Buchempfehlung: Ruth Klüger, „weiter leben“
„Gewiß, es zieht auch welche, die ohne Touristenneugier oder Sensationslust kommen, zu den alten Lagern, aber wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht. So einer war Peter Weiss, als er einen Aufsatz schrieb, in dem er, nach einem Besuch in Auschwitz, das Lager als „seine Ortschaft“ bezeichnet, weil er als Jude verurteilt war, dort zu sterben. Das wird schon richtig gewesen sein, denk ich, für diesen Besucher, der eben doch nicht verurteilt war, dort zu sterben, sondern es nur gewesen wäre, hätte er nicht auswandern können. Den Aufsatz verstehe ich gut, handelt er doch von meiner Frage, ob man Gespenster in Museen bannen kann, und Peter Weiss schleppte damals die seinen vom Frankfurter Auschwitz-Prozeß nach Polen. Da heißt es zuerst „Nein“, man kann es nicht, denn das Lager, das Peter Weiss sieeht, ist leer vom alten Geschehen, eben nicht mein Lager, sondern schon eher das Lager, wo die zwei lieben deutschen Jungen die Zäune brav weiß streichen, um das Gelände instand zu halten. Und doch gibt er eine zweite Antwort, ein „Ja“ im letzten Moment, auf der letzten Seite, denn da gelingt es diesem Gast in Auschwitz, in einer alten Baracke die Geister zu beschwören. Der springende Punkt: Er sah das, was er mitgebracht hatte, in der neuen Konstellation des Ortes, die da heißt Gedenkstätte und Besucher, und was könnte weiter entfernt sein von der Konstellation Gefängnis und Häftling?
Dabei war Weiss der beste Besucher, den man sich wünschen kann, denn er sah kein fertiges, starres Mahnmal. Er endet mit der Bemerkung, daß „es“ noch nicht vorbei sei, und so hat er mit der ihm eigenen Konsequenz die Judenverfolgung mit anderen Massenverbrechen verglichen, was ihm viele übel genommen haben. Aber ich weiß gar nicht, wie man anders an die Sache herankommen soll als durch Vergleiche.
Claude Lanzmann, auf der Suche nach den Lagern, fragt die Einheimischen in seinem quälenden Shoah-Film: „War’s drei Schritte rechts oder links von hier? Da oder dort? Waren die Bäume damals schon da?“ Ein Besessener, denk ich, Zuschauerin im dunklen Raum, und bewunder ihn halb, halb bin ich ihm voraus: „Du brauchst die Orte. Mir genügen die Ortsnamen“, und bin doch gebannt von seiner Besessenheit.
Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich daß die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein. Oder vielmehr kein tiefer, sondern eher ein seichter Aberglaube, wie ihn auch die Grusel- und Gespensterhäuser in aller Welt vermitteln. Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als besserer Mensch vorkommen. Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wo man stolz ist, überhaupt zu empfinden? Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle? […]
Dachau hab ich einmal besucht, weil amerikanische Bekannte es wünschten. Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde. Steine, Holz, Baracken, Appellplatz. Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind, und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben. Und heimlich denkt wohl mancher Besucher, er hätte es schon schlimmer gehabt als die Häftlinge da in dem ordentlichen deutschen Lager. Das mindeste, was dazu gehörte, wäre die Ausdünstung menschlicher Körper, der Geruch und die Ausstrahlung von Angst, die geballte Aggressivität, das reduzierte Leben. Geistern hier noch die Männer, die sich durch die langen, kranken Stunden geschleppt haben, die sogenannten Muselmänner, die Kraft und Energie zum Weiterleben verloren hatten? Oder die Privilegierten, denen es besser ging, die dafür aber exponierter waren und noch eher umgebracht wurden? Die selbstgerechten Politischen und die auf ihre Art nicht minder selbstgerechten eingesessenen deutschen Juden, denen das Haus überm assimilierten Kopf zusammengebrochen war? Sicher helfen die ausgehängten Bilder, die schriftlich angeführten Daten und Fakten und die Dokumentarfilme. Aber das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.“
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, München 2019 (Erstauflage 1992), S. 75–78.
Ich erspare mir eine Rezension, bitte einfach selber googeln oder mindestens den Wiki-Eintrag dazu lesen. Ich mochte an dem Buch die sehr klare Sprache, die durchaus unangenehm werden kann, gerade wenn man von sich selbst meint, doch alles richtig machen zu wollen beim Gedenken und Erinnern und Sprechen über die NS-Zeit und den Holocaust. Ich mochte die Einschübe der Autorin, die sich an die Leserin richteten („wer rechnet schon mit männlichen Lesern? Die lesen nur von anderen Männern Geschriebenes“, S. 82), in denen sie sich für Formulierungen rechtfertigt oder erklärt, warum dort steht, was da eben steht und nichts anderes. Warum es klar und hart ist und ihre Beschreibungen der problematischen Beziehung zur Mutter, dem Deutschland vor und nach 1945, dem Hungern und Warten und Verlieren und Sterben eben nicht „Erich Kästners Weinerlichkeiten zu den aufgehäuften Schuhen toter Kinder“ sind (S. 216).
Für mich waren besonders die Beschreibungen der direkten Nachkriegszeit interessant, aber ich habe jede Seite gerne gelesen, auch wenn das alles überhaupt keinen Spaß macht. Soll es auch nicht, ich soll nicht an Ferienlager denken. Ich las auch, dass Klüger sich bewusst gegen eine Entfernung ihrer Häftlingsnummer entschied; sie erzählt die Geschichte, wie sie als Kellnerin Menschen, die danach fragten, erwiderte, dass das die Telefonnummer ihres „boyfriends“ sei. Nach der Veröffentlichung hat sie sich anscheinend umentschieden, wie ich in einem der Nachrufe auf die 2020 Gestorbene las (war, glaube ich, die „Welt“, dahin verlinke ich mal nicht).
Ich fand es spannend, ihren Gedankengängen zu folgen, die ebenfalls nie in Stein gemeißelt sind, sie machte es Fragenden schwer, welche Fragen man stellen darf oder nicht, auch das kommt zur Sprache. Sie ist eine Stimme unter viel zu vielen, die von den Lagern erzählen und was sie davon mitgenommen haben und ich lege euch das Buch sehr ans Herz.