Buchempfehlung: Ruth Klüger, „weiter leben“

„Gewiß, es zieht auch welche, die ohne Touristenneugier oder Sensationslust kommen, zu den alten Lagern, aber wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht. So einer war Peter Weiss, als er einen Aufsatz schrieb, in dem er, nach einem Besuch in Auschwitz, das Lager als „seine Ortschaft“ bezeichnet, weil er als Jude verurteilt war, dort zu sterben. Das wird schon richtig gewesen sein, denk ich, für diesen Besucher, der eben doch nicht verurteilt war, dort zu sterben, sondern es nur gewesen wäre, hätte er nicht auswandern können. Den Aufsatz verstehe ich gut, handelt er doch von meiner Frage, ob man Gespenster in Museen bannen kann, und Peter Weiss schleppte damals die seinen vom Frankfurter Auschwitz-Prozeß nach Polen. Da heißt es zuerst „Nein“, man kann es nicht, denn das Lager, das Peter Weiss sieeht, ist leer vom alten Geschehen, eben nicht mein Lager, sondern schon eher das Lager, wo die zwei lieben deutschen Jungen die Zäune brav weiß streichen, um das Gelände instand zu halten. Und doch gibt er eine zweite Antwort, ein „Ja“ im letzten Moment, auf der letzten Seite, denn da gelingt es diesem Gast in Auschwitz, in einer alten Baracke die Geister zu beschwören. Der springende Punkt: Er sah das, was er mitgebracht hatte, in der neuen Konstellation des Ortes, die da heißt Gedenkstätte und Besucher, und was könnte weiter entfernt sein von der Konstellation Gefängnis und Häftling?

Dabei war Weiss der beste Besucher, den man sich wünschen kann, denn er sah kein fertiges, starres Mahnmal. Er endet mit der Bemerkung, daß „es“ noch nicht vorbei sei, und so hat er mit der ihm eigenen Konsequenz die Judenverfolgung mit anderen Massenverbrechen verglichen, was ihm viele übel genommen haben. Aber ich weiß gar nicht, wie man anders an die Sache herankommen soll als durch Vergleiche.

Claude Lanzmann, auf der Suche nach den Lagern, fragt die Einheimischen in seinem quälenden Shoah-Film: „War’s drei Schritte rechts oder links von hier? Da oder dort? Waren die Bäume damals schon da?“ Ein Besessener, denk ich, Zuschauerin im dunklen Raum, und bewunder ihn halb, halb bin ich ihm voraus: „Du brauchst die Orte. Mir genügen die Ortsnamen“, und bin doch gebannt von seiner Besessenheit.

Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich daß die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein. Oder vielmehr kein tiefer, sondern eher ein seichter Aberglaube, wie ihn auch die Grusel- und Gespensterhäuser in aller Welt vermitteln. Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als besserer Mensch vorkommen. Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wo man stolz ist, überhaupt zu empfinden? Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle? […]

Dachau hab ich einmal besucht, weil amerikanische Bekannte es wünschten. Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde. Steine, Holz, Baracken, Appellplatz. Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind, und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben. Und heimlich denkt wohl mancher Besucher, er hätte es schon schlimmer gehabt als die Häftlinge da in dem ordentlichen deutschen Lager. Das mindeste, was dazu gehörte, wäre die Ausdünstung menschlicher Körper, der Geruch und die Ausstrahlung von Angst, die geballte Aggressivität, das reduzierte Leben. Geistern hier noch die Männer, die sich durch die langen, kranken Stunden geschleppt haben, die sogenannten Muselmänner, die Kraft und Energie zum Weiterleben verloren hatten? Oder die Privilegierten, denen es besser ging, die dafür aber exponierter waren und noch eher umgebracht wurden? Die selbstgerechten Politischen und die auf ihre Art nicht minder selbstgerechten eingesessenen deutschen Juden, denen das Haus überm assimilierten Kopf zusammengebrochen war? Sicher helfen die ausgehängten Bilder, die schriftlich angeführten Daten und Fakten und die Dokumentarfilme. Aber das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.“

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, München 2019 (Erstauflage 1992), S. 75–78.

Ich erspare mir eine Rezension, bitte einfach selber googeln oder mindestens den Wiki-Eintrag dazu lesen. Ich mochte an dem Buch die sehr klare Sprache, die durchaus unangenehm werden kann, gerade wenn man von sich selbst meint, doch alles richtig machen zu wollen beim Gedenken und Erinnern und Sprechen über die NS-Zeit und den Holocaust. Ich mochte die Einschübe der Autorin, die sich an die Leserin richteten („wer rechnet schon mit männlichen Lesern? Die lesen nur von anderen Männern Geschriebenes“, S. 82), in denen sie sich für Formulierungen rechtfertigt oder erklärt, warum dort steht, was da eben steht und nichts anderes. Warum es klar und hart ist und ihre Beschreibungen der problematischen Beziehung zur Mutter, dem Deutschland vor und nach 1945, dem Hungern und Warten und Verlieren und Sterben eben nicht „Erich Kästners Weinerlichkeiten zu den aufgehäuften Schuhen toter Kinder“ sind (S. 216).

Für mich waren besonders die Beschreibungen der direkten Nachkriegszeit interessant, aber ich habe jede Seite gerne gelesen, auch wenn das alles überhaupt keinen Spaß macht. Soll es auch nicht, ich soll nicht an Ferienlager denken. Ich las auch, dass Klüger sich bewusst gegen eine Entfernung ihrer Häftlingsnummer entschied; sie erzählt die Geschichte, wie sie als Kellnerin Menschen, die danach fragten, erwiderte, dass das die Telefonnummer ihres „boyfriends“ sei. Nach der Veröffentlichung hat sie sich anscheinend umentschieden, wie ich in einem der Nachrufe auf die 2020 Gestorbene las (war, glaube ich, die „Welt“, dahin verlinke ich mal nicht).

Ich fand es spannend, ihren Gedankengängen zu folgen, die ebenfalls nie in Stein gemeißelt sind, sie machte es Fragenden schwer, welche Fragen man stellen darf oder nicht, auch das kommt zur Sprache. Sie ist eine Stimme unter viel zu vielen, die von den Lagern erzählen und was sie davon mitgenommen haben und ich lege euch das Buch sehr ans Herz.

Ofenkartoffeln mit Sojabutter, Miso-Aubergine und Chili-Spitzkohl

Das Rezept im SZ-Magazin nennt sich „Weltoffene Ofenkartoffel“, aber damit kann ich in meiner Rezeptliste nichts anfangen. Es stammt von Tohru Nakamura, bei dem F. und ich leider nur einmal essen gehen konnten, bevor die Pandemie den Laden trotz unserer Reservierung zusperrte, eine Unverschämtheit. Was mich damals so fasziniert hat, waren die gefühlt 80 Zutaten auf dem Teller und trotzdem schmeckte alles absolut ausgewogen. Dieses Prinzip klappt auch mit der schlichten Ofenkartoffel: Es kommt deutlich mehr drauf als ein Klecks Sour Cream, aber es harmoniert alles hervorragend.

Das Rezept ist angeblich für acht Personen, die Mengen schreibe ich hier auch auf. Ich habe davon die Hälfte zubereitet und unsere zwei Kartoffeln pro Person wogen etwas weniger als 150 Gramm; das war eine hervorragende Hauptmahlzeit.

1 Aubergine halbieren und auf der Schnittseite in ordentlich
Sesamöl in der Pfanne anrösten. Die eine Aubergine haben wir locker zu zweit verspeist, wenn Sie das Gericht für acht Personen zubereiten, vielleicht lieber mindestens zwei verwenden.

8 Kartoffeln (je 150–200 g) waschen, mit ebenfalls ordentlich Sesamöl einreiben und gut salzen. Auberginenhälften und ganze Kartoffeln auf ein Blech geben und im auf 180° Umluft (!) vorgeheizten Ofen eine Stunde lang garen.

Währenddessen einen Berg Mise en place erledigen.

100 g weiche Butter mit
4 EL Sojasauce verkneten. Das ging mir bei nur so mittelgut, ich habe nicht die ganze Sauce einarbeiten können. Vielleicht Butter schmelzen, Sauce dazugeben und wieder fest werden lassen? Probiere ich beim nächsten Mal aus.

100 g Jogurt mit
50 g geriebenem Ingwer und Salz abschmecken.

1 Handvoll Spitzkohl (bei mir Chinakohl) fein schneiden.
Ein Dressing zubereiten aus
4 EL Reisessig,
1/2 TL braunem Zucker,
1 EL Sonnenblumenöl und
1 Chilischote, fein gehackt. Kurz vor dem Servieren mischen.

2 EL weißen Sesam rösten.
1 Handvoll Wasabi-Erbsen oder Wasabi-Nüsse zusammen mit dem Sesam im Mörser grob zerstoßen, das soll kein feines Pulver werden.

100 g Comté (oder anderen Hartkäse) reiben.

1 Bund Schnittlauch hacken (ein halber tut’s auch).

1 kleine Schalotte fein hacken.

Nach einer Stunde die Aubergine aus dem Ofen nehmen und die Schnittflächen mit
2 EL heller Misopaste bestreichen. Nochmal für ein paar Minuten in den Ofen geben, bis die Paste blubbert. Das Fleisch herauskratzen, mit der Schalotte mischen und mit Salz und Pfeffer abschmecken.

Die Kartoffeln halbieren und die Schnittflächen mit der Sojabutter bestreichen. Das Auberginenragout und danach den geriebenen Käse darauf verteilen. Den angemachten Spitzkohlsalat sowie den Ingwerjogurt darauf geben. Zum Schluss den Wasabi-Sesam-Crunch und die Schnittlauchröllchen darüberstreuen.

Das Rezept wollte dazu auch noch Bonitoflocken – die hatte ich nicht bekommen, stattdessen gab es bei uns Furikake mit Bonitogeschmack, das war auch ein Kracher. Fiel mir erst nach dem Fotomachen auf, daher ist das lustige Zeug nicht abgebildet.

Ja, es ist etwas mehr Arbeit als Sour Cream, aber das war wirklich richtig gut. Gibt’s heute gleich nochmal.

Tagebuch Donnerstag, 28. Januar 2021 – Punjabi Mix

Das Autobahnkapitel ist niedergerungen!

Dachte ich gestern abend jedenfalls, aber dann fiel mir ein, dass ich ein paar Ausstellungen, die ich eigentlich erst im Teil „Erwähnenswerte Aufträge und Ausstellungen“ verarbeiten wollte, vielleicht doch lieber in dieses Kapitel schieben sollte und daher muss ich da heute noch mal ran. Aber im Prinzip ist es niedergerungen! Und es gefällt mir für die erste Fassung schon sehr gut.

Das war mein Tagwerk.

Nachmittags pingte mein Handy und zeigte mir zwei Päckchen in der Packstation an. Das waren meine zwei Ausstellungskataloge zur Neuen Sachlichkeit (meine große Liebe), die ich antiquarisch bestellt hatte. Weil ich außerdem noch ein paar Zutaten für die Date Night brauchte, verband ich die kurze Radfahrt zum Asiashop mit der Abholung. Der Schnee der letzten Tage war netterweise geschmolzen; so gerne ich ihn sehe, so sehr nervt er mich zu Pandemiezeiten, weil ich dann die U-Bahn nehmen muss für Termine.

So aber radelte ich zum Asialaden – und begab mich erstmals in die japanische Ecke. Der Shop ist relativ groß und nicht grundsätzlich nach Zutaten geordnet, sondern eher nach Ländern. Grundlegende Dinge wie Reis, Nudeln, Sojasaucen und frische Ware sind natürlich nicht mehrfach vorhanden, weswegen man da prima die Unterschiede bei Verpackung und Labelling vergleichen kann. Aber bei Gewürzen, Würzmischungen und den ganzen anderen wilden Zutaten, bei denen ich mich immer noch nicht auskenne, guckt man eher nach Ländern oder Gebieten – das gefühlte „irgendwie indischer Subkontinent“ ist nicht unterteilt, ich ahne, dass man mit den Zutaten auch pakistanisch kochen kann. Was wo bei den Thai-Zutaten steht, habe ich allmählich durchschaut, aber nach hellem Miso und Bonitoflocken musste ich dort noch nie suchen. Ab nach Japan!

Dort griff ich als erstes und völlig sinnlos zur Kewpie-Mayonnaise, weil ich von der schon so oft was gelesen hatte, dass ich sie haben wollte. Die schmeckte dann abends auf einer Semmel mit einer dicken Schicht Eisbergsalat und einer Scheibe Kassler auch ganz hervorragend, gefühlt etwas frischer als die übliche Majo. Miso fand ich, das kannte ich aus dem Edeka nebenan immerhin schon in dunkler Form, aber jetzt wollte ich halt helles. Nach Bonitoflocken suchte ich allerdings vergeblich, laut Twitter habe ich eine Würzmischung erstanden, die immerhin Bonitogeschmack hat, und das muss dann für das Rezept heute abend reichen.

F. hatte sich außerdem philippinische Cracker gewünscht, die fand ich. Er hatte mir ein Foto der Verpackung geschickt, was sehr hilfreich war. Generell merkte ich gestern, dass es mit wegen der Maske leicht beschlagener Brille nicht einfacher wird, nach Dingen zu suchen, von denen man nicht weiß, wie sie aussehen, erst recht, wenn man möglichst wenig Zeit in einem Laden verbringen will. Auch deswegen kaufe ich seit Monaten beim leicht teureren Edeka ein statt dem Netto oder dem Lidl; er ist stets leerer und ich weiß genau, wo was steht. Finanziell dämlich, gesundheitlich für mich absolut die richtige Entscheidung. (Pandemie-Strategien. Ich warte auf die Manager-Seminare dazu.)

Gegenüber von den Crackern lag eine Batterie an wild aussehenden indischen Snacks, von wo ich mir einfach mal den sympathisch klingenden Punjabi-Mix gönnte. Das sind Nudeln aus Kichererbsenmehl, Erdnüsse, Linsen und Kichererbsen, alles leicht scharf. Ich bin mit meiner Kaufentscheidung sehr zufrieden.

Ich weiß ja, warum der Thymian tut, was er tut, aber allmählich bin ich doch etwas pikiert. Es sieht so aus, als würde es ihm auf meiner Fensterbank nicht gefallen. Undankbarer Wicht.

Normalerweise stehen neben ihm noch Zitronenmelisse, Majoran und Basilikum, die mussten fürs Foto kurz auf den Küchentisch. Der Hirsch steht da immer, das sieht gerade neben der Zitronenmelisse aus, als trete er kurz auf eine Waldlichtung. DER BESCHWERT SICH NICHT!

The Pandemic Has Erased Entire Categories of Friendship

Der Atlantic schreibt über die Menschen, die wir vermissen, die nicht unsere Freunde sind, sondern eher regelmäßige Begegnungen: die Barista für den Morgenkaffee, den Typ, der immer auf demselben Platz in der U-Bahn sitzt – oder wie F. und ich neulich feststellten: die Nervensägen hinter uns im Stadion in Augsburg. Ich denke öfter an einen bestimmten Kellner in der Stammkneipe; für ihn bin ich garantiert nur ein Gast unter hunderten, aber auf den freue ich mich schon sehr. Der fehlt mir irrationalerweise.

„In the weeks following, I thought frequently of other people I had missed without fully realizing it. Pretty good friends with whom I had mostly done things that were no longer possible, such as trying new restaurants together. Co-workers I didn’t know well but chatted with in the communal kitchen. Workers at the local coffee or sandwich shops who could no longer dawdle to chat. The depth and intensity of these relationships varied greatly, but these people were all, in some capacity, my friends, and there was also no substitute for them during the pandemic. Tools like Zoom and FaceTime, useful for maintaining closer relationships, couldn’t re-create the ease of social serendipity, or bring back the activities that bound us together.

Understandably, much of the energy directed toward the problems of pandemic social life has been spent on keeping people tied to their families and closest friends. These other relationships have withered largely unremarked on after the places that hosted them closed. The pandemic has evaporated entire categories of friendship, and by doing so, depleted the joys that make up a human life—and buoy human health. But that does present an opportunity. In the coming months, as we begin to add people back into our lives, we’ll now know what it’s like to be without them.“

Tagebuch Dienstag/Mittwoch, 26./27. Januar 2021 – Schreib- und Gedenktag

Zwei Tage im Autobahnkapitel verbracht, mindestens zwei werden es noch werden. Meine innere Deadline „Ach, bis Ende Januar bin ich mit der Gesamtüberarbeitung durch“ verschiebt sich möglicherweise um einen Hauch nach hinten. Totale Überraschung.

Je länger ich an meinen eigenen Texten herumdoktore, sie verschiebe, auseinanderrupfe, neu zusammensetze und mit mehr Meta-Ebene und kunsthistorischer Theorie versehe, desto mehr kommt mir meine abgegebene Dissertation wie eine Stoffsammlung vor und das Ding, an dem ich jetzt sitze und veröffentlichen werde, erst wie das richtige Werk. Dann passt das ja eigentlich. Wäre nur schön, wenn mir das schon früher aufgefallen wäre.

Gestern war der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Yad Vashem erinnerte wie in jedem Jahr an seine IRememberWall, bei der man sich einen Namen eines Opfers der Shoah zuteilen lassen konnte, um an ihn oder sie zu erinnern. Ich lernte so Ester Shafran kennen und beschrieb sie auf Instagram, wie ich das in den beiden letzten Jahren auch schon getan hatte. Die Datenbank von Yad Vashem weiß nicht viel über sie bzw. vieles ist auf Hebräisch geschrieben, das ich nicht lesen kann. Sie wurde 1942 in Treblinka ermordet und wurde 17 Jahre alt.

Ich klickte auf Insta auf den Hashtag #iremember und las mir weitere Berichte durch und wie jedesmal, wenn ich ein einzelnes Schicksal kennenlerne, wird die Zahl von sechs Millionen nicht weniger greifbar.

Auch die Arolsen Archives riefen gestern auf Twitter verstärkt zur individuellen Hilfe auf. Ich beteilige mich seit Längerem an der digitalen Arbeit, bei der es darum geht, Häftlingsakten zu transkribieren – vielleicht mögen Sie auch ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken?

Die SZ sprach mit einer Freiwilligen über ihre Tätigkeit und Motivation.

Die Freiwilligen, die an dem Projekt mitarbeiten, können sich auch untereinander austauschen. Wie läuft das?

Wenn man die Dokumente eingegeben hat, kann man dazu einen Kommentar hinterlassen – da geht es vor allem um konkrete Fragen: Kann jemand diese Notiz entziffern, was bedeutet dieser Eintrag? Und auf diesen können andere wiederum antworten. Dieser Austausch im Forum ist sehr wertvoll – denn dabei stößt man auch auf Details, deren Bedeutung sich erst in der Zusammenschau erschließt. Auf den Dachauer Dokumenten fanden sich zum Beispiel bestimmte Kürzel, offenbar vom Wachpersonal, doch das war zunächst nicht klar. Darüber wurde dann im Forum diskutiert. Schließlich haben die Freiwilligen angefangen, diese Karten mit Hashtags zu versehen. Und Historiker haben dann festgestellt, dass ihnen das hilft. Sie sind dadurch auf Informationen gestoßen, die sie vorher nicht bemerkt hatten.

Warum machen Sie selbst bei der Aktion mit?

Die Zeit des Nationalsozialismus, der Holocaust, hat mich schon immer interessiert. Ich habe vor allem in früheren Jahren viel darüber gelesen, Filme gesehen. Aufgrund der ganzen rechtsextremen Tendenzen gerade in der jüngeren Zeit ist es mir ein Anliegen, daran mitzuwirken, dass die Gräuel zur Zeit des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten. Diese Art von Verfolgung und Verunmenschlichung darf einfach nie wieder passieren.“

Johannes Gramlich hat ein Buch über die „Kunst der NS-Elite, die Alliierten und die bayerischen Staatsgemäldesammlungen“ geschrieben. Gramlich war bei den Gemäldesammlungen mein Ansprechpartner, wann immer ich eine Frage zu Protzen oder der dort verwahrten Papierkopie seines Werkverzeichnisses hatte. Ich bin sehr auf sein Buch gespannt.

Die Rede von Marina Weisband im Bundestag zum Tag des Gedenkens.


(Direktlink)

Ein zweifaches Dankeschön …

… an Melanie: Sie gab mir netterweise per Mail einen Hinweis auf ein Buch, das ich per Tweet gesucht hatte und bei den üblichen Quellen auch nicht fand. Das hatte ich zum Ende des Bachelors, als mir so langsam klar wurde, in welche Richtung der Master gehen könnte, schon komplett gelesen und sogar im Blog besprochen, aber nie gekauft, wozu auch, ich hatte es ja gelesen und es steht in allen Bibliotheken grmbl repeat. Vielleicht lag es an meiner Bräsigkeit oder daran, dass ich nicht vernünftig gucken kann, aber bei Booklooker war das Werk dann doch zu haben und ich bestellte es sofort. Das schrieb ich der freundlichen Hinweisgeberin per Mail als Antwort, worauf sie meinte, ach Mist, das hätte sie mir doch bestellt. Dann gibt’s eben was vom Wunschzettel und das war Effingers von Gabriele Tergit.

Die Hymnen beim Perlentaucher sprechen eine sehr deutliche Sprache, und mit Familiengeschichten kriegt man mich ja bekanntlich immer. Nicole Henneberg ist die Neu-Herausgeberin des Werks von Tergit und erzählt hier zehn Minuten lang etwas zur Autorin und ihrer Zeit. Wer nicht gerne hört, kann hier ein Interview im Deutschlandfunk mit ihr lesen.

Ich bin sehr gespannt! Vielen Dank für das Geschenk (und den Tipp), ich habe mich sehr gefreut.

Tagebuch Montag, 25. Januar 2021 – Täterbiografien

Autobahnkapitel. Mittags eventuell den Franzbrötchen in zu hohem Maße zugesprochen. Autobahnkapitel. Festgestellt, wie entsetzlich wenig Literatur ich zur Kunst der 1920er-Jahre besitze, denn: Es steht ja alles in den Bibliotheken, das brauche ich nicht selbst im Regal, haha. Ein bisschen Geld über Booklooker losgeworden, da gehen im Moment eure PayPal-Spenden hin, ich hoffe, das ist in eurem Sinne. Was in meinem Sinne wäre, wäre #ZeroCovid oder auch #NoCovid, ich sehe keinen Unterschied in den beiden Ideen, aber ich hätte gerne wieder geöffnete Bibliotheken.

Neue Folge The Rookie geguckt (ich mag’s), eine alte Folge The Resident (danke an die Kaltmamsell für den Hinweis), ein neues Buch angefangen. Keine Lust auf Sport gehabt. Stattdessen aus diesem Rezept der NYT eine Art Sesamsauce gezaubert, Mie-Nudeln mit Gemüse zubereitet, schmeckte wie erhofft wie vom Bringdienst. Ich hatte nicht alle Zutaten für die Sauce im Haus, aber wir merken uns mal: Sojasauce, Reisessig, dunkles Sesamöl, Erdnussbutter, Zucker, Ingwer, Knoblauch und Siracha reichen eigentlich.

Ich hatte recht lange mit der Überarbeitung der Diss gehadert, weil es doch noch deutlich mehr Arbeit bedeutet als ich bei der Abgabe dachte. Wie bereits erwähnt: Ich könnte das Ding jetzt unkorrigiert als PDF auf den Uniserver laden und mir die Promotionsurkunde abholen. Ich könnte den Text aber auch nochmal so umarbeiten, dass andere Menschen außer mir und der Prüfungskommission was davon haben. Dafür hatte ich mich entschieden, aber das zog sich trotzdem alles, vielleicht auch, weil ich nicht ins ZI konnte, um dort in den Regalen zu wühlen. Gestern war zum ersten Mal der Moment da, in dem sich das nicht mehr wie eine dusselig selbstgewählte Pflichtaufgabe anfühlte, sondern wo endlich erkennbar wurde, wie gut die neue Struktur funktioniert und vor allem, wieviel besser und erkenntnisreicher es sich lesen lassen wird. Das tat sehr gut.

Ich war trotzdem latent abgelenkt, weil es gestern zum ersten Mal in diesem Winter richtig schneite. Die Stadt ist dann immer leiser und das Licht heller. In 30-Minuten-Abständen ging ich mit der Teetasse in der Hand vom Arbeitszimmer in die Küche, lehnte mich ans Fenster und guckte minutenlang dem Schneefall zu. Das war schön.

Weniger schön ist derzeit meine Lektüre. Neben den ganzen Aufsätzen, die ich mir derzeit nur aus Datenbanken als PDF holen kann, liegt gerade ein kleiner Sammelband zur Holocaust-Forschung neben mir, in dem sich zwei Aufsätze mit der Täterforschung befassen. Mir ist sehr klar, dass es einen Unterschied macht, sich mit einem KZ-Aufseher oder einem Maler biografisch zu befassen, aber im Hinterkopf bohrt trotzdem eine Ahnung herum, die in einem der Aufsätze angerissen wird: „Täter handelten durchweg nicht isoliert, sondern waren in arbeitsteilig ausgerichtete Netzwerke von Täterkollektiven eingebunden.“ (Bajohr 2015, S. 170) Oder auch die generelle Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Individualbiografie: „Im Gegensatz zu dem für die Forschung bis in die 1980er Jahre so typischen Begriff des ‚Funktionärs‘ impliziert die heute allgemein verbreitete Bezeichung ‚Täter‘, dass – anders als früher angenommen – eine viel größere Gruppe von Einzelpersonen von ihrem Tun auch innerlich überzeugt gewesen ist. Nachdem Täterforschung sich tatsächlich […] zu einer selbständigen Subdisziplin entwickelt hatte, rückten Eigeninitiative, persönliche Energie und vor allem individuelle Handlungsspielräume der Täter in den Mittelpunkt, die bis zur alleruntersten Hierarchieebene reichten.“ (Roseman 2015, S. 188) Der letzte Satz erläutert auch die Abkehr von der Idee der bis dahin postulierten Menge an schlichten Befehlsempfängern; damit versuchte sich zum Beispiel Eichmann zu verteidigen.

Rosemann schreibt weiter:

„Was biographische Annäherungen tatsächlich erhellen können, sind einige der Mechanismen innerhalb von Partei und Regime, die gemeinsames Handeln anregten und ermöglichten. Das betrifft nicht zuletzt den Konkurrenzdruck, der eine so wichtige Rolle in den älteren strukturalistischen Analysen spielte. […] In dieser Hinsicht bilden Biographien ein wertvolles Korrektiv gegen den derzeitigen Trend, die Mitwirkung der gesamten Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken. Sie erinnern uns an die zentrale Bedeutung von Partei- und Herrschaftsstrukturen, aber auch an die Mischung aus Loyalität und Eigenständigkeit, die das Regime von seinen Dienern verlangte.“

(Rosemann 2015, S. 202/203)

Noch einmal: Ich weiß, dass ich hier über einen Landschaftsmaler schreibe und nicht über jemanden, der Gaskammern bediente. Aber unser Fach hat sich so ewig darum gedrückt, sich überhaupt mit der Frage der Verantwortung von Kunst und den Menschen, die sie schufen, zu befassen, dass es schlicht noch kein grundlegendes Werk gibt, das diesen Komplex aufschlüsselt. Bisher pendelt die Forschungsliteratur zwischen der Meinung, dass Kunst überhaupt keine Wirkung hatte und der meist vertretenen, dass Kunst in hohem Maße dazu beitrug, nationalsozialistisches Gedankengut unter die Ausstellungsbesucher zu bringen. Ich weise zum hundertsten Mal auf Aufsätze hin, die zum Beispiel die GDK untersuchten und dabei feststellten, dass selbst auf der größten GDK 1941 nur gut drei Prozent aller Kunstwerke einen klar ideologischen Charakter hatten. Und damit sind wir in der wachsweichen Zone, in der ich seit drei Jahren herumwabere: Inwiefern sind Gemälde von Autobahnen, deren Bau von Anfang an propagandistisch für das Regime ausgewertet wurden, ideologische Kunst? Sind sie eine Art Dokumentation? Sind sie eine Spielart des Landschaftsbildes? Ich habe die Diss schon abgegeben, herrgott, und bin immer noch nicht mit dem Durchdenken fertig. Meine Schlussfolgerung in Kürze: Es kommt darauf an.

Ich habe in der Überarbeitung die biografischen Details sehr gekürzt, auch um nicht zu positivistisch zu werden. Das war auch eine Frage, die Roseman in seinem Aufsatz stellt: Darf man mit Tätern empathisch sein? Ich meine, man muss zumindest ein gewisses Interesse an einer Person und ihren Intentionen haben, um überhaupt biografisch arbeiten zu können. Aber auch das war ein Problem, das mich drei Jahre lang beschäftigt hat: Wie sympathisch darf mir der Mann werden? Da der Nachlass in dieser Hinsicht recht wenig bietet, lief ich nicht in Gefahr, mich zu sehr mit ihm gemein zu machen, aber ab und zu ist mir da doch ein Halbsatz durchgerutscht. Auch deswegen ist das fast alles rausgeflogen, aber einige Ereignisse sind eben noch drin. Und genau bei denen denke ich über Handlungsspielräume nach. Ich kann inzwischen belegbar behaupten, dass Protzens Malweise sich zwar nicht groß veränderte, aber sich doch inhaltlich den nie eindeutigen Vorgaben des Regimes an die neue deutsche Kunst anpasste. Was mich zur Täterfrage bringt: Inwiefern sind Gemälde von Autobahnen bzw. die Menschen, die sie malten (nicht nur Männer), regimestabilisierend gewesen? Das ist jetzt bewusst hoch aufgehängt, aber das ist schon eine zentrale Frage, sonst müsste ich mich mit dem Kram ja gar nicht befassen. Auch deswegen wollte ich etwas mehr zur Täterforschung wissen, um die üblichen Fallen zu vermeiden, in die ich bei der Erstfassung der Diss anscheinend gestolpert bin.

(Zitierte Literatur: Bajohr, Frank: „Täterforschung, Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes“, in: Ders./Löw, Andrea (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015, S. 167–185 bzw. Roseman, Mark: „Lebensfälle: Biographische Annäherungen an NS-Täter“, im selben Band, S. 186–209.)

„Einmal, als die Kinder in der Pause besonders laut tobten, beschimpfte uns der Lehrer, natürlich selbst Jude, daß es hier wie in einer Judenschule zugehe. Aber wir waren ja eine Judenschule. Warum uns im engen jüdischen Kreis noch weiter erniedrigen, wenn die arische Umwelt es tagtäglich mit Erfolg tat? (Übrigens schreibe ich dieses Wort ‚arisch‘ absichtlich nicht in Anführungszeichen. Es wurde damals nur selten ironisch ausgesprochen.)“

Ruth Klüger: weiter leben, München 2019 (Erstauflage 1994), S. 16.

Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 21. bis 24. Januar 2021 – Autobahn, Franzbrötchen, „Junge Frau“

Seit Donnerstag ringe ich mein langes, langes Autobahnkapitel nieder. Bei dem dachte ich, ich müsste am wenigstens korrigieren, weil ich diesen vielen Einzelteilen ja eh die größte Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Aber aus den vielen Einzelteilen wird jetzt ein einziger Teil, und daher feile ich gerade an der Grundstruktur des Kapitels, damit man nicht einschläft bei 100 Seiten Autobahn, den Übergängen von einem Jahr mit acht Werken zur RAB von Protzen bis zur nächsten Ausstellung mit derartigen Gemälden bis zum nächsten Jahr mit fünf Werken zur RAB usw. Oder ich werfe die Struktur dieses Kapitels nochmal über den Haufen, ich bin gerade so schön im Flow. Nebenbei wühle ich weiterhin in Datenbanken nach neuer Literatur, um die Fragen und Anmerkungen, die mein Doktorvater im Dokument hinterlassen hat, einzuarbeiten (oder auch nicht, um sie in sehr wenigen Fällen zu ignorieren).

Am Freitagvormittag traute ich mich bei gerade eis- und schneefreien Radwegen mal wieder aufs Fahrrad, um die U-Bahn zu vermeiden. Ich brauchte ein neues Rezept von meiner Hausärztin, und Freitags ist dort immer am wenigsten los. Wenn ich schon mal da war, fragte ich nach einer Grippeimpfung, die im Herbst wegen des fehlenden Impfstoffs nicht möglich gewesen war; jetzt war welcher da, ich wurde geimpft und kriegte einen schönen Stempel in den Impfpass. Ich hoffe, ich muss nicht mehr allzu lange auf den nächsten Stempel warten. Ich bin in Gruppe 3 für die Covid-Impfung und richte mich seelisch auf Mai oder so ein.

In diesem Zusammenhang dachte ich über die mögliche Bevorzugung Geimpfter nach: Sie dürften von mir aus gerne wieder in Restaurants, Museen und Fitnessstudios, Schulen und Bibliotheken. Macht alles auf, kontrolliert die Impfpässe, fertig. Ich meine, im Deutschlandfunk wurde argumentiert, dass das keine Privilegien wären, sondern im Gegenteil, die Wiederherstellung von Grundrechten. Menschen, die (hoffentlich, das ist ja noch nicht klar) keine Gefahr mehr für andere darstellen, dürfen schlicht nicht an der Bewegungsfreiheit und ähnlichen Rechten gehindert werden. Fand ich einleuchtend. Von mir aus dürfen die geimpften 80-Jährigen auch gerne jetzt schon Partys feiern, so lange die Enkelkinder noch draußen bleiben.

Auf dem Rückweg von der Ärztin holte ich mir Semmeln vom Lieblingsbäcker, um den Hunger bis abends zu überbrücken. F. trug uns wieder Köstlichkeiten aus dem Broeding an den Tisch. Ich buk das kleine Karottenbrot noch mal auf, obwohl das nicht in der Bedienungsanleitung stand, aber bisher mussten wir jedes Brot noch einmal aufbacken, also tat ich das einfach. Dazu gab es Schmalz.

Danach freuten wir uns über eine Kartoffelterrine mit Beten und schwarzer Walnuss, zum Hauptgang gab es geschmorte Ochsenschulter mit Wurzelgemüse und als Nachtisch Marzipan-Stollen-Mousse mit irgendwas, ich habe nach Marzipan-Stollen-Mousse nicht mehr weitergelesen. Das klang in der Vorschau nach einem richtig klassischen Broeding-Menü und das war es dann auch.

F. brachte außerdem einen PetNat mit sowie einen Zweigelt, bei denen ich nie verstehe, warum meine Nase sie hasst (bzw. sie meine Nase, die stinken immer!), mein Gaumen sie aber mag.



Samstag war wieder Schreibtischtag, die Autobahn. Zwischendurch gewann aber immerhin Augsburg gegen Union und ich durfte mir ein Geschenk aus der Packstation holen. Das begann ich, wie ich vorgestern beim Dankeschön-Eintrag schrieb, gleich abends im Bett. Und gestern tagsüber las ich es dann zuende. Hiermit eine große Empfehlung für Alena Schröders Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid. Mit Lesebändchen!

Das Buch wechselt in jedem Kapitel die Perspektive: Mal folgen wir der unmotiviert promovierenden Germanisten Hannah, wie sie unmotiviert ihre Oma im Altersheim besucht oder sich unmotiviert in eine Affäre stürzt, dann sind wir plötzlich in den 1920er-Jahren, wo wir Hannahs Urgroßmutter kennenlernen – und dementsprechend auch erneut ihre Oma, dieses Mal als Kind. Der rote Faden ist nicht nur die Familiengeschichte, sondern auch ein vermeintliches Vermeer-Gemälde, nach dem Hannah auf der Suche ist. Oder auch nicht, sie ist da etwas unmotiviert. Es gehörte den Eltern des Ehemanns ihrer Urgroßmutter, die 1942 nach Treblinka deportiert wurden, und damit sind wir beim unangenehmen Teil des Buchs.

Ich mochte den ständigen Perspektivwechsel gerne, kam aber zunächst nicht mit der ebenfalls veränderten Ausdrucksweise zurecht. Schröder versucht netterweise nicht, Dialoge zu sehr historisch klingen zu lassen bzw. die heutige Sprache zu lässig zu verwenden, aber manchmal stolperte ich schon darüber, eben noch von einem Volksempfänger gelesen zu haben und zwei Seiten später von WhatsApp. Daran gewöhnte ich mich aber schnell, und ich ahne inzwischen, dass auch das ein großer Reiz dieses Buchs ist. Es gibt genügend Kapitel, die wirklich keine gute Laune machen, wie das halt so ist mit Kapiteln, die in der NS-Zeit spielen, aber man hat kaum Zeit, das Buch deswegen weglegen zu wollen, weil man sich ein Kapitel später wieder mit Hannah zusammen über irgendwas aufregen kann. Der arme Historiker, der ihr bei der Recherche hilft, kommt mir persönlich natürlich viel zu schlecht weg, Achtung, totale Übertreibung: ARCHIVE SIND SUPER! MENSCHEN, DIE GERNE IN ARCHIVE GEHEN, AUCH. Aber das war wirklich das einzige, was ich am Buch äußerst subjektiv zu bequengeln habe. Die 350 Seiten lasen sich extrem gut weg, und obwohl ich behaupte, von dem Thema wirklich Ahnung zu haben, habe ich mich nicht gelangweilt, ganz im Gegenteil. Auch das liegt sehr wahrscheinlich an der cleveren Stuktur.

(Überlege gerade, wie ich die für die Diss klauen kann, aber naja.)

Mir gefiel außerdem, dass Schröder fast nebenbei verschiedene Lebensentwürfe von Frauen unter die Lupe nimmt, ohne sie zu werten. Sehr amüsant fand ich das kurze Kapitel, in dem die kleine philosemitische und sehr bemühte Gruppe um den Historiker ihr Fett weg bekommt, wobei ich mir da selber auch ein winziges bisschen an die Nase gefasst habe mit dem vielleicht zu eifrigen Gedenken und ja alles richtig machen zu wollen.

Und ein Absatz kriegte mich dann richtig. Ich will nicht spoilern, daher mache ich einen Namen mal unkenntlich im Zitat: „Nein, Hannah wollte keine Torte mehr. Sie war aufgeregt, und es kam ihr vor, als würde [Person X] den Goldmanns und auch ihrer Urgroßmutter, dieser ganzen vergangenen Zeit, eine neue und vielleicht die bislang fehlende Dimension verleihen. So als könnte sie erst jetzt glauben, dass sie wirklich gelebt hatten und nicht nur als Archivmaterial existieren.“
(S. 313)

Das ist ein bisschen mein Problem mit Protzen und seinem Werk. In unkonzentrierten Momenten halte ich ihn für ein Subjekt, das unter meinem Mikroskop liegt und vergesse, dass sein Werk ohne ihn als Person nicht existieren würde. Ich vergesse manchmal, dass er eine Familie hatte und Menschen, die ihn kannten und schätzten und liebten, während ich mir hier nur anhand seines Nachlasses ein manchmal hartes Urteil über ihn erlaube. Das liegt natürlich auch daran, dass niemand von den Menschen, die ihn oder seine Frau noch hätten kennen können, mit mir kommunizieren wollte, was aber ein schönes anderes Fass aufmacht, auf das ich vielleicht in der Überarbeitung der Diss noch eingehen werde: wie schwierig es ist, Dinge zu rekonstruieren, die die allermeisten Beteiligten sehr gerne vergessen möchten. Auch das klingt im Buch des Öfteren an. Große Leseempfehlung.

Sonntag ist bekanntlich Hefeteigtag, es gab mal wieder Franzbrötchen. Die sahen leider fürchterlich aus, viel zu trocken, so dachte ich, aber sie schmeckten ganz hervorragend. Endlich mal die richtige Klietschigkeit hingekriegt, die ich so an diesem Backwerk mag.

Zwei davon verpackte ich mehrfach und hängte sie F. an die Wohnungstür, immer schön Kontakte vermeiden, aber trotzdem gut essen.

Ja, fürchterlicher Gesamteindruck, ich weiß, aber schauen Sie sich die vielen schönen Knusperschichten an! Herrlich! Immer zweimal mehr tourieren als im Rezept angegeben, totaler Geheimtipp.

Während die Franzbrötchen vor sich hingingen, stundenlang, freute ich mich über meinen ebenso lustig aufgehenden, weil frisch gefütterten Sauerteig, links Wehner, rechts Rosinante. Rosinante riecht allerdings arg nach Nagellackentferner, da muss ich wohl mal gegensteuern.

Und weil gestern die Sonne schien, traute sich sogar Sadness kurz aus ihrer Höhle, jedenfalls sah es so aus. Ich fotografierte das gestern spontan für Insta und überlegte, ob ich vorher noch staubwischen sollte, aber bis ich das Staubtuch geholt und alles wieder hübsch arrangiert hätte, wäre der Sonnenstrahl weitergewandert. Jetzt wisst ihr alle, was ich seit gut zwei Jahren weiß: Diese Wohnung ist ein einziger Staubmagnet. Ich habe noch in keiner Wohnung – theoretisch – so oft abstauben gemusst wie hier, wo ich es irgendwann aufgegeben habe. Es gibt Wichtigeres.

Ein schön gestaltetes Dankeschön …

… an Frîa, eine alte Freundin, die mich mit Alena Schröders Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid überraschte. In der Widmung meinte die Schenkerin: „[N]ur weil das Cover so schön gestaltet ist.“ Mit derartigen Geschenkgründen kann ich hervorragend leben! Ich persönlich finde ja, dass Effingers auch sehr hübsch aussieht! Oder Grünbeins Oxford Lectures (das ist eine Autobahn, Sie ahnten es vermutlich). Oder Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen (ein KdF-Wagen, ähem). Gucken Sie mal!

Die Handlung von Junge Frau klang für mich natürlich sehr interessant: „Die Geschichte um die Kulturwissenschaftlerin Hannah, die ein Bild sucht, das ihrer mit einem Juden verheirateten Großmutter von den Nazis geraubt wurde“, ich zitiere den Perlentaucher. Die Leseprobe gefiel mir auch, und jetzt freue ich mich darüber, es ganz lesen zu können.

Ich habe in diesem Jahr wieder angefangen, meine Bücher zu notieren, die ich durchlese. Dabei stellte ich erstaunt fest, dass ich bereits vier Romane und ein Sachbuch durchgelesen hatte. Im fünften Roman stecke ich fest und überlegte gestern, ob ich den wieder ins Regal stellen sollte, als das Geschenk kam. Perfektes Timing! Nebenbei: Einer von den vier bisher gelesenen Romanen war Gegenspiel von Stephan Thome. Hey, Dominic, der du mir dieses Buch im Mai 2016 geschenkt hattest: Es hat mir gut sehr gefallen. Eure Bücher werden alle irgendwann gelesen! Manchmal dauert es halt ein bisschen.

Bis hier hin hatte ich den Blogeintrag gestern geschrieben, dann ging ich ins Bett und wollte nur mal kurz ins Buch gucken. Das ist jetzt 118 Seiten her, es war irgendwann halb eins, und manche Bücher werden anscheinend schneller gelesen. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Mamas Marmorkuchen

Mit diesem Kuchen bin ich groß geworden, und seit ich wieder öfter im Norden bin, esse ich ihn auch wieder öfter. Bei meinen Eltern gibt es um halb vier Uhr jeden Tag Kaffee und Kuchen, komme was wolle, und wenn man da ist, isst man mit. (Maske ab, ein Stück abbeißen, Maske auf, kauen, repeat.) Der Kuchen schmeckt saftig-schwer und altmodisch, er ist nicht leicht und flauschig, aber genau so mag ich ihn. Ich habe neuerdings immer ein bis drei Viertel davon eingefroren im Tiefkühlfach und mache gerne Kaffeepause. Oder Teepause. Das ist sehr schön.

Für eine Kastenform mit 30 cm Länge.

250 g zimmerwarme Butter mit
200 g Kristallzucker schaumig schlagen, wie es so schön heißt. Ich habe eine Butter-Zucker-Masse noch nie schaumig bekommen, ich mixe so lange, bis die Butter weißlich geworden ist und sich alles richtig schön verbunden anfühlt bzw. so aussieht.

4 Eier einzeln untermixen.

350 g Mehl, Type 405,
ca. 5 g Backpulver (1/3 Tütchen) sowie
1 gute Prise Salz untermischen.

Die Hälfte des Teiges in die gefettete Kastenform geben. In den restlichen Teig
2 EL entöltes Kakaopulver,
1 EL Vanillezucker und
1–2 EL Milch geben, alles gut vermischen und auf den hellen Teig in die Kastenform geben. Mit einer Gabel die Teige miteinander verwirbeln – ich mache das eher halbherzig –, die Oberfläche glattstreichen und im auf 175° Ober- und Unterhitze vorgeheizten Ofen für 50 bis 60 Minuten backen. Stäbchenprobe machen. In der Form abkühlen lassen, dann stürzen und endgültig auskühlen lassen. Kaffee oder Ostfriesentee dazu, ist klar.

Ein forschendes Dankeschön …

… an Sascha, der mich mit Der Holocaust: Ergebnisse und neue Fragen der Forschung von Frank Bajohr und Andrea Löw (Hrsg.) überraschte.

Ich lese auch privat Sachbücher immer mit einem Finger hinten im Anhang, wo die Endnoten und Literaturangaben stehen. Dieses Buch fand ich in Hedwig Richters Demokratie-Buch und das Inhaltsverzeichnis überzeugte mich davon, dass ich da mal reingucken sollte. In einem der Diss-Gutachten wurde zufrieden festgestellt, dass ich die Verdienste Protzens, auch im Vergleich zu anderen Künstlern, aufgearbeitet hatte. Ich zitiere: „Es ist sehr wichtig, dass Verf. dem Salär des Künstlers Aufmerksamkeit schenkt, wird doch im Kontext des NS die ökonomische Dimension des Politischen bisweilen nachrangig beurteilt. Denn die NS-Ideologie, die Verfolgung und Entrechtung der Juden war politisch und ökonomisch motiviert (siehe Toozes Studie „Ökonomie der Zerstörung“). Dies lässt sich ohne Weiteres auf den Sektor Kunst übertragen, und damit sind nicht nur die Beschlagnahmen jüdischer Sammlungen gemeint, sondern eben auch der wirtschaftliche Aufschwung erfolgreicher NS-Künstler.“

Im Buch von Bajohr und Löw gibt es genau dazu einen Aufsatz, „Materielle Aspekte des Holocaust“, sowie zwei, die sich mit der biografischen Aufarbeitung der NS-Täter befassen, was für mich gerade mit ein Punkt ist, auf den ich sehr achte. Da sind mir, laut Gutachten und Gespräch mit dem Doktorvater, doch ab und zu etwas zu positivistische Beschreibungen durchgerutscht bzw. ich habe mir ab und zu Urteile erlaubt, die möglicherweise ungerechtfertigt waren. Und da im Moment alle Bibliotheken geschlossen sind, freue ich mich über jedes Buch, das ich nun zuhause lesen kann. Den Tooze hatte ich mir netterweise vor dem Lockdown schon geliehen, der steht gerade hinter mir.

Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Tagebuch Dienstag/Mittwoch, 19./20. Januar 2021 – Madame Vice President

Der Dienstag begann hervorragend: Mein inzwischen dritter Versuch mit Roggensauerteig klappte so, wie ich es haben wollte und nicht nur so halb oder geht so oder „kann man essen, wenn’s sein muss“. Das Brot ging in seiner Kastenform zwar im Ofen nur an einer Seite wirklich auf – das ist die etwas aufgerissene, krustige –, aber es schmeckte durch und durch. Fieser Nebeneffekt, der mir schon überrascht bei den ersten Versuchen mit Roggensauerteig aufgefallen ist: Es schmeckt wie das Lieblingsbrot von Papa. Das Gersterbrot esse ich auch immer in der alten Heimat im Norden und wusste nie, dass es aus Roggenmehl zubereitet wird.


(Foto aus der Hüfte für F., muss ich fürs Rezeptverbloggen noch mal anständig machen. Und ohne Bissspuren.)

Ab kurz vor zehn Uhr hatte sich der jährlich vorbeischauende Heizungsableser angekündigt. In den letzten Jahren brachte er oft seinen Kollegen mit, der die Rauchmelder prüft, dieses Jahr kam er wieder alleine und übernahm beide Jobs. In meiner Wohnung standen alle Fenster auf Kipp, ich trug FFP2, er eine OP-Maske, wir hielten Abstand und es war keine Unterschrift auf dem Ableseprotokoll nötig. Danach lüftete ich zehn, fünfzehn Minuten lang durch, bis es wirklich kalt war. So fühlen sich also Schüler:innen gerade.

Bis gestern um 14 Uhr saß ich an beiden Tagen an der Diss, überarbeitete erneut den biografischen Teil sowie den Überblick über das Gesamtwerk. Gestern beendete ich vorerst (also bis zu den üblichen 17 Korrekturgängen) den Teil mit Protzens ganzen Vereinsmitgliedschaften. Dazu begründete ich auch, warum dieser Teil wichtig ist: weil Künstlervereinigungen im Kleinen abbildeten, was reichsweit ab 1933 passierte. Es wurde durchaus über die angeblich neue deutsche Kunst diskutiert; ich hatte in Archiven einige Sitzungsprotokolle gefunden, an denen sich Kontroversen gut nachvollziehen ließen. Außerdem lässt sich dort auch die neue Personalpolitik nachzeichnen, also das Ersetzen von bisherigen Amtsinhabern durch Parteigenossen. So verlor auch Protzen, der kein Mitglied der NSDAP war, im April 1933 einen Vorstandsposten beim (ehemals Feldgrauen) Künstlerbund München, was ihm aber auf lange Sicht nicht wirklich geschadet hat. Aber er konnte das hübsch im Spruchkammerbogen ausschlachten. („ICH BIN EIN NAZIOPFER EINS11! … Autobahnen? Was für Autobahnen?“)

Ab 14 Uhr war meine Konzentration aber weg. Ich musste mir anschauen, wie Trump am Weißen Haus das letzte Mal den Hubschrauber Marine One bestieg, der ihn zur Air Force One brachte, die ihn nach Florida und damit hoffentlich in die Bedeutungslosigkeit flog, die für ihn vermutlich die Höchststrafe sein wird. Geh weg, komm nie wieder.

Danach genoss ich die Amtseinführung Bidens und Harris’ und konnte befriedigt feststellen, dass nicht mal Trump meine irrationale Zuneigung zu amerikanischem Pathos ruinieren konnte. Beim Amtseid von Harris, der ersten Schwarzen, der ersten asiatischen und der ersten Frau auf dem Posten des Vizepräsidenten, verdrückte ich dann doch überrascht ein kleines Tränchen. Der Eid wurde von Sonia Sotomayor abgenommen, der ersten Latina und, wenn ich das richtig sehe, dritten Frau am Obersten Gerichtshof der USA.

Das Gedicht von Amanda Gorman mochte ich ebenfalls sehr.

Twitter war gestern wieder in alter, netter Form.

Dass Augsburg gegen Bayern verlor, war dann auch total egal. Tief und fest geschlafen.

Ein abstraktes Dankeschön …

… an Herrn oder Frau Unbekannt, es lag leider kein Absendezettel dabei, der oder die mir ein dickes Paket zukommen ließ, in dem sich Pepe Karmels Abstract Art: A Global History befand. Das Buch landete nach einem Artikel in der NY Times auf meinem Wunschzettel, eine Liste der besten Kunstbücher des Jahres 2020. Hat das Jahr doch was Gutes hervorgebracht.

Ich zitiere die kurze Besprechung vollständig:

„This large coffee table/art history book announces its singularity with its cover, a painting by Hilma af Klint, whose recently rediscovered achievement upended the history of modernist abstraction. A herculean effort, it reproduces the efforts of over 200 artists from all seven continents, usually with sharp capsule discussions. It provocatively divides abstraction according to subject matter (the body, the cosmos, landscape, architecture), increasing its accessibility. The book’s inclusions and theories can be debated, but it sets a standard for future efforts.“

Eine globale Geschichte, die das Werk einer Frau auf den Titel packt, hat bei mir von vornherein viele Sympathiepunkte. Und dass sie global ist, ebenso, denn das ist leider immer noch die Crux unseres Faches und vermutlich vieler anderer Richtungen der Geisteswissenschaften: Unser Verständnis fängt beim Kanon westlicher, weißer, meist männlicher Kunst an, an die sich alles andere andockt. Das ändert sich netterweise seit einigen Jahren, aber der Weg ist noch sehr weit. Ich erinnere mich an mein Staunen in der grundlegenden Ausstellung im Haus der Kunst, Postwar, die mein eigenes Bild von Kunst über jeden Haufen geworfen hat, den ich im Kopf hatte. Daher klang dieses Buch genau wie das richtige, um mich mal eingehender der Abstraktion zu widmen.

Mein Interesse an der Kunst des NS führt dazu, dass ich mich eher im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auskenne als danach, und zudem liegt mir dementsprechend die naturalistische Kunst mehr. Ich schaue mir aber sehr gerne abstrakte Kunst an, gerade weil sie mir Dinge zeigt, die sonst in meinem Leben – oder auf diesem Planeten – ohne sie nicht vorkommen.

Die Idee, Werke, die nichts Nachvollziehbares abbilden, in Kategorien zu ordnen, die genau das tun – Körper, geöffnete Fenster, Sonnen und Planeten –, klingt erstmal sehr abwegig. Ganz durchhalten kann Karmel das auch nicht, einige Angaben im Inhaltsverzeichnis lauten „Embryos and Blobs“, „Vibrations“ oder auch schlicht „Calligraphy“. Wie die Times anklingen lässt, kann man darüber streiten wie über alles, aber beim ersten Durchblättern fand ich es ganz schlau gemacht. Karmel ordnet nicht, wie es die bisherigen Narrative der Kunst es tun, nach Jahreszahlen, Schulen oder Kontinenten, sondern wirft alles wild durcheinander – um es in eine neue Ordnung zu bringen. Oder er versucht es zumindest.

David Carrier schreibt auf Hyperallergic in seiner guten Rezension die entscheidenden Sätze:

„Karmel’s originality and literary skill are praiseworthy. But his account is not a history. There is no reason given to suggest that the later artists further developed the forms of abstraction explored by their predecessors. […] I imagine that Thames & Hudson would have vetoed calling Karmel’s book A Global Charting of the Varieties of Abstraction, with Reference to Its Figurative Roots, though that title would give a clearer view of his achievement. Karmel has, in fact, proven that a global history of abstraction is impossible. This is an important achievement, for it opens the way to constructive analysis. Today’s art world has an essentially different structure from Gombrich’s Eurocentric tradition or Clement Greenberg’s New York-centric era; we must now recognize that writing a global art history demands that we give up historical thinking.“

Das trifft, soweit ich das überblicken kann, auch durchaus in Teilen auf die naturalistische Kunst zu. Ich twitterte im Dezember diesen Link zum Deutschlandfunk über afrikanische Kunst. Die letzte Abbildung hat mich völlig umgehauen: Sie zeigt eine menschliche Figur mit deutlich abstrahierten Zügen, aber in einer fluiden Bewegung erstarrt und stammt aus dem 13. Jahrhundert. Diese Art der Darstellung bekam Europa erst Anfang des 20. Jahrhunderts hin und fand sich irre innovativ (siehe z. B. die Demoiselles d’Avignon, die Skulpturen kamen noch einige Jahre später). Dass man nun komplett darauf verzichtet, historisch zu denken, halte ich allerdings für einen Fehlschluss, ich hänge schon noch an der Theorie, dass wir bei sehr vielen Leistungen auf den Schultern unserer Vorgängerinnen stehen. Wir vergessen sie nur gerne wieder.

Wie gesagt, ich habe das Buch erst einmal durchgeblättert und mich über Eva Hesse und Gego gefreut, aber bis jetzt gefällt mir der Brocken, auch in seiner Inklusion von vielen Künstlerinnen und Menschen außerhalb von Europa und den USA, ausgesprochen gut, auch in seiner wirklich üppigen Aufmachung. Es war beim Blättern ein bisschen, wie durch eine Ausstellung zu bummeln, was mir doch mehr fehlt als ich dachte. Das tat sehr gut.

Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Tagebuch Montag, 18. Januar 2021 – Anhang 2

Ich wachte um 4.40 Uhr auf, ging auf die Toilette, hoffte bis 6 Uhr noch darauf, wieder einschlafen zu können, gab es dann aber auf und begann latent nölig und übermüdet meinen Tag.

Der bestand hauptsächlich darin, meinen Anhang 2 in der Diss zu überarbeiten. Bisher ist die Dissertation – sehr vereinfacht ausgedrückt – eine chronologische Abfolge von Ausstellungen und Verkäufen. An diese dockte ich immer noch Metaebene dran, aber das ist es im Prinzip. Das wurde in den Gutachten als „bürokratisch“ und „pedantisch“ umschrieben, immer liebevoll abgeschwächt – „ist trotzdem super“ –, aber, wie ich mir nun mit einem halben Jahr Abstand zum Werk eingestehen muss, leider korrekt. Daher war das mein Hauptanliegen: diese pedantische Ordnung aufzubrechen.

Der Anhang 2 ist mir erst kurz vor der Abgabe eingefallen. In ihm sind alle Ausstellungen mit den gezeigten Werken aufgeführt, die mehrfach gezeigten sind gefettet, so dass man sofort sehen kann, welche Werke Protzen selbst am wichtigsten waren. Eine dieser Erkenntnisse, auf der ich auch im Text rumreite: Das von ihm heute auf jeder NS-Wanderausstellung gezeigte „Straßen des Führers“ wurde gerade ein einziges Mal in der Zeit des „Dritten Reichs“ gezeigt, nämlich auf der GDK 1940 und dort auch erst als Nachhängung, also nicht gleich von Beginn der Ausstellung an. Die GDK dauerten anfangs von Juli bis Oktober des jeweiligen Jahres, von 1941 bis 1944 hieß es im Katalog „bis auf weiteres“, aber schon seit 1939 liefen die Schauen bis ins nächste Jahr; die GDK 1939 dauerte bis Februar 1940. Die letzte Verkaufsbescheinigung der GDK 1944, die ich in den Akten fand, wurde am 24. April 1945 ausgestellt.

„Straßen des Führers“ wurde vermutlich im Oktober 1940 gehängt und laut Werkverzeichnis im Dezember an die Reichskanzlei verkauft. Es gelangte aber nie nach Berlin, sondern wurde in den Depots des Hauses der Deutschen Kunst aufbewahrt, laut der Archivalien bis zum 28. Oktober 1943, als es in Altaussee in Österreich eingelagert wurde, um vor den Bombenangriffen der Alliierten geschützt zu sein. (Das ist für meinen Kopf immer seltsam nachzuvollziehen, dass die Ankäufe der NS-Machthaber in ähnlichen Stollen rumlagen wie die aus ganz Europa zusammengestohlenen Kunstschätze, die einen deutlich höheren kunsthistorischen Wert hatten und haben.) Der Mittelteil von „Straßen des Führers“ (es ist ein Triptychon und nur der Mittelteil wurde ausgestellt) wurde zunächst in Salzburg registriert; am 8. November 1946 findet sich das Werk auf einer Bestandsliste der United States Forces Austria. Es wurde am 20. November 1946 unter der Mü-Nr. 40499 Salzburg 112 registriert. Am 1. April 1949 wurde das Werk an den bayerischen Staat übergeben und gehört heute dem Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die „Mü-Nr.“ ist die Münchner Nummerierung der im Central Collecting Point eingelieferten Werke, hier steht auf S. 4 dazu etwas mehr.

Oh, ich bin etwas abgeschweift. Ich finde das immer noch alles sehr spannend, da müsst ihr jetzt durch.

So, Anhang 2. In dem waren wie gesagt bisher nur die Ausstellungen und die Werke verzeichnet. Um vorne im Textteil haufenweise Absätze zu sparen, legte ich eine neue Spalte an und und verzeichnete dort gestern meine Quellen. Denn das war eine meiner selbstgestellten Hauptaufgaben gewesen: erstmal rauszufinden, wann und wo der Herr überhaupt was gezeigt hatte. Dafür las ich hunderte von alten Lokalnachrichten durch, um anhand der Rezensionen Rückschlüsse auf die Werke ziehen zu können, wo es keinen arbeitsarmen Katalog gab, in dem ich einfach die Titel nachschauen konnte – wenn ich denn wusste, wo Protzen überhaupt was gezeigt hatte. Dafür las ich sein Werkverzeichnis sehr aufmerksam durch.

Manchmal waren die Werke aus den Rezensionen nicht eindeutig zu bestimmen – bei Angaben wie „dunkeltonige Landschaften“ konnte ich nur raten. Diese Denkprozesse verkürzte ich und trug sie ebenfalls in die Tabelle ein. Das dauerte, wie ich selbst überrascht feststellen musste, den ganzen Tag. F. riet mir ab Mittags zu einem Schläfchen, aber ich wollte das fertigkriegen, was ich auch tat.

Zum Mittag gab’s eine Restekartoffel von der Date Night, dazu warf ich eine Mohrrübe, eine Zwiebel, eine Paprika und den Rest Speck, der noch im Kühlschrank war, in die Pfanne. Sport waren gestern die Bauchmuskelübungen, die ich inzwischen nicht mehr ganz so mache, wie das Programm es möchte. Das Schöne an diesem Anfängerinnending ist, dass die Übungen aufeinander aufbauen: Wir machen also nicht gleich die knallharte Plank am Boden, wo man sich bis eben vielleicht überhaupt nicht bewegt hatte, sondern in den ersten Einheiten nahmen wir dazu einen Stuhl zu Hilfe. Genau wie bei Liegestützen oder ähnlichem. Das habe ich beim ersten Durchgang auch brav gemacht, anders hätte ich das auch gar nicht hingekriegt, ich Couchkartoffel, aber jetzt, wo ich das Programm schon einmal ganz durchgeturnt hatte, ließ ich die Zwischenschritte weg und erledigte alles in der Version der Übungen, die eigentlich erst am Schluss kamen. Das strengte dann auch deutlich mehr an, aber ich konnte alles mitturnen, was mich sehr freute.

Danach war ich total aufgewärmt zum Putzen, denn heute werden die Heizungen und die Rauchmelder abgelesen – meine FFP2-Maske liegt bereit –, und deswegen war gestern das traditionelle Entstauben der Heizkörperrippen dran, das ich genau einmal im Jahr erledige.

Gestern in den Storys von DefunctFashion gesehen und gleich ergoogelt, hier die Bildquelle.

I Recommend Eating Chips

Ein wunderbarer Artikel zum Thema … weiß ich gar nicht. Pandemie, Soul Food, Selbstbeobachtung. Das hat mir sehr gefallen, den gestern zu lesen.

„Oh, hello, nice to see you, have a seat — let’s stress-eat some chips together. Let’s turn ourselves, briefly, into dusty-​fingered junk-food receptacles. This will force us to stop looking, for a few minutes, at the bramble of tabs we’ve had open on our internet browsers for all these awful months: the articles we’ve been too frazzled to read about the TV shows we’ve been meaning to watch; the useless products we keep almost impulse-​buying; the sports highlights and classic films that we digest in 12-second bursts every four days; that little cartoon diagram of how to best lay out your fruit orchards in Animal Crossing. Eating these chips will rescue us, above all, from the very worst things on our screens, the cursed news of the outside world — escalating numbers, civic decay, gangs of elderly men behaving like children.

Please, sit down. I’ve got a whole bag of Cool Ranch Doritos here: electric blue, plump as a winter seed, bursting with imminent joy. I found it up in the cupboard over the fridge, where by some miracle my family had yet to discover it — it had slipped sideways behind the protein powder, back near the leftover Halloween candy — so now I’m sitting here all alone at the kitchen counter, about to sail off into the salty seas of decadent gluttony. The next few minutes of my life, at least, are going to be great.“

Ich mochte die subtile Anspielung auf die plums in the icebox sehr.

„Join me. Grab whatever you’ve got. Open the bag. Pinch it on its crinkly edges and pull apart the seams. Now we’re in business: We have broken the seal. The inside of the bag is silver and shining, a marvel of engineering — strong and flexible and reflective, like an astronaut suit. Lean in, inhale that unmistakable bouquet: toasted corn, dopamine, America, grief! […] These chemicals are transcendent, Proustian, as powerful as any drug: They trigger nodes of memory that stretch back years, decades, back to old Super Bowls and family reunions, back to the outside world that I am trying to forget. Another chip. Another chip. […]

For nearly a year now, many of us have been locked in a controlled environment, a closed lab of selfhood: the Quarantine Institute of Applied Subjectivity. Our homes have become biodomes designed to study the fragile ecosystems of Us. All our neuroses and addictions and habits are under the microscope. Willpower, productivity, resilience, despair. We have turned into scientists of ourselves. And so I watch myself eating chips.“

Ich würde den gerne komplett zitieren, er ist so toll.

Tagebuch Sonntag, 17. Januar 2021 – Lesetag

Endlich Hedwig Richters Demokratie: Eine deutsche Affäre ausgelesen. Das begann ich kurz vor dem Jahreswechsel, dann kam wieder Kram dazwischen, aber immer wenn ich mich für längere Zeit an das Buch setzte, las ich gleich zwei Stunden lang. So wie auch Samstag Abend, als ich nur noch so drei, vier Seiten zum Einschlafen überfliegen wollte und dann war es plötzlich zwei Uhr morgens.

Ich erspare mir eine lange Rezension, das haben andere schon erledigt; beim Perlentaucher sieht man ganz gut die Spanne an Besprechungen, die von „Finger weg“ zu „Find ich gut“ reichen. (Hier ausführlich.) Ich mochte den gut lesbaren Schreibstil und dass oft genug darauf hingewiesen wird, dass vieles erst einmal für weiße Männer gilt und dann lange nichts kam, bis sich Dinge eben ändern. Dass genau das in einigen Kritiken bemängelt wird, kann ich nachvollziehen, aber nachdem ich hundert Bücher gelesen habe, in denen mit „Menschen“ immer „Männer“ gemeint sind, fand ich die Abwechslung sehr angenehm.

Mit dem Kapitel zum „Dritten Reich“ hadere ich etwas, weil es – natürlich – in einem Buch, das die Demokratie als eine in Deutschland längst etablierte Regierungsform feiert, ein fieser Stopper ist und sich auch eher auf Nebenschauplätzen verliert. Ein roter Faden durch das Buch ist der Fokus auf den menschlichen Körper – auch hier gerne wieder auf den weiblichen, der jahrhundertelang eher mies wegkam. Dementsprechend geht es in diesem Kapitel eher um Tod und Vernichtung, was sich ein bisschen wie eine, ganz vorsichtig formuliert, Verlegenheitslösung anfühlt, weil die nicht vorhandene Demokratiegeschichte zur NS-Zeit nur eine halbe Seite brauchen würde.

Ich wurde immerhin daran erinnert, dass auch die NS-Machthaber weiter Wahlen abhielten, auch wenn diese ihren Namen nicht verdienten, und dass auch der Reichstag vorerst weiter bestand und als Legitimation diente, obwohl er längst eine Attrappe war. Das hatte ich schon wieder vergessen. Die DDR-Volkskammerwahlen wurden mir dann etwas zu sehr in diese Nähe gerückt, und generell war mir der immer durchscheinende Antikommunismus ab und zu ein bisschen zu viel, während der Erfolg der Demokratie sehr oft mit dem Erfolg des Kapitalismus gleichgesetzt wird. So liest man zu den 1960er-, 1970er-Jahren etwas flapsig formuliert: „Glück bedeutete für viele Menschen ein Leben mit Zentralheizung, Wurst und Italienurlaub.“ (S. 288)

An generell dem Schreibstil arbeitet sich Franziska Augstein in der SZ ab. Hier ein Zitat aus ihrer Rezension, auch unter obigem Link zu finden, das mit einem Zitat aus dem Buch beginnt: „‚Demokratiegeschichte – das ist die dritte These dieses Buches – ist wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde.‘ Historiker sind nicht genötigt, gut zu schreiben. Freilich, diese Wörter sind so miserabel zusammengesucht, dass sie wehtun. Knochentrockene Sätze, wofür deutsche Historiker früher bekannt waren, sind eiernder Expressivität bei Weitem vorzuziehen.“ Das sehe ich sehr anders. Erstens lese ich hier kein Rumeiern, sondern den Versuch, eben nicht knochentrocken zu schreiben – oder so, wie es englischsprachigen Historiker:innen zugestanden wird. Zweitens, denn das kam auch in der Rezension nicht gut weg, mochte ich die Idee, eine historische Entwicklung auch als Körpergeschichte zu formulieren. Mit dieser theoretischen Richtung hatte ich mich gerade erst für einen Abstract für einen Vortrag erstmals ausführlicher beschäftigt und finde es daher noch sehr spannend, aus einer amorphen Masse Mensch, der historisch irgendwas zustößt, einzelne Menschen, einzelne Körper zu machen, über die sie immer mehr selbst verfügen können. Klar, wenn man davon schon 20 Bücher gelesen hat, mag es nichts Neues mehr sein. Ich ahne aber, dass die Masse an Leser:innen – denn für die Masse ist es geschrieben – vermutlich eher zu diesem Buch greifen wird, um einen sehr knappen Überblick über 200 Jahre Demokratie in Deutschland zu erhalten, anstatt sich in fachspezifischen Diskussionen zu ergehen.

Das einzige, was ich wirklich zu bemängeln habe, ist der Titel: „Eine deutsche Affäre“? Das hat sich mir bis zum Ausblick im Buch nicht erschlossen. Auch „Angelegenheit“ als Ersatz für dieses doch eher sexualisierte Wort passt nicht so recht, weil „Deutschland zumeist ein recht gewöhnlicher Fall der Demokratiegeschichte war“ (S. 325). Also ist Demokratie eher eine Welt-Affäre? Was noch seltsamer klingt.

Fazit: Ich mochte es, habe es gern gelesen und doch einiges gelernt bzw. wurde an einige Details wieder erinnert. Daher von mir eine Empfehlung.

Danach begann ich ein Buch, das vermutlich weitaus weniger gute Laune machen wird: Jörg Osterlohs »Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes«: Nationalsozialistische Kulturpolitik 1920–1945. Gestern schaffte ich nur die Einleitung, aber die reichte schon für fünf angekreuzte Bücher im Literaturverzeichnis, die ich für die Diss-Überarbeitung konsultieren möchte. Oder generell aus Interesse. Ich merkte allerdings schon da, dass der Forschungsschwerpunkt natürlich ein sehr anderer als mein eigener ist, was sich auch in ein paar Allgemeinplätzen zeigte, die bildende Kunst betreffend, die hier nur eine kulturelle Richtung unter vielen ist (Radio, Presse, Theater, Musik). Ich dachte wieder über Forschung über Täter und Opfer nach und fragte mich, wie so oft in den letzten Jahren, ob ich mir die falsche Seite ausgesucht hatte, über die ich mehr wissen will.

F. und ich zogen am Freitag zur Date Night wieder Gesprächskarten, das macht Spaß, sich Themen zuzuwerfen. Dieses Mal wollte die Karte „3 gute Romane“ von uns wissen. F. fing an und nannte Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und Joyces Ulysses, was mich beides null überraschte. Die beiden hätte ich auch genannt, einfach weil sie für mich beide einmalige Leseerlebnisse waren (Proust, Joyce). Seine dritte Wahl war Hermann Brochs Tod des Vergil, an den ich mich noch nicht herangetraut habe.

Gegen diese drei Werke konnten meine nur abstinken, aber ich entschied mich als erstes für Jeffrey Eugenides’ Middlesex, denn mit Familiengeschichten kriegt man mich immer. Danach nannte ich Alex Garlands The Beach, ja, schon gut, aber das ist das einzige Buch, das ich durchlas – und sofort noch einmal von vorne begann, weil ich es nicht aus der Hand legen wollte. Mein drittes Werk war ein Feuchtwanger, der musste in die Liste; ich entschied mich für Exil, weil ich das von den drei Werken der Wartesaal-Trilogie am besten fand. Am anstrengendsten und schmerzhaftesten, aber eben auch am besten.

Erst als ich wieder vor dem Bücherregal stand, fiel mir noch Donna Tartt ein, deren Secret History ich seit 20 Jahren nochmal lesen will, aber dann doch nicht. Oder Douglas Coupland, von dem ich bis auf einen alle Romane besitze, aber ich ahne, dass seine Werke eher Zeitkapseln sind, die sind vermutlich nicht wirklich gut gealtert.

Tagebuch Samstag, 16. Januar 2021 – Ausgeschlafen

Vielleicht ist es doch ganz gut, dass wir nicht zusammenwohnen und öfter gemeinsam einschlafen. Ich wache dann nämlich sehr selten bis nie zu meinen gewohnten Zeiten auf, sondern erst gegen 9 oder noch später und dann ist der halbe Tag schon rum schockschwerenot protestantische arbeitsethik etc.

Zum Karma-Ausgleich erstmal den Backofen geputzt. Und danach gleich den restlichen Pâte-Sablée-Teig von vorgestern aufgebraucht, mit dem ich weitere Tarteletteförmchen auskleidete. Das war sehr meditativ. Als das Backwerk fertig war, übte ich dramatische Belichtungen mit der Kamera, war aber leider recht schnell gelangweilt. Ich gucke mir Fotos weiterhin lieber an als sie selbst zu machen. Oder esse, was in ihnen abgebildet ist.


Hier spiele ich an der Blendenöffnung rum und habe auf irgendwas scharfgestellt. Normalerweise würde ich natürlich fürs Blog den Bildausschnitt verkleinern, aber ich lasse das mal so. Dass das Tartelette zu weit oben auf dem Teller liegt, macht mich weiterhin wahnsinnig. Es ist faszinierend, was ich alles nicht mehr sehe, wenn ich durch ein Objektiv gucke bzw. bei meiner Kamera auf ein Display.

Die Hamburger Kunsthalle hat das Werkverzeichnis – oder wie wir cool kids sagen, den Catalogue raisonneé – der Gemälde von Max Beckmann online gestellt. Darin habe ich mich gestern erstmal etwas länger verloren und bin ziemlich begeistert. Das einzige, was einen Hauch nervt, ist das Wasserzeichen auf den Abbildungen. Beckmanns Werke sind seit diesem Jahr gemeinfrei, weswegen sie überhaupt im Internet gezeigt werden dürfen, aber ich ahne, dass es trotzdem schwierig wäre, alle Bilder in downloadfähiger Größe und Qualität anzubieten. Einzelne Institutionen kriegen das hin, siehe das Rijksmuseum oder der Prado, aber das alles zusammenzusammeln, wäre vielleicht doch zuviel Extraarbeit gewesen.

Man kann nach verschiedenen Kriterien suchen bzw. einfach blättern; ich habe mich nochmal durch die Stillleben geklickt, von denen ich einige 2014 in der Kunsthalle sehen konnte. (Hatte ich nicht gesondert verbloggt, stelle ich gerade missmutig fest.) Wenn man wissen will, welche Bilder im Exil in Amsterdam entstanden ist, geht das auch, man kann sich eine bestimmte Zeitspanne auswählen oder auch nach Bildinhalten suchen. Unter jedem Bild sind die wissenschaftlichen Angaben zu finden: Was haben wir denn da überhaupt vor der Nase, wo war das Werk ausgestellt (auch die Preisentwicklung fand ich spannend), wie ist die Provenienz, und, danke für diese Arbeit: in welchen Briefen, Katalogen, Archivalien wird das Werk erwähnt. Dabei habe ich gelernt, was mir ein bisschen peinlich ist, dass sich das Beckmann-Archiv hier vor meiner Nase befindet. Ich habe mich mit Beckmann im Studium nie befasst, bis auf eine Stunde in einer Vorlesung des Doktorvaters, daher musste ich noch nie nach etwas suchen. Ich mag Beckmanns Arbeiten aber sehr gerne und freue mich immer, sie zu sehen.

Wie ich vor wenigen Tagen in einem Thread wieder merkte, ist es manchmal ganz nett, nichts Genaueres über die Person hinter den Werken zu wissen, damit einem die Werke nicht madig gemacht werden können. Die Tragödie um Ana Mendieta kannte ich schon, aber ich mag Carl Andres Kunst (leider?) trotzdem.

Aus dem Newsletter Phoneurie lernte ich, dass man sich beim Smithonian nicht nur Abbildungen runterladen kann, sondern sogar 3D-Druckvorlagen.

Auch Theresa Bücker verschickt nun einen Newsletter.

Als Rausschmeißer mal wieder Tom Gauld, den ich sehr mag.