Tagebuch Mittwoch, 14. November 2018 – Sachertorte

Nach den langen Nachträgen der letzten beiden Tage, die mich jeweils um die vier Stunden Zeit gekostet haben, gibt’s heute wieder was Kürzeres. Ein dicker Beitrag liegt noch in der Pipeline, die zwei Veranstaltungen am Burgheater müssen natürlich auch schriftlich festgehalten werden. Aber dafür hatte ich gestern keine Zeit, denn ich war den halben Tag lang damit beschäftigt, Sachertorte zu backen. Damn you, Wien-Urlaub!

Die ist noch nicht perfekt, deswegen gibt’s noch kein anständig von mir ausformuliertes Rezept und auch nur das Beweisfoto, das ich gestern abend aus dem Handgelenk für F. gemacht habe. Ich werde die nächste Torte fünf Minuten kürzer im Ofen lassen (ich verhandele immer noch mit meinem neuen Ofen, wann er denn wohl fertig ist im Unterschied zu der Zeitvorgabe in den Rezepten), mehr Aprikosenkonfitüre Marillenmarmelade (danke, @KerstinFest) benutzen und vor allem deutlich dunklere Schokolade für den Überzeug. Das war gestern Zartbitterkuvertüre, aber dadurch, dass man diese noch in einem fiesen Zuckersirup auflöst, wurde sie wieder eher vollmilchig-hell und süß, und ich hätte es gerne etwas herber, weswegen ich über die 85-prozentige Schokolade von Lindt nachdenke. Und natürlich ist der Überzug noch nicht so glatt wie er sein sollte; meine Kuvertüre war beim Drüberkippen vermutlich die gewissen ein bis zwei Grad zu kalt und damit schon ein winziges bisschen zu fest.

Aber der Geschmack war schon verdammt gut! Ich habe, glaube ich, noch nie so dermaßen fluffigen Biskuitteig in die Form gefüllt. Am liebsten hätte ich ihn einfach so gegessen. War fast wie Mousse au Chocolat.

Im Hintergrund steht mein Adventskalender voller Trüffel von Xocolat, auf den ich mich sehr freue. Die Verkäuferin so: „Der ist ohne Alkohol, den kann man also auch an Kinder verschenken.“ Ich so: „Ist für mich.“ Verkäuferin: „Ja, aber wenn Sie ihn verschenken wollten …“ Ich so: „IST FÜR MICH!“ (MEINS! ALLES MEINS!)

Ansonsten war ich gestern bei der Post, um ein Paket abzuholen, das in die Packstation hätte kommen sollen, von wo ich aber nicht mal eine Nachricht bekam, dass es dort nicht ist. Danke, Sendungsverlauf online. Ein weiteres – mit dem Wein für die nächste Fehlfarben-Ausgabe – liegt weiß der Geier wo, wir suchen gerade alle nach ihm. Notfalls bringe ich Samstag eine Flasche Schnaps mit.

Wie der Krieg die Erde formt

Lars Fischer schreibt bei Spektrum, warum die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs noch heute die Landschaft so aussehen lässt wie sie eben aussieht. Und vor allem, warum das vermutlich so bleiben wird.

„Die US-Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass die großflächigen Bodenveränderungen durch schweren Beschuss ein eigenständiges und in modernen Zeiten sehr verbreitetes Phänomen sei, das erhebliche Auswirkungen auf die Evolution von Böden hat. Sie nennen es Bombturbation.

Eine quasi jungfräuliche Bombturbation-Oberfläche ist sehr uneben und von einer Mischung aus Bodenschutt, zertrümmertem Grundgestein und zerfetzter Vegetation bedeckt, die von den Explosionen aus den Kratern herausgeschleudert wurde. Diese Art von Untergrund unterscheidet sich drastisch vom Zustand vor der Schlacht. Die verschiedenen Sedimentschichten sind gut durchmischt und enthalten oft einen beträchtlichen Anteil an Gesteinstrümmern. Das veränderte Relief sorgt dafür, dass Wasser schwerer abfließt und sich außerdem organische Materie in den Kratersenken ansammelt. Gleichzeitig kann Wasser durch neue Risse tief in das Grundgestein eindringen und beginnen, es zu verwittern. All diese Vorgänge führen dazu, dass auf alten Schlachtfeldern völlig andere Bodentypen entstehen, als es ohne die Schlacht der Fall gewesen wäre.“

(via @odenwaelderin)

Ich vertwitterte den Link gestern zusammen mit einem aus dem Atlantic, auf den Frau Nessy in ihrem Blog aufmerksam gemacht hatte: The Fading Battlefields of World War I. Die Bildunterschrift zu Bild 19 ließ mich kurz innehalten:

„An unexploded World War I shell sits in a field near Auchonvilliers, France, in November of 2013. The iron harvest is the annual “harvest” of unexploded ordnance, barbed wire, shrapnel, bullets, and shells collected by Belgian and French farmers after plowing their fields along the Western Front battlefield sites. It is estimated that, for every square meter of territory on the front from the coast to the Swiss border, a ton of explosives fell. One shell in every four did not detonate and buried itself on impact in the mud. Most of the iron harvest found by farmers in Belgium during the spring-planting and autumn-plowing seasons is collected and carefully placed around field edges, where it is regularly gathered by the Belgian army for disposal by controlled detonation.“

„A ton of explosives“ pro Quadratmeter. Herrgottnochmal. Mich erinnerte das an eine Schilderung von Philipp Blom, die mich in seinem Buch Die zerrissenen Jahre: 1918–1938 so beeindruckt hatte, ich zitiere meinen eigenen Blogeintrag zum Buch. Kann man ja ruhig nochmal wiederholen, jetzt wo viele Europäer*innen anscheinend nicht mehr zu schätzen wissen, wie toll Europa ist.

„Der technologische Fortschritt brachte es mit sich, dass Artilleriegeschütze ihre Geschosse, von denen einige mehr als hundert Kilo wogen, über viele Kilometer zielgenau feuern konnten und so Tod und Verstümmelung in Form von Bomben, Schrapnellen und Gas anonym und gesichtslos in die Schützengräben trugen. Für die Soldaten wurde jede Minute ein zermürbend monotones Warten auf den ferngesteuerten Tod. Auf deutscher Seite, in Schützengräben, die immer wieder den Neid der Soldaten auf der anderen Seite hervorriefen, starben zwei Drittel aller Soldaten durch Bombardierung und nicht bei Angriffen. Bei den britischen und französischen Einheiten waren es sogar drei Viertel.

Im Gegensatz dazu starben nur ein Prozent der Soldaten im Nahkampf mit Handfeuerwaffen und Bajonetten […] Die meisten Soldaten starben, ohne je einen Feind auch nur gesehen zu haben. […]

Die Soldaten auf beiden Seiten erfuhren diese mechanische Apokalypse als einen tiefen Verrat an ihrem Mut und ihrem Opferwillen. Ihr Einsatz, ihr Mut, war nichts im Vergleich zu dem industrialisierten Schlachten im Schlamm, in dem ihre Körper zum Rohstoff des Todes wurden, fast nicht zu unterscheiden von dem allgegenwärtigen graubraunen Dreck, der von Granaten und Bomben so oft aufgerührt und beschossen worden war, dass er sich in Schleim verwandelt hatte, der nach Verwesung und Exkrementen roch und Stiefel und sogar ganze Körper wie ein gärender Sumpf einfach verschluckte.“

(Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre: 1918–1938, München 2016, S. 42/43.)

Wir waren wie Brüder

Der Artikel von Daniel Schulz aus der taz ist schon von Anfang Oktober und ging auch schon durch diverse Twitter-Timelines, aber ich las ihn erst gestern. Falls ihr ihn bis jetzt auch vor euch hergeschoben habt: lasst das mal und lest. Es geht um das Jungsein in den 1990ern in der ehemaligen DDR und es fällt mir schwer, irgendeinen Textteil zu zitieren, weil alle gut sind und in allen ein anderer Aspekt steht. Der Text wurde für den Reporterpreis 2018 in der Kategorie Essay nominiert.

„Woher wir unser [Juden-]Witze hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, der Faschismus sei besiegt. Und weil er nun einmal besiegt war, durfte er nicht existieren. Die Staatssicherheit, das lässt sich in dem Buch der Stiftung ebenso nachlesen wie in den Berichten des Geheimdienstes selbst, nannte Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, „Rowdytum“ und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks und alle, die anders aussahen als sich die sozialistische Elite ihre Bürger vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte.

Daran knüpft die AfD heute an. Die Partei setzt wie keine andere darauf, eine ostdeutsche Identität zu feiern und zu fördern. In Wahlkämpfen und Reden umwerben ihre Politiker die Menschen damit, wie fein deutsch und wenig verfremdet es in Ostdeutschland so zugehe. Und die Erzählung vom unpolitischen Rowdytum scheint bei vielen Polizisten ebenfalls heute noch zu funktionieren.

War das in der Bundesrepublik denn besser? Klassische Frage, die immer kommt, wenn man etwas über die DDR schreibt. Vielleicht ließe sich sagen, es gab in Westdeutschland wenigstens die Chance auf ein öffentliches Gespräch. In der DDR lief so eine Serie wie „Holocaust“ nicht im Fernsehen, die Leute konnten danach nicht darüber reden, sich aufregen oder weinen – zu Hause, in der Kneipe, im Bus. Und bei allem Verständnis für den Willen, sich von Westdeutschen nicht mehr das eigene Leben ausdeuten zu lassen: Ist es wichtiger, das Andenken an die DDR zu retten oder sich Gedanken darüber zu machen, warum die eigenen Kinder von Nazis gejagt werden oder selbst andere jagen?

Nach dem Überfall von Neonazis auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche 1987 wollte das Zentralkomitee der SED dann doch einmal die neonazistischen Umtriebe untersuchen. Die Forscher registrierten 1988 bis zu 500 Taten aus dem rechtsextremen Milieu pro Monat. Die Ergebnisse verschreckten die Machthaber so sehr, dass sie sie gleich wieder wegschlossen. Der Oberstleutnant der Kriminalpolizei, der das Team geleitet hatte, wurde ab da von der Stasi beobachtet.“

Florine Stettheimer, eine großartige feministische Künstlerin des 20. Jahrhunderts

Annekathrin Kohout würdigt Florine Stettheimer, über die wir 2014 auch mal in einem Fehlfarben-Podcast sprachen. Ich mochte die Dame ausgesprochen gern.

„Der Reichtum erlaubte Florine Stettheimer eine Kunstausbildung, die in ihrem Umfang der Ausbildung ihrer männlichen Zeitgenossen entsprach. In den 1890er Jahren besuchte sie die „Art Students League of New York“, eine damals neue Verbindung von Studierenden, denen das akademische Arbeiten an klassischen Kunsthochschulen zuwider war. Viele Wegbereiter der Moderne und (später) Vertreter der Pop Art lehrten und studierten dort, etwa Man Ray, Jackson Pollock, Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg, Georgia O’Keeffe oder Louise Bourgeois; wegen ihrer liberalen Frauenpolitik galt diese Institution als radikal.

Das sehr frühe 20. Jahrhundert verbrachte Stettheimer in Europa, sie lebte in Deutschland (überwiegend in München) und reiste häufig nach Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien, wo sie Kunstmuseen, Galerien, Ateliers und Salons besuchte (in New York hat sie schließlich selbst einen Salon gegründet). Das erfährt man in den nicht mehr vollständigen Tagebüchern, in denen sie unter anderem Cézanne, Manet und Matisse kommentiert. Aber nur Wenig es dieser Künstler kann man im Werk Stettheimers wiederfinden. Wenn auch manche Farben und der pastose Auftrag an den Impressionismus oder die geschwungenen Körper an Chagall erinnern mögen: ihre Malerei ist völlig selbstständig, sowohl was die Malweise als auch was ihre Motive betrifft.

Besonders stark sind ihre Bilder, weil sie ein ungebrochenes Verhältnis zu ihren Sujets – der Welt der High Society – hat. Theater, Shopping, Ausflüge aufs Land, Picknick am Strand oder Cocktailpartys waren (wie sollte es für eine Vertreterin der Upper Class auch anders sein) für Stettheimer ganz und gar nicht verwerflich und nur manchmal, dann aber mit Augenzwinkern, kritikwürdig. Ihre Bildwelt zeigt oft auf eine feierliche Art die Vorzüge und die Schönheit von Wohlstand und Konsum, seltener aber auch die Tristesse. Oft tauchen dieselben Protagonisten immer wieder auf, was an Serien über Superreiche erinnert, zum Beispiel Gossip Girl. Hier wie dort macht sich bemerkbar: Reichtum bedeutet Schönheit und Macht.“

Nebenbei … nee, gar nicht nebenbei, Moment, ich komm noch mal rein:

Vielen Dank für eure ganzen Spenden! Echt jetzt. Dankeschön.

Nachtrag: Tagebuch Samstag, 10. November 2018 – Vier Ausstellungen und ein Todesfall (meine Füße)

Im mumok waren wir noch nie, daher suchten wir uns im Vorfeld eine Ausstellung raus, die wir anschauen wollten – und lungerten dann ungefähr fünf Stunden im Haus rum und besahen uns im Endeffekt jedes Stockwerk. So kann’s gehen, wenn Ausstellungen Spaß machen. (Oder man sie einfach recht schnell durchschreitet. Ähem.)

Eigentlich wollten wir zu Doppelleben, begannen aber einfach mal im Untergeschoss bei 55 Dates, denn das klang für mich spannend: „Die Ausstellung präsentiert eine Mischung aus Bekanntem und weniger Bekanntem, zeigt Künstler_innen, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind, sowie andere, die es noch zu entdecken gilt. In der unkonventionellen Ausstellungsgestaltung des österreichischen Künstler Hans Schabus ermöglicht 55 Dates Lesarten jenseits konventioneller Erwartungshaltungen an eine lexikalische Überblickssammlung zum 20. und 21. Jahrhundert.“ Oder anders: Das mumok hat einfach mal 55 seiner Werke auf Bauzäune anstatt an edle Stellwände gehängt bzw. mitten in den Raum gestellt und lässt uns als Publikum ohne Absperrseile durchlaufen. Das hätte genauso beliebig werden können wie die olle Spitzmausmumie von Wes Anderson, über die ich gestern nörgelte, war aber stattdessen meiner Meinung nach eine schöne Punktlandung.

An den ersten Werken schlenderte ich noch etwas zweifelnd vorbei: Cosima von Bonins Stofftiere mochte ich zwar gerne, konnte aber nicht so recht etwas mit ihnen anfangen. Die Bilderserie Wiener Spaziergang von Günter Brus kannte ich teilweise schon, aber eigentlich guckte ich gar nicht so richtig hin, sondern im ganzen Raum herum, denn auch das fand ich spannend: Man konnte durch die Gitterwände eben fast die ganze Austellung sehen und schlängelte sich nicht unwissend von Raum zu Raum. Eine große Halle mit einer einzigen festen Stellwand in der Mitte, die von beiden Seiten behängt war, ansonsten nur Gitterzäune und halt viel Kunst. Ich mochte das sehr.

Nach den Stofftieren und den Fotos stand ich vor einem groben Podest aus Holzpaletten und Metall, auf dem vier Skulpturen, unter anderem von Dieter Roth standen. Am Bauzaun nebenan lehnte eine verkohlte Holztür von Beuys, auf der anderen Seite hingen lässig ein paar Warhols. Auf meiner jetzigen Seite hing allerdings eine Fotocollage von jemandem, den ich bisher noch nicht kannte. Bzw. die ich bisher noch nicht kannte, was mir aber auch erst F. in der Wikipedia vorlas. Friedl Dicker-Brandeis‘ Collage So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt von 1933 ruiniert einem ziemlich den Tag, weckt aber auch gut auf. Der Text über der Collage ist auch auf der mumok-Seite (neben weiteren Beschreibungen) lesbar:

„So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt,
Da wirst du hineingeboren,
Da gibt es welche, zum Scheren bestellt
Und welche, die werden geschoren.
So sieht es aus, mein Kind, in der Welt
In unsern und andern Ländern,
Und wenn dir, mein Kind, diese Welt nicht gefällt,
Dann musst du sie eben ändern.“

Das klingt jetzt vielleicht arg zusammenhangslos, obwohl beim Entstehungsdatum 1933 klar ist, worum’s geht, und die Bildbeschriftung auch schlicht erwähnt, dass Dicker-Brandeis 1944 in Auschwitz starb (ich übersetze mal: ermordet wurde), was dann endgültig jede gute Laune vertreibt. Ich erwähne das Werk nur deshalb so explizit, weil es gut in den restlichen Wien-Aufenthalt passte. Am Sonntag hörten F. und ich eine Lesung mit Texten zum Ende des Ersten Weltkriegs und was wir heute noch davon mitnehmen können. Seitdem trage ich den Satz „Hoch die Republik“ mit mir herum, und das mag man total albern finden, aber ich habe mich selten so in meinem bürgerlichen Verfassungspatriotismus bestätigt gefühlt wie in den letzten Tagen (und Monaten), in denen ich geistig ständig in irgendwelchen Nachkriegs- oder NS-Zeiten rumgehangen habe. Sich ab und zu mal zu vergewissern, wie großartig Demokratie und eine Republik sind, tat ganz gut. Ich kartoffeldrucke mir den Satz jetzt auf ein Shirt, ich kriege den echt nicht mehr aus dem Kopf.

(Kleiner Einschub: der New Yorker erklärt unter anderem Herrn Trump den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus.)

Der Bogen zur Kunst zurück: Ich fand es äußerst spannend, diese politische Kunst fast direkt neben Roths Quick-Wurst oder Geschichte zu sehen. Zu sehen, welche Art politische Kunst möglich ist oder möglich sein musste oder irgendwann aus politischen Gründen eben nicht mehr möglich war. Diese wenigen Meter Luftlinie zwischen einem Werk von 1933 und zweien von 1968 haben meinen Kopf schön aufgeschraubt.

Dann schlenderte ich an der mittigen Stellwand entlang, die im Bild 1 zum Ausstellungslink gut zu sehen ist, wobei bei unserem Besuch ein Bild fehlte, wenn ich mich richtig erinnere. Aber auch so: Was für eine Kombi! Ed Paschkes schrille Jeanine (1973) hängt neben Maria Lassnigs introspektivem Pfingstselbstporträt (1969), dann kommt ein Picasso, an dem ich einfach vorbeigegangen bin, kennste einen, kennste alle (ich übertreibe, sorry, Pablo), dann kam der abstrakte Rote Turm von Johannes Itten (1917/18), dazu passte ein futuristischer Balla von 1914, und schließlich hatte mich die Ausstellung total im Sack mit den beiden letzten Werken der Wand: zunächst Kupkas Nocturne (1910/11), das aus blauen Farbflächen besteht – und dann das Bild Tina im Kupkakleid und ich mit Pinsel (2017) von Ashley Hans Scheirl. Das Kupkakleid ist genau das, wonach es sich anhört: ein Kleid, das mit ähnlichen blauen Farbflächen gestaltet ist wie das Bild, das direkt neben diesem Bild hängt. So simpel, so toll.

Einschub: Freut ihr euch eigentlich auch so darüber, dass ihr die ganzen Bilder sehen könnt, weil das mumok sie tollerweise auf seiner Website hat? Ansonsten lege ich euch den kleinen Katalog ans Herz, der kostet nur 15 Euro und wiegt auch nix. Das freut den Touri. Einschub Ende.

Nach der langen Wand schlenderte ich an Konzeptkunst vorbei und freute mich über alles, weil einfach alles Spaß machte. Die Kombinationen ließen jedes Werk für sich leuchten, keins überstrahlte ein anderes, und alle ergänzten sich lustigerweise, auch wenn sie in ihrer Entstehungszeit 50 Jahre auseinanderlagen. Das fiel mir besonders auf der Rückseite der eben angesprochenen Wand auf. Dort hatte ich vorher nicht die ganze Seite überblickt, sondern brav mit dem ersten Bild links angefangen (Bild 3 zeigt die Raumsituation gut). Ich sah also einen Delaunay von 1936, den ich aber in seiner grafischen Schlichtheit im Kopf in die 60er Jahre packte, dann kam Niki de Saint-Phalle von 1961, passte, aber dann ein Bild, das mich an die klassische Moderne erinnerte, und mein Kopf fragte sich, ob da ein Künstler aus den 60ern einen bewussten Rückgriff gemacht hatte, wie lustig, oh, direkt daneben hängt ein Jasper Johns, Ende 60er, wer war denn der schlaue Rückgreifer? War natürlich keiner: Gerstls Porträt der Familie Schönberg ist von 1908, und ich bin fett in die kleine kunsthistorische Falle gelaufen, die ich mir selber aufgestellt hatte.

Das meinte ich gestern beim Meckern über Anderson: Er stellte in seinen großen Setzkästen nirgends solche Fallen auf, er brachte nie zum Stolpern oder Innehalten. Hier war ich dauernd damit beschäftigt, mein eigenes Wissen zu überprüfen oder neu zusammenzusetzen oder einfach beglückt festzustellen, dass man die ganze Kunstgeschichte auch anders präsentieren kann als nach Schulen, Ländern, Stilen oder Zeiten geordnet. Spontan möchte ich jetzt eine Ausstellung haben von Künstlerinnen, die mit F anfangen, denn ich ahne, dass selbst so eine komplett sinnfreie Katalogisierung Überraschungen bereithält bzw. Kunstgeschichte aus einem anderen Blickwinkel zeigt. Wobei die Hängung hier alles andere als sinnlos war. Die Depotsituation nimmt der Kunst nichts von ihrer Aura und sie erzeugt Kontext auf kleinstem Raum – man kapiert kunsthistorische Positionen, ohne durch 70 Ausstellungen rennen zu müssen. Tolles Ding.

Ich erspare euch den weiteren Rundgang, der Blogeintrag wird eh schon wieder zu lang, aber das wäre für meine Wiener Timeline ein dringender Ausstellungstipp. Man kann in einer Stunde durchhuschen, hat viel zu gucken, und das Ganze läuft netterweise noch bis Februar.

PS: Louise Lawler <3

Ein Stockwerk höher hängt ebenfalls bis Februar die Fotoausstellung Photo/Politics/Austria, deren Plakat uns schon draußen am modernen Gebäude angefixt hatte. Simple Idee: Für jedes Jahr von 1918 bis 2018 ein Foto aus der Nationalbibliothek oder einem der Archive, ein kurzer Text, vielleicht noch ein bisschen Kontext in Form von Plakaten, Büchern oder Zeug dazu, und das war’s. Die Bilder waren thematisch sehr breit gefächert, nicht nur politische Ereignisse, sondern auch kulturelle von Sissi bis Falco waren dabei, es gab Werbung oder Aufregung, und F. und ich mussten einiges aus der österreichischen Geschichte nachgoogeln, denn so bewandert waren wir dann doch nicht, wie wir etwas nölig feststellen. (Ich freute mich, dass ich mir aus Philipp Bloms Buch den Justizpalastbrand von 1927 gemerkt hatte.) Beim Googeln merkten wir immerhin, dass es im mumok WLAN gab, wie es sich gehört und wie sich das deutsche Museen bitte bitte bitte endlich auch einmal anschaffen mögen.

Ich mache diese Ausstellungsbesprechung ganz kurz und gehe nur auf ein Foto ein: Heimkehrer (1947) von Ernst Haas, auf dessen Site gleich das erste Bild der Vienna-Reihe. Wenn man im mumok die Bilderreihe chronologisch abschreitet, geht man logischerweise durch das ganze beknackte Jahrhundert, man gleitet so eklig in die NS-Zeit rein, plötzlich sind da die Hakenkreuze, ich sah einige Bilder, die mich an meine Dissertation erinnern, und dann ist es auf einmal 1947 und aus der großen Politik werden wieder kleine Menschen wie diese Mutter auf dem Bild, die einem vermutlich völlig Fremden das Bild ihres Sohnes (?) vor die Nase hält, ob er ihn vielleicht kennen würde. Ich habe eine leise Ahnung, warum dieses Bild mich komplett geschmissen hat; mir stiegen im Museum ernsthaft die Tränen in die Augen, und auch jetzt beim Bloggen, wofür ich mir das Bild nochmal angeschaut habe, muss ich mal kurz zum Taschentuch greifen. Ich spare mir jetzt jede brave kunsthistorisch sinnvolle Bildbeschreibung. Guckt euch einfach das Bild mit seinen vielen Ebenen an.

(Hoch die Republik.)

Das Bild von 2018 war übrigens ein iPhone, auf dem Instagram zu sehen war, das fand ich einen cleveren Rausschmeißer, so nach dem Motto, jetzt macht ihr doch mal Bilder. Kennengelernt: die Pressofotografin Barbara Pflaum, die quasi die halbe Fotoleiste von den 50ern bis in die 70er bestritt.

Nach den zwei intensiven Ausstellungen brauchten wir ein bisschen Pause und setzten uns ins winzige Museumscafé, wo ich, wie immer in den Tagen in Wien, Sachertorte aß. Danach versuchte ich ein zweites Mal nach dem Stockwerk mit den Schließfächern, ins Damenklo zu kommen, aber auch auf diesem Stockwerk gab es gerade eine Kabine und die war besetzt. Auf dem Schild am Fahrstuhl hatte ich aber gesehen, dass im Stockwerk bei der Ausstellung von Ute Müller ein Kloschild war, weswegen wir uns dorthin tragen ließen. Im gläsernen Aufzug, bei dem ich mich die ganze Zeit festhielt und mir einen Katalog vor die Augen hielt. Dazu passen auch die Übergänge vom mittig platzierten Fahrstuhl nach rechts und links in die Ausstellungsräume bzw. die Treppenhäuser: ein milchig-halbtransparenter Gitterboden, auf dem ich meine Schritte sehr beschleunigte, um wieder von ihm runterzukommen. Architektur, die Menschen hasst. Jedenfalls die mit wackeligen Füßen oder Höhenangst.

Im Müller-Stockwerk (das zweite von unten) scheint das Hauptklo zu sein (Tipp für alle Touris), da war Platz und Ruhe und ich konnte die Melange loswerden, die ich zur Sachertorte genossen hatte. Und wenn man schon mal da ist, guckt man sich halt auch an, was Frau Müller so gemacht hat. Gefiel mir gut. Ich habe nicht wirklich über ihre raumfüllende Installation nachgedacht, fand sie aber schön. Kopf war noch in der Pause. Sachertorteundmelange-Speicher gingen schon wieder zur Neige.

In den beiden obersten Stockwerken blieben wir ähnlich kurz, denn in der Ausstellung Klassentreffen standen und hingen diverse Werke aus einer Privatsammlung herum, die uns nicht ganz so begeistern konnten. Ich entdeckte allerdings Silke Otto-Knapp für mich und lachte sehr über das Real Painting (for Aunt Cora), 2013, von John Baldessari und Meg Cranston.

Und dann kam die Ausstellung, wegen der wir eigentlich hier waren: Doppelleben. Ich zitiere von der Website: „Die Ausstellung Doppelleben rückt bildende Künstler_innen in den Fokus, die Musik geschrieben, produziert oder öffentlich aufgeführt haben beziehungsweise Mitglieder von Künstler_innenbands waren oder sind.“ Das sah dann so aus:

In insgesamt drei großen Räumen auf zwei Stockwerken hingen in verschiedener Höhe Leinwände, auf die Videos projiziert wurden. Vor jedem Video hingen zwei Kopfhörer von der Decke, netterweise mit einem Pfeil auf dem Fußboden, der in die Richtung des jeweiligen Videos zeigte. Das war manchmal wirklich nötig, weil alles kreuz und quer ausgerichtet war, was aber für ein spannendes Raumgefühl sorgte. Es fühlte sich schlicht nicht ganz so kreuzbrav museal an. Ich hätte allerdings gerne ein paar kreuzbrave Bänke oder Sitzgelegenheiten gehabt (die Faltstühle an der Wand entdeckte ich deutlich zu spät). Ich hatte kein Programm oder ein bestimmtes Video, was ich sehen wollte, ich guckte einfach das, was da war. Vielleicht war Laibach nicht unbedingt der beste Einstieg, gerade wenn man an mein Geheule beim Foto denkt, aber nun gut. Laibach halt.

Als ich vor Laibach stand, musste ich immer auf eine Leinwand gucken, die weiter weg war, weil mir die Laibach-Bilder so auf den Zeiger gingen. Deswegen hörte ich danach auch das lustige Lied von Trabant gerne an, dessen Bilder ich durch den ganzen Raum gesehen hatte. Link geht zur Ausstellungswebsite, die auch auf den gefühlt hundertfach ausliegenden iPads voreingestellt war.

Viele längere Videos guckte ich nur in Ausschnitten, klassische Musik, Jazz, Die tödliche Doris, Laurie Anderson, und bei dem 47-minütigen von Alva Noto notierte ich mir beim Zuhören den Künstlernamen und hörte dessen faszinierende, elektronische Musik im Zug auf der Rückfahrt nach München.

Bei den 80 Minuten von Hanne Darboven hätte ich wirklich gerne eine Sitzgelegenheit gehabt, denn das Ding war total hypnotisch. Ich glaube, ich hörte zehn Minuten zu, aber dann musste ich mich dringend bewegen. (File under: warum Stehplätze in der Oper nix für mich sind und wie ich Leute bewundere, die Wagner stehend gucken.) Was ich faszinierend fand: Die Komposition hört sich wirklich an wie das Bildwerk von Darboven. Toll. Und seltsam. Toll seltsam.

Mein persönlicher Rausschmeißer war John Cage, mit dessen Water Walk (1960) das Publikum anscheinend noch nicht so recht etwas anzufangen wusste. Die Quietscheente!

Ich schaffte es so gerade noch ins Hotel zurück, wo ich dringend meine Museumsfüßchen ausruhen musste. Abends rafften wir uns noch zu einem Schnitzel auf (was sonst) und bestaunten dann beim Verdauungsspaziergang die Ankeruhr, von der ich vorher noch nie gehört hatte, nun aber dringend stehenbleiben musste (schon wieder stehen!), um den Figuren beim Weiterrücken zuzugucken.

Die Uhr ist übrigens direkt am Vermählungsbrunnen, den gerade ein interessantes Graffiti ziert.

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(Kann man auf zwei Arten lesen, glaub ich.)

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Nachtrag: Tagebuch Freitag, 9. November 2018 – Bruegel, Spitzmaus, Merchandise

Wir logierten in Wien für ein paar Tage im gleichen Hotel wie vor gut zwei Jahren, als die Albertina mich eingeladen hatte. Ich hatte mir gemerkt, dass es recht zentral lag, man zu Fuß zu den wichtigen Museen kommt und dass das Frühstücksbuffett keinen Wunsch offen ließ. Ich hatte allerdings vergessen, wie warm die Bettdecken sind und dass es in einem sehr alten Bauwerk nie Steckdosen am Nachttisch gibt. Da ich Matschbirne aber mein iPhone-Ladedings eh vergessen hatte, brauchten wir nur die eine (!) Steckdose, die am Schreibtisch frei war. Für weitere Stecker wie zum Beispiel fürs Macbook stöpselte ich die Schreibtisch- oder die Stehlampe am anderen Ende des Zimmers aus. F. bestaunte die Deckenhöhe und bedauerte, sein Lasermessgerät nicht mitgebracht zu haben. So mussten wir schätzen und einigten uns auf „auf jeden Fall höher als vier Meter“.

Im Kunsthistorischen Museum läuft noch bis Januar eine Bruegel-Ausstellung, die anscheinend eine kleine Sensation ist, ich zitiere aus dem Link:

„Because Bruegel was only in his forties at the time of his death, there are only about 40 paintings, 60 drawings, and 80 prints known to be by his hand. His works on panel are the most rare and the most celebrated, so museums lucky enough to own one are loathe to part with them. […]

Believe it or not, this is the first time a museum has managed to organize a monographic exhibition of the Dutch artist—and the show also marks the 450th anniversary of the Old Master’s death! It’s not that no one has tried, either: A half century ago, a planned exhibition marking 400 years since Bruegel’s death was cancelled when the necessary loans could not be secured. […]

Remarkably, the Kunsthistorisches has brought together almost three quarters of the artist’s extant works, with about 90 in total spanning the full length of his career. Some of the pieces on loan for the occasion have never left their home institutions, so it’s easy to understand why no one has been able to pull off a major Bruegel show before.“

Ich hatte beim letzten Besuch die drei Bruegels bestaunt, die an den Wänden hingen, durfte aber am vergangenen Freitag feststellen, dass das KHM noch deutlich mehr als die drei in seinem Besitz hat; der zitierte Artikel nennt zwölf Bilder von Pieter Bruegel dem Älteren, womit das KHM die meisten Ölbilder dieses Malers weltweit besitzt. Vor einem stand ich ewig, nachdem ich ebenso ewig warten musste, bis ich endlich in der ersten Reihe angekommen war. Die Ausstellung hat festgelegte Einlasszeiten, damit es nicht so irre überlaufen ist, aber es ist natürlich trotzdem sehr voll. Und es passiert das, was bei allen Blockbustern passiert: Man steht hinter Leuten, die gleichzeitig dem Audioguide zuhören und versuchen, ein sinnloses Foto vom Bild zu machen. Ich möchte ihnen immer zuraunen, dass die Dinger 400 Jahre alt und damit total gemeinfrei sind und dass man alle Werke per Google vermutlich in deutlich besserer Qualität findet als sie das wackelige Digifoto hergibt, das sie gerade versuchen zu machen. Mein liebster Hasskunde, der sich auch genau vor dem Bild befand, das ich so lange bestaunte, guckte sich das Werk nicht mal an, sondern hörte dem Audioguide zu, während er sich im ganzen Raum umschaute und in der ersten Reihe mit dem Rücken zum Bild stand.

Aber irgendwann war der Typ dann weg und auch der alte Rollstuhlfahrer, der einem einfach über die Füße fuhr, um nach vorne zu kommen, war weitergezogen, und ich stand endlich mittig vor der Kreuztragung Christi (1564), die ich seit Minuten von der rechten Seite aus schräg bewundert hatte. Dort war mir die trauernde Maria als erstes aufgefallen, ich bestaunte die Kleidermassen der Dame im roten Umhang, wunderte mich über den Tierschädel, dachte dann aber, ach, beim Bruegel liegt ja immer viel rum, und guckte dann erst weiter. Als nächstes fiel mir die Windmühle in der Bildmitte auf, die sinnlos auf einer schmalen Felsnadel hockte, und zu der mein Blick immer wieder zurückging, weil es so irrwitzig aussah. Erst dann fiel mir der kreuztragende Christus inmitten einer Menschenmenge auf. Ich hatte den Bildtitel nicht lesen können und kannte das Bild auch nicht, daher wusste ich überhaupt nicht, auf was ich schaue, aber jetzt ahnte ich, worum es ging, nachdem ich zunächst davon ausgegangen war, dass ich eine Szene betrachte, die nach der Kreuzigung stattfand, daher die trauernde Maria. Wie ich nachher aus dem Katalog erfuhr, trauerte die Mutter aber schon während des Kreuzwegs: „[A]ußerbiblische Quellen“ berichten, dass Maria „beim Anblick ihres Sohnens bewusstlos geworden“ sei. (Quelle: Bruegel – Die Hand des Meisters. Kunsthistorisches Museum Wien, Oktober 2018 bis Januar 2019, Brügge 2018, S. 197.)

Ich begann den Rest des Bildes nach Hinweisen abzusuchen: Ah, da rechts sind die aufgerichteten Kreuze, ganz hinten im Bild steht auch noch ein Galgen, und was sind diese Räder auf Stangen? Sind das auch Folterinstrumente? (Natürlich.) Ich verlor mich wie immer bei Bruegel in den vielen Details, der dunstigen Stadt, den Menschen, die Jesus begleiten, verspotten oder ihm helfen, bewunderte die Pflanzen im Vordergrund und die Wolken im Hintergrund und konnte mich überhaupt nicht von diesem Bild trennen. Das KHM instagrammte eine Raumansicht und die vermittelt ganz gut, warum ich mich nicht davon trennen konnte. Das dunkle Raumlicht ließ das Bild geradezu strahlen.

Neben mir war übrigens der einzige Mensch in der ganzen Ausstellung, der genauso still vor dem Bild stand wie ich. Keine Ahnung, ob der Herr vom Fach war oder einfach ein Riesen-Bruegel-Fan, aber er schaute einfach nur, minutenlang, konzentriert, ging vermutlich wie ich das Bild mit den Augen in Abschnitten ab, beugte sich leicht vor, um genauer hinschauen zu können. So ungefähr gucke ich auch, wenn mir ein Bild gefällt bzw. es mich interessiert. Wenn ich auch vermutlich in den nächsten Jahren alles vergessen werde, was ich im Studium gelernt habe – wie man guckt, merke ich mir, denn das mache ich inzwischen automatisch. Das hört sich vielleicht blöd an, aber manchmal ist man ja gerne überfordert, gerade bei so detailreichen Bildern wie die von Bruegel.

Also fängt man einfach in einer Ecke an zu gucken und beschreibt sich ganz simpel selbst, was man sieht. So wie ich hier eben mit der trauernden Frau in der unteren Ecke angefangen habe. Das weiß ich inzwischen, dass das Maria ist, aber selbst wenn man das nicht weiß, kann man damit weiterstöbern: Warum weint die Frau? Was könnte passiert sein? Sehe ich das irgendwo im Bild? So kann man übrigens auch abstrakte Bilder anschauen: einfach in irgendeiner Ecke anfangen. Linien folgen, Formen oder Farben suchen, was auch immer. Ich brauche immer irgendetwas zum Festhalten; bei gegenständlicher Darstellung sind das gerne Personen, bei abstrakten Bildern ein Detail, von dem ich mich weiter vorwage.

Zurück zum Bruegel. Ich kann euch gar nicht alle Bilder aufzählen, die mich so begeistert haben. Es war großartig, beide Darstellungen des Turmbau zu Babel in einem Raum zu sehen; den Wiener Turm kannte ich ja bereits vom letzten Besuch, den Rotterdamer nur von Bildern. Alleine für den lohnt sich die Ausstellung. Er ist im Original deutlich bedrohlicher und düsterer als in den lustig-bunten Abbildungen. Und wie einem der Katalog verrät und was mir wirklich nicht aufgefallen ist: Er ist komplett von Menschenhand gebaut, während der Wiener Turm aus einem riesigen Felsen herausgeschlagen wird. So oberflächlich kann ich nämlich auch gucken, dass mir ein derartig wichtiges und eigentlich offensichtliches Detail entgeht.

Bei einigen Bildern konnte ich an Dinge anlegen, die ich im Lieblingsmuseum, dem Prado, gelernt hatte. Bei der Anbetung der Könige (1564) entdeckte ich nämlich Kleidungsdetails am schwarzen König, die ich schon bei einer Bosch-Darstellung in Madrid gesehen hatte. Auch bei der Dulle Griet findet man diverse Bosch-Zitate. Die Anbetung der Könige fand ich auch noch aus anderen Gründen spannend: Die Könige sehen alle ziemlich runtergerockt aus anstatt majestätisch, und im Hintergrund stehen nicht die üblichen Bauern oder Hirten, sondern Soldaten mit Lanzen und Hellebarden. Der Katalog fasst das Gefühl gut zusammen, was man vor diesem Bild hat: „In ihrer Gesamtheit verleihen all diese Details dem Werk etwas zutiefst Verstörendes, ein bis dato in der niederländischen Kunst bei der Darstellung der Anbetung der Könige nicht gekanntes Gefühl von Bedrohung.“ (Kat. Ausst. Wien 2018, S. 191.)

Direkt neben dieser Darstellung hing übrigens eine weitere, Die Anbetung der drei Könige im Schnee (1563, nicht 1567, wie die Wikipedia behauptet; das Bild wurde von Bruegel datiert, was aber, laut Katalog, erst vor Kurzem entziffert wurde). Wieder war die Szene nach Flandern verlegt worden, und auch hier musste man die titelgebenden Menschen erstmal suchen. Sie kauern sich links unten an den Bildrand und sind kaum zu sehen durch die dicken Schneeflocken. Der kleine Ausstellungsführer, den ich im obenstehenden Tweet erwähnte, meint, dieses Bild könne eine der ersten Darstellungen von fallendem Schnee gewesen sein.

Etwas ganz Besonderes waren die vier Tafeln zu den Jahreszeiten. Der einzige gesicherte Gemäldezyklus Bruegels entstand 1565 und besteht aus sechs Bildern (darunter Vorfrühling, Frühling, Frühsommer und Hochsommer). Der Frühling ist seit längerer Zeit verschollen und wir wissen nicht, was abgebildet war. Im Katalog lernte ich, dass dieser Zyklus vermutlich mal ein größeres Zimmer geziert hatte – allerdings nur für fünf Jahre, dann wurde er schon wieder auseinandergerissen. Wir sehen diese Bilder zum ersten Mal seit 350 Jahren im Zusammenhang, wie die Website erklärt.

Ein bisschen stinkig bin ich auf die Alte Pinakothek, denn die hat das bekannte Schlaraffenland nicht für die Ausstellung rausgerückt, dabei hätte es so schön in den letzten Saal gepasst, wo auch die Bauernhochzeit hängt. Und: der Bauerntanz, den ich noch nicht kannte und den ich großartig fand. Die Bewegungungen des Paares vorne rechts, das flatternde Kleid der Frau, der Gesichtsausdruck der beiden! Die Kinder vorne links, die trinkenden Menschen. Es sieht auf den ersten Blick – gerade im viel zu dunklen Link – alles sehr grobschlächtig aus, aber wenn man länger hinschaut, fällt einem die schlichte Freude auf, die das Bild trägt. Ich fand es generell spannend, dass Bruegel diesen einfachen Darstellungen ein ordentliches Großformat gönnte; der Bauerntanz ist 114 x 164 cm groß. Dass ein einfaches Volksvergnügen im gleichen Format dargestellt wird wie die Anbetung des Jesuskinds, fand ich bemerkenswert.

An den Grafiken und Stichen bin ich eher vorbeigegangen, ich wollte nur die Gemälde sehen, Druckgrafik ist so gar nicht meins. Ja, ich habe bestimmt was versäumt, aber ich kann eh nie alles gucken, also gucke ich das, was ich wirklich anschauen möchte und nicht das, was ich irgendwie anschauen sollte, weil es halt da ist. Und genau das habe ich dann auch gemacht. Man kommt mit einem sehr satten, zufriedenen Gefühl wieder aus den vielen Räumen – und landet natürlich sofort im Museumsshop, den ich dort noch eilig durchschritt. Unten im regulären Shop war ich länger, ich komme gleich darauf zurück.

Denn wir hatten ja noch eine Ausstellung vor uns. Die war eher ein Goodie, weil die Eintrittskarte fürs ganze Haus galt und nicht nur für den Blockbuster. Nach Bruegel gingen wir relativ zügig durch den Rest des Museums, das ich ja schon kannte, aber hey, gerade Lorenzo Lotto kann man sich ja immer angucken. Dann schritten wir die breite Prachttreppe hinab zu Spitzmaus Mummy in a Coffin and Other Treasures, eine kleine Ausstellung, die von Wes Anderson und seiner Partnerin, der Autorin und Illustratorin Juman Malouf, kuratiert wurde.

Mir war das Ding von Anfang an egal, weil mir auch die meisten Filme Andersons egal sind – der einzige, den ich durchgehalten habe, war Grand Budapest Hotel. Das Publikum war ein sehr anderes als das bei Bruegel – deutlich jünger, mehr Wollmützen – und ich ahne, dass auch das ein Grund dafür gewesen war, den beiden die Schlüssel für die Depots in die Hände zu drücken. Das macht das Endergebnis aber nicht besser.

Anderson und Malouf haben meiner Meinung nach rein auf Ästhetik hin kuratiert. Sie werfen wild Objekte aus allen Sammlungen des KHM sowie des Naturhistorischen Museum durcheinander und nichts ist beschriftet. Die acht Räume haben meist ein leicht erkennbares Thema (Kinder als Erwachsene; Tierdarstellungen; Menschenfiguren; die Farbe Grün usw.), sind aber in sich eine sinnlose Wunderkammer. Nein, nicht mal das: Die Wunderkammern des Barock – mit einem Bild einer solchen beginnt die Ausstellung – hatten als Ziel einen Erkenntnisgewinn und waren zudem meist thematisch geordnet bzw. beschränkten sich in Bereichen auf Exponate eines Typs; sie warfen nicht wild bildende Kunst, Kunsthandwerk, ausgestopfte Tiere und Kleidungsstücke durcheinander. Genau das machen Anderson und Malouf und verlieren damit jeden Kontext, den die ausgestellten Dinge haben. Die Ausstellung wird dadurch total beliebig und verkommt zur reinen Oberfläche. Das ist alles hübsch, was da rumsteht und das ist auch ebenso hübsch kombiniert und ergibt ein schönes Gesamtbild, aber eben nichts weiter als das. Es kommt keinerlei Spannung auf, es gibt keine Brüche, es macht nichts neugierig. Man läuft mit einem Folder durch die Gegend, auf dem die einzelnen Exponate immerhin namentlich genannt werden (plus Herkunft und Alter), aber nach dreimaligem Nachschauen hatte ich schon keine Lust mehr. Man konnte nirgends weiterdenken, weil alles so hübsch zusammengesetzt wurde und irgendwie fertig aussah. Man konnte sich an nichts reiben, nichts hinterfragen, man stand rum und fand’s niedlich, aber den Effekt kriegt man auch mit einem Teddybär und einem warmen Kakao hin. Die Ausstellung könnt ihr euch meiner Meinung nach getrost schenken.

Die NYT fand’s auch doof, aber im Artikel könnt ihr ein paar Bilder sehen. Und wenn ihr euch bis morgen geduldet, wo (hoffentlich) ein Blogeintrag zu einer anderen Ausstellung kommt, die ebenso wild durcheinanderwürfelt, aber so, dass man was davon hat, werdet ihr Andersons und Maloufs Versuch noch alberner finden.

Eher unbeeindruckt verließen wir die Ausstellung, die keine war, und gingen zum Museumsshop. Nach längerem Nachdenken wollte ich nämlich doch den Bruegel-Katalog erstehen, den ich oben nicht gekauft hatte. Im Shop stellte ich fest, dass die Merchandise-Menschen wirklich ganze Arbeit geleistet und so ziemlich alles mit Wimmelbildern oder ähnlichem bedruckt oder ausgestattet hatten, was nicht weglaufen konnte. Manchmal war das ziemlich klasse: So gab es Servietten, auf denen der Bildausschnitt aus der Bauernhochzeit abgedruckt war, in dem zwei Männer die vielen Suppenschüsseln tragen. Leider zu klein, sonst hätte ich sie gekauft, einfach weil es so clever war: eine Schneekugel, in der ein Bilddetail aus Jäger im Schnee den Unter- und Hintergrund bildete. Die üblichen Bleistifte, Taschen, Tassen, Kissenhüllen. Und dann etwas, bei dem mir fast ein Entsetzensschrei entfuhr: zwei Bruegel-Bären, die mit Motiven Jäger im Schnee und Kinderspiele bedruckt waren.


Mal abgesehen davon, dass die Bären bescheuert aussehen, weil es scheint, als hätte man einfach eine Farbwalze über sie rollen lassen, ohne darauf zu achten, wo jetzt Farbe oder Motiv landen – der Bär ist der gleiche, den ich als Van-Gogh-Bär im Schlafzimmer sitzen habe! (Hier das zweite Bild von oben.) Mein toller Mandelblütenbär ist nur ein variables Massenprodukt! Waaaahh!

Ich musste mich einen halben Tag lang beruhigen und viel Backhendl essen und Bier trinken, aber jetzt im Nachhinein bedauere ich es, nicht doch einen Bären mitgenommen zu haben. Ich könnte eine Sammlung von Museumsbärchen starten, die mit völlig beliebigen Werken bedruckt sind. Und dann kommt irgendwann ein lustiger Regisseur und stellt sie in neue Zusammenhänge. Okay, vielleicht nicht.

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Was schön war, Donnerstag, 8. November 2018 – Konstantin Filippou

Wir sind gerade in Wien und ich bin schreibfaul, wie schon seit ein paar Tagen. Aber ich kann euch natürlich nicht verschweigen, wie herrlich man bei Konstantin Filippou essen kann.

Das Lokal ist recht klein, nur um die 20 Plätze, und wir waren gestern um 19.30 Uhr auch schon fast die letzten; ein Vierertisch kam noch nach uns, und zwei Plätze an einer Art Theke, die einigen Köch*innen direkt bei der Arbeit zuschauen konnten, wurden auch noch besetzt. Wir waren dann allerdings die letzten, und während ich alte Kellnerin irgendwann drängelte, schien das Personal deutlich entspannter zu sein. Allerdings wurde neben uns schon abgeräumt und man konnte auch sehen, dass die Küche ihre Arbeit eingestellt hatte, was das einzige war, was mich ein winziges bisschen gestört hat gestern. Ich will nicht sehen, dass alle Feierabend machen wollen. Wobei wir schon kurz nach 22 Uhr gingen und damit noch locker in den Öffnungszeiten waren. Trotzdem.

Beim Menü war ich vorher zugegebenermaßen etwas misstraurisch: Es war alles, bis aufs Dessert, mit Fisch, kein klassischer Aufbau mit Fisch- und Fleischgängen und der Schokobombe zum Schluss, aber um die Pointe schon mal vorwegzunehmen: Ich habe mich selten so gut unterhalten gefühlt in einem Sterne-Restaurant. Damit meine ich nicht, dass die Kellner*innen Konfetti geschmissen haben, sondern: Das Essen war fein, aber trotzdem spannend, die Weine dazu eigenwillig, aber hervorragend abgestimmt, und alles zusammen ergab ganz schlicht einen wirklich schönen Abend. Dass es in Sternerestaurants längst nicht mehr so förmlich zugeht wie früher, dürfte sich allmählich rumgesprochen haben, aber ich hatte das Gefühl, dass es eben immer noch gewisse Standards gibt, an denen man sich langhangelt (wie den klassischen Menüaufbau). Das kann man anscheinend heute auch knicken und ich persönlich fand das sehr gut. Aber das wusste ich eben erst, nachdem ich dort essen war.

Was gleichzeitig fies und gut war: Das Lokal ist recht dunkel. Schwarze Möbel, schwarzer Teppich (schwarze Klos, wie ich irgendwann grinsend feststellte), graue Wände und nur punktuelle Beleuchtung. Gut, weil: schöne Atmo, fies, weil: keine vernünftigen Fressfotos möglich. Das ist jetzt doof für euch, weil ihr mir einfach glauben müsste, dass alles, wirklich alles toll aussah und (bis auf einen Gang) noch toller schmeckte, aber nach einem Foto habe ich es sofort gelassen, noch ein weiteres zu machen, das war alles eher mies ausgeleuchtete, kontrastarme Grütze.

Die Grüße aus der Küche waren zunächst Bonito mit kleinen Kohlrabikügelchen und knackigen Röstbröseln drauf, danach kam ein winziger Pie (ungefähr so groß wie ein Reese’s Peanut Butter Cup), der mit einem Schaum bedeckt war. Wir wurden angewiesen, alles auf einmal zu essen, weil der Inhalt flüssig war: heißer Dotter, frisch und würzig, nicht ganz so würzig wie der Bonito, herrlich. Danach gab’s noch ein Stückchen Sardine unter kalter, fermentierter gelber Rübe, die so wunderschön schuppenförmig aufgeschichtet war, dass ich sie kaum essen wollte. Also für fünf Sekunden.

Erster Gang: Artischockenblättchen, die eingerollt den Rand einer runden Form bildeten, darin weiche Miesmuschel, knuspriger Roggen und deftiges Txogitxu. Ich bewunderte wie immer die viele Filigranarbeit, die in der Sterneküche zum Einsatz kommt. (Die Artischockenblättchen!)

Beim zweiten Gang musste ich etwas kämpfen: Die Website sagt „Enten Royale, Rote Garnele, Backerbsen“, ich dachte an Muschelschleim, der mir die feste Garnele etwas ruinierte. So ganz der Fischesser bin ich immer noch nicht, weswegen ich halt etwas misstrauisch war, wie ich schon sagte.

Aber egal, denn dann kam der Gang des Abends und von mir aus hätten wir hier Schluss machen können (dann hätte ich aber noch viel versäumt): Brandade aus Amurkarpfen und Kaviar vom Saibling. Anders ausgedrückt: ein hohes Schälchen, auf dessen Boden sich die weißgelbliche, cremig-feste Brandade befand, darauf eine Nocke aus Kaviar. Mehr nicht. Reichte aber. Der Gang wurde uns serviert mit der Anmerkung, dass er der Signature Dish des Hauses war, und nach einem Bissen wusste ich auch, warum. Es hört sich total bescheuert an, aber dieser Gang hat nicht nur hervorragend geschmeckt (ach was), sondern irre gute Laune gemacht. Der Kaviar platzte im Mund nicht nur einfach auf, wie er das halt macht, sondern er kitzelte im wahrsten Sinne des Wortes den Gaumen – ich musste dauernd grinsen, als ob mich wirklich jemand kitzelt! Es schmeckte so unglaublich ausbalanciert, fein, stimmig, herzhaft, nicht deftig, gleichzeitig frisch und modern und total traditionell – ein kleines Wunderwerk. Ich war kurz davor, mit dem Finger das Schälchen auszukratzen, so ungern wollte ich es wieder hergeben. Und dazu gab es den Wein des Abends, obwohl es kaum möglich ist, hier einen besonders hervorzuheben, denn jeder einzelne konnte überraschen. Aber der Sol von Michael Gindl, ein natural wine, war der Kracher. Überhaupt hatten wir derartig viele nicht-klassische Weine – ich glaube, wir hatten nur Bio-Weine, aber das muss ich nochmal nachgoogeln. Ich bin gerade zu satt und müde dafür. Wir konnten uns übrigens zwischen einer Weinbegleitung nur aus Österreich oder aus ganz Europa entschieden, und wir nahmen die aus Österreich.

Wir sprachen danach noch lange über diesen Signature Dish, denn er verkörperte für uns die Faszination von hoher Küche: Es braucht keine 50 Zutaten, um einen Gang zu produzieren, der einen umhaut bzw. einen starken und langanhaltenden Eindruck hinterlässt. Man muss es sich nur gönnen können, eben nicht zum Schnitzelmann um die Ecke zu gehen. Mir ist klar – das schreibe ich quasi dauernd bei den Sterneberichten –, dass diese Art Küche nicht für alle erschwinglich ist, was verdammt schade ist. Denn ich glaube, es würde weniger Vorurteile über sie geben, wenn man auch ein Einsteigermenü präsentieren würde. Und ich glaube, es würden mehr Menschen feststellen können, wie toll Essen sein kann. Das musste ich ja auch erst lernen, und es gibt wirklich nichts, was mein Leben mehr verbessert hat als zu wissen, wie glücklich Essen machen kann. Denn das war genau das Gefühl, mit dem wir irgendwann den Laden verließen: Wir waren glücklich.

Aber noch waren wir hungrig. Beim vierten Gang – Lachsforelle mit Senfgürkchen und Dillsauce – war letztere begeisternd mit ihrer vollmundigen Frische. Und ich fand den Teller toll: eine runde Holzscheibe, aus der ein Rechteck gesägt war, in dem sich die Speisen befanden.

Der fünfte Gang war der einzige, von dem ich etwas enttäuscht war: irre viele Zutaten, der Kellner brauchte gefühlt zwei Minuten, bis er alle aufgezählt bzw. uns gesagt hatte, wo sich jetzt was in welcher Konsistenz auf dem Teller befand (Neusiedlersee Zander, Haselnuss, Pilz, Trüffel, Mark), aber geschmeckt hat’s nur nach Pilz. Dafür war der sechste Gang (Unagi, Ibéricoschweinsauce, Senf, Fenchel) wieder herrlich würzig, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln. Auch darüber waren wir uns einig: Es stimmte einfach alles am Menü, es war ein guter Flow, zwischendurch ein etwas höheres Hoch als sonst, aber man hatte nie das Gefühl, irgendwie aus einer roten Linie rausgeworfen zu werden. Mein zweitliebster Gang kam zum Schluss: Kroatischer Langostino, Kalbszunge, Cochayuyo-Seetang, Zitrus. Oder anders: ein Langostino, der im Mund dahinschmolz, mit einer Kalbszungenwürze, die stützte, aber nicht überhand nahm. Und die kleinen Zitrusspitzen, die den Mund aufweckten, ließen mich wieder dümmlich-glücklich vor mich hingrinsen, weil sie gute Laune machten, wo ich sie gar nicht erwartet hatte.

Danach gönnten wir uns jeweils fünf Stückchen Käse vom Käsewagen, der schon den ganzen Abend verführerisch an uns vorbeirollte, und dazu einen Pseudo-Sherry (war ein Wein). Das erste von drei Desserts kam ohne Weinbegleitung, aber knackte wieder schön vor sich hin, wie so viele der Gänge. Und: Mich konnte hier der Teller sehr glücklich machen. Oberflächlich gesehen lag eine Schicht gepuffter Wildreis auf dem Teller, aber darunter verbargen sich im Teller drei Mulden, die mit Mascarponecreme und Johannisbeeren gefüllt waren. Dazu Salzmandeleis. Because they can.

Zum vorletzten Dessert gab’s dann ein Getränk, von dem F. seitdem nicht mehr aufhört zu schwärmen: Apfelbier. Ich war mehr vom Dessert verzückt, denn Meerretticheis kannte ich noch nicht, und ich bewunderte die hauchdünne Schokoscheibe, die alles abdeckte. Zum Schluss noch irgendwas Jogurtiges mit Estragongelee, was mir sehr gefiel, weil es eben nicht die Schokobombe war, die einen erledigte, sondern einen fast erfrischt vor die Tür kugelte. (Okay, ein paar Pralinen gab’s noch.) Espresso für mich, Schnaps für F., dann drückte uns der Sommelier (?) noch die von ihm schnell handgeschriebene Weinliste in die Hand, um die ich gebeten hatte, damit ich mir vom dem Orange Wine und vom Wein, der den ersten Gang begleitete, jeweils eine Kiste kaufen konnte. Und dann schlenderten F. und ich äußerst zufrieden wieder ins Hotel, weil wir einen sehr runden, sehr schönen, sehr unaufgeregten und gleichzeitig sehr spannenden Abend hatten. Und sehr satt geworden waren.

Tagebuch Montag, 5. November 2018 – Kleinkramtag

Gearbeitet, Steuer gemacht, staubgesaugt, an ausgewählten Stellen der Wohnung Staub gewischt, keine Lust auf weitere Putzarbeit gehabt, auf Feedback gewartet, gelesen. Eigentlich wollte ich auch mal wieder in meine Diss-Dokumente gucken, aber das verschiebe ich aus Gründen auf nächste Woche. Wein für die nächste Fehlfarben-Ausgabe bestellt.

Einen Artikel über Adam Driver in der Timeline gehabt, nur überflogen, aber dafür ewig das Foto angestarrt.

Die neue Folge Outlander gesehen (Start der vierten Staffel) und schon genervt gewesen: Können die beiden nicht mal eine Staffel lang einfach nur glücklich sein, uns hübsch anzusehende Sexszenen spendieren, ein Häuschen bauen und sich meinetwegen einen Hund anschaffen? Dieser ständige seelische Ausnahmezustand ist mir gerade zu anstrengend. Gilt auch für dich, This is Us: Stop trying so hard to make us cry.

The importance of stupidity in scientific research

Die Pointe dieses Essays von 2008 hatte mir F. im Laufe meines Studiums mehrfach eingebleut, weil ich sie immer wieder gerne vergessen habe – und sie auch immer wieder vergesse, wenn ich in Archiven verzweifle: „If you know what you’re doing more than half of the time, it’s not research.“ Der Meteorologe Paul Williams twitterte den Link gestern mit dem Satz: „I show this brilliant essay to all my new PhD students. It contains some excellent advice on how to handle – and even learn to love – the feeling of being constantly immersed in the unknown.“

Der Essay erwähnt, dass man sich als Studi während des BA oder MA meist halbwegs sicher fühlt – man lernt ja brav für die Tests und Klausuren, also weiß man Zeug. Erst bei den längeren Arbeiten fällt einem manchmal auf, welche Lücken man noch hat – und wie irrwitzig und unüberwindlich groß diese Lücken sind. Der Essay sagt aber auch: Genau so ist das richtig.

„My Ph.D. project was somewhat interdisciplinary and, for a while, whenever I ran into a problem, I pestered the faculty in my department who were experts in the various disciplines that I needed. I remember the day when Henry Taube (who won the Nobel Prize two years later) told me he didn’t know how to solve the problem I was having in his area. I was a third-year graduate student and I figured that Taube knew about 1000 times more than I did (conservative estimate). If he didn’t have the answer, nobody did.

That’s when it hit me: nobody did. That’s why it was a research problem. And being my research problem, it was up to me to solve. Once I faced that fact, I solved the problem in a couple of days. (It wasn’t really very hard; I just had to try a few things.) The crucial lesson was that the scope of things I didn’t know wasn’t merely vast; it was, for all practical purposes, infinite. That realization, instead of being discouraging, was liberating. If our ignorance is infinite, the only possible course of action is to muddle through as best we can. […]

One of the beautiful things about science is that it allows us to bumble along, getting it wrong time after time, and feel perfectly fine as long as we learn something each time. No doubt, this can be difficult for students who are accustomed to getting the answers right. No doubt, reasonable levels of confidence and emotional resilience help, but I think scientific education might do more to ease what is a very big transition: from learning what other people once discovered to making your own discoveries. The more comfortable we become with being stupid, the deeper we will wade into the unknown and the more likely we are to make big discoveries.“

Das sicherste Kernkraftwerk der Welt

Die FAZ schrieb gestern über das einzige Atomkraftwerk Österreichs, das nie ans Netz ging und das heute Strom durch Solarpanels erzeugt. Fand ich äußerst interessant zu lesen. Ich vertwitterte gestern die abfotografierte Zeitungsseite, @berlinschochise machte mich auf die Online-Version aufmerksam, die ich nicht gefunden hatte.

„In der Schaltzentrale, die mit ihren Kontrollpulten, Wählscheibentelefonen und Röhrenmonitoren aussieht wie ein Technikmuseum, liegen bis heute die handschriftlichen Protokollbücher aus dieser Zeit aus. „Werkzeug und Schlüsselkasten übernommen“, steht in diesen Zeugnissen der Monotonie, oder: „Rundgang durchgeführt“. Die gut bezahlte Langeweile hatte ihren Preis. Insgesamt sind in Österreichs größte Industrieruine 14 Milliarden Schilling geflossen, etwa eine Milliarde Euro.

Nach dem endgültigen Aus diente „Zwentendorf“ zunächst als Ersatzteillager für Siedewasserreaktoren im Ausland. Ein Investor wollte später in dem fensterlosen Gemäuer mit seinen 1000 Räumen ein Abenteuerland einrichten, ein anderer einen „Friedhof für Senkrechtbestattungen“. Am treffsichersten zeigte sich der Künstler Friedensreich Hundertwasser. Er schlug ein „Museum der fehlgeleiteten Technologien“ vor. Doch alle Vorstöße scheiterten.

Die EVN macht heute das Beste aus dem Fiasko und vermietet die Anlage. Im Kraftwerksinneren finden Betriebsfeiern, Konzerte, Modenschauen oder Messen statt. Die Turbinenhalle ist so groß, dass Autohersteller ihre neuesten Modelle umherfahren lassen. Auch als Filmkulisse haben der kirchenhohe Reaktor und das Gewirr aus Gängen, Hallen, Stiegen und Rohrleitungen schon gedient, etwa für den Katastrophenfilm „Restrisiko“ oder für die Kinoromanze „Grand Central“.

Tagebuch Samstag/Sonntag, 3./4. November 2018 – Grrrr und Hach

Sehr lange am Samstag geschlafen bzw. gedöst; lag vermutlich daran, dass ich nicht alleine im Bett war, das ist immer schön, zu zweit ewig rumzugammeln. Dafür war der Vormittag dann plötzlich schon fast um, ich hetzte noch zum Einkaufen, und dann musste ich mich schon in die Stadionklamotten werfen, um den Zug um 13.30 nach Augsburg zu kriegen.

Der FCA spielte gegen den Aufsteiger aus Nürnberg, und obwohl ich überhaupt nichts gegen die Stadt habe (Kunstarchiv! Fahrerlose U-Bahnen! Rostbratwürstchen!), ist mir der Fußballverein fürchterlich unsympathisch, keine Ahnung, warum. Einen Vorgeschmack auf die volle Fankurve bekamen wir schon an der Tramhaltestelle, wo die ersten Ultras rumnervten. Wir verzogen uns und warteten auf eine der nächsten Trams, die eher mit grünweißrot gekleideten Menschen besetzt war. Vor dem Spiel war ich super entspannt, ach, der Aufsteiger, ach, der olle Glubb, und nach wenigen Minuten schoss Herr Finnbogason auch das eins zu null. Die erste Halbzeit gehörte dem FCA und ich war weiterhin entspannt – bis nach der Halbzeitpause alles anders wurde. Die Nürnberger hatten sich daran erinnert, wie man Fußball spielt, der FCA hatte das anscheinend vergessen, und trotz eines wunderschönen Freistoßtores von Schmid ging die Partie 2:2 unentschieden aus und fühlte sich wie eine Niederlage an. Extrem pampig latschten wir zur Tram zurück und ich quengelte innerlich noch eine Stunde vor mich hin.

Zurück in München war dann auch das angepeilte Lokal total überfüllt, aber in der Alternativ-Location war noch genau ein Tisch für uns frei. Wir ließen uns pakistanische Köstlichkeiten statt Schnitzel servieren und waren wieder besser gelaunt. Noch ein Einschlafbierchen und wieder gemeinsam ins Bettchen. Das ist auch immer schön.

(Ja, ich weiß, ich klinge wie ein Teenager, der noch nie einen Freund hatte. Ich mag das aber ganz gern, mich wieder so albern verknallt zu fühlen.)

Sonntag wollte ich nicht ganz so lange rumgammeln und begann schon mal mit Saturday Night Live, während F. noch selig schlummerte. Nutellatoast und Assamtee, dann wollte ich eigentlich lesen, aber dann doch irgendwie lieber hirntot vor einer Serie rumgammeln. Ich entschied mich für die neue Amazon-Prime-Produktion mit Julia Roberts, Homecoming, von deren zehn Folgen ich gestern sieben schaffte – und mich spätestens seit dem Abspann der ersten Folge fragte, ob das Produktionsteam mich verarschen will. Jede Folge dauert ungefähr 21 Minuten, wonach noch drei Minuten DRAMATISCHER ABSPANN folgen. Die Schauspieler*innen sind top, die Ausstattung auch, aber die Story ist so albern auf zehn Folgen MIT DRAMATISCHEM ABSPANN gestreckt und die ständig unheilvoll dräuende Musik von einem miesen Agentenfilm von 1956 geklaut, dass ich nur noch mit den Augen rolle. Fieserweise will ich aber wissen, wie es ausgeht, also muss ich noch drei weitere Folgen mit den Augen rollen.

Netterweise hatte ich abends ein wunderbares Kontrastprogramm: Im Gasteig führten der Monteverdi Choir und das Orchestre Révolutionnaire et Romantique unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner Verdis Requiem auf.

Ich kenne mich mit Requiems null aus, ich weiß nicht, ob die immer der gleichen Struktur folgen (Verdis Requiem folgt, soweit ich der katholischen Begleitung glauben darf, einer Messe), ich hatte daher nichts, woran ich mich festhalten konnte so wie in den üblichen Sinfonien oder Klavierkonzerten, wo man schön im Kopf die Sätze abhaken oder Variationen zählen kann. Hier ließ ich mich einfach überrollen, und Kinders, wenn irgendetwas einen überrollen kann, dann das Dies Irae, was in dieser Aufnahme bei 08.43 losfeuert. In der Philharmonie mit ihrem verschachtelten Zuschauer- und Bühnenraum traten dafür noch vier zusätzliche Musiker*innen rechts und links auf eine Art Balkon, so dass wir altertümliche Posaunen (?) in Stereo hören konnten. In solchen Momenten fühle ich mich auch immer wie ein Teenager, der noch nie in einem klassischen Konzert war und erwischte mich dabei, grinsend und/oder mit offenem Mund dazusitzen. Posaunen in Stereo hatte ich aber wirklich noch nie!

Ich war ansonsten wie immer in der Klassik damit beschäftigt, mir die Klamotten der Damen genauer anzuschauen. Bei den Herren in ihren Pinguin-Outfits ist ja nie was zu holen, aber hier war immerhin ein Man Bun bei den Bratschen und ein schöner Hipster-Vollbart bei den Celli zu bewundern. Mein Liebling war eine Dame in der ersten Geige, die Hosen trug (immer ein Pluspunkt bei mir), dazu ein recht legeres Oberteil, und mit ihren kecken Ponyfransen und vor allem den 10-Zentimeter-Killerheels hätte sie auch super in eine Rockerkneipe hinter die Theke gepasst.

Die Solist*innen waren dem Anlass entsprechend auch in schwarz gewandet, die Sopranistin mit ein bisschen Glitzer am Ohr und Gürtel. Ich musste verwundert an mir feststellen, dass ich irgendwie über Tenöre weg bin. Jahrelang war das meine liebste Lage bei den Jungs, und gestern dachte ich nur beim ersten Einsatz des Herrn, pfft, Show-Off; guckt mal, wie hoch ich singen kann. Ein echter Kerl singt Bass! Total unfair, weiß ich auch, aber der Bass gestern war auch richtig schmelzig, nicht so brummig. (Meine Klassik-Adjektive sind auch noch Teenager.)

Aber irgendwann vergaß ich Klamotten und die innere, über Tenöre naserümpfende Rentnerin und hörte einfach nur noch zu, weil es so wunderschön war. Zwischendurch krachte das Thema (das ist vermutlich der falsche Begriff) vom Dies Irae noch zweimal rein, wenn ich richtig aufgepasst habe, und gerade, als ich dachte, so, jetzt bin ich drin, war das Requiem vorbei. F. holte unsere Jacken, ich wartete mit seinem Mütterchen in der Lobby, bevor wir dann noch einen kleinen Cocktail zu uns nahmen. Die 85 Minuten in der Philharmonie haben das ganze Wochenende rausgerissen. Und ich will dringend wieder Gesangsunterricht haben.

Tagebuch Freitag, 2. November 2018 – Unfreiwilliger Brückentag

Ewig über Euphemismen für die Menstruation nachgedacht, um den Blogeintrag zu beginnen, dann gedacht, fuck it, wir bluten halt, und manchmal strengt das an, manchmal tut es weh, manchmal merkt man’s kaum, bei mir war’s gestern allgemeine Matschigkeit, aber netterweise hatte ich rein gar nichts zu tun und blieb daher gnadenlos den ganzen Tag mit einer Wärmflasche, Schokolebkuchen und zwei Kannen Tee auf dem Sofa. Dazu gab’s die neuen Folgen von Grey’s Anatomy, The Good Place, Will & Grace (da waren die ersten drei Folgen der Neuauflage richtig gut und seitdem ist es Müll, aber ich gucke es weiter) sowie Mom.

Zwischendurch wollte ein Kunde was, aber nur kurz.

Dann las ich Zeitung, dann das Internet, dann mein Buch, dann guckte ich Futurama, das in Bezug auf weibliche Personen und deren Ansprache doch äußerst schlecht gealtert ist (oder noch nie gut war), schlief zwischendurch bei einer Folge ein, guckte die Folge nochmal, schlief wieder ein, aß zwei Nutellabrote und wartete auf F. Wein getrunken, gemeinsam weitergeschlafen.

(Zwischendurch mal den Tampon gewechselt.)

Tagebuch Donnerstag, 1. November 2018 – Feiertag

Mittwoch abend gemeinsam eingeschlafen, endlich mal wieder.

Morgens keine FAZ auf Papier gelesen, denn wegen Allerheiligen wurde sie hier in Bayern nicht geliefert. Stattdessen bekam ich aber netterweise per Mail einen Code zum Download des ePaper bzw. der digitalen Ausgabe. Also las ich die auf dem iPhone, während F. noch ein bisschen länger döste, und weiß nun wieder, warum ich das Ding auf Papier haben will: Ich mag den schnellen Überblick über eine ganze Seite und dann das gezielte Eintauchen in einen Artikel anstatt am Smartphone ewig rumzuscrollen und auf Teaser zu klicken.

Frühstück im Café Puck. Ich wollte gleichzeitig etwas Süßes und etwas Herzhaftes und am besten noch etwas Frisches, wofür ein American Breakfast mit Pancakes, Rührei und Würstchen sowie einem Berg Obst am Tellerrand genau das richtige war. Dazu Milchkaffee und Apfelschorle. Danach war ich den ganzen Tag satt. (Okay, ein paar Spekulatius und Lebkuchenherzen haben noch reingepasst. Und die übliche Kanne Tee.)


Wir sind uns einig, dass das ein umetikettierter Osterhase ist, oder? Netter Versuch, Lindt.

Mittags eine Mail von einem Designbüro in Hamburg bekommen, mit dem ich gerade auf einem Kunden zusammenarbeite, der in Nordrhein-Westfalen sitzt. Kunde und ich hatten also eigentlich Feiertag, aber anscheinend waren doch alle am Rechner. Mail beantwortet.

In den letzten zwei Wochen haben mich gleich mehrere Leute auf meine Diss angesprochen. Bis vor Kurzem saß ich in einem fiesen Motivationsloch, vor allem, seit die Erben von Grossberg es abgelehnt hatten, mich in seinen Nachlass gucken zu lassen. Ich habe dann zwar das, was ich schon über Protzen herausgefunden hatte, in einen anderen Kontext gedengelt und auch schon eine Mail an meinen Doktorvater geschickt, aber das war Ende Juli. Seitdem hatte ich den Umzug und die Arbeit für Geld im Kopf und war nebenbei schlicht bockig. An schlechten Tagen denke ich, dass die Diss total egal ist, weil ich weiß, dass ich beruflich nichts mehr mit ihr anfangen werde können. Dann denke ich so selbstsabotierende Dinge wie, ach, rumliegen und Serien gucken ist ja auch super anstatt im ZI zu sitzen und über Zeug zu brüten, das eh niemand interessiert.

Als aber nun in den letzten Wochen Leute nachfragten und ich erklären musste, wo es denn hingehen soll, merkte ich, dass die Bockigkeit weg war. Stattdessen hatte ich wieder Lust, über das Thema zu sprechen und freute mich auch, darüber sprechen zu können. Wenn Leute nachfragen, ist das immer ein gutes Zeichen; also wenn nach der höflichen Einstiegsfrage noch weitere kommen, die zeigen, dass da wirklich jemand wissen will, was ich so mache. Das hat mich gefreut und auch beruhigt, dass ich anscheinend wieder Lust auf das Thema habe.

Die verdammten Instagram-Videos aus dem Prado haben unter anderem dafür gesorgt, dass ich mit Babbel Spanisch lerne (oder es wenigstens versuche). Duolingo macht mich wahnsinnig mit seinen komplett quatschigen Sätzen, das hatte ich mal für Französisch, habe es aber schnell gelassen. Keine Ahnung, ob die anfängliche Faszination lange hält, aber ich habe mir ein Drei-Monats-Abo von Babbel gegönnt und klicke abends meist eine Lektion durch und wiederhole ein bisschen. Ich merke aber jetzt schon, dass ich dringend eine Grammatik brauche, und ich hätte auch gern ein Übungsbuch. Ich lerne wirklich besser mit Vokabelkarten und Lückentexten auf Papier, obwohl Babbel das echt schon gut macht. Empfehlungen werden gerne entgegengenommen.

Und guckt euch die Live-Videos vom Prado an, solange sie noch da sind! So gut wie jeden Morgen stellt ein Kurator ein Werk vor und erzählt einfach zehn Minuten lang was. Man sieht nichts außer den Raum, in dem das Bild oder die Skulptur steht, geht dann näher ran und hört jemandem zu, der Spanisch spricht. Mehr kann ich nicht sagen, außer dass das bei mir anscheinend gereicht hat, spanische Vokabeln lernen zu wollen. Verdammtes Social-Media-Gedöns!

(<3 Prado!)

A Hundred Years After the Armistice

Der New Yorker empfiehlt Bücher zum Ende des Ersten Weltkriegs – oder rät von ihnen ab. Ich fand den Artikel auch deshalb gut, weil er Kriegsende sowie Nachkriegs- bzw. Zwischenkriegszeit kurz abbildet.

„But can we really say that the war was won? If ever there was a conflict that both sides lost, this was it. For one thing, it didn’t have to happen. There were rivalries among Europe’s major powers, but in June, 1914, they were getting along amicably. None openly claimed part of another’s territory. Germany was Britain’s largest trading partner. The royal families of Britain, Germany, and Russia were closely related, and King George V and his cousins Kaiser Wilhelm II and Tsar Nicholas II had all recently been together for the wedding of Wilhelm’s daughter in Berlin. And yet by early August of that year, after the epic chain of blunders, accusations, and ultimatums that followed the assassination of the Austrian archduke Franz Ferdinand, at Sarajevo, the entire continent was in flames.

The war took a staggering toll: more than nine million men killed in combat, and another twenty-one million wounded, many of them left without arms, legs, noses, genitals. Millions of civilians also died. And the long-range consequences were worse still: in Germany, the conflict left a simmering bitterness that Hitler brilliantly manipulated. It is impossible to imagine the Second World War happening without the toxic legacy of the First.

Traditionally, the Treaty of Versailles, signed in June of 1919, has been blamed for the war’s disastrous aftereffects. Schoolbooks tell us that Germany was humiliated: forced to give up territory, pay huge reparations, and admit guilt for starting the war. Hitler did indeed thunder a great deal about Versailles. But, two years after the treaty was signed, the amount of reparations was significantly but quietly reduced. The territory that Germany lost contained only about ten per cent of its people, many of whom were not ethnic Germans. Despite its flaws, the treaty was far less harsh than many imposed on other nations that had been defeated in war. The problem was something else: when the war came to an end, at the eleventh hour of the eleventh day of the eleventh month of 1918, few Germans considered themselves defeated. The resentment that led to a new cataclysm two decades later was really forged by the Armistice.“

Tagebuch Mittwoch, 31. Oktober 2018 – Zeichnen

F. kam von einem Kurzurlaub wieder und ich wollte ihm einen kleinen Willkommensgruß in gezeichneter Form auf den Esstisch legen. Bei den ersten Skizzen merkte ich, dass ich quasi alles verlernt hatte, was ich mir in Volkshochschulkursen, im Kunstunterricht und beim Telefondoodeln angeeignet hatte (man telefoniert ja nicht mehr an einem Telefon mit Schnur!). Deswegen googelte ich nach einer Vorlage, die wenigstens in der Form dem Bild entsprach, das ich im Kopf hatte. Das zeichnete ich dann mit Bleistift und viel künstlerischer Freiheit ab, zog die richtigen Linien mit einem schwarzen Stift nach, radierte den Bleistift weg, nachdem ich zehn Minuten lang mein Radiergummi gesucht hatte, und konnte dann zu F. fahren, um die Karte (und Schokolade) abzulegen.

Gearbeitet.

Den Geschirrspüler eingeräumt und mich darüber gefreut, einen Geschirrspüler zu haben. Überhaupt freue ich mich so ziemlich täglich über irgendwas in der Wohnung und denke dauernd, ach, was geht’s mir gold. (Nicht an die Miete denken. Nicht an die Miete denken. Nicht an die Miete denken.)

Weiter Feuchtwangers Exil gelesen, nachdem die FAZ durch war. Dabei kurz die Luft scharf eingezogen, als ich auf einen Satz stieß, der beschreibt, wie ein Nazi-Funktionär den Roman eines vertriebenen Schriftstellers liest, der sich am NS-System abarbeitet: „Eigentlich, dachte er, müßten uns diese emigrierten Schriftsteller dankbar sein, daß wir ihnen so großartige Stoffe liefern.“ (Berlin 2012, S. 89.)

Exil ist bisher das Buch in der Wartesaal-Trilogie, was am allerwenigsten Spaß macht. Aber Feuchtwanger! So toll, diese Sprache!

Eine Spur mehr zu laut wäre noch besser gewesen

Der Film Bohemian Rhapsody (Trailer) kommt in der Kritik nicht besonders gut weg. Dietmar Dath to the rescue!

„Wie lange ist es her, dass so verklemmt wie im aktuellen Gerede über „Bohemian Rhapsody“ an der Inszeniertheit und freimütigen Plattheit eines Films herumgebeckmessert wurde, der nichts weiter zu sein und zu können behauptet als die offiziell abgesegnete Selbstbeweihräucherung samt Erinnerungsarbeit einer Rockgruppe?

Sieht man sich audiovisuelle Original-Dokumentaraufnahmen von Queen an (am besten die allerbeste, aufgenommen in Montreal 1981), erfährt man Mercury als einen, der besser konnte, was er tat, als andere, weil er mehr Spaß dran hatte als alle, und umgekehrt – ein funkensprühender Regelkreis der legitimen Selbstverehrung, der nur von außen zerstört werden konnte (und auch wurde, von einem saudummen Virus). Der Titel seiner edelsten Arie lautet „Somebody to Love“, was bei einem berufsmäßigen Narzissten etwas ganz anderes bedeutet, als wenn die Nummer „Somebody to be Loved by“ hieße: Geliebtwerden oder nicht, das war nie sein Problem, auch wenn er die Stimmen der Sehnsucht, des Defizits, der Verlassenheit ebenso sicher aus sich sprechen lassen konnte wie die der Lust. Der Mann, dessen selbst ausgesuchter Nachname „Quecksilber“ war, konnte jubeln und klagen wie keiner, das teilt der Film treu mit, auch wenn die Gitarrenspuren, die ihn dabei unterstützen, hier und da ein bisschen lauter hätten sein dürfen (wir Altfans sind schwerhörig, erfahrungsdumm und leicht zu beeindrucken, aber nach den ersten Takten von „Keep yourself alive“ hat „Bohemian Rhapsody“ uns in der Tasche). […]

Pathos als Euphorie, Euphorie als Pathos, „Don’t Stop Me Now“ und „Who Wants to Live Forever“ – man könnte eine ganze Pop-Anthropologie aus Queen-Songtiteln bauen, und sie wäre nicht dümmer als irgendwas, was in akademischen Fächern vom Menschen jeden Tag an allen Unis so zusammengeforscht wird. Ein Kritiker der mangelnden Bereitschaft des Feuilletons, sich für Kitsch zu begeistern, meinte neulich, das Schlimme daran sei eine „ elitäre Kunstauffassung“. Darauf kommen nur Leute, die auf Privatschulen waren – Feuilletonismus im schlechten Sinn ist doch gar nicht elitär, Freddie Mercury war viel elitärer (macht nur mal die Augen auf und schaut euch diese Präsentation an, demokratisch geht anders). Das Allerelitärste ist (im Guten wie, manchmal, wie jetzt in Brasilien, im Bösen) sowieso das Allerpopulärste, nämlich die Stimme, die sich an die Masse wendet, indem sie allen Einzelnen darin suggeriert, man unterhalte sich von Meisterschaft zu Empfänglichkeit, von oben nach unten. Autorität muss ein bisschen rätselhaft sein, um zu funktionieren – keine Sau weiß, worum es im Song „Bohemian Rhapsody“ überhaupt geht, was Galileo, Scaramouche und Figaro darin zu suchen haben, aber als der Plattenfirmenidiot sich genau darüber beschwert, reagiert Freddie Mercury, der bis in die Titel letzter Werke („Innuendo“!) wusste, dass das Unverständliche das Allgemeingültige sein kann, mit der berechtigten Arroganz des Götterlieblings.“

PS: Ich mochte den Musikschnitt im Teaser-Trailer sehr.

Ach, hier, komm.