Tagebuch Mittwoch, 30. August 2023 – Archivkartons

Von den sechs Kartons, die für mich bereitlagen, habe ich immerhin zwei geschafft, die Jahre 1925 bis 1933. 14 Seiten vollgetippt. Ich bin gespannt darauf, wieviele Seiten es heute werden. Vermutlich werde ich die restlichen vier Kästen, die die Zeit bis 1945 umfassen, nicht komplett beackern können.

Eine Praktikantin sah mir kurz über die Schulter und meinte, das müsse seltsam sein, diese Akten zu lesen, weil man ja wisse, was noch passieren wird. Ja, ist es. Meine Laune wurde auch zunehmends schlechter, je näher es dem Januar 1933 entgegenging. Das ist immer der seltsame Zwiespalt, in dem ich mich befinde: Die Arbeit in Archiven mit Originalquellen macht mir unglaublich viel Spaß und ich empfinde sie als sehr sinnstiftend und erfüllend. Auch weil ich weiß, wie wichtig es ist, nicht nur Geschichtsbücher und Nacherzählungen zu lesen, sondern die Originaltöne vor mir zu haben, die Sprache von damals, die Worte, die nicht beschönigt oder verharmlost werden können. Aber gleichzeitig macht genau das natürlich so dermaßen überhaupt keinen Spaß. Ich habe diese innere Zerrissenheit immer noch nicht verstanden, aber ich weiß, dass ich nach Archivtagen völlig erschlagen bin von all den Widerwärtigkeiten, die man den ganzen Tag vor Augen hat.

Nur noch Serien geguckt, gegessen und ins Bett gefallen, mehr ging gestern nicht mehr. Freuen Sie sich jetzt schon auf den Blogeintrag von morgen, wo ich vermutlich diesen Eintrag copypasten werde.

Tagebuch Dienstag, 29. August 2023 – Am Schreibtisch, knurrend

Den ganzen Tag zum Themenkomplex NS gelesen, was ich halt so mache. Dabei über diese Sätze gestolpert und länger nicht aus dem Hinterkopf bekommen, auch im Hinblick auf unsere heute politische Landschaft:

„München ist der Ort, an dem sich die NSDAP als politisch wirkungsvolle Kraft formuieren, konsolidieren und weiterentwickeln konnte. […] Damit sich die NSDAP als politische Kraft etablieren und erfolgreich entwickeln konnte, waren gesellschaftliche Rahmenbedingungen und mentale Grundhaltungen erforderlich, wie sie in der bayerischen Hauptstadt offensichtlich stärker verankert, vorhanden und nutzbar waren als in anderen Städten. München lag in den 1920er Jahren nicht an der Peripherie der Reaktion, sondern bildeten deren eigentliches Zentrum.“

Elisabeth Angermeier, Andreas Heusler: „Münchner Kulturpolitik im Nationalsozialismus“, in: Henning Rader, Vanessa-Maria Voigt (Hrsg.): „Ehemals jüdischer Besitz.“ Erwerbungen des Münchner Stadtmuseums im Nationalsozialismus, München 2018., S. 78–85, hier S. 79.

Der Begriff „mentale Grundhaltung“ hat mich kurz innehalten lassen. Ich hadere quasi seit den ersten politischen Erfolgen der AfD damit, dass derartige Wahlergebnisse in diesem Land überhaupt (wieder) möglich sind. Wo nach den Erfolgen der NPD Ende der 1960er Jahre noch ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber herrschte, dass diese Ergebnisse eine Schande sind und gefälligst abzustellen, bröckelte diese Front in den 1990ern erneut, als die Republikaner plötzlich in Bayern Stimmen bekamen. Oder in Hamburg der beknackte Richter, dessen Namen ich nicht googeln will (edit: Ronald Schill). Aber auch dort folgten auf das Entsetzen deutliche Ansagen, dass mit diesen Parteien keine gemeinsame Sache gemacht wird, weswegen sie bei den nächsten Wahlen wieder nichts mehr zu sagen hatten.

Anders ist es mit der AfD. Ich will nicht zu viel auf die beängstigenden Umfragen geben, die derzeit durch alle Medien gereicht werden, denn in Umfragen rumzublöken ist immer noch etwas anderes als zur Wahl zu gehen und abzustimmen. Trotzdem hat sich die AfD als politische Kraft etabliert und das sogar im Bundestag, was mich weiterhin fassungslos macht. Von den Reaktionen und Appeasements der CDU/CSU will ich gar nicht anfangen, und auch Aiwangers Flugblatt lasse ich hier unkommentiert, ihr wisst das alle.

Aber seit gestern hat sich meine Aufmerksamkeit etwas verschoben. Wo ich bisher immer darauf gehofft hatte, dass der Teil der Bevölkerung mit einer gesichert rechtsextremen Einstellung klein bleibt, macht mich die oben angesprochene „mentale Grundhaltung“ jetzt sehr nervös. Die Abgrenzung zur AfD ist nicht deutlich genug, die Vertreter*innen dieser Partei, für die ich besonders gern ein Gendersternchen benutze, können relativ ungestört ihr Gedankengut verbreiten und damit den Boden bereiten für eine Haltung und ein gesellschaftliches Klima, die sich immer mehr nach rechts neigen könnten.

Die Versuche, diese Partei zu bezwingen und ihren Fans zu sagen, dass ihr Gedankengut nicht bürgerlich oder freiheitsliebend, sondern im Gegenteil faschistisch ist, müssen deutlicher und konsequenter werden. Auch das ist uns, die wir diese Partei niemals wählen würden, sehr klar. Ich würde mich freuen, wenn es auch allen anderen klar werden würde. Bröckelnde Brandmauern bringen uns nicht weiter, genauso wenig, wie mit Rechten zu reden, hallo, Sommerinterview und DLF. Keinen Fußbreit weiter.

Und dass Holocaustverharmlosung wieder en vogue wird, macht mich nicht weniger nervös. (Aus der FAZ von Stephan Malinowski, dank archive.ph auch ohne Paywall lesbar.)

Die Logik der Täter

„Bereits vor Jahren hatte Moses die Deutung des Holocaust als „subaltern genocide“, also ein Genozid der Unterworfenen gegen die Herrscher, entworfen. Diese besagt, die Deutschen hätten sich in einer „kolonialen“ Unterjochung durch die Juden geglaubt. So wird die Ermordung der europäischen Juden zum imaginierten Teil eines antikolonialen Befreiungskampfs. Breite Pinselstriche und freie Assoziationen dieser Art lassen Formulierungen erblühen, die methodisch und stilistisch an Ernst Noltes perfide Sprachspiele der Achtzigerjahre erinnern – hier erscheint die Schoa als der „radikalste Fall präemptiver Gegenwehr der Weltgeschichte“. Für erklärungsstark hält Moses zudem die Figur der „verängstigten Patrioten“, die – in ihrem „paranoiden“ Selbstverständnis – im Namen der Sicherheit agiert hätten.

Viele dieser Formulierungen muss man mehrfach lesen, bis man glaubt, dass sie dort wirklich gedruckt stehen: „Die Einsatzgruppen verkörperten den Sicherheitsimperativ im Feld.“ Die Behauptung, Täter hätten sich vor allem in einer Art Gefahrenabwehr gesehen, müsste noch gegen den Forschungsstand durchgesetzt werden. Die Krankenmorde im Rahmen der T4-Aktion, die Ermordung der Sinti und Roma, die Jagd auf jüdische Kleinkinder auf Rhodos, in Amsterdam oder Bordeaux, ihr Transport quer durch Europa an Orte, deren einziger Zweck in der Ermordung der größtmöglichen Zahl einzelner Menschengruppen bestand, die Entkoppelung der Mordprozesse von militärischer und ökonomischer Logik – all das lässt sich damit nicht verbinden.“

Tagebuch Montag, 28. August 2023 – Wiechert

„Er machte sein Buch fertig, ohne rechte Freude. Es schien ihm ein Fehler darin zu liegen, daß er danach trachtete, seine Gedanken der Welt darzubieten. Die Welt konnte von Gedanken bewegt werden, aber war es nicht wie mit einem Pendel, das man mit der Hand über die beiden Ruhepunkte hinaustrieb? Die Uhr wurde doch nicht von dem bewegt, was jenseits der Punkte lag, sondern nur von dem, was zwischen ihnen schwang.

Und nun gar die Gedanken über Gott. Wer hatte ein Recht zu sagen: »Dies ist mein Gott, und ihr müßt wissen, was ich von ihm halte?« Alle Religionen waren so entstanden, aber aus allen war Blut geflossen, weil sie so entstanden waren. Gott sollte nicht gepredigt werden, ebensowenig wie Leben, Arbeit und Liebe. Sie sollten getan werden. Sie strahlten schon von selbst, wenn Strahlendes an ihnen war. Das Wort konnte ein Fluch sein. Es war der Klang, der die Lawinen löste. Es verdarb den Gang des Lebens. Das Brot, die Schlacht, die Zeugung, der Tod: sie entzogen sich dem Wort. Das Wort entheiligte sie. Die redenden Götter waren so verdächtig wie ein redender Stein. Die Gottheit war stumm wie die Sterne.

Er wußte so wenig. Er wollte arbeiten, vielleicht noch zehn Jahre, bis der Körper leise mahnte, daß dieser Teil seines Lebens sich schon neige. Und dann wollte er lesen. Sein Geist würde noch frisch sein, hungrig nach allen Erkenntnissen, die der Mensch jemals gewonnen hatte. Und nach seinen Irrtümern ebenso. Er sah es wie einen Dom vor sich stehen, den Bau des Menschengeistes, und es schwindelte ihn, wenn er hinaufblickte. Da war die Kunde von den Sternen und die von den Mikroben. Da waren Entdeckungen und Eroberungen, Pflanzen und Steine, Sagen und Märchen, Philosophen und Religionen. Fernrohre und Mikroskope standen da, Phiolen und Retorten, Liebesschwüre und Totenmasken, und dahinter die krausen Zeichen der Nekromanten, die niemals Gesättigten, die wie ein Gott bewegen und beschwören wollten.

Einmal sollte ihm nichts fremd sein auf dieser Erde. Er wollte es ohne Zweck wissen, die »Wunder des Universums«. Sie trugen ihren Zweck in sich, die Kraft, die Schönheit oder eben das Gesetz. Es hungerte ihn auf eine manchmal verzehrende Weise nach Erkenntnis. Er würde sie nicht mißbrauchen, er gewißlich nicht. Wie ein alter Zauberer würde er hier sitzen, eingesponnen in das Gewebe der Welten, und so lange lauschen, bis die Sphären ihm zu tönen begännen. Um ihn herum würden sie aufwachsen, begehren und hassen, lieben und vergeben. Er wußte, wie dies alles war, zeitlich und fragwürdig, schön und traurig. Er würde alt werden wie der Fischer Petrus und sich an den großen Krieg erinnern, wenn er nur noch eine Sage war, wie jener sich an die Zeiten der Beresina erinnert hatte. Das Laub würde fallen und wieder grün werden, die Gräber würden einsinken und die Kinder nach der goldenen Krone suchen. Aber er würde vielleicht einmal die Sphären tönen hören, den leisen Klang, mit dem die Achse des großen Gesetzes sich drehte. Er würde nicht Gott schauen wollen oder das Jenseits, nicht das Paradies und nicht die Hölle. Er würde nur einmal das Ganze sehen wollen, den Makrokosmos der Alten, dieses Eherne, Großartige und Gewaltige, in dem die Menschen wie Staub auf der Tenne waren.“

Ernst Wiechert: „Das einfache Leben“, München 1939, S. 298–300.

Tagebuch Sonntag, 27. August 2023 – Traurig, aber mit Fußball und Bier

Ich hatte das Mütterchen vor Wochen gefragt, ob ich zu Papas Todestag in den Norden kommen sollte, was sie freundlich ablehnte, nein, nein, das muss nicht sein. Aber am Samstagabend war mir klar, dass diese Entscheidung eine doofe gewesen war, natürlich hatte ich fahren sollen, wieso bin ich nicht gefahren. Ich telefonierte mit dem Mütterchen und dem Schwesterherz, beide waren ähnlich drauf wie ich, latent traurig, aber auch hilflos, wie man damit umgehen soll, es ist das erste Mal, das sich Papas Todestag jährt, wir wissen noch nicht, wie das geht.

Fürs nächste Jahr weiß ich jetzt aber: hinfahren, natürlich.

Es regnete gestern passenderweise den ganzen Tag, was ich eigentlich mag, denn das ist das perfekte Wetter, um mit Tee und einem Buch auf dem Sofa zu versacken und traurig zu sein. Aber ich hatte eine Karte für das Bayernspiel gegen Augsburg, die ich angenommen hatte, ohne über den Termin nachzudenken. Ich haderte ein paar Stunden und entschloss mich dann zu fahren, vielleicht ist Ablenkung gar nicht so doof. Und außerdem: F. F. ist da und dann ist alles immer besser.

Ich trug nach Monaten wieder mal eine Maske, denn die üblich volle U-Bahn zum Stadion war mir zu risikoreich. Die einzige Atemwegserkrankung der letzten dreieinhalb Jahre hatte ich mir vor wenigen Monaten in einer U-Bahn eingefangen, daher war Maske die klare Option. Ich war die einzige, ist okay, es muss niemand mehr, passt schon.

Das Nadelöhr Einlass lief perfekt, ich war eine halbe Stunde vor Spielbeginn auf meinem Platz und konnte noch ein bisschen lesen, wie schon in der U-Bahn nicht in einem Buch, sondern auf dem Handy. Denn praktischerweise lese ich ja gerade ein gemeinfreies Buch, das beim Projekt Gutenberg zu finden ist, und daher hatte ich es dank des magischen Internets dabei. Merke ich mir für die Zukunft: immer neben den anderen Büchern noch ein gemeinfreies lesen, wer weiß, wann das Täschchen, das in Stadion oder Konzertsaal okay ist, zu klein ist für den üblichen 500-Seiten-Schmöker.

Mir gefällt „Das einfache Leben“ von Wiechert übrigens deutlich besser als erwartet. Bin selbst überrascht davon.

Als F. auftauchte, merkten wir, dass wie uns nur brüllend unterhalten konnten, anscheinend war die Lautsprecheranlage über die Spielpause nochmal um 5 Dezibel hochgejazzt worden. Ein Freund meinte nach dem Spiel: „Nee, ist wie immer, man vergisst nur im Sommer, wie laut es ist.“

Augsburg fing sich zwei Deppentore ein und ein sehr schönes vom Bayern-Neuzugang Harry Kane, das ich auch brav beklatschte. Ansonsten war das Spiel ereignislos-freundlich, die Niederlage erwartet, die Temperaturen okay und immerhin auf dem Hinweg zum Stadion machte der Regen auch mal eine Pause.

Nach dem Spiel kehrten F. und ich noch hungrig und vor allem durstig in die Stammkneipe ein. Nach dem äußerst netten Besuch musste ich leider eine Nebenwirkung des Älterwerdens feststellen, die mir neulich bei Tohru auch schon aufgefallen ist: Ich vertrage nicht mehr so viel Alkohol. Mit ungefähr 30 hatte ich rausbekommen, wo mein Level liegt, ab wann ich lieber auf Apfelschorle umsteigen sollte und was ich gar nicht gerne trinken und daher gleich freundlich ablehnen sollte. Dieser Erfahrungshorizont hat anscheinend bis 54 was getaugt, aber jetzt merke ich leider, dass ich Anpassungen vornehmen muss. Sehr doof – wir sind gerade dabei, uns das Burgund zu ertrinken und das ärgert mich jetzt schon, dass ich nun anscheinend zu den kleineren Portionen verurteilt bin. Oder halt eine eher miese Nacht mit Schwindel und Kopfschmerzen hinnehmen muss. Was ich sehr wahrscheinlich eher selten hinnehmen will, denn mein Schlaf ist mir heilig und lieb.

Andere Nebenwirkung des Älterwerdens: Ich liebe den Hashtag „Bloomscrolling“ bei Mastodon und abonniere alle Fotograf*innen mit Blümchenbildern auf Insta.

27. August 2023

Ein Jahr ohne Papa.

Tagebuch Freitag, 25. August 2023 – Bratkartoffeln

Bei 29 Grad Lust auf Bratkartoffeln mit Ei gehabt. Warum nicht.

“That’s it? It’s over? I was 30. What a brutal business”: pop stars on life after the spotlight moves on

Was machen Popstars, wenn sie keine mehr sind? Nick Duerden hat nachgefragt.

„And so, armed with a batch of potentially indelicate questions – because who likes to discuss failure? – I began to reach out to musicians from various genres and eras, those who hadn’t died young, but were still here, still working, to ask them what it was like in the margins.

A great many never bothered to respond. Others enthusiastically agreed, only to later bail out. The guitarist from one of America’s most stylish modern rock acts, someone whose skinny jeans no longer fit quite as well as they used to, was initially keen, but cancelled at the last minute because, his manager informed me, “his head just isn’t in the right place to discuss this right now. It’s a difficult subject.” Those who did speak, however – 50 in total, from Joan Armatrading to S Club 7; Franz Ferdinand to Shirley Collins – were endlessly revealing and candid in a way they would never have been at the peak of their fame. I sensed they enjoyed the opportunity to talk again, to be heard above the din of Ed Sheeran and Adele and Stormzy. All were humble, replete with wisdom, resolute. (Many were divorced, too; at least one was high.)

They’re the true Stoics, I realised. We could learn a lot from them.“

(via nobilor)

Wohin kann fliehen, wer dableibt?

Die FAZ über Dominik Grafs neuen Dokumentarfilm, in dem Anatol Regnier quasi sein Buch erzählt, das ich im März von ihm vorgelesen bekommen habe. Zum Film kann ich nichts sagen, ich werde ihn vermutlich nicht sehen, ich habe noch nicht mal „Barbie“ gesehen und bin davon eh übersättigt, aber das Buch „Jeder schreibt für sich allein“ empfehle ich weiter. Über das Buch bin ich über Ernst Wiechert gestolpert, den ich aus dem Bücherregal meiner Mutter kenne. „Der Totenwald“, aus dem ich neulich zitierte, ist aus dem Norden mit mir nach München gereist, und in einem Antiquariat in Halle fand ich „Das einfache Leben“, das ich jetzt gerade lese.

„Das Rätsel ist die Haltung von Hans Fallada, der sich vielleicht anschickte, einen Roman zu schreiben, der es an Gewicht mit Veit Harlans antisemitischem Hauptwerk „Jud Süß“ aufnehmen hätte können. Es liegt allerdings keine Zeile davon vor, obwohl es einmal ein Konvolut von mehr als tausend Seiten gegeben haben muss. Die ­Literaturwissenschaft konnte dazu einiges in Erfahrung bringen. Anatol Regnier und Dominik Graf aber interessieren sich vor allem für das Rätsel. Wie verhält sich der vielleicht erfolgreichste Autor der Dreißigerjahre während der NS-Herrschaft? Regnier hat ein Sachbuch über Schriftsteller geschrieben, die nach 1933 in Deutschland blieben: „Jeder schreibt für sich allein“ (2020). Und Dominik Graf hat nun einen Film zum selben Thema gemacht, mit Regnier als wichtigstem Protagonisten. Gottfried Benn, Erich Kästner, Hans Fallada, Will Vesper, um sie alle geht es in den beinahe drei Stunden, dazu auch um weniger bekannte Fälle wie Jochen Klepper oder Ina Seidel. Und dabei immer um die Frage: Wie kann man sich zu diesen Lebensläufen verhalten?“

Tagebuch Donnerstag, 24. August 2023 – Nochmal Alltag

Vor der Arbeit gedrückt und einen neuen Wikipedia-Artikel zu Franz Hofmann geschrieben, den ich ohne meine Arbeit nicht hätte schreiben können. Wie immer schlechte Laune gehabt. Nicht wegen der Arbeit an sich, sondern wegen der Inhalte und Personen. Das bleibt mein ewiger Zwiespalt: Es macht mich so glücklich zu forschen, zu lesen, in Archiven zu wühlen und in Bibliotheken, aber die Erkenntnisse dieser Arbeiten sind halt selten dazu geeignet, vor sich hinzupfeifen und die Welt toll zu finden. Eher das Gegenteil.

Tagebuch Mittwoch, 23. August 2023 – Alltag

Schreibtischtag. Happy Hunting in Ausstellungskatalogen und Datenbanken.

Festgestellt, dass eingefrorener Kuchen bei 30 Grad im gefrorenen Zustand super schmeckt und quasi beim Essen auftaut.

Abends die Henkersmahlzeit für eine Mücke gewesen.

Tagebuch Dienstag, 22. August 2023 – Zwei Zitate

In den letzten zwei Büchern, die ich las, fiel mir eine unerwartete Gemeinsamkeit auf, die das Urteil über Menschen betreffen. Musste wieder an den sprichwörtlichen „Firnis der Zivilisation“ denken. Außerdem an die Fassungslosigkeit der Hauptfiguren, die sich durch beide (halb-fiktionale) Bücher zieht und die ich, natürlich, auch aus anderen Aufzeichnungen von Häftlingen kenne. Diese komplette Verständnislosigkeit der sinnlosen Grausamkeit gegenüber, die Menschen anderen Menschen gegenüber ausüben. Weil sie es auf einmal können.

„Es läßt sich schwer beschreiben, was Johannes seit seiner Ankunft im Lager empfand. Es war nicht so sehr das Gefühl des Schreckens oder der Verstörung oder einer dumpfen Betäubtheit. Es war vielmehr die Empfindung einer immer zunehmenden Kälte, die aus einem bestimmten Punkt seines Innern sich immer weiter ausbreitete, bis sie seinen ganzen Menschen erfüllte. Es war ihm, als erfriere sein bisheriges Leben und seine ganze Welt und als könne er nur noch wie unter einer blinden Eisdecke auf etwas ganz Fernes blicken, und in dieser Ferne bewegten sich lautlos und unwirklich die Gestalten seines bisherigen Daseins, seine geliebten Menschen, seine Bücher, seine Hoffnungen und Entwürfe. Alle schon von dem Keim des Todes gezeichnet, dem Verfall anheimgegeben, sinnlos in einer Welt, in der diese Pfarrerssöhne herrschten. Er fühlte, wie die eisige Kälte seine Träume zerbrach, wie der Frost die Blütenstengel zerbricht, wie durch das Bild Gottes ein Sprung hindurchlief, der nicht mehr heilen würde, und wie nur eines sich lautlos und ungeheuer vor ihm aufrichtete, was er früher gerne mit Träumen und Wünschen verziert und bekleidet hatte: die nackte, erbarmungslose Wirklichkeit, das Gesicht des Menschen, wie es war, wenn man ihm Macht gab, ihn der Fesseln entkleidete und ihn zu dem zusammenballte, was man »Masse« nannte.“

Ernst Wiechert, „Der Totenwald“, Leipzig 1989, S. 55. 1937 geschrieben, 1946 veröffentlicht, Buch bei der Wikipedia, Buch bei Suhrkamp, ganzer Text bei Gutenberg.

„‚You don’t know what makes anybody tick. I used to think out there is out there and then once you’re in here, you’re in here. That everybody in Nickel was different because of what being here does to you. Spencer and them, too – maybe out there in the free world, they’re good people. Smiling. Nice to their kids.‘ His mouth squinched up, like he was sucking on a rotten tooth. ‚But now that I been out and I been brought back, I know there’s nothing in here that changes people. In here and out there are the same, but in here no one has to act fake anymore.‘“

Colson Whitehead, „The Nickel Boys“, London 2019, S. 79. Pulitzer-Würdigung.

Tagebuch Montag, 21. August 2023 – Gelernt:

Bisher habe ich Muhammara, einen meiner liebsten Dips, nicht allzu oft zubereitet, weil das Rösten und Abziehen von Paprika manchmal nervt. Bei 30 Grad noch mehr. Aber: Meine liebste Vegan-YouTuberin bastelte das herrliche Zeug neulich mit, wer hätte es gedacht, Paprika aus dem Glas. Davon hatte ich sogar eins. Nachgebaut, probiert, mache ich jetzt immer. (In mein Muhammara kommt kein Granatapfelsirup.)

Eine andere Dame, der ich gerne auf YouTube zuschaue, kocht auch ab und zu in ihren Videos. Im neuesten zeigt sie Tofu, was mich jetzt nicht überraschen konnte, aber: Ihre Frühlingszwiebeln kamen schon vorbereitet in Ringe geschnitten aus der Plastikbox.

Ich preppe meine Möhren nach dem Kauf immer, schäle sie und schneide sie so zurecht, dass sie in meine Box passen, die im Gemüsefach steht. Wenn ich sie verwenden will, muss ich sie nur noch in Juliennes verwandeln. Es ist vermutlich zeitlich ein ähnlicher Aufwand, alle Möhren erst bei der Zubereitung zu schälen, aber ich mag das, immer fertige Sticks zu haben. Und weil meine Frühlingszwiebeln gerne mal trockene Blätter bekommen, ganz egal wie oft ich sie in asiatisch angehauchte „Alles muss raus“-Teller werfe, preppe ich jetzt auch meine Zwiebeln.

Außerdem gelernt, wie groß mein Kopfumfang ist. Werde wohl doch allmählich einen Fahrradheln kaufen wollen.

Die Geschichte von Baťa, via dieses Tröts.

Es ist 2023. Ich vergesse seit der offiziellen Pandemiezeit echt manchmal, welches Jahr wir haben, weil die letzten drei Jahre ineinander schwimmen. Dass es 2023 ist, merkte ich mal wieder an einer Rezension von Michael Wildt, die sich mit Büchern zum Jahr 1923 beschäftigt. Ich schätze Wildt sehr, und hier erinnert er erstens daran, dass es meist Männer sind, die über Geschichte schreiben bzw. die publiziert und rezensiert werden, und zweitens, dass es heute auch andere Möglichkeiten gäbe, sich mit Geschichte und ihrer Darstellung auseinanderzusetzen.

Rezensionsessay: 1923 als Kristallkugel?

„Das Jahr 1923 macht auf dem Büchermarkt Furore. Das mag zum einen an der „Jubiläumitis“ (Marco Demantowsky) liegen, die uns mit einem 100-Jahre-Schlepptau immer neue Anlässe bietet, Aufmerksamkeit und Kaufverhalten zu stimulieren. Zum anderen bündelt dieses Jahr wohl wie kein anderes die Stereotypen von der Weimarer Republik, die medial derzeit en vogue sind: Babylon Berlin, Grusel und Faszination, Tanz auf dem Vulkan. Und in der Tat entsprechen eine Reihe von Neuerscheinungen zum Jahr 1923 exakt diesen Erwartungen, indem sie – frei nach der so erfolgreichen Vorlage von Florian Illies‘ „1913“ – wie im Zeitraffer kurze Episoden, biografische Abrisse, Ereignisse aus der Welt der Kultur präsentieren, meist sogar mit der chronologischen Struktur des Kalenders, um ein Zeitbild dieses Jahres einzufangen. Es ist aber auch eine erstaunliche Vielzahl von geschichtswissenschaftlichen Büchern erschienen, die den Anspruch erheben, im Jahr 1923 gewissermaßen den Nukleus der Ambivalenz der Weimarer Republik zu erkennen, eben nicht als Menetekel ihres Scheiterns, sondern auch als Möglichkeit, der Krise zu entkommen. […]

Alle vier Bücher von Jones, Longerich, Reichel und Ullrich offenbaren ein grundsätzliches Problem der Narration. Denn die Fokussierung auf ein Jahr, in dem sich so viel parallel ereignet, lässt sich kaum in die Form einer linearen Erzählung, die ein Buch darstellt, bringen. […] Vielleicht ermuntern die eingangs erwähnten, konventionell konzeptualisierten feuilletonistischen „Jahresbücher“, die zweifellos vor allem einer Marktlogik folgen, dazu, auch wissenschaftlich neue, kreative historische Erzählformen zu finden, weit stärker als bisher mit visuellem Material oder mit digitalen Elementen zu arbeiten, um die strenge lineare Narration zu durchbrechen und mit hybriden Hypertexten zu experimentieren.“

Tagebuch Sonntag, 20. August 2023 – Lucille Clifton

Sehr lange auf dem morgendlichen Balkon gesessen mit dem derzeit üblichen Glas Lungo und ordentlich Milchschaum, plus Wasser, alles auf einem silbernen Plastiktablett, das ich mal wieder vom Mütterchen überreicht bekommen habe beim letzten Besuch, „nimm mit“. Ein Buch ausgelesen, das hatte ich peinlicherweise gestern schon im Blogeintrag vermerkt, den ich nach dem Morgenbalkon verfasst hatte, ein neues angefangen, nämlich „The Nickel Boys“ von Colson Whitehead. Steht seit Ewigkeiten auf meinem Wunschzettel, aber als ich Freitag in der Stadtbücherei meinen neuen Ausweis bekam und danach durch die Regale schlenderte, stand es vor mir, schön auf Englisch, gleich mal mitgenommen. Bibliotheken rocken in jeder Form.

Es ist zu warm. Kann den Samstag nicht erwarten, wo es endlich tagsüber weniger als 30 Grad werden sollen.

Viel Gemüse und Obst geschnippelt, weil nicht so wirklich kochlustig bei über 30 Grad. Die Fruchtfliegen leben ihr best life, aber ich habe Balsamicoessig und Spülmittel und deswegen ist ihr best life in meiner Küche recht kurz.

In einem Artikel im „Atlantic“ stand, dass die Serie „ER“ überraschend gut gealtert sei. Gleich mal die ersten vier Folgen gerewatcht. War okay, aber es hat mich fertig gemacht, dass diese Folgen 1994 entstanden sind. 29 Jahre! Damals war ich ein anderer Mensch! Oder habe ich nur ein anderes Leben gelebt? Denke immer noch darüber nach.

(Ich kann den verlinkten Artikel hinter der Paywall nicht verschenken. Warum nicht, Atlantic? Knurr.)

Im Artikel fand ich auch ein Gedicht, das ich gleich mal vertrötet habe. Hier ist es nochmal:

i am not done yet

as possible as yeast
as imminent as bread
a collection of safe habits
a collection of cares
less certain than i seem
more certain than i was
a changed changer
i continue to continue
what i have been
most of my lives is
where i’m going

Lucille Clifton

Ellen Cushing, die im Artikel zu ihrer kulturellen Nutzung befragt wurde, antwortete auf die Frage „A poem, or line of poetry, that I return to“ nämlich:

„I am a generally sloppy and frustrated baker, but every time I try, I find myself repeating—as a sort of incantation—the vivid, compact, flawless opening lines from “i am not done yet,” by Lucille Clifton: “as possible as yeast / as imminent as bread.” It’s a poem about becoming, about the endless act of inching closer to who we are meant to be. It says, We are never finished. It says, Maybe today is the day you wait long enough for your dough to rise.“

Tagebuch Freitag/Samstag, 18/19. August 2023 – Urlaub

Meinen Ausweis der Stadtbücherei … ich möchte schreiben: verlängert, aber da ich die Karte irgendwie verschlampt habe, bekam ich eine neue, die dann etwas Geld gekostet hat, ist okay, Strafe muss sein. Dann den erneuten Jahresbeitrag gelöhnt, und jetzt kann ich für 25 Euro ein Jahr lang Filme gucken und Zeitung lesen. Und Bücher ausleihen, ist klar.

Das Abschiedsgeschenk aus dem Lenbachhaus war ein Büchergutschein, den ich gleich mal in der Munich Readery einlöste. Und hey, nur ein Buch gekauft, das ich seit Jahren besitze! Vorhaben für die Rente: einen Katalog für die eigenen Bücherregale anlegen.

Klaus Manns „Mephisto“ sowie Ernst Wiecherts „Der Totenwald“ beendet. Wenn ich Ihnen beides ans Herz legen bzw. für den eigenen Bücherstapel empfehlen dürfte? Gibt’s doch bestimmt günstig bei antiquariat.de.

Bei antiquariat.de ein Buch erworben, das mir eine der Lenbachhaus-Provenienzforscherinnen empfohlen hatte. Das hatte ich natürlich schon vor Jahren in der Stabi gelesen, aber sie meinte, die Anschaffung würde sich lohnen. Ja dann.

Weiter mit meinem Aquarellkasten rumgespielt, diverse YouTube-Videos geguckt. Bin jetzt von Tutorials gewechselt auf Menschen, denen ich einfach beim Malen zugucke. Fühle mich sehr rentnerig beim Blümchenpinseln, aber auch ziemlich entspannt und gut gelaunt.

Dass bei der Nationalhymne, die stets bei der Bundesligaeröffnung gespielt wird, das halbe Stadion pfeift anstatt mitzusingen, gibt mir Hoffnung darauf, dass dieses Land doch noch nicht ganz verloren ist.

Fußball geguckt, gelesen, gekocht, die Hitze ertragen, geschlafen, den Kopf ausgemacht.

Mit Turner auf Reisen

Meine letzte Amtshandlung in der Elternzeitvertretung im Lenbachhaus war ein Blogeintrag zur Turner-Ausstellung, die im Oktober eröffnet wird. Der Eintrag inklusive der meisten Zitate beruht fast komplett auf dem Buch „Turner. The Extraordinary Life and Momentous Times of J.M.W. Turner“ von Franny Moyle.

Wer mag, kann zum Lenbachhaus rüberklicken und ihn dort lesen. Wer ein paar Links zu Bildern und der Wikipedia möchte, bleibt hier:

Ab dem 28. Oktober zeigen wir „Turner. Three Horizons“ im Kunstbau. Die Werke von Joseph Mallord William Turner (1775–1851) erzählen auch von seinen vielen Reisen durch die Natur in Großbritannien und Europa.

Turner fiel bereits als Kind durch seine Landschafts- und Architekturzeichnungen auf, weswegen er schon mit 14 Jahren ein Stipendium an der Royal Academy of Arts in London erhielt. Dort gab es allerdings keinen Lehrstuhl für Landschaftsmalerei; sie galt erst im 19. Jahrhundert als akademische Gattung. So brachte sich der junge Turner die nötigen Fähigkeiten selbst bei, vor allem durch intensives Naturstudium. Nach und nach verließ er London für immer weitere und längere Reisen – zunächst durch England, Schottland und Wales und ab 1802 auch durch Europa.


?Margate: The Great Beach with the Pier and Lighthouse and Jarvis’s Landing Place at Sunset“, c. 1829–40, Joseph Mallord William Turner.
© Tate, Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)

Ende des 18. Jahrhunderts war Reisen eher beschwerlich als erholsam. Viele wohlhabende Bürger*innen reisten daher lieber in ihrer Vorstellung, indem sie Gemälde und Drucke mit Landschafts- oder Stadtmotiven kauften. Noch im 17. Jahrhundert zeigten diese Ansichten oft kontinentaleuropäische Szenerien. Zu Turners Zeit begann eine anhaltende Faszination für die englische Landschaft und ihre Bauten, Klöster, Schlösser und Landsitze. Das lag auch am Krieg gegen das revolutionäre Frankreich, der den Kontinent für viele britische Reisende schwerer zugänglich machte. Einer der ersten Orte, die Turner als junger Mann bereiste, war Margate im Osten Englands. Hier sah er zum ersten Mal das Meer, das ihn zeitlebens als Motiv begleiten sollte.


Cader Idris: A Stream among Rocks near the Summit“, 1798, Joseph Mallord William Turner. © Tate, Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)

Um unterwegs arbeiten zu können, trug Turner eine Art Reiseaquarellkasten mit sich. In einer kleinen Ledertasche verwahrte er Aquarelltabletten, die in Wasser aufgelöst wurden. Während frühere Künstler*innen sich ihre Farbpigmente noch selbst mischten, konnte Turner auf fertige Farben zurückgreifen, die er dann in der gewünschten Stärke anrührte. Die Skizzenbücher, die der Maler auf seinen Reisen zu Dutzenden benutzte, sind bis heute erhalten geblieben. Eine Seite aus dem Hereford Court Sketchbook zeigt den Bergrücken Cader Idris in Wales. Offensichtlich geriet Turner beim Malen in einen Regenschauer, denn die Seiten sind mit Wassertropfen übersät. Der Maler Joseph Farington schrieb in seinem Tagebuch, dass Turner 1798 in Süd- und Nordwales unterwegs gewesen sei: „alone and on horseback – out 7 weeks – much rain but better for effects.“

Im März 1802 beendete der Friede von Amiens den Zweiten Koalitionskrieg, in dem Großbritannien unter anderem gegen Frankreich gekämpft hatte. Nachdem der Ärmelkanal neun Jahre lang für Tourist*innen gesperrt gewesen war, nutzte Turner nun die Gelegenheit, nach Frankreich zu reisen. Er war nicht allein: Im September 1802 befanden sich laut eines Chronisten mindestens 12.000 britische Gäste in Paris. Auch viele von Turners Malerkollegen reisten in die französische Hauptstadt, denn seit 1793 war der Louvre ein öffentlich zugängliches Museum. Der britische Emissär in Paris beschwerte sich in London über die große Menge an Reisepässen, die er ausstellen musste – auch an Parlamentarier, die teilweise nur für einen Tagesausflug nach Calais fuhren. Turner besuchte mit Farington und anderen Freunden verschiedene Ausstellungen zu französischer Kunst, die er allerdings eher negativ beurteilte: „very low – all made up of Art.“ Damit meinte er, dass die nachrevolutionäre Kunst auf ihn sehr stilisiert wirkte und – in seinem Sinne – wenig natürlich.

Turner hatte neben Paris noch ein anderes Ziel: die Alpen. Auf dem Weg dorthin fertigte er über 100 Zeichnungen an, auf deren Grundlage in den Folgejahren mehrere Aquarelle und Ölbilder entstanden. Er berichtete Joseph Farington über seine Eindrücke der mächtigen Massive: „The country on the whole surpasses Wales; and Scotland too.“ Der Maler nahm bei der Darstellung dieser beeindruckenden Bergketten Bezug auf das philosophische Konzept des „Erhabenen“, das auf Edmund Burke zurückgeht. Laut Burke war Schönheit beruhigend, während Erhabenheit, „Sublimity“, durch Größe und Herrlichkeit fast erschreckend sein sollte. Viele von Turners Werken zeigen bedrohliche Naturgewalten, die durch seine Darstellung dennoch überwältigend schön wirken. Diese Erhabenheit wurde allerdings nicht von allen geschätzt. George Beaumont, der später Mitbegründer der National Gallery werden sollte, befand, dass einer von Turners aufgewühlten Himmeln wie „Erbsensuppe“ aussähe; ein anderer Kritiker meinte, der Himmel sei von „einem Verrückten“ gemalt worden.


Sunset From the Top of the Rigi“, c. 1844, Joseph Mallord William Turner. © Tate, Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)

Das mag auch an der Arbeitsweise des Malers gelegen haben: Turner übernahm teilweise Techniken seiner Aquarelle und übertrug sie auf seine Ölgemälde. So grundierte er die Leinwände in weißen anstatt in dunklen Tönen, damit die Farben heller strahlten. Er verdünnte Ölfarbe, um sie ähnlich verarbeiten zu können wie Wasserfarbe. Und schließlich nutzte Turner nicht nur seine Pinsel und Palettmesser als Werkzeuge, sondern bearbeitete seine Werke ebenfalls mit den Händen: Er kratzte Farbe mit den Fingernägeln ab, betupfte sie mit einem Schwamm oder auch nur seinem Hemdsärmel und trug sie neu auf. Diese aufgewühlte Atmosphäre in Form und Farbe ist vor allem in seinem Spätwerk sichtbar.


House beside the River, with Trees and Sheep“, c. 1806–7, Joseph Mallord William Turner. © Tate, Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)

1805 baute Turner ein Haus außerhalb Londons nahe der Themse, behielt aber sein Quartier im Stadtzentrum weiterhin, wo er inzwischen auch eine eigene Galerie hatte, um seine Werke zeigen und verkaufen zu können. Für das neue Haus erwarb er ein Boot, von dem aus er fischte, zeichnete und sogar malte. Auch auf seinen Reisen skizzierte Turner nicht nur sitzend oder stehend in der Landschaft. Einige seiner Entwürfe sind leicht aufsichtig und lassen vermuten, dass er arbeitete, während er zu Pferd unterwegs war. Andere Skizzen sind offensichtlich auf einem Boot entstanden, mit dem Turner Flüsse wie die Themse oder die Loire abfuhr.

Mit seinen kurzen Reisen flussauf- und abwärts in Großbritannien kompensierte Turner, dass ihm Europa durch den erneuten Kriegsausbruch zwischen England und Frankreich zeitweilig wieder versperrt war. Er schuf aus seinen vielen Skizzen und Vorzeichnungen weitere Gemälde und ließ sie auch erstmals drucken. Damit folgte er einem seiner Vorbilder, dem Maler Claude Lorrain, der seine Werke damit katalogisieren wollte. Turners Vorzeichnungen sind nicht immer detailliert, aber sie genügten stets für eine kompositorische Wiedergabe. Ein Journalist, der ihn beim Zeichnen beobachtet hatte, bescheinigte dem Maler 1866, also nach Erfindung der Kamera, ein „fotografisches Gedächtnis“.


Sunset“, part of the Rheinfelden Sketchbook, 1844, Joseph Mallord William Turner. © Tate, Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)

1816, nach der Schlacht bei Waterloo, konnte Turner wieder auf den Kontinent reisen. Er bestieg in Margate ein Schiff – „Once more upon the waters! yet once more!“ – und segelte zunächst nach Belgien, bevor er nach Köln weiterreiste, von wo er den Rhein bis nach Mainz zu Fuß erkundete. Nachdem er auf dem Fluss zurück bis Bingen gereist war, brach er nach Holland auf. Sein Rucksack blieb dabei bewusst leicht gepackt: „a Book with Leaves, ditto Cambell’s Belgium [ein Reiseführer], 3 Shirts, 1 Night ditto, a Razor, a Ferrule for Umbrella, a pair of Stockings, a Wais[t] Coat, 1/2 Doz. of pencils, 6 Cravats, 1 Large ditto, 1 Box of colours.“


Venetian Festival“, c. 1845, Joseph Mallord William Turner. © Tate, Photo © Tate, CC-BY-NC-ND 3.0 (Unported)

1819 reiste Turner erstmals nach Venedig, was seine Malerei für immer verändern sollte. Der Porträtmaler Thomas Lawrence hatte in einem Brief an Farington erklärt, warum Turner unbedingt nach Italien kommen sollte – unter anderem, um die „Verschmelzung von Erde und Himmel“ in seinen unnachahmlichen Farbtönen einzufangen: „He has an elegance and often a greatness of invention that wants a scene like this for its free expansion; […] the subtle harmony of this atmosphere […] wraps every thing in its own milky sweetness.“ Turner gab die „milchige Süße“ der Lagunenstadt in einem träumerischen, zeitlosen Ausdruck wieder, der ihn zu einem modernen Maler machte. Sein Malstil veränderte sich in Italien völlig; auf einem pastelligen, fahlen Untergrund tauchten nun Schemen und Konturen flüchtig auf, wie Geister der Vergangenheit. Turner zeichnete weniger massive Gebäude oder Strukturen, sondern Luft und Raum.

In den Folgejahren reiste Turner weiterhin von Großbritannien aus nach Europa, besuchte erneut Frankreich, Italien, Belgien, Holland und die Schweiz. 1840 war er in Deutschland und skizzierte die entstehende Walhalla. Als das Monument 1842 eröffnet wurde, schuf er mehrere Aquarelle und Ölbilder nach diesen Zeichnungen. Eines davon, „The Opening of the Walhalla, 1842“, war das erste Gemälde, das Turner von England aus verschickte, um es im Ausland auszustellen. Es wurde auf der Münchner Kunstausstellung 1845 gezeigt, wo das deutsche Publikum nicht auf diese Art der Naturdarstellung vorbereitet war. Ein Kritiker bezeichnete das Bild als „unbegreifliches Kuriosum“ und schrieb, dass die angebliche „Allegorie“ auf das Bauwerk „bis zum Unkenntlichen [in ein] phantomistisch verschwimmendes Farbengemengsel getaucht“ sei und „daß der Kritik nichts übrig bleibt, als ihr Bedauern darüber auszusprechen, daß die britische Landschaftsmalerei auf so seltsame, fast komische Art vertreten wurde.“

1845 reiste der Maler ein letztes Mal nach Frankreich, um sich zu erholen. Danach blieb er, auch aus Altersgründen, weitgehend in London und Umgebung. Seit einer Cholera-Erkrankung im Mai 1850 verließ er sein Haus nur noch selten. Noch im Winter 1851 schmiedete er allerdings Reisepläne mit einem Bekannten, obwohl beide vermutlich wussten, dass der Maler diese Reise nicht mehr antreten würde.

Joseph Mallord William Turner starb am 19. Dezember 1851. Uns hinterließ er seine einzigartige Welt von Farbe und Licht.

Tagebuch Donnerstag, 17. August 2023 – Seite 194/195

„Barbara kommt immer seltener nach Berlin; auch der Geheimrat zeigt sich beinah nie mehr in der Hauptstadt, wo er früher, mehrmals im Winter, Vorträge zu halten und an der repräsentativen Geselligkeit teilzunehmen pflegte. Der Geheimrat sagt: »Ich bin nicht mehr gern in Berlin. Ja, ich fange an, mich vor Berlin zu fürchten. Es bereiten sich hier Dinge vor, die mich entsetzen – und das Schaurigste ist, daß die Menschen, mit denen ich Umgang habe, die Gefahren nicht zu bemerken scheinen. Man ist geschlagen mit Blindheit. Man amüsiert sich, streitet sich, nimmt sich ernst; inzwischen verfinstert sich der Himmel, aber man hat keinen Blick für das Ungewitter, das näher kommt – das schon beinahe da ist. Nein, ich bin nicht mehr gern in Berlin. Vielleicht meide ich es, um es nicht verachten zu müssen …«

Er kommt doch noch einmal; aber nicht mehr, um an repräsentativer Geselligkeit teilzunehmen oder in der Universität zu dozieren; vielmehr um eine große kulturpolitische und tagespolitische Rede zu halten. Die Rede trägt den Titel: »Die drohende Barbarei«; mit ihr will der Geheimrat den geistigen Teil des Bürgertums noch einmal – zum letzten Mal – warnen vor dem, was heraufkommt und was Verfinsterung und Rückschlag bedeutet, während es sich selber frech »Erwachen« und »nationale Revolution« zu nennen wagt. – Der alte Herr spricht anderthalb Stunden lang vor einem Publikum, welches tobt – teils vor Beifall, teils zum Widerspruch.

Während seines letzten Aufenthalts in der Kapitale hat der bürgerliche Gelehrte, der durch seinen Besuch in der Sowjet-Union der Rechten verhaßt und den Demokraten schon ein wenig verdächtig ist, Besprechungen mit vielen seiner Freunde, mit Politikern, Schriftstellern, Professoren. All diese Unterredungen endigen mit der heftigsten Meinungsverschiedenheit. Die Freunde erkundigen sich, nicht ohne Hohn: »Wo bleibt Ihre geistige Toleranz, Herr Geheimrat? Wohin sind Ihre demokratischen Prinzipien? Wir erkennen Sie gar nicht wieder. Sie sprechen ja wie ein radikaler Tagespolitiker, nicht mehr wie ein kultivierter, überlegener Mensch. Alle kultivierten Menschen sollten sich darin einig sein, daß es diesen Nationalsozialisten gegenüber nur eine Methode gibt: die erzieherische. Wir müssen alles daran setzen, diese Menschen zu zähmen, mittels der Demokratie. Wir müssen sie gewinnen, anstatt sie zu bekämpfen. Wir müssen diese jungen Menschen überreden zur Republik. – Und übrigens,« fügen die sozialdemokratischen oder liberalen Herren mit einer vertraulich gedämpften Stimme und mit einem ernsten Blick hinzu, »und übrigens, lieber Geheimrat: Der Feind steht links.«

Manches muß Bruckner sich anhören, über die »gesunden und aufbauwilligen Kräfte«, die »trotz allem« im Nationalsozialismus stecken; manches über das edle nationale Pathos einer Jugend, der gegenüber »wir Älteren« eben nicht länger verständnislos ablehnend bleiben dürfen; über den »politischen Instinkt des deutschen Volkes«, seinen »gesunden Menschenverstand«, der stets das Schlimmste verhüten werde – (»Deutschland ist nicht Italien«) –: ehe er, erbittert und enttäuscht, abreist, im Herzen entschlossen, nie wiederzukehren.

Der Geheimrat Bruckner entzieht sich einer Gesellschaft – in welcher Hendrik Höfgen Triumphe feiert.“

Klaus Mann: „Mephisto. Roman einer Karriere“, Berlin/Weimar 1971 (Erstausgabe Amsterdam 1936), S. 194/195.

Tagebuch Dienstag/Mittwoch, 15./16. August 2023 – Sommer

Zwei kleine Urlaubstage. Am Mittwoch die letzten Reste des Podcastabends mit anschließendem Weinflaschenleeren beseitigt, ansonsten mit F. rumgelungert. Immer perfekt.

Gestern nichts gemacht außer zu lesen, ein bisschen zu kochen, nicht zu viel, es ist Sommer, aber scharfer Tofu geht ja immer und dauert nicht lang, die zweite Staffeln von „The Bear“ nochmal angefangen, die hatte ich beim ersten Schauen zu hektisch verfolgt.

Derzeitiges Nicht-Arbeitsbuch: Klaus Manns „Mephisto“ in schöner DDR-Gestaltung; beim letzten Besuch in Halle aus einem Antiquariat mitgenommen, hier mit Charlotte-Salomon-Lesezeichen aus dem Jüdischen Museum in Amsterdam. Der Roman ist schon gemeinfrei, da Mann bereits 1949 verstarb.

„Das schöne Hotel an einem der oberbayrischen Seen hatte Nicoletta empfohlen, die das junge Paar auf seiner kleinen Hochzeitsreise begleitete. Barbara war hier sehr glücklich: sie liebte diese Landschaft, die, mit ihren hügeligen Wiesen, Wäldern und Gewässern, noch sanft, noch unpathetisch war, aber doch schon das Heroische und Kühne als ein Element und eine Möglichkeit in sich enthielt. Bei föhnigem Wetter schien das Gebirge ganz nah heranzukommen. Im Licht des Sonnenuntergangs verfärbten die zackigen Gipfel, die schneeigen Hänge sich blutig. Noch schöner aber fand Barbara ihren Anblick, wenn sie, während der Stunde vor dem Dunkelwerden, in einer erhabenen Bleichheit, in einem eisigen Frieden standen und wie geformt aus einer fremden, spröden, unendlich kostbaren, bei aller Härte sehr empfindlichen Substanz, die nicht Glas zu sein schien, nicht Metall und nicht Stein, vielmehr die seltenste und gänzlich unbekannte Materie.

Hendrik war unempfänglich für Reiz und Größe der Landschaft. Die Atmosphäre des elegant geführten Hotels beunruhigte und erregte ihn. Den Kellnern gegenüber verhielt er sich mißtrauisch und reizbar; er behauptete, daß sie ihn schlechter behandelten als die übrigen Gäste, und machte Barbara Vorwürfe, daß sie ihn jetzt schon dazu verleite, über seine Verhältnisse zu leben. Anderseits war er voll Genugtuung über das feine Milieu. »Es sind außer uns beinah nur Engländer hier!« stellte er befriedigt fest.“

Klaus Mann: „Mephisto. Roman einer Karriere“, Berlin/Weimar 1971 (Erstausgabe Amsterdam 1936), S. 128.