

Amsterdam war unser erster (und hoffentlich nicht letzter) gemeinsamer Urlaub. Erst am Ende der Reise merkte ich, dass ich F. quasi die komplette Planung überlassen hatte: Wann fliegen wir los, wann zurück, was machen wir, wenn wir da sind. Einzig das Hotel kam von mir, da hatte mir eine freundliche Twitter-Followerin ein gutes Plätzchen empfohlen, nur wenige Gehminuten vom Museumplein entfernt, wo sich Rijskmuseum, Stedelijk und das Van-Gogh-Museum befinden. Wenn ich alleine geflogen wäre, hätte ich gestern entspannt ausgeschlafen, ausgiebig gefrühstückt, mich dann reisefertig gemacht und wäre zum Flughafen gerollkoffert. Stattdessen wartete noch Programm auf uns, während unsere Koffer im hoteleigenen Schränkchen außerhalb unserer Zimmer standen. Mir fehlte ein bisschen das Gefühl, eine Homebase zu haben, zu der man zurückkehren kann, aber das merkte ich eben erst gestern. Ich brauche anscheinend immer was zum Festhalten, sei es eine Person oder ein Ort.

Letztes Museum der Reise: das Van-Gogh-Museum. Ich mag van Gogh sehr gerne (wer nicht) und freute mich daher sehr, auch wenn ich gespannt war, wie ein Museum damit umgeht, dass quasi alle Bilder, die man eben so von van Gogh kennt, genau hier nicht hängen. Aber bevor mir diese Frage beantwortet wurde, standen wir erstmal eine Stunde lang in der Kassenschlange. Wir naiven Frohnaturen hatten gedacht, unsere tolle Museumkaart würde den Einlass beschleunigen, aber dem war nicht so. Die Zeit verging allerdings trotzdem angenehm schnell; wenn wir uns nicht unterhielten, versorgte uns das Museum schon draußen mit freiem WLAN, und so konnten wir lesen und twittern und überhaupt kann einem ja gar nicht langweilig werden, wenn man ein Smartphone hat. Freies WLAN gab’s übrigens in so ziemlich jeder Location, in der wir eincheckten, egal ob Museum oder Kneipe. Tach, Deutschland, du altmodische 3G-Schnecke.

Im Museum selbst kommen zuerst Gift Shop, Garderobe und die elegantesten Klos, die ich in Amsterdam gesehen habe (gerne wieder!). Dann chauffiert eine Rolltreppe einen in die eigentlichen Ausstellungsräume, die sich auf vier Ebenen befinden und chronologisch angeordnet sind. Unten begann alles mit verschiedenen Selbstporträts, an denen ich relativ schnell vorbeischlenderte. Damit war ich allerdings ziemlich alleine: Die meisten Besucher waren mit Audioguides ausgerüstet, der sie anscheinend zunächst zum allerersten Bild schickte – und da stellten sich dann auch alle an. Ernsthaft. Eine Schlange vor einem Bild, und diese Schlange zog sich dann an der Wand entlang weiter zum nächsten. Das hatte ich noch nie gesehen, fand es sehr merkwürdig – und ignorierte es total, indem ich einfach zu dem Bild ging, das ich jetzt angucken wollte und fertig. Wo sind wir denn hier.

Der erste Stock gefiel mir schon besser. Das Bauernhaus (1885) zog meine Blicke auf sich und ich besah mir genau, wo van Gogh Lichtpunkte gesetzt hatte, wo welche Brauntöne zum Einsatz kamen (und welche weiteren Töne eben nicht), wie er das Gebäude dreidimensional modellierte, was im Hintergrund passierte. Im Obergeschoss hing ein weiteres Bauernhaus (1890), so dass ich gut vergleichen konnte: Wie anders malte van Gogh nur wenige Jahre später ein sehr ähnliches Motiv, wie wenig interessierte ihn noch eine nachvollziehbare, architektonische Wiedergabe, wie anders leuchteten die Farben, wie fast egal war auf einmal der Hintergrund, weil das Wichtige eben das Hauptmotiv war. Auch eine bewusste Lichtsetzung ist kaum noch zu erkennen, viel spannender waren die Farben, die nun das Haus formten. Das gefiel mir am Museum außerordentlich gut: wie einfach man durch die chronologische Ordnung und eine kleine thematische Gliederung nachvollziehen konnte, wie van Gogh sich entwickelte.

Mit Stillleben kriegt man mich bekanntlich immer; hier gefielen mir die Zitrusfrüchte (1887) besonders gut, vielleicht weil ich vor zwei Tagen im Rijksmuseum so viele Stillleben mit Zitronen gesehen hatte und wiederum vergleichen konnte. (Das ist ja quasi die Hauptbeschäftigung der Kunstgeschichte: vergleichen.) Auch vor einem Stillleben mit Geschirr (1885) und vor einem mit Rotkohl (1887) stand ich recht lange und besah mir vor allem die Farben und die immer kräftiger werdenden Pinselstriche, die schließlich zu Farbauftrag per Palette wurden und diesen typisch pastosen, fast holzschnittartigen Stil erzeugten. Ganz anders: die vielen Zeichnungen und Studien, die mir ebenfalls gut gefielen, zum Beispiel die hier von einem jungen Mann (1884/85). Davon hätte ich gerne mehr gesehen.

Vor den etwas bekannteren Werken wie dem Zimmer in Arles (1888) oder den Mandelblüten (1890) drängten sich die Menschen genau wie vor allen anderen Bildern; es war kaum möglich, mal alleine vor einem Bild zu stehen, aber dafür, dass anscheinend alle BesucherInnen Amsterdams in dieses Museum wollen, war es doch ziemlich erträglich. Neben der Sternennacht sind die Mandelblüten mein Lieblingsbild von van Gogh, und daher wurden sie die Grundlage für mein einziges Reiseandenken.

mandelteddy

Die Sonnenblumen sind mir sehr egal, wie ich zugeben muss; eine Version hängt auch in der Neuen Pinakothek, aber dort mag ich den Blick auf Arles viel lieber.

Im oberen Stockwerk wies die Beschriftung auf das vermutlich letzte Werk von van Gogh hin: die Baumwurzeln (1890). Das kannte ich zugegebenermaßen noch nicht und war überrascht, wie abstrakt es schon wirkte. Mal wieder das Leben van Goghs bedauert und mich gefragt, ob es ihn glücklich gemacht hätte zu wissen, dass Menschen aus der ganzen Welt in langen Schlangen stehen, um seine Bilder sehen zu können.

Das klingt jetzt alles ganz toll, aber das van-Gogh-Museum hat mich von den vielen Museen, die wir besichtigten, am wenigsten zum Wiederkommen animiert. Es ist wunderbar aufgebaut und ich glaube, man kann viel lernen und mitnehmen, aber mich persönlich hat es eher unberührt gelassen – vielleicht weil es mir so verschult vorkam. Ich freue mich jetzt schon darauf, nochmal im Rijksmuseum durch die unendlich vielen Säle zu gehen und Dinge zu entdecken, aber hier hatte ich am Ende des Rundgangs das Gefühl, jau, passt, hamwa jesehen, reicht jetzt.

Ich ging wieder ins Erdgeschoss, wartete auf F., der sich noch oben rumtrieb, und guckte auf eine Videoinstallation, die in vielen Bildern den Einfluss van Goghs zeigte; Variationen der Sternennacht, des Zimmers, des Selbstporträts, halt alle die Bilder, die wir kennen. Erst da wurde mir klar, wie sehr van Goghs Werke zu unserem kulturellen Gedächtnis gehören und wie groß sein Einfluss nicht nur auf die Kunst, sondern auch die Populärkultur war. Das war für mich eine größere Erkenntnis als alle, die ich oben vor den Bildern gemacht hatte.

video

Zum Abschluss schlenderten wir noch ein wenig durch den Skulpturengarten des Rijksmuseums und füllten die leeren Mägen mit viel Torte und heißer Schokolade, bevor wir uns wieder in eine Tram quetschten, die uns zum Bahnhof fuhr. Wir fuhren durch das alte Amsterdam, das ich nicht erbummelt hatte, weil meine Füße früher streikten als mir lieb war, was mich sehr ärgerte. Das war in Rom vor ein paar Jahren noch anders. Ja, ich bin älter geworden, aber anscheinend hat mich das ständige Radfahren meine Fußkondition gekostet. Ich brauchte mehr Pausen, was F. gutmütig mitmachte, aber für die nächste Reise werde ich trainieren. Ich habe längst nicht so viel gesehen, wie ich sehen wollte, aber im Nachhinein bin ich sehr froh darüber, mal runtergekommen zu sein, die blöde Wohnsituation und das Warten auf meine BA-Note und den Studienplatz außen vor lassen zu können. (Natürlich habe ich trotzdem täglich online nachgeguckt, ob die Note oder der Platz jetzt mal da sind. Sind sie nicht.)

Mach’s gut, Amsterdam, du kleiner Schnuckel – ich komme wieder. Die Museumkaart gilt ja noch bis Anfang September 2016.

gracht

Tagebuch 5. September 2015 – Amsterdam, Tag 3

Nach dem weinseligen Festmahl gestern schliefen wir aus, womit wir jede Chance auf einen zeitigen Einlass im Van-Gogh-Museum verspielten, für den man quasi davor campieren muss. (Oder man ist schlau und bucht ein Ticket für einen bestimmten Zeitslot, aber wir hatten ja die tolle Museumkaart und dachten, ach, da stellen wir uns dann halt morgen kurz in die Schlange. Wie das ausging, kann man sich fast schon denken, aber so klug waren wir Samstag halt noch nicht.)

Nach dem Frühstück spazierten wir zum Foam, dem Fotografiemuseum in Amsterdam. Ich war ein bisschen wackelig auf den Beinen, was weniger mit Alkohol und mehr mit Kreislauf zu tun hatte, wusste aber nicht, warum die kleine Diva gerade so memmig war. Im Foam nutze ich jede Sitzgelegenheit und war nicht ganz so konzentriert, wie ich gerne gewesen wäre. Die drei Ausstellungen, die wir uns ansahen, waren netterweise aber recht schnell zu durchschreiten, und zwei gefielen mir auch sehr gut. Die dritte war für mich ein Totalausfall; die Welt braucht meiner bescheidenen Meinung keine weiteren Bilderserien mehr von sehr dünnen (doofe Formulierung, ich ändere in:) normschönen, eher unbekleideten, weißen, jungen Damen, die irgendeinen inneren und gerne auch äußeren Schmerz vor der Kamera zeigen. But that’s just me. Da gefielen mit die Auseinandersetzung mit Transsexualität von Momo Okabe oder die mit der heutigen Medienvielfalt von Anne de Vries weitaus besser.

Einmal über die Gracht rüber. Dabei gingen wir am Stadtarchiv vorbei, bei dem ich sehr stolz war, die Bauzeit ungefähr richtig geschätzt zu haben.

archiv

Es ging ins Museum van Loon – einem Privathaus auf dem 17. Jahrhundert von einem der Gründer der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Das Haus wird heute noch von den Nachfahren bewohnt und ist seit den 1970er Jahren für die Öffentlichkeit zugänglich. Man durchschreitet hochherrschaftliche Räume sowie Privatgemächer, die Küche, an deren Tür steht, dass man sie bitte schließen soll, damit die Katze nicht reinkommt, sowie den Garten und das Kutschenhaus. Letzteres war leider für eine private Feier geschlossen, aber ich war auch so sehr glücklich mit den vielen Möbeln, Wandbezügen, Paneelen und natürlich Bilder über Bilder, die an den Wänden hingen. Das viele Geschirr hatte es mir angetan, das im Esszimmer auf dem Tisch eingedeckt war, genau wie die blauweißen Porzellanvasen, die oben auf einem dafür ausgelegten Schrank zur Dekoration standen. Es war ein bisschen wie gestern im Rijksmuseum, nur dass da nicht zentimeterdickes Panzerglas zwischen mir und dem Objekt war – manchmal nur ein gespanntes Seil, meist aber gar nichts. Wunderschön.

Weniger wunderschön: Mein Kreislauf drängelte zurück ins Hotel, wo ich kraftlos zwei Stündchen verdämmerte, während F. den ZERO-Katalog aus dem Stedelijk besorgte, um den wir seit zwei Tagen rumschlichen und sich noch eine Ausstellung dort ansah.

labyrinth

Gemeinsam machten wir uns dann zu einer temporären Attraktion Amsterdams auf: dem Sonnenblumenlabyrinth, mit dem das Van-Gogh-Museum seinen neuen Eingangstrakt einweihte. 125.000 Sonnenblumen waren für zwei Tage zu einem Irrgarten aufgestellt. Im Labyrinth selbst standen Fragen an Vincent an den Wänden, deren Antworten man in einer eigens dafür konzipierten App finden konnte. Es machte viel Freude, durch die Sonnenblumen zu schlendern; überall standen kleine Kisten, auf die man sich stellen konnte, um gerade so über die Blumen hinwegfotografieren zu können. Vor dem Labyrinth selbst gab es eine kleine Aussichtsplattform, und selbst wenn man sich verirrte, wurde man belohnt: Mitten drin stand ein Musiker, der ein kleines Konzert gab, und sich mit weiteren Acts den ganzen Tag über abwechselte.

sonnenblume

Und weil wir ja gestern quasi nichts gegessen hatten *hust*, gönnten wir uns zum Tagesabschluss noch die 17-gängige Rijstafel im Sama Sebo, wo wir spontan einen Tisch ergattern konnten. Gemüse in Kokosmilch oder Erdnusssauce, verschiedene Spießchen, eingelegte Gurken, Sojasprossen, Bohnen, Erdnüsse, fein gesalzen, alles mild, scharf, sauer oder würzig, zum Schluss gebackene Banane – ich mochte diese fast unendliche Vielfalt sehr gerne, wüsste aber nicht, wie man das jemals aufessen sollte.

rijstafel

Aber selbst wenn der Speise- und der Dessermagen voll sind – der Schnapsmagen kann immer noch. Mein erstes quietschsüßes Fruchtbier im Kingfisher-Café ließ mich glücklich grinsen, während F. ganz erwachsen hochprozentige Biere trank.

fruchtbier

Tagebuch 4. September 2015 – Amsterdam, Tag 2

Nach der modernen Kunst am ersten Tag ging’s heute zu den Alten MeisterInnen ins Rijksmuseum. Dort findet man Kunst, Kunsthandwerk und weitere Sammlungen aus neun Jahrhunderten. Bereits im Erdgeschoss faszinierte mich die Romanik und Gotik (wie immer) mit ihrer schlichten Gläubigkeit, die so feinfühlig und überzeugend präsentiert wurde. Ich mag den Goldgrund der frühen Bilder, und ich mag die stilisierten Posen der Skulpturen. Dieses Werk des Meisters von Joachim und Anna von ca. 1470 hat mich sehr berührt mit seiner Zärtlichkeit. Auf einem weiteren Bild suchte ich die Attribute der Heiligen, bis mir der Objekttext erklärte: Sie sind als Halsketten sichtbar (Katharina mit Schwert und Rad, Barbara mit Turm usw.).

Im zweiten Stock wartete dann die Ehrengalerie, eine lange Raumflucht, die auf Rembrandts Nachtwache zulief. Ich muss zugeben, ich kann mit dem Werk immer noch nichts anfangen; seine Jüdische Braut hat mich allerdings dieses Mal erwischt. Das Bild kannte ich nur aus Katalogen, aber im Original hat es mich durch seine Plastizität sehr gefesselt.

Das Bild, auf das ich mich am meisten gefreut hatte, war auch das, auf das sich anscheinend alle anderen am meisten gefreut hatten. Vor Vermeers Milchmädchen drängelten sich Gruppen und EinzelbesucherInnen; eine Dame mit überbordendem Haarschopf zog sich meinen ganz persönlichen Hass zu, als sie direkt vor dem Bild stand, es aber keines Blickes würdigte, sondern sich ständig hin- und herdrehte, um ihren Freund, Mann, was weiß ich zu finden, der ihr schließlich von hinten eine Digicam reichte – sie knipste (immerhin ohne Blitz – dann hätte ich sie auch getreten), guckte aufs Display, war anscheinend mit dem Ergebnis zufrieden und ging durch die Menschentraube nach hinten. Ohne das Bild wirklich angeschaut zu haben. Dusselige Kuh.

Nach kurzem Durchatmen konnte ich dann endlich an ihren Platz und stand vor dem Bild. Es ist wunderschön (totale Überraschung), und ich war mehr gerührt als ich dachte. Aber: Tränen runtergeschluckt und intensiv aufs Bild gestarrt, wir sind ja schließlich nicht zum Spaß hier. Ich liebe an dem Bild die Lichtstimmung; ich mag das helle Weiß des Häubchens, das fast zu leuchten scheint. Ich mag die klare Farbigkeit, das kraftvolle Blau des zur Arbeit gerafften Rockes, das schimmernde Gelbgrün der Armel und das effektvolle Rot des Unterrocks, was von unten ins Bild leuchtet. Am liebsten mag ich aber die Stofflichkeit der gelben Wamses, bei dem man fast das Gefühl hat, die einzelnen Webfäden zählen zu können. Der Verschluss hat es mir besonders angetan, die Nähte, die von oben bis unten durch das Gelb laufen. Ich mag die stille Konzentration des Mädchens; es gibt kaum einen Vermeer, der mich mehr zu beruhigen vermag. Was mir aber direkt vor dem Bild erstmals aufgefallen ist: dass das blaue Tuch auf dem Tisch beleuchtet ist. Dieser kleine helle Fleck, der das Blau in vielen verschiedenen Tönungen strahlen lässt, ließ mich minutenlang nicht mehr los, bis ich an die Rotte hinter mir dachte und endlich mal andere gucken ließ.

Der zweite Stock war eh mein Liebling: Neben den vielen, vielen Bildern der Ehrengalerie, für die alleine sich der Eintritt schon locker lohnt, gab es Delfter Porzellan (hier ein paar schnieke Leuchter), mein Lieblingsstillleben, viele wunderschöne Möbel, Kristall, Silber, Pokale aus Muscheln und: Puppenhäuser. Was mir am Museum so gut gefallen hat: dass es keine reine Gemäldegalerie war, sondern sich die vielen Objekte teilweise zu einer Erzählung gruppierten. In einem Raum hingen Bilder von Interieurs, und wie durch Zufall standen direkt daneben Schränke, Kommoden und Stühle, die direkt aus dem Bild zu stammen schienen. In einem Raum zeigte ein Bild einen Stützpunkt der Niederländischen Ostindien-Kompanie am Ganges, und daneben stand ein Schaukasten mit Geschenken, mit denen man sich Geschäftskontakte warmhielt sowie eine Vitrine mit Porzellan, das von einem Schiff der Company stammte, das gesunken und erst vor wenigen Jahren geborgen wurde. Unter einem Bild vom Walfang lagen Wollmützen von den Männern, die auf den Booten gearbeitet hatten, neben einem Stillleben voller schöner Schüssel stand Geschirr.

Nach dem Museum waren unsere Füße platt, und wir gingen ins Hotel zurück, um uns auf die Abendveranstaltung vorzufreuen: ein Besuch in Le Restaurant, ein winziger Laden knapp einen Kilometer vom Hotel weg, der seit Jahren einen Michelin-Stern hat. Die Fotos können nicht wiedergeben, wie wunderschön alles aussah – und noch weniger, wie hervorragend alles geschmeckt hat. Wir kugelten danach im Schritttempo ins Hotel, sehr glücklich und sehr wohlig angetrunken.

Der Reinkommer waren winzige Grissini und Gewürzplätzchen mit Hummus, der herrlich frisch nach Paprika schmeckte. Hab ich verfressenerweise nicht fotografiert. Dann kam das vom Koch persönlich an den Tisch gebracht und erläutert:

le_amuse

Ein kleiner Chip, der kaum gewürzt war, mit Geflügellebermousse, die dafür umso mehr Eindruck hinterließ.

le_macaron

Mit Sepia gefärbte Macarons und Makrelencreme drin. Die Macarons zerflossen quasi im Mund.

le_suppe

Mein zweitliebster Gang: warme, erdige Erbsensuppe mit kühlem Minzschaum und: Grapefruit … äh … also die einzelnen Tropfen aus den Filets. Die schwammen unten in der Suppe und zerplatzten frischfruchtig im Mund, der noch mit Erde, Wärme und Kühle beschäftigt war.

le_tartaar

Das war ein äußerst wohlschmeckender Überraschungseigang: Eine Kartoffel, die nach Markknochen aussah, mit Heringsrogen, unter dem sich Rindertartar versteckte. Daneben ein bisschen Meerrettichschaum und Avocadocreme.

le_tunfisch

Mein Lieblingsgang: mit sehr viel Zitronigem marinierter Tunfisch, Wasabischaum und Fenchel. Hört sich erstmal wie die übliche Sushikombination an, war aber viel zarter und intensiver. Bei dem Gang war ich kurz davor, den Teller abzulecken.

le_fisch

Kabeljau, Auberginenpüree, Pfifferlinge, ein bisschen Gemüse – das war alles schon toll, aber dann kam die Beurre Blanc mit Zitronenthymian und machte alles tollstens von toll.

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Der Hauptgang war der schwächste von allen, aber das ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Schweinefleisch finde ich relativ banal, auch wenn’s ein Iberico-Schwein war. Der Schweinebauch war allerdings ein Kracher (Kunststück, bei Fett und knackiger Kruste, da kann ja wirklich kaum was schiefgehen), und die winziges Blumenkohl- und Broccoliröschen waren bissfest und aromatisch. Die Sauce war mit Râs al Hânout gewürzt, was interessant war, aber irgendwie auch ein bisschen beliebig. Vorne leckeres Trüffelkartoffelpüree, hinter dem Fleisch, nicht zu erkennen, weil ich zu hektisch fotografiert habe, der eigentliche Star des Tellers: Spinat mit Estragon gewürzt. Da stank dann die gestern noch so gelobte Estragonmayonnaise aber ziemlich ab.

Der Käsegang aus fünf verschiedenen Käsen war herrlich – sieht aber auf dem Foto total doof aus, daher müsst ihr euch jetzt mal einen Teller mit fünf kleinen Stücken Käse und ein nussiges, hauchdünn geröstetes Früchtebrot dazu vorstellen.

Und dann gab’s endlich was Süßes.

le_rhabarber

Buttermilcheis mit Rhabarber, einmal geröstet, einmal geschmort, und dazu: Gurkenstückchen. Die waren der Hammer.

le_eclair

Ein Eclair mit Baiserstäbchen, Nektarine und Cassis-Parfait. Ich war nach drei Weiß-, einem Rot- und einem Desserwein schon völlig am Ende, aber dann kam noch was. Mir entfleuchte ein „It never ends!“, woraufhin der stets aufmerksame Kellner lächelnd meinte: „It will end sometime“, was ich dann sofort wieder bedauerte.

le_dessert

Ein Haselnusshörnchen, Cassisgelee, Macarons mit irgendwas, Kekse mit Dulce de Leche und ein winziger, glasierter Kuchen … danach bekamen wir noch ein ofenwarmes Madeleine gereicht, aber ich hatte keine Kraft mehr, das iPhone hochzuheben, ein weiterer Teller mit Gelee und Macarons kamen – „… take them, they’re on us …“, ich glaube, wir bekamen eine Extraportion, weil ich den ganzen Abend verzückt roch, fiepste und grinste, ich signalisierte irgendwann nach einem Espresso und verzichtete auf einen Schnaps, weil einfach nichts mehr ging, dann zahlten wir und ließen uns vom Chefkoch in die Jacken helfen. „If we come back to Amsterdam, we would love to eat here again.“ „That’s the idea.“

Die Nachtluft tat nach vier Stunden herrlichstem Essen sehr gut und ich habe danach geschlafen wie ein dicker, glücklicher Engel.

Tagebuch 3. September 2015 – Amsterdam, Tag 1

F. und ich sind für vier Tage in Amsterdam. Im Flieger hinter uns zwei Businesskasper aus der Hölle: „Und dann hat er seine Frau ruhiggestellt, indem er ihr drei Kinder gemacht hat, und dann hat er den ganzen Tag gearbeitet. Hab viel von ihm gelernt.“

In Schiphol checkten wir topcheckermäßig ein, woraufhin uns ein Flughafen antwitterte:

Jetzt hat sich das F Punkt im Blog eigentlich auch erledigt, aber ich behalte das mal bei.

Auf dem Weg zur Baggage Hall (ich las zuerst Baggage Hell) fiel mir auf, dass alle Beschriftungen ausschließlich auf Englisch sind. Erst am Ausgang, als der Flughafen in einen Bahnhof oder eine Metrostation übergeht, kamen niederländische Begriffe dazu.

Am Gepäckband lief eine Animation, wie man anschließend durch den Zoll geht, also: Hast du was dabei, was du uns sagen möchtest? Ein Bild, das einen zum roten Durchgang statt zum grünen schickte, war ein Piktogramm der Mona Lisa, und damit hatten die Niederlande eigentlich schon gewonnen.

stedelijk

Unser Hotelzimmer war leider noch nicht fertig (wir waren aber auch ein bisschen zu früh dran), weswegen wir uns auf den Weg zum Stedelijk machten. Dass mir eine kleine Ruhepause zum Frischmachen und Runter- und Ankommen ganz gut getan hätte, merkte ich erst im Museum, als ich schon bei den ersten Kandinskys und Kirchners und Mondrians dachte, jajaja, schon gut, whatever. (Damit habe ich vermutlich jede Street Cred als Kunsthistorikerin eingebüßt.) Das Erdgeschoss war gerade nicht zu besichtigen, weil eine Ausstellung abgehängt wurde, weswegen wir in den ersten Stock kletterten, wo laut Beschriftung Kunst nach 1950 auf uns wartete. Damit kriegt man mich eigentlich immer, und ich war auch sehr glücklich über Donald Judd, von dem ich anscheinend alles mag, aber an vielen der Werke bin ich dann doch eher flüchtig vorbeigegangen.

lewitt
Sol LeWitt

Da ich mir aber als erste Amtshandlung eine Museumkaart gekauft hatte, mit der man in eine Million Museen reinkommt, kann ich da notfalls am Sonntag, unserem Mal-gucken-was-mir-machen-Tag, noch mal reingehen, und dann mache ich das anständig. Die Museumkaart ist übrigens der Grund, warum wir überhaupt hier sind. Nachdem F. und ich so ungefähr fünf Minuten zusammen waren, meinte er, hey, meine Museumkaart gilt noch bis Ende September, bis dahin könnten wir mal nach Amsterdam fahren.

lichtenstein
Lichtenstein-Detail

Nach einer Stunde eher genervtem und unruhigem Rumguckens kam dann allerdings ein Werk, das mir wieder klarmachte, warum wir hier waren. Edward KienholzThe Beanery von 1965 war ein Nachbau einer schmuddeligen Bar, in den man einzeln reingehen konnte. Man drängelte sich zwischen Besuchern auf Barhockern durch, die alle Uhren statt Köpfe hatten, im Hintergrund spielte quietschige Musik, alles war verstaubt und versteift, aber trotzdem habe ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass mir einer der Barflys an den Arm greift und mich nach einer Kippe fragte. Ein wenig beängstigend, aber ich hätte trotzdem gerne mehr Zeit in der Kaschemme verbracht. Blöd nur, dass man weiß, dass draußen der nächste Museumsbesucher darauf wartet, dass man gefälligst wieder rauskommt.

Nach Kienholz drängelte ich ins Museumscafé, um dann doch endlich einfach mal irgendwo zu sitzen und mir zu vergegenwärtigen, wo ich gerade war. Diese Ruhepause tat mir sehr gut, und ich fand einen Namen für meine fiktive Hardrockband, die allerdings in den Niederlanden vermutlich total floppen würde. „Welcome to the staaaage: SLAGROOOOOOM!“

slagroom

Im Untergeschoss bei der ZERO-Ausstellung waren mein Interesse und meine Neugier hellwach und ich schlenderte deutlich enthusiastischer durch die Räume. Das könnte natürlich auch an den Werken gelegen haben. Ich verliebte mich in Henk Peeters (vor allem Akwarel), genoss den Lichtraum (1964) von Heinz Mack, Otto Peine und Günther Uecker, war von kinetischen Skulpturen verzaubert und von anderen irritiert.

peeters
Akwarel (Detail)

Eine Installation war das Werk Empty von herman de vries, das aus einer ca. drei mal drei Meter großen, geschlossenen Holzbox bestand, in die man durch ein kleines Guckfenster schauen konnte. Darin befand sich laut der Objektbeschreibung draußen eine Lampe, aber die sah man nicht. Genausowenig wie man Kanten sah oder den Raum in der Box oder überhaupt irgendetwas Fassbares. Man schaute buchstäblich in ein helles Nichts, was mich komplett verstörte. Es war ein bisschen wie damals in der Ausstellung von Hans op de Beeck, wo man auch bei jedem Werk dachte, hier stimmt was nicht und ich muss mich mal kurz irgendwo festhalten. So war es hier auch; ich legte meine Hände an die Holzbox, spürte meine Stirn über der Sichtöffnung und schaute verzweifelt und begeistert in einen erleuchteten Abgrund, der sich in mir auftat. Nietzsche hätte das Ding geliebt.

zero_weiss

zero_rot
Die Ausstellung war mir teilweise schon fast *zu* ästhetisch.

Nach drei Stunden Museum schlenderten wir endlich ins Hotel, wo wir eigentlich nur kurz ausruhen wollten, dann aber zwei Stunden im Bett dösten, bis uns der Hunger zum Burgermeester trieb. Dort genoss ich einen ganz hervorragenden Burger mit gegrilltem Gemüse und Estragonmayonnaise, den ich zuhause dringend nachbauen muss.

burger

Zum Abschluss des Tages fuhren wir in die Amsterdam ArenA zum EM-Qualifikationsspiel zwischen den Niederlanden und Island. Die Arena liegt quasi mitten in der Stadt, man braucht nur wenige Stationen zu fahren und muss dann vor allem nicht mehr ewig durchs Nichts laufen, bis man da ist (hallo, Allianz Arena). Im Stadion fuhren uns wundervolle Rolltreppen bis in den Oberrang (HALLO, ALLIANZ ARENA!), wo allerdings eine Musikbeschallung aus der Hölle auf uns wartete. (Okay, der Punkt geht an München.)

Auch der Rückweg machte uns sehr glücklich: ein Ausgang leitete uns direkt wieder zur U-Bahn-Station, und wir waren quasi eine dreiviertel Stunde nach Spielende wieder im Hotel, was in München niemals möglich ist mit dieser zwar wunderschönen, aber trotzdem am Arsch der Heide gelegenen Arena.

arena

Aus der Metro bzw. der Tram heraus und auf dem Weg zum Museum und zum Burgerladen konnte ich den fließenden Radverkehr auf breiten Wegen in Amsterdam beobachten und wollte sofort umziehen.

Tagebuch 2. September 2015 – Vorbereitungen

Immer noch kein Briefing. Allmählich glaube ich, die haben mich aus Spaß gebucht und gucken mal, wie lange es dauert, bis ich von mir aus nachfrage, wann ich denn mal was zu tippen kriege.

Auf zwei Dinge vorbereitet: zum einen auf den Umzug, den ich nächste Woche in Hamburg vorbereiten werde, bevor dann Dienstag in einer Woche der Großteil meiner Möbel in München ankommt.

Gestern begann ich damit, Kleinkram in den Keller zu tragen, wobei ich sehr stolz darauf bin, meinen Keller überhaupt wiedergefunden zu haben. Als ich vor knapp drei Jahren hier einzog, zeigte mir der Verwalter den Raum, ich nickte geistesabwesend, weil ich ja wusste, dass ich kaum Kram hier haben würde und erst recht nichts, was ich außerhalb meiner Wohnung irgendwo unterbringen musste. Daher habe ich das Kellergeschoss seit eben dieser Vorführung nicht mehr betreten und war deshalb, wie erwähnt, sehr erfreut, meinen Verschlag im verwinkelten Keller wiederzufinden. Und den Schlüssel dazu, ha! In zwei Wochen werden dann hier unter anderem meine zwei Weinregale stehen, die bisher in unserer Speisekammer standen und für die in meiner Arbeitszimmer-Küchen-Kombi leider kein Platz ist; dazu mein auseinandergebautes Bett, denn ich bringe mein Schlafsofa mit, das ich mir vor 15 Jahren gekauft habe, als ich als kleiner Textprakti nach Hamburg in eine 1-Zimmer-Wohnung zog. Gefühlt schließt sich ein Kreis, aber ich habe noch nicht rausgefunden, welcher.

Meine zweite Vorbereitung war Kofferpacken, denn ich fliege heute nach Amsterdam, um dort in vier Tagen so viele Museen anzugucken, wie die Füße aushalten. Bis auf einen heute kaum noch erklärbaren Trip Ende der 1990er Jahre, um Ben und Jerry’s einzukaufen, das es damals noch nicht in Deutschland gab, war ich noch nie in Amsterdam und ich freue mich sehr.

Tagebuch 1. September 2015 – Zwei Welten

Immer noch kein Briefing, immer noch keine Möglichkeit, Geld zu verdienen.

Dafür eine, Geld auszugeben. Am Montag abend fuhren die ersten Flüchtlingszüge im Münchner Hauptbahnhof ein, die von Ungarn aus über Österreich durchgewunken wurden. In meiner Twittertimeline zwitscherten einige Helfer, die spontan vor Ort waren. Am Dienstagmorgen war mir dann auch klar: Jetzt ist das Flüchtlingsthema kein abstrakter Spiegel-Titel mehr für mich, keine Zeit-Reportage, kein Hashtag, kein Twibbon. Jetzt sitzen acht Radlminuten von mir entfernt Menschen, die nur noch das besitzen, was in einen Rucksack passt, und die Hilfe brauchen.

Abgegeben. #trainofhope #refugeeswelcome #muenchen

Ein von @ankegroener gepostetes Foto am

Im Drogeriemarkt so viel eingekauft wie ich tragen konnte, zum Hauptbahnhof gefahren und alles abgegeben. Ich bin nicht lange vor Ort gewesen, ich wollte mich nicht wie eine Katastrophentouristin fühlen; ich war froh, dass ich einer Helferin einfach ein paar Plastiktüten voller Hygieneartikel in die Hand drücken und wieder nach Hause konnte. Nach Hause. In eine Wohnung, zu einer Dusche, einem vollen Kühlschrank, zu Büchern, einem Bett, Privatsphäre. Totaler Allgemeinplatz, aber: Ich habe es gestern noch mehr als sonst zu würdigen gewusst.

Abends Kontrastprogramm: Geschmackssache Heimat, ein Abend mit deutschem Wein und ein bisschen Futter dazu. Stevan bloggte über die Hamburger Ausgabe, woraufhin Frau Kaltmamsell mich fragte, ob ich in München dabei wäre – aber natürlich!

Ich war noch nicht ganz in Stimmung, aber schon das erste Glas Sekt machte gute Laune. Den Reichsrat von Buhl hätten wir beide nicht als Riesling erkannt, waren aber äußerst angetan. Zum ersten Gang gab’s dann einen trockenen Bechtheimer Silvaner (2013, 12€), der kaum trockener sein könnte, dazu viel Sauerness im Mund. Es war keine Säure, es war sauer. Aber gut sauer, angenehm frisch. Zum Hauptgang wurde uns zunächst ein laut Winzer noch nicht ganz fertiger 2013er Sauvignon Blanc serviert, der müsse eigentlich noch so fünf, sechs Jahre liegen, aber er fände den jetzt auch schon ganz spannend. Frau Kaltmamsell weigerte sich nach einem Glas, den weiterzutrinken, und auch ich war nicht ganz überzeugt. Er schmeckte, als ob man nasse Weinblätter ableckte, aber ich glaube dem Winzer aufs Wort, dass der in ein paar Jahren ein kleines Kracherchen sein könnte.

Der Sommelier des Abends, Justin Leone aus dem Tantris (ich so: Ehrfurcht!), erzählte dann was über den Wein, auf den ich mich schon den ganzen Abend gefreut hatte: einen 2011er Monzinger Halenberg Riesling von Emrich Schönleber. Von diesem Weingut stammt mein absoluter Lieblingsriesling; den trank ich im reinstoff und bezahlte danach mit freudigem Herzen 60 Euro für eine Flasche. Jeden Cent wert. Leone: „Riesling braucht Kampf, schwierige Böden, kaum Wasser, dann kommt da was Gutes bei raus.“ Unterschreibe ich sofort. Der 2011er war die kleine, dünne Schwester des 2008er, den ich so liebe: Der Geschmack geht schon in genau die Richtung, die ich kenne, ist aber noch feiner. Ich mag die Rieslinge gerne, die sich so richtig breit machen in Mund; das kann der hier noch nicht, aber auch von dem würde ich sofort eine Kiste ordern. (19€ die Flasche.)

Zum Schluss kamen noch zwei Rotweine, zu denen ich gerne ein dunkelschokoladiges Dessert gehabt hätte, aber da kam nix mehr. Schon der erste löste Verzücken am Tisch aus: ein 2013er Frühburgunder für entspannte 9,50€ die Flasche. Der roch zuerst nach Gouda, dann nach Vanille, und im Mund war zuerst viel Vanille und nasses Moos, dann wurde die Süße weniger und der Wein wurde schwerer. Wunderbar. Aber der Höhepunkt kam zum Schluss, jedenfalls für mich: ein 2011er Spätburgunder, der mein Herz schon mit der ersten Nase eroberte und mich danach kurzerhand flachlegte. Ein bisschen Pferd auf Himbeerwölkchen und dann nur noch fruchtiges, tiefes Rumschmeicheln bis in die letzte Gaumenecke, wo der Wein ein bisschen piekst. Der war genau meiner. (27€)

Die Location gefiel mir gut, auch wenn es mir deutlich zu laut war; ich bin inzwischen zu alt, um meine Gesprächspartner den ganzen Abend mit erhobener Stimme erreichen zu wollen. Vom Essen war ich allerdings ein wenig unterwältigt. Der erste Gang waren marinierte rote Bete mit Orangenfilets, die eher lieblos aufs Tellerchen gehäuft waren, der Hauptgang dann immerhin die legendären und durchaus wohlschmeckenden Spare Ribs mit Kartoffelpüree und Ratatouille. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau, denn die ganze Sause hat nur 30 Euro gekostet, und alleine für die wirklich tollen Weine hat sich’s gelohnt. (Für die charmante Begleitung ja sowieso.)

Tagebuch 31. August 2015 – Warteschleife

Morgens zur Hausärztin gefahren, Blut abnehmen lassen, die übliche Kontrolluntersuchung alle paar Monate. Gestern zusätzlich einen HIV-Test in Auftrag gegeben. Im Nachhinein war ich über mich selbst verärgert, dass ich erst nach drei Monaten Beziehung darauf komme, diesen Test machen zu lassen. Der letzte ist jetzt elf Jahre alt, seitdem war ich monogam, habe keine Spritzen geteilt und keine Bluttransfusion bekommen, aber eigentlich sollte man sich doch sicher sein, bevor man mit jemand Neues im Bett landet. Es hat mich verwundert, dass ich diese Krankheit überhaupt nicht mehr auf dem Schirm hatte, obwohl wir doch gerade erst vor kurzem in der Keith-Haring-Ausstellung waren, wo AIDS eines der großen Themen war.

Ergebnis in ein paar Tagen.

Für AbsolventInnen am kunsthistorischen Institut der LMU ist am 31. August Notenschluss. Natürlich gucke ich seit Tagen in unser Onlinetool, über das ich mein Transcript of Records einsehen kann, ob endlich meine BA-Arbeitsnote da ist oder sogar schon die Gesamtnote.

Nix.

Den halben Tag auf ein Briefing gewartet, mit dem ich mal wieder ein paar Autos betexten soll. „Müsste mittags da sein.“

Nix.

Seit Samstag Hold On von Yes im Ohr. Spotify erfreute mich mit einer Gute-Laune-Playlist, in der Owner of a Lonely Heart vorkam, woraufhin ich sofort die ganze Platte anklickte, die in Hamburg als Vinyl im Schrank steht und über die ich, wie auch über meine anderen Platten, schon länger nachdenke: wegschmeißen oder ein weiteres Mal in eine neue Wohnung schleppen, um sie die nächsten 20 Jahre auch nicht mehr aufzulegen?

Abends auf F.s Balkon den Sommer verabschiedet. Good riddance, du heiße Nervensäge. Ich freue mich auf die kürzeren, kühleren Tage, an denen mein Herz langsamer schlägt und ich mich irgendwo einmummeln kann.

Tagebuch 28./29./30. August 2015 – Neue Farben

Seit einiger Zeit lese ich die SZ wieder im Print. Auf dem iPad verwischen die Zeitungsbücher immer, ich komme damit nicht klar, ich fühle mich alt. Digital und analog gleich: das komplette Desinteresse am Wirtschaftsteil. Wird überflogen oder durchgeblättert, aber da muss schon was über den Kunstmarkt oder Kulturinvestitionen stehen, bevor ich hängenbleibe. Das erste Buch ist das erste Buch, das zweite das Feuilleton, schon immer. Sport nur, wenn mir sehr langweilig ist. Neues Interesse am München- und Bayernteil. Ich genieße das ruhige Lesen auf Papier wieder sehr, keine Links zum Klicken, keine Kommentarspalte, kein „Das könnte Sie auch interessieren“. Ich bin eine mündige Leserin, ich finde schon selbst, was mich interessiert, danke.

Weil ich am Freitag und am Samstag in meiner Münchner Wohnung ein paar Wände gestrichen habe, blieben die beiden Ausgaben für Sonntag liegen. Nicht beide geschafft.

One Pot Pasta mit Tomaten, Zwiebeln, Basilikum und Knoblauch ausprobiert. Tolle, sämige Sauce, aber verwaschener Geschmack. Nach drei, vier Gabeln habe ich die Tomaten rausgepickt und alles mit tonnenweise Grana Padano und Pfeffer aufgebrezelt.

Drei Radlermaß am Freitag, diverse Liter Wasser am Samstag, gestern abend einen Supermarkt-Rosé, der überraschend gut war.

Beim Wändestreichen Yes gehört. Vorfreude darauf, dass meine geliebten Bücher bald in München sind. Gleichzeitig immer noch die Traurigkeit über das, was ich verloren habe. Bei allem zerrissen. Immer noch Schwierigkeiten, sich damit abzufinden, wieder in einer 1-Zimmer-Wohnung alleine zu sein anstatt in einer 4-Zimmer-Wohnung zu zweit.

Aber: Nach gefühlt monatelangem Grübeln und Zweifeln und Zaudern und Trauern und Vermissen allmählich wieder ruhiger geworden. Die neue Beziehung langsam genießen und als gegeben und gut ansehen anstatt als Übergang oder Trost oder was auch immer ich mir noch einreden kann, damit mir nichts zu nahe kommt. Vor einigen Tagen die ersten gemeinsamen Auftritte vor Freunden oder Bekannten. Viel Lächeln und Glückwünsche abbekommen, wofür eigentlich? Trotzdem sehr schön. Ein Arm um meine Schultern im Biergarten, das hatte ich hier auch noch nicht. Ein Kopf, der sich an meinen schmiegt, ein Lächeln, ein Kuss. Alles neu und gleichzeitig schon so vertraut.

Wer loslässt, hat beide Hände frei.

Ein tragbares Dankeschön …

… an Melanie, die mich mit dieser formschönen Einkaufstasche von meinem Wunschzettel überrascht hat.

Eine Einkaufstasche, höre ich Sie fragen, meine Damen und Herren? Ja, genau, eine Einkaufstasche. Seit Jahren trage ich Stoffbeutel in meinem Rucksack mit mir herum, damit ich keine blöden Plastiktüten im Supermarkt kaufen muss, die sowieso nie mit dem Gewicht von Wein, Schokolade, Ben & Jerry’s Fitnesssäften und bergeweise Gemüse klarkommen. Vinoroma instagramte neulich Bilder ihrer Einkaufstaschen, und eine davon war von Envirosax. Ich googelte in der Gegend rum, fand viele Designs fürchterlich, aber das meinige total toll, und vor allem mochte ich die Tragfähigkeit von 20 Kilogramm. Außerdem sind alle meine Stofftaschen mit irgendwas bedruckt; die Hamburg-Tasche mochte ich in Hamburg, aber hier in München wollte ich nicht mehr so recht mit ihr rumlaufen, die Frauenchiemseetasche ist super, aber ein bisschen klein, und die Residenztheatertasche ist gefühlt zu edel, um in ihr Käse und Pepsi light zu transportieren. Daher wollte ich eine neutrale Einkaufstüte ohne jedes Statement.

Die hab ich jetzt – auch wenn ich bei der Produktbeschreibung „feminine Muster wie Blumenmotive und Spitzen, die einen Hauch von Sinnlichkeit wiedergeben sollen“ Pickel bekam. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Fehlfarben 7: Ring my Bellebad

Heute im Programm: zwei Ausstellungen und drei Roséweine. Enjoy und Prost.

Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 67 MB, min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.

Ein von @ankegroener gepostetes Foto am

00.00:00. Begrüßung, Vorstellungsrunde und Blindverkostung Wein 1.

00.03:50. Unsere erste Ausstellung: Lea Lublin (1929–1999) im Lenbachhaus. Drei begeisterte Daumen nach oben. Die erste Retrospektive der Künstlerin läuft noch bis zum 13. September.

Wir erwähnen nebenbei die Ugly Renaissance Babies sowie im Fazit das Werk „Espace perspectif et désirs interdits d’Artemisia G.“, das man auf der Website von Lublin anschauen und nachlesen kann. Der Text ist in diesem Buch erschienen.

00.34:00. Blindverkostung Wein 2 und noch mehr Lublin (Fazit ab 00.43:00).

00.48:00. Blindverkostung Wein 3.

00.49:45. Ausstellung Nr. 2: Zilla Leuteneggers Ring my Bell in der Pinakothek der Moderne. Ebenfalls drei begeisterte Daumen nach oben. Die kurzweilige und noch kürzer zu durchschreitende Installation läuft noch bis zum 4. Oktober.

Als kleine Zusatztipps für die Pinakothek der Moderne, weil man mit Leutenegger so schnell fertig ist: die Ausstellungen Plants for Blossfeldt und GegenKunst.

01.12:00. Die Weinhitliste: Florian und ich mochten Wein 3 am liebsten und Wein 2 am zweitliebsten, bei Felix war es umgekehrt. Wein 1 landete bei uns allen auf dem dritten Platz.

Wein 1: Graf AdelmannBrüssele“, Spätburgunder Rosé; Württemberg 2014, 11,5%, beim Tengelmann für 6,50 Euro.

Wein 2: Argiolas, „Serra Lori“, Cannonau, Monica, Carignano, Bovale Sardo; Sardinien 2014, 14%, bei Garibaldi für 9,20 Euro.

Wein 3: Mouton Cadet, „Le Rosé de Mouton Cadet“, Merlot (74%), Cabernet Franc (15%), Cabernet Sauvignon (11%); Bordeaux 2013, 12%, 9 Euro.

Links vom 15. August 2015: Städtebau

Warum sind unsere Städte so hässlich?

So pauschal würde ich das nicht unterschreiben. Der 2. Weltkrieg und seine Folgen sowie die deutsche Trennung haben dafür gesorgt, dass unsere Städte vielleicht etwas unheitlich aussehen – was aber durchaus seinen Reiz hat. Niklas Maak beschreibt, dass man nicht nur über den angeblich hässlichen sozialen Wohnungsbau und gleichzeitig auf Investoren à la Berlin Mitte schimpfen darf und dass die neuen Städte vielleicht eher von der Justiz als von Architekt_innen gestaltet werden.

„Ein schlagender Vorschlag kommt aus Berlin. Dort kämpfen Architekten wie Arno Brandlhuber dafür, dass der paralysierte Staat kreativ von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht. Sie schlagen etwa vor, die erlaubte Traufhöhe, die in Berlin oft bei 22 Metern liegt, was auf eine Regel aus dem neunzehnten Jahrhundert und die damalige Länge der Feuerleitern zurückgeht, auf 26 Meter zu erhöhen.

Damit soll privaten Hausbesitzern der Aufsatz von luxuriösen und lukrativen Penthäusern ermöglicht werden, wenn das Belichtung und Belüftung der Nachbarhäuser nicht beeinträchtigt – und wenn sie sich, und das ist der wesentliche Punkt, im Gegenzug verpflichten, über den ganzen Lebenszyklus des Gebäudes eine Etage für 6,50 Euro pro Quadratmeter zu vermieten, um so den dringend benötigten Wohnraum für Geringverdiener zu schaffen. Privaten Hauseigentümern und Immobilienentwicklern würde das den Bau von teuren Dachlagen ermöglichen, und gleichzeitig würden im Handumdrehen Tausende bezahlbarer Wohnungen mitten in der Stadt und nicht als neues Wohngetto am Stadtrand geschaffen und die gewünschte soziale Mischung ermöglicht.“

Gropiusstadt kämpft gegen ihr schlechtes Image

Wo wir gerade in Berlin sind: 2012 schrieb der Tagesspiegel über das 50jährige Bestehen der Gropiusstadt:

„In der Vergangenheit war nicht alles rosig. Gropiusstadt ist die älteste Berliner Trabantensiedlung, gebaut ab 1962. Ursprünglich sollten 14 500 Wohnungen entstehen, doch der Mauerbau zwang zur Verdichtung der Flächen und Erhöhung der Häuser. 50 000 Berliner sollten hier eine Bleibe finden, um die Wohnungsnot zu lindern. Erst 1975 war die Siedlung komplett fertig, aber schon damals begannen die sozialen Probleme. Nach der Wende verschärften sich Leerstand und Verwahrlosung, ab 2000 steuerten die beteiligten Wohnungsbaugesellschaften und der Bezirk aktiv dagegen. 2005 wurde ein präventives Quartiersmanagement eingerichtet, 2008 ein Bildungsverbund der Kitas und Schulen gegründet. Inzwischen ziehen wieder Mittelstandsfamilien ins Hochhausviertel und begünstigen die soziale Mischung.“

Ohne Zuwanderung veröden Deutschlands Städte

Norbert Schwaldt über die veränderte Stadt- und Gemeindeentwicklung. Für mich interessant waren neben der Forderung nach mehr Zuwanderung auch der Hinweis auf die neue Mobilität: Senioren bleiben, im Unterschied zu früher, nach dem Ende der Erwerbstätigkeit nicht unbedingt an ihrem bisherigen Wohn- bzw. Arbeitsort – auch weil ihre Kinder als Erwachsene nicht mehr in die alte Heimat zurückgekehrt sind. Wenn es sich woanders im Alter besser wohnen lässt, zieht man eben weg; da ist ja sonst nichts mehr, was einen hält. Das kenne ich aus meinen Mittelstandsmilieu eher anders; da wurde in den 70er Jahren ein Haus gebaut und das hat man halt, da bleibt man eben. Kann ich mir persönlich überhaupt nicht vorstellen.

Vor allem die kleineren Gemeinden im ländlichen Raum sehen sich der BBSR-Studie zufolge mit einer Negativspirale konfrontiert. So hat sich dort zwischen 2008 und 2013 die Zahl der Erwerbsfähigen weiter verringert. Dieser Trend wird verstärkt durch die Abwanderung von jungen Menschen in die Großstädte. Die Entwicklung verschärft den Fachkräftemangel, der bereits heute in vielen Regionen spürbar ist.

“Die Metropolen haben eine enorme Sogwirkung. Wissens- und wertschöpfungsintensive Branchen sind dort konzentriert und haben Vorteile im Wettbewerb um Fachkräfte. Die strukturschwachen Regionen laufen Gefahr, wirtschaftlich weiter zurückzufallen”, sagte BBSR-Direktor Harald Herrmann bei der Vorstellung der Studie in Berlin.

Nach der Bevölkerungsprognose des Instituts wird die Einwohnerzahl in Deutschland bis 2035 leicht auf 78,2 Millionen Menschen sinken und gleichzeitig die Alterung der Bevölkerung weiter fortschreiten. Die regionalen Unterschiede sind dabei aber groß: Einer immer größer werdenden Gruppe von schrumpfenden Kommunen steht eine kleiner werdende Gruppe wachsender Städte gegenüber.

“Um die Bevölkerungszahl langfristig konstant zu halten, müsste Deutschland jedes Jahr Wanderungsgewinne von ca. 400.000 Personen erzielen. Bevölkerungswachstum wird ohne Zuwanderung über einen längeren Zeitraum nicht möglich sein”, sagte Herrmann.“

Mit dem klaren Willen für mehr Radverkehr

Das ist inzwischen ein kleines Steckenpferd für mich: den Wandel des öffentlichen Verkehrs weg vom Auto, hin zu quasi allen anderen Verkehrsmitteln. Ich fahre seit gut drei Jahren kein Auto mehr, sondern Fahrrad und Öffis, und die wenigen Male, in denen ich ein Auto vermisste, waren Tage, an denen ich Orte besichtigen wollte, die etwas außerhalb der Stadt lagen (Klöster, Schlösser, was ich mir halt so angucke) oder an denen ich eine irrationale Sehnsucht nach Ikea verspürte, das hier in München auch am Stadtrand liegt. Ich habe es ernsthaft nie in den Ikea nach Altona geschafft.

Zurück zum Artikel: Er zeigt, dass es mit politischem Willen und einer cleveren Planung durchaus möglich ist, die Interessen von Fußgänger_innen, Radfahrer- und Autofahrer_innen unter einen Hut zu bekommen. Einen anderen Artikel finde ich leider nicht mehr, aber ich meine mich daran zu erinnern, dass es vor der im folgenden Artikel angesprochenen Stadt Brighton & Hove einen Versuch in den Niederlanden gab, wo sich alle drei Arten von Verkehrsteilnehmen eine große, schicke Straße geteilt haben. Jeder musste auf jeden Rücksicht nehmen anstatt auf doofe Linien auf dem Grund zu pochen und das Recht des Stärkeren gepachtet zu haben – und das hat angeblich recht gut funktioniert.

„In der Hauptstadt des Baskenlands zeigt sich eindrucksvoll, was sich mit politischem Willen innerhalb kürzester Zeit ändern kann. In den vergangenen zehn Jahren hat Vitoria-Gasteiz den Anteil an Radfahrern in der Stadt von 3,4 auf 12,3 Prozent gesteigert. Das funktioniert nur mit einem klar definierten politischen Ziel und dem konsequenten Umbau der Infrastruktur.

2008 haben die Politiker sämtlicher Parteien in der baskischen Hauptstadt dem sogenannten Nachhaltigen Mobilitätsplan zugestimmt. Dieser sah unter anderem vor, den Autoverkehr in der Stadt stark zu reduzieren. Damals wuchs er langsam, aber stetig an, was den Entscheidern im Rathaus missfiel. (…) 2008 blockierten parkende Autos 64 Prozent der Straßen und Plätze in der Stadt. Das fanden die Politiker undemokratisch. Sie wollten den Autos nur noch 15 bis 20 Prozent der Fläche im Straßenraum zugestehen, die übrige Fläche sollten sich Radfahrer und Fußgänger teilen.

Dafür bauten sie die Infrastruktur massiv um. Große Einfallstraßen wurden komplett umstrukturiert, beispielsweise die Sancho el Sabio Kalea. Früher gab es hier vier Parkspuren und die Autos fuhren zweispurig in beide Richtungen – heute surrt eine Straßenbahn übers Grün. Die Parkplätze wurden abgeschafft, und es gibt nur noch eine verkehrsberuhigte Autospur in eine Richtung. Radfahrer fahren ebenfalls auf der Fahrbahn und auf den breiten Gehwegen, die sie sich mit den Fußgängern teilen. (…)

Um den Menschen das Umsteigen zu versüßen, wurde zeitgleich der öffentliche Nahverkehr ausgebaut. Die Buslinien wurden von 20 auf neun Linien reduziert, dafür ihre Taktung erhöht und eine Straßenbahn gebaut. Zeitgleich stiegen die Parkkosten für Pkw um das Dreifache. Das Signal war deutlich: Wer mit dem Auto in die Stadt kommt, muss zahlen.

Das Konzept geht auf. Die Zahl der Fußgänger hat zugenommen, ebenso die der Radfahrer, und der Anteil der Autofahrer sank auf 25 Prozent.“

12 von 12 im August

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Mal wieder zwei Decken im Bett. Genauer gesagt, eine Decke und einen leeren Bezug, weil es in München gerade auch um Mitternacht noch zwischen 25 und 30 Grad sind, weswegen ich mit so wenig Zeug an mir und um mich schlafe. Den warmen Körper neben mir ertrage ich aber sehr gerne.

Alles noch etwas ungewohnt. Der neue Mann in der neuen Stadt bringt meine Routinen etwas durcheinander, die ich mir drei Jahre lang als hier alleinlebend angewöhnt hatte. Normalerweise lag hier halt nur eine Decke, die andere lag schön gefaltet in der Abstellkammer für den Kerl-Besuch, und danach wurde sie wieder weggelegt. Jetzt liegt sie immer auf meinem Sessel, was mich etwas irritiert, denn ich bin eine große Freundin des Wegräumens, aber das würde sich nicht lohnen, die jedesmal in die Kammer auf das olle oberste Regalbrett zu wuchten und auslüften kann sie da ja auch nicht und überhaupt liegt sie 12 Stunden später ja wieder im Bett. Wie gesagt, alles ungewohnt.

Aber, was ich nach jahrelangem Zusammenwohnen in der alten Stadt schon wieder vergessen hatte: Wenn man selbst nicht im eigenen Bett schläft, kann man sich morgens auf dem Weg nach Hause frische Croissants holen. Win-win!

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Mein morgendliches Ritual. Nein, das ist nicht die Pille, die nehme ich seit Jahrzehnten nicht mehr.

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Ich poste auf Instagram oder auf Twitter dauernd mein hübsches Müsli, weil es so schön bunt und frisch aussieht. Um ein bisschen Abwechslung in meinen Stream zu bringen, gab’s deshalb mal die Vorher-Variante.

Gucken Sie mal: Vollmilch. Nicht die fiese diätige 1,5- oder sogar 0,irgendwas-Plörre, die ich jahrelang in mich hineinschüttete, weil’s halt weniger Kalorien hat. Fuck that shit. Ich liebe Vollmilch. Ich trinke durchaus auch mal ein Glas kalte Milch so, anstatt sie nur übers Müsli oder in Kuchenteige zu kippen. Wieder ein Grund, warum das mit dem Veganismus und mir nicht funktionieren könnte. (Der andere Grund sind Spaghetti Carbonara.)

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Umzug von Hamburg nach München organisieren. Noch fünf Wochen, dann bin ich Bayerin. Ich freute mich neulich im Freundeskreis mal drüber, dass ich dann in Bayern wählen dürfte, woraufhin man mir sagte, dass das ein sehr ernüchterndes Erlebnis sei und ich davon nicht zu viel erwarten solle.

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Wir nehmen Sonntag unseren neuen Fehlfarben-Podcast auf. Eine Ausstellung gucken wir uns gemeinsam an, die zweite bleibt meistens uns selbst und unserem eigenen Terminplan überlassen. Ich kann auch nicht gut zwei Ausstellungen hintereinander gucken, ich bin relativ schnell dicht mit Eindrücken. Daher nahm ich mir für heute eine Ausstellung vor – aber zuerst fuhr ich ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte, um mich über die beiden Künstlerinnen und ihre Arbeit zu informieren.

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Danach gab’s was zur Entspannung. F. und ich fahren demnächst nach Amsterdam, wo ich endlich Vermeers Milchmädchen sehen werde. Und weil ich eh gerne mehr über Vermeer erfahren wollte, guckte ich mal eben seinen Catalogue raisonné durch. (Hier stehen drei Regalmeter Vermeer!)

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Dann radelte ich 300 Meter ins Lenbachhaus, um mir Lea Lublin anzuschauen. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen: Die Ausstellung lohnt sich sehr. Sie ist nicht nur schlau und spannend, sondern man kann durch Kunst laufen, auf sie schießen und in ihr rumliegen. Ich hatte sehr viel Spaß – und die Aufseher auch, denn sie begleiten die Besucher_innen durch eine Installation und leisten Hilfestellung. Einer sprach es direkt aus, als er mich mit breitestem Grinsen durch den Kunstbau schlendern sah: „Schöne Ausstellung, oder? Mal was anderes.“

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Einkaufen mit der Tasche des Residenztheaters.

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Mein Mittagessen bestand aus ein paar Stücken Zitronenrolle. Ja, die ist gekauft und nicht selbstgebacken (Backofen anmachen bei 34 Grad, ist klar), sie schrie mich im Supermarkt quasi an und ich war ihr widerstandslos erlegen. Sehr schmackhaft.

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Stundenplan finetunen. Ich hatte mir gestern schon die neue Prüfungsordnung durchgelesen (Master statt BA, daran muss man sich ja auch erstmal gewöhnen) und guckte dementsprechend gespannt auf meine neue Kursauswahl. Die ist zwar vielfältig wie immer, aber: Es gibt kein einziges Seminar zur digitalen Kunstgeschichte. Dafür dass sich die LMU das fett auf die Fahnen schreibt und als eine der wenigen Unis (oder sogar als einzige) einen Promotionsstudiengang in dieser Richtung anbietet, finde ich es fast dreist, den Masterchen nicht einmal einen winzigen Kurs anzubieten, der halbwegs in diese Richtung geht.

Immerhin gibt’s bergeweise Architektur, auch in den Vorlesungen (das Bild zeigt die Seminare). Trotzdem. Mpf.

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Sehr kochfaules Abendessen (Herd anmachen bei 34 Grad, ist klar). Honigmelone, Schinken, Kürbis-Hummus, Brot, Johannisbeeren und ein Rosé. Irgendeiner. Ich koste gerade alle Rosés in meinem Supermarkt durch.

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Zum Tagesausklang noch ein winziges bisschen mit der besten Freundin in Hamburg telefoniert. Snif. Wenn ich Heimweh habe, dann immer nach Menschen.

Alles wird anders. Fühlt sich aber gerade gut an. Aufregend.

My work is done

Eskapismus

Ich habe noch mal darüber nachgedacht, warum ich seit längerer Zeit mit Romanen auf Kriegsfuß stehe. Ich lese fast nur noch Fachliteratur für die Uni, und wenn ich die nicht lese, lese ich Sachbücher, die irgendwas mit Kunst oder Wissenschaft zu tun haben oder Biografien (den Tick hatte ich schon einmal). Aber bei Romanen verliere ich neuerdings sehr schnell die Geduld – wobei ich nicht weiß, warum ich überhaupt ungeduldig werde.

In Sachbüchern ist fast jeder Satz eine Entdeckung für mich, er öffnet einen neuen Horizont, er zeigt mir Dinge, die mir bisher nicht aufgefallen waren. In Romanen trägt mich ein Satz nur zum nächsten, irgendwann kommt ein Plotpoint, eine Wendung, dann ist Schluss, ich lege das Buch weg und denke, ja gut, und was hab ich jetzt davon?

Ich glaube allmählich, dass mir Sachbücher inzwischen den kleinen Eskapismus ermöglichen, für den in den Jahren vor dem Studium Romane da waren (und davor Kino, das mich leider kaum noch begeistern kann). Früher las ich Romane auf dem Weg zur Arbeit, in der Mittagspause, nach der Arbeit. Sonst las ich Briefings und Produktinformationen, aus denen ich hübsche Kataloge zimmerte. Das war die Arbeit, die Romane waren das Vergnügen und meine Möglichkeit, den Kopf in andere, angenehmere Gefilde zu schicken.

Seit ich studiere, müsste die Uni die Arbeit sein. Das ist sie aber nicht. Ja, sie strengt an, fordert mich und natürlich leiste ich Arbeit. Aber sie fühlt sich nicht so an. Selbst wenn ich an Bachelorarbeiten verzweifele, fühle ich mich nicht so wie ich mich am Agenturschreibtisch gefühlt habe. Dort wollte ich, dass es endlich 18 Uhr wird und ich nach Hause gehen kann. In der Bibliothek will ich sitzen, so lange es geht – da ist eher mein Problem, dass ich nach sechs Stunden Dauerlesen nicht mehr denken kann und eine Pause brauche. Dann radele ich nach Hause, gucke eine Serienfolge weg (hey, das könnte mein Romanersatz sein, fällt mir beim Tippen gerade auf), und dann stecke ich die Nase wieder in ein Fachbuch, denn natürlich liegen zuhause auch immer genug davon rum.

Seit drei Jahren bestimmt mein Stundenplan meinen Tagesablauf und die Referatstermine gliedern mein Semester. Ich richte mich nicht mehr nach Präsentationen oder Buchungsanfragen, sondern danach, wann ich in der Uni oder in der Bibliothek sein muss – bzw. darf. Das ist der große Unterschied. Mir ist es durchaus und immer wieder bewusst, was für einen großen Luxus ich hier genießen darf. Ja, den habe ich mir selbst erarbeitet (spare in der Zeit, studiere in der Not), aber trotzdem weiß ich natürlich, dass andere Leute in meinem Alter gerade Kinder versorgen müssen, ein Haus abbezahlen oder schlicht versuchen, unverschuldet über die Runden zu kommen. Ich hingegen lebe größtenteils von meinen Ersparnissen, nehme nur noch Jobs an, die in meinen Stundenplan passen, und lasse es mir ziemlich gut gehen. Wenn man davon absieht, dass ich mir Sterneessen verkneife, die ich sehr vermisse.

Die Uni ist meine kleine Realitätsflucht. Ich brauche keine Romane mehr, damit mein Tag irgendwie erträglich wird. Ich muss mir meinen Tag nicht mehr hübsch lesen, denn er ist es von vornherein. Ich wache nicht mehr gerädert auf, weil ich mitten in der Nacht über ein Adjektiv nachgedacht habe, das der Kunde auf Seite 45 im Katalog doof fand. Stattdessen wache ich entspannt auf, gehe wissbegierig meinem Tagwerk nach und schlafe abends sattgedacht und rundgelesen ruhig und zufrieden ein. Außer ich scheitere gerade an Bachelorarbeiten, dann schlafe ich auch mies, aber selbst da wollte ich keine Romane lesen, sondern ganz im Gegenteil, noch mehr Fachbücher, denn in einem von ihnen steckt schließlich die Lösung für mein Problem.

Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass ich mein Leben gerade als kleine Flucht begreife, denn ich habe nichts, wovor ich fliehen müsste. Ich habe auch noch keinen Plan, wohin ich eigentlich flüchte. Mein Horizont reichte drei Jahre lang bis zum BA. Jetzt reicht er zwei Jahre lang bis zum Master. Keine Ahnung, was danach kommt.

Eigentlich müsste mich das nervös machen. Aber uneigentlich macht es mich gerade sehr glücklich.

Links vom 6. August 2015

Hiroshima/Nagasaki

Heute vor 70 Jahren wurde die erste Atombombe über Hiroshima gezündet. Hier der Wikipedia-Eintrag zum Thema, hier die damalige Berichterstattung der AP.

Frau @ruhepuls war letztes Jahr in Japan und hat sich auch das Denkmal in Hiroshima angeschaut. Das ganze Blog ist sehr empfehlenswert.

6. August 2015

Ein anderer Jahrestag, ähnlich traurig: Die Freundin von @dasnuf wurde vor einem Jahr überfahren.

Hintersinnig: Was Rückseiten von Gemälden alles verraten

Das Städel-Museum schreibt über … genau, Rückseiten von Gemälden.

„Oft ist den Vorderseiten nicht anzusehen, dass auch recht ungewöhnliche Materialien als Bildträger verwendet wurden. Kupfer zählt dabei noch zu den üblichen Materialien: Anders als Holz oder Leinwand verzieht es sich nicht und reflektiert die Ölfarben gut. Als die Herstellungsverfahren von Kupferplatten weit genug ausgereift waren, kamen diese als Malgrund in Mode und sind in den Jahrzehnten um 1600 relativ häufig anzutreffen. Eher ungewöhnlich ist hingegen, dass ein Landschaftsbild von 1614 auf die Rückseite einer Spielkarte des 15. Jahrhunderts gemalt worden ist. (…)

Bei vielen Porträts ist der Name des Dargestellten auf der Rückseite notiert, oft ist die Rückseite aber auch aufwendig mit Wappen, Inschriften und Künstlermonogramm bemalt. Darüber hinaus können Gemälderückseiten manchmal fast die gesamte, wechselvolle Geschichte eines Werkes preisgeben: Inschriften, Klebezettel und Etiketten bilden zusammen mit Spuren restauratorischer Eingriffe ein wahrhaftes „Archiv des Bildes“.“

Im Blogeintrag kommt auch das schönste Wort vor, das ich im Kunstgeschichtsstudium gelernt habe: Flachware. Also das Zeug, das an den Wänden hängt. Ich liebe dieses Wort; es ist so herrlich prosaisch im Gegensatz zu den ganzen emotionalen Inhalten, die gerne auf dem Bildträger transportiert werden.

Unser Traum vom Fliegen

Thomas Quasthoff wird Dirigent.

„Ein Dirigent brauche, meint man, eine bestimmte Körpergröße und Mindestarmlänge (der im 19. Jahrhundert für die wachsenden Orchester erfundene Taktstock hilft letztlich nur, die Gesten zu verdeutlichen). Dem Debütanten Quasthoff fehlen diese Voraussetzungen, also stellen sich Fragen: “Der kann doch gar nicht dirigieren – ohne Arme?” Oder, noch peinlicher, weil in die seelischen Eingeweide zielend: “Muss das sein, dass er das jetzt auch noch macht?” (…)

Wer sagt eigentlich, dass man mit den Armen dirigiert und nicht mit dem ganzen Rumpf, dem Kopf, der Mimik, den Augen? Und dass andere Dirigenten keine Malaisen hätten, böse Schultern, wehe Rücken und so weiter? Überhaupt: Seit wann ist Dirigieren nicht in erster Linie eine geistige Leistung, sondern eine gymnastische?

Im Grunde war bei Thomas Quasthoff Schluss mit der Behindertennummer, war so ziemlich alles gut. Bis die Sache mit dem Dirigieren aufkam (die Idee dazu stammt von Martin Engström, dem Intendanten des Verbier-Festivals). Und die alten Vorurteile sich wieder regten.“

Going With the Flow: Blood & Sisterhood at the London Marathon

Kiran Gandhi lief einen Marathon, während sie ihre Tage hatte.

„As I ran, I thought to myself about how women and men have both been effectively socialized to pretend periods don’t exist. By establishing a norm of period-shaming, [male-preferring] societies effectively prevent the ability to bond over an experience that 50% of us in the human population share monthly. By making it difficult to speak about, we don’t have language to express pain in the workplace, and we don’t acknowledge differences between women and men that must be recognized and established as acceptable norms. Because it is all kept quiet, women are socialized not to complain or talk about their own bodily functions, since no one can see it happening. And if you can’t see it, it’s probably “not a big deal.” Why is this an important issue? Because THIS is happening, right now.

And so I started bleeding freely.“