Der Balkon – Geschichte und Nutzung

Meine zwei Hamburger Nervensägen ärgern mich seit Tagen auf Instagram oder Twitter, wo ich total unschuldig von meinem neuen Leben auf dem Balkon berichte. Ich bin natürlich noch ängstlich und vorsichtig mit diesem „da draußen“. Aber ich werde nicht ernstgenommen!

Schätzekens – you woke the beast. Ich war gestern stundenlang im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, wo sich erstaunlich wenig Literatur zu Balkonen finden ließ, aber ich habe doch viel gelernt. Das könnt ihr jetzt auch! Bussi, bitches!

Was ist das denn überhaupt, dieser Balkon?

Wir beginnen mit einer braven Lexikondefinition: „Mit Balkon wird bezeichnet jede in einen begrenzten oder unbegrenzten Raum vor eine Wand vorgekragte Plattform, die von einem hinter dieser Wand liegenden Raum aus zugänglich ist und ringsum durch eine Brüstung abgeschlossen wird. Der Balkon ist gewöhnlich offen, kann aber auch geschlossen sein.“

Und wir unterscheiden ihn von anderen lustigen Gebäudeteilen: „Der geschlossene Balkon unterscheidet sich von einem Erker dadurch, dass er von dem hinter ihm liegenden Innenraum abgesondert ist und nicht ein gemeinsames Ganzes mit ihm bildet, von einer Loggia dadurch, dass er nicht in den Baukörper einspringt.“ (Beide Zitate Isermeyer 1937, Literatur siehe ganz unten am Ende. Irgendwann werde ich Fußnoten in diesem Blog haben. Aber nicht heute.)

In eben diesem Lexikonartikel wird der Beginn der Balkongeschichte ins 1. Jahrhundert n. Chr. gelegt. Thomas Lauer schreibt hingegen im Ausstellungskatalog Balkone. Eine Ausstellung der Handwerkspflege in Bayern von 1991, dass Prätor Caius Menius am Forum Romanum 318 v. Chr. „einige aufgehängte Loggien als Theatertribünen errichten ließ, die die Vorgänger der Balkone gewesen sein sollen. Aber auch die Haus-Urnen der Etrusker zeigten schon kleine Loggien, die durchaus die Priorität für sich beanspruchen könnten, wenn Aristoteles nicht schon an ein Athener Gesetz aus dem Jahr 403 v. Chr. erinnert hätte, das vorschreiben wollte, daß ‚kein Balkon errichtet werden soll, der auf die Straße hinausragt‘.“ (S. 57) Isermeyer betont in seinem Lexikonartikel allerdings, dass es schwierig sei, die Geschichte der Balkone zu schreiben, weil es im Laufe der Jahrhunderte diverse, sich ähnelnde Bauformen mit unterschiedlichen Bezeichnungen gegeben habe, die schwer voneinander zu trennen seien.

Sowohl Isermeyer als auch Lauer erwähnen die Balkone im mittelalterlichen Festungsbau, wo sie als Pechnasen, Wehrgänge und Abtritte genutzt wurden.

Lauer beschreibt zudem Balkone in Mesopotamien und der antiken Stadt Tello, wo vermutlich eher geschlossene Balkone am Palast des Sumerers Gudea angebracht waren. Ich erinnere mich an meine einzige Vorlesung zu islamischer Baukunst, wo ich die ebenfalls geschlossenen Balkone im Osmanischen Reich bzw. der heutigen Türkei kennengelernt habe, die mit verzierten Holzgittern vor den Blicken der Vorbeiflanierenden schützen. Diese geschlossenen Balkone finden sich auch in Indien.

Das 19. Jahrhundert, der alte Game Changer mal wieder

Balkone an bürgerlichen Häusern anstatt an militärischen Anlagen oder Adelspalästen sind im westlichen Europa noch eine relativ junge Erscheinungsform: Erst seit dem Klassizismus wurden sie regelmäßiger als Gestaltungselement genutzt und „kamen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung.“ (Nickl 1991, S. 71). Sie befanden sich meist im ersten Stock, der sogenannten Belle Etage, dem Stockwerk, „das seit dem Barock traditionsgemäß das Nobelstockwerk war und nunmehr meist dem Hausbesitzer zu Wohnzwecken diente.“ (Klein 1991, S. 33) Klein beschreibt den Zwittercharakter dieses Gebäudeteils: Er liegt sowohl innen als auch außen, man hält sich nicht allzulange auf ihm auf, teils um nicht als neugierig zu gelten, teils auch, um sich selbst nicht „von den Nachbarn auf die Teller sehen zu lassen“; der Balkon dient einerseits der Erholung an der frischen Luft, aber andererseits auch als vernachlässigte Abstellfläche. (Klein 1991, S. 33)

Über den Charakter von Balkonen schreibt auch Tom Avermaete in Rem Koolhaas’ Monsterbrocken Elements of Architecture, ein Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung auf der Biennale in Venedig 2014 aka ein gut 2.300 Seiten dickes Coffee Table Book.

„Unlike its cousins, the terrace and the logggia (dubbed by modernists as the ‚street in the sky‘), the balcony projects […] from the facade. This is the essence of the balcony’s strange state of exception: it is both inside and outside, private and public, an architectural crescendo and totally superfluous. […]

In Europe, the rise of the middle classes diffuses the balcony’s monarchical association, tilting it towards leisure and urban display – seeing and being seen. Balconies proliferate along Haussmann‘s wide Parisian boulevards – to the intense displeasure of critic Quatremère de Quincy, who thinks they are a crass fashion violating centuries of architectural order.“ (Avermaete 2018, S. 1075)

Diese angesprochene „architektonische Ordnung“ spiegelte die veränderte gesellschaftliche Ordnung wider, wie Lothar Binger und Susann Hellemann in einem Ausstellungskatalog zu Berliner Balkonen schreiben: „Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der Berliner Balkon – zentral über dem Eingang angebracht – eine Repräsentationsfunktion zu erfüllen und blieb ein ins Auge springender, ‚hervorragender‘, wenn auch kahler, unbegrünter Schmuck des herrschaftlichen Hauses. Dieser Zentralbalkon war vor allem an Adelspalästen und an vornehmen Bürgerhäusern zu finden. Aber kein Bürger hätte es sich im 18. Jahrhundert in der Zeit noch ungebrochener Adelsherrschaft angemaßt, auf diesem Zentralbalkon Platz zu nehmen, sich zu zeigen und von oben herab andere, auch ‚Personen von Stand‘ zu beobachten.

Die zögernde bürgerliche Nutzung der Berliner Balkone begann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, und ihr gingen tiefgreifende wirtschaftliche und politische Veränderungen voraus. Die Französische Revolution von 1789 hatte die alten absolutistischen Monarchien Europas erschüttert. Ihre Auswirkungen auf die preußische Residenzstadt Berlin nahmen jedoch erst 1806 dramatische Gestalt an, nachdem der preußische Staat unter dem Ansturm der napoleonischen Armeen zusammengebrochen war. Der königliche Hof verließ fluchtartig Berlin, und die Berliner hatten über zwei Jahre lang eine überaus harte französische Besatzungszeit zu ertragen. Nach dem vollständigen Zusammenbruch des Staates waren die alten Verwaltungsstrukturen und Machtverhältnisse nicht länger aufrechtzuerhalten. Als ersten wurde 1807 die Erbuntertänigkeit der Landbevölkerung aufgehoben. Viele Landleute drängten in die Städte – vor allem nach Berlin.“ (Binger/Hellemann 1988, S. 21)

Der Text beschreibt dann die wirtschaftliche Rückständigkeit der Stadt, vor allem in der Textilbranche im Vergleich zu England, sowie das entstehende städtische Elend durch den Zuzug der Menschen vom Land.

„Anderseits bildete sich nach den Befreiungskriegen eine Schicht wohlhabender Bürger, die das kulturelle Erscheinungsbild Berlins zu prägen begannen. […] Die Häuslichkeit wurde zum Angelpunkt des Lebens, kultivierte Innerlichkeit und harmonisierende Idylle drückten sich in wissenschaftlicher Betätigung, in geselligen Zirkeln, in unverbindlicher politischer Debatte, in Gefühlsseligkeit, Naturverbundenheit und dilettierenden Künsten der Salons aus.“(Binger/Hellemann 1988, S. 22)

Exkurs: Dilettantismus (bin ich bei meiner privaten Lektüre gerade drübergestolpert, gleich mal zitieren)

Ein kleiner Schlenker zum Begriff des Dilettantismus, der anscheinend gerade auf Facebook und YouTube wieder en vogue wird:

„Die Begriffe ‚Dilettant‘ und ‚Dilettantismus‘ [haben] seit dem 18. Jahrhundert, als sie aus England importiert wurden, mehrere Bedeutungsschwankungen durchgemacht […]. In der Weimarer Klassik – bei Karl Philipp Moritz, Goethe und Schiller – hatte der Begriff Dilettant einen überwiegend abwertenden, kritischen Sinn. Der Dilettant war der exemplarische Nicht-Künstler: halb Liebhaber, halb Stümper. […] Nach der Goethe-Zeit jedoch erfuhr der Begriff hier und da eine energische Aufwertung, etwa bei Arthur Schopenhauer, der den Dilettanten auf dem Feld der Wissenschaft und Philosophie höher stellte als den Gelehrten vom Fach. Diese Sicht der Dinge machte sich niemand entschiedener zu eigen als Houston Stewart Chamberlain […] Obwohl von Hause aus Naturwissenschaftler, verstand er es, sich das Ansehen eines über den Einzelwissenschaften stehenden, alle Aspekte der Kultur, Religion und Politik souverän überblickenden Universalgenies zu geben.“

Genie war im 18. Jahrhundert das Gegenstück zum Dilettant – der Geniebegriff verfolgt gerade die Kunstdiskussionen bis heute, die Nervensäge. Hier noch Chamberlains super Erklärung, womit wir wieder bei den Impfgegnern und Sandy-Hook-Verschwörern wären: „Den Vorteil des Dilettantismus beschreibt Chamberlain dahingehend, dass eine umfassende Ungelehrtheit einem großen Komplex von Erscheinungen eher gerecht werden, dass sie bei der künstlerischen Gestaltung sich freier bewegen als eine Gelehrsamkeit, welche durch intensiv und lebenslänglich betriebenes Fachstudium dem Denken bestimmte Furchen eingegraben hat.‘“ (Beide Zitate Vaget 2017, S. 92)

Jetzt kommen endlich die Blümchen dran! Und drauf.

Schlenker Ende. Zurück ins Berlin des 19. Jahrhunderts: Kaffeehäuser und Konditoreien wurden zu Treffpunkten von politisch Interessierten, blieben aber auch unpolitischer Rückzugsort. „Das Gros der Berliner Kleinbürger begnügte sich mit dem Meckern über die Obrigkeit, mit Stoßseufzern über die bedrückenden Verhältnisse und beobachtete distanziert das öffentliche Geschehen, statt sich aktiv zu beteiligen. […] Diese beobachtende Haltung wurde schließlich Voraussetzung dafür, dass man Balkone zu nutzen begann, von denen das städtische Geschehen zurückgezogen beobachtet werden konnte.

Mit dieser Balkonnutzung eignete sich der Bürger verstohlen eine Öffentlichkeit an, die bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts noch aussschließlich den Interessen des Adels vorbehalten war. Die Balkonnutzung und Begrünung begann auch nicht auf den Repräsentationsbalkonen, sondern weniger auffällig auf rückwärtig gelegenen Balkonen.“ (Binger/Hellemann 1988, S. 22) E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster stellte diese Neigung des Bürgertums, die Welt aus einer geschützten Nische zu beobachten, dar.

So, hier, aufgepasst, jetzt kommt meine Lieblingsstelle:

„Nach den Befreiungskriegen wurden um 1820 mit dem Beginn des Biedermeiers zum ersten Mal Balkone mit Pflanzen geschmückt. Das um 1800 entstandene romantische Naturgefühl und eine starke Verbundenheit des Menschen mit der Landschaft drückten sich in einer Zuneigung zur niederdeutschen Ebene, zum Havelland und zum Spreestrom aus. Schinkel machte als der die folgenden Jahrzehnte bestimmende klassizistische Baumeister mit seinen Bauwerken das Verhältnis Landschaft und Stadt zum Thema. Lenné gestaltete als Landschaftsarchitekt die bestehenden weitläufigen Parkanlagen wie den Tiergarten, schuf die Grundlagen für später angelegte Stadtparks und begrünte verschiedene Stadtplätze: 1824 Leipziger Platz, 1842 Belle-Alliance-Platz, 1845/46 Opernplatz etc.“ (Ebd., S. 29) Einschub: Der Englische Garten in München war mit 1789 einen Hauch früher dran.

„In jenem Zeitraum breiteten sich auch liebevoll bepflanzte Gärten aus. Die Stadt wurde zaghaft grün, von den Plätzen zu den Gärten bis hinab zu den Blumenfenstern und schließlich zu den Balkonen. Vorläufer des blumenliebenden Balkonnutzers war der ‚Blumist‘, der aber seiner Neigung – wenn überhaupt – nur auf einem Fensterbrett nachkommen durfte. Er lebte dabei in ständiger Unsicherheit; denn in den Mietverträgen jener Zeit war ausdrücklich untersagt, das Mauerwerk durch herabfließendes Wasser zu beschädigen. Zuwiderhandlungen wurden mit sofortiger Exmittierung bestraft.“ (Binger/Hellemann 1988, S. 29)

BLUMIST! Mein Wort des Tages.

„Die schöne Aussicht als Naturerlebnis und der sehnsuchtsvolle Blick in die Ferne wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum bestimmenden Motiv, Balkone zu bauen und zu nutzen.“ Aber es war „zu jener Zeit [bis in die 1850er Jahre hinein] noch unüblich, sich auf dem Balkon niederzulassen und sich häuslich einzurichten. Der Aufenthalt beschränkte sich wohl nur auf einen kurzen Augenblick und Ausblick.“ (Ebd., S. 30)

Ende des Jahrhunderts ließen viele Stadtbewohner ihre Balkone geradezu überwuchern: „Die Laube über dem Balkon verschloss den Blick vor der steinernen Umgebung.“ (Ebd., S. 39) Um 1900 gab es die ersten Tipps, was genau man anpflanzen könnte – und die ersten Wettbewerbe wie in Steglitz, das 1900 vermutlich als erste Stadt des Deutschen Reichs einen jährlichen Balkonwettbewerb ausrief, weil attraktiver und üppiger Balkonschmuck durchaus auch dem Fremdenverkehr nützlich war. (Ebd., S. 40) 1912 entstand der Begriff des „Nützlichkeitsbalkons“, der spätestens im Ersten Weltkrieg wieder wichtig wurde: „In den Tageszeitungen [wurden] gelegentlich Empfehlungen für den ‚Kriegsgemüseanbau‘ auf dem ‚Berliner Kriegsbalkon‘ zu lesen, die aber von Gartenbaufachleuten als unseriös zurückgewiesen wurden. “(Ebd., S. 41)

Hier könnte jetzt noch eine riesige Abhandlung zu Balkonen in Gemälden stehen, aber das machen wir wann anders. Vielleicht den Manet als Beispiel, der geht ja immer. Dieser Blogeintrag ist schon wieder länger als meine Hausarbeiten im Bachelor.

Gesundheit, Politik, Werbung und Individualismus

„At the turn of the 20th century, medical theories associated the balcony with improved health and hygiene. In his novel The Magic Mountain, Thomas Mann employs the balcony of an Alpine sanatorium as metaphor for the moth-eaten world of European intellectual culture: lofty and detached, inhabited by those too fragile for the pungent reality below. As Mann wrote his massive book, the First World War shattered the contemplative universe of the balcony.“ (Avermaete 2018, S. 1075)

In den 1920er-Jahren begann der Balkon allmählich, zu einer Erweiterung des Innenraums zu werden. In den 1928 erlassenen „Richtlinien für die Arbeiten der Architekten an Wohnungsbauten der Stadt Berlin“ stand zu lesen: „Ihre architektonische Verteilung soll eine Folge der guten Bewohnbarkeit sein, d. h. die Balkone und Loggien dürfen nicht willkürlich wegen der Fassadenwirkung verteilt sein, sondern sollen sich aus dem Grundriss organisch ergeben.“ (Binger/Hellemann 1988, S. 43.) Balkone von Bürogebäuden oder Kaufhäusern wurden als Pausenplatz erobert – man hielt sich inzwischen länger auf ihnen auf. Und: Der Balkon wurde wieder politisch.

„Between the First World War and fascism, [the balcony] becomes a stage from which to orchestrate mass spectacle. The balcony positions the leader in direct, visible connection with the masses, but elevated above them. In the 1930s, Mussolini reanimates a medieval balcony type, the arengario, having them constructed wherever he might go.

The balcony-as-platform persists in the postwar world, but loses its centrality: after lending itself so willingly to demagoguery, the balcony as it was – singular, domineering – is thoroughly descredited (“Enough with the balcony!” became a slogan of Italian anti-fascist politics). TV and other media supersede the balcony appearance as a means of image-making, and the micro-managed nature of modern politics doesn’t make for compelling balcony scenes (though Latin-American populism, c. f. Evita, still makes a strong case for the political balcony).“ (Avermaete 2018, S. 1075)

Im Balkon-Kapitel von Avermaete folgen dann diverse Fotoseiten mit Balkonen, darunter auch demokratische Führer*innen, die huldvoll von Balkonen runterwinken. Erwähnt wird auch das Attentat bei den Olympischen Spielen in München, bei denen eins der inzwischen ikonischen Fotos einen der maskierten Terroristen auf einem Balkon des olympischen Dorfs zeigt. Auch ein Bild von Assange auf einem der Winzbalkone der Botschaft von Ecuador in London ist zu sehen, sowie POTUS und FLOTUS, die vom Weißen Haus runterwinken, Michael Jackson mit Baby in Berlin und natürlich die Egoíste-Werbung von Chanel.

Ebenfalls spannend: wie sehr Balkone in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bewusst als architektonisches und soziales Bauelement gesehen wurden. Zitiert wird der Soziologe Daniel Bell, der 1956 meinte, dasss Balkone die Möglichkeit eines „sense of individual self in our mechanized society“ brächten. (Avermaete 2018, S. 1187) Und weil das hier ein Blogeintrag und keine Masterarbeit ist, gibt’s keine hundert Beispiele, sondern nur zwei Links, nämlich auf die Torres Blancas in Madrid (1969) und Les Choux (1972). Das Kapitel zu post-colonial balconies ist auch super, aber dafür müsst ihr bitte selbst in die Bibliothek gehen.

In „The Return of the political balcony“ beschreibt Avermaete den Wechsel vom bewohnten Abstell- oder Pausenbalkon zum bewusst begrünten Balkon, der aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen (Selbstversorgerbalkon) nun eine andere politische Komponente hat. Es geht nicht mehr um die großen Reden, die von ihm geschwungen werden, sondern um die individuelle Weltverbesserung.

Auch die Nicht-Sichtbarkeit, das verborgene Beobachten, das Ende des 18. Jahrhunderts so wichtig war, hat sich geändert: Gerade bei Luxuswohnungen werden Balkone heute bewusst transparent gestaltet, um herzeigen zu können, was man hat. In Mumbais Aquaria Grande wurde das 2012 auf die Spitze getrieben – durch Balkonpools, die es allerdings schon 1977 im Condomínio Edifício Penthouse in Sao Paulo gegeben hatte, was damals als deutlicher Riss zwischen Arm und Reich gedeutet wurde. Würde ich, gerade auf Mumbai bezogen, auch heute so stehenlassen.

Über die politischen und historischen Implikationen dieses kleinen (oder auch riesigen) Gebäudeteils hatte ich noch nie nachgedacht. Well played, Hamburgnasen. Die Blumistin geht jetzt wieder an die frische Luft.

Wir schließen mit Musik:


(Manic Street Preachers – A Billion Balconies Facing the Sun)

Literatur:

Tom Avermaete: „Balcony“, in: Rem Koolhaas: Elements of Architecture, Köln 2018, S. 1072–1251.

Lothar Binger/Susann Hellemann: Von Balkon zu Balkon. Berliner Balkongeschichten, Buch zur Ausstellung in der Galerie im Körnerpark vom 2. Oktober bis 6. November 1988, Berlin 1988.

Christian-Adolf Isermeyer: „Balkon“, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. I (1937), Sp. 1418–1423; abrufbar unter www.rdklabor.de/w/?oldid=89071 [11.6.2019].

Dieter Klein: „Der Balkon in der Wohnhauskultur des 19. Jahrhunderts“, in: Kat. Ausst. Balkone. Eine Ausstellung der Handwerkspflege in Bayern, Galerie Handwerk München, München 1991, S. 31–54.

Thomas Lauer: „Planung und Gestaltung von Balkonen“, in: Kat. Ausst. Balkone. Eine Ausstellung der Handwerkspflege in Bayern, Galerie Handwerk München, München 1991, S. 55–63.

Peter Nickl: „Eine Reise durch Balkonien“, in: Kat. Ausst. Balkone. Eine Ausstellung der Handwerkspflege in Bayern, Galerie Handwerk München, München 1991, S. 67–87.

Hans Rudolf Vaget: „Wehvolles Erbe.“ Richard Wagner in Deutschland – Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt am Main 2017.

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1000 Fragen, 241 bis 260

(Ich paraphrasiere Christian: „Die Fragen stammen ursprünglich aus dem Flow-Magazin, Johanna von pink-e-pank.de hat daraus eine persönliche Blog-Challenge gemacht, und Beyhan von my-herzblut.com hat das PDF erstellt.“)

241. Fühlst du dich im Leben zu etwas berufen?

Nein. Ich arbeite daran, zufrieden und ein halbwegs netter Mensch zu sein, das muss reichen.

242. Bist du nach etwas süchtig?

Ich empfände mein Leben als ärmer ohne Schokolade, Mittagsschläfchen und Internet, aber wenn der Weltfrieden davon abhängt, könnte ich auf die drei Dinge verzichten.

243. Wessen Tod hat dich am meisten berührt?

Karls.

244. Wie würde der Titel deiner Autobiografie lauten?

„Was weg ist, ist weg.“

245. In welchem Maße entsprichst du bereits der Person, die du sein möchtest?

Ich finde mich ziemlich okay. Ja, ich wäre gerne schlauer und begabter, aber das kann ich mir halt nicht antrainieren. Ich kann aber versuchen, gebildeter und nachsichtiger zu werden.

246. Wann muss man eine Beziehung beenden?

Man muss gar nichts. Und ich muss auch nichts. Ich habe bisher Beziehungen beendet – immer im gegenseitigen Einvernehmen –, wenn aus Liebe Freundschaft geworden war. Auch nicht das Schlechteste, möchte ich erwähnen.

247. Wie wichtig ist dir deine Arbeit?

Kommt drauf an. Wenn sie nur dazu da ist, die Miete zu bezahlen, erledige ich sie gewissenhaft und innerhalb der Deadline. Wenn ich bei ihr etwas lerne, erledige ich sie begeistert und viel zu gründlich. *erinnert sich an die ausufernden Literaturverzeichnisse in den universitären Hausarbeiten und guckt auf ihre acht Millionen Zubereitungsarbeiten für Kaffee (ja, das begann als Job)*

248. Was würdest du gern gut beherrschen?

Auf Zehenspitzen stehen. Das kann mein rechter Fuß ja leider nicht mehr.

249. Glaubst du, dass Geld glücklich macht?

Es beruhigt zumindest sehr.

250. Würdest du dich heute wieder für deinen Partner entscheiden?

Prima Partner, gerne wieder.

251. In welcher Sportart bist du deiner Meinung nach gut?

Ich kann gehen, schwimmen und radfahren. Ganz klar Triathlon.

252. Heuchelst du häufig Interesse?

Häufig? Hm. Ich heuchele Interesse, wenn mir an den Menschen etwas liegt, die mich gerade langweilen. Bei allen anderen reicht die Geduld für fünf Minuten Smalltalk und dann beende ich das (Griff zum Buch, Griff zu den Kopfhörern, „Ich hol mir mal was zu trinken“, „Ich muss hier aussteigen“).

253. Kannst du gut Geschichten erzählen?

Ich behaupte ja. Reicht aber nicht für ein Buch, nur für Unterhaltungen im Biergarten. Passt schon.

254. Wem gönnst du nur das Allerbeste?

Mir. Meiner Familie. Allen, die ich mag, schätze, liebe, verehre. Aber eigentlich wäre es nett, wenn es allen Menschen gut gehen könnte. Warum geht das eigentlich nicht?

255. Was hast du zu deinem eigenen Bedauern verpasst?

Die Europapokalspiele vom FC Augsburg, weil mir damals der FC Augsburg noch egal war.

256. Kannst du dich gut ablenken?

Von allem, immer. Außer von Zahnschmerzen.

257. In welcher Kleidung fühlst du dich am wohlsten?

Jeans, T-Shirt, Sneakers, Hoodie. Zuhause Leggings, barfuß, kein BH.

258. Wovon hast du geglaubt, dass es dir nie passieren würde?

Einen Uni-Abschluss zu haben.

259. Würdest du gern zum anderen Geschlecht gehören?

Nicht ständig. Aber mal gucken, wie das so ist, von Telekomtechnikern und Automechanikern automatisch als kompetent wahrgenommen zu werden und Jacken mit 80 Taschen zu haben, würd ich schon gerne mal. Nein, die Faszination des Im-Stehen-pinkeln-könnens hat sich bei mir mit fortschreitendem Alter erledigt. Auf Zugklos kommt sie manchmal wieder. (Bitte sagt mir, dass sich alle Männer im Zugklo hinsetzen, BITTE!)

260. Wer nervt dich gelegentlich?

Ich mich selbst, wenn ich mich in meinen eigenen Gedankengängen verzettele oder Probleme sehe, wo keine sind. Alle, die in der U-Bahn nicht bis in die Mitte durchgehen. Leute, denen an der Supermarktkasse erst nach dem Verstauen der Einkäufe einfällt, dass sie eventuell bezahlen müssen. Laute Menschen mit einem Musikgeschmack, der mit meinem nicht kompatibel ist. Rauchende Menschen, die neben mir sitzen, selbst wenn sie nicht rauchen. Dinge, die nicht funktionieren, wenn ich davon ausgehe, dass sie es gefälligst immer tun (Rolltreppen, mein Drucker, W-LAN).

Tagebuch Samstag/Sonntag, 8./9. Juni 2019 – Pfingstbalkon

Viel Fußball der Frauen-WM geguckt. Hat Spaß gemacht, den Damen zuzusehen. Bisheriges Lieblingsspiel: Australien gegen Italien, bei denen mir anfangs egal war, wer gewinnt. Irgendwann schlug ich mich auf die Seite der biestigen Italienerinnen, die tollerweise in der 95. Minute noch den Siegtreffer erzielten.

Samstag abend das gemacht, von dem mir immer alle erzählt haben, dass es so toll sei: mit einem Buch und einem Glas Wein auf dem Balkon gesessen. Ich ahne, dass spätestens nächstes Jahr hier ein Lounge Chair stehen wird, denn auf meinem rausgetragenen Küchenstühlchen kam ich mir etwas seltsam vor. Aber auch so habe ich es etwas überrascht durchaus genossen, draußen rumzusitzen (natürlich erst, als die Sonne weg war), über das Geländer in den begrünten Hinterhof zu gucken und irgendwann die Lichterkette anzuknipsen. Irritierenderweise hatte ich total Lust auf eine Zigarette, aber glücklicherweise keine in der Nähe.

Den ganzen Samstag über habe ich am Küchenfenster gestanden und von dort auf meine Balkonblumen geschaut. Das war so schön! Hätte ich nicht gedacht, wie glücklich ein paar Farbflecke so machen können. Ich bemühe mich noch, sie nicht alle fünf Minuten zu gießen, und flüstere deutlich zu oft „please don’t die, please don’t die“, aber sie sehen ganz zufrieden aus, sofern Pflanzen zufrieden aussehen können.

Samstag und Sonntag abend waren Rammstein im Olympiastadion. Ich hatte das natürlich erst mitgekriegt, als es längst ausverkauft war. F. hatte mehr Glück und bekam spontan eine Karte. Er und weitere posteten Bilder der Pyroshow aus dem Stadion, während ich seit vorgestern über einen Tweet gackere, der das Stadion dabei von außen zeigt.

Sonntag morgen saß ich dann SCHON WIEDER AUF DEM BALKON! Irgendwas ist mit mir passiert, als ich 50 geworden bin, glaube ich. Ich saß da total instamäßig mit schickem Flat White und frischgepresstem Orangensaft (ernsthaft!), knipste aber stattdessen meine Blümchen. Ich gebe mir noch eine Woche, und dann werden die restlichen Geländermeter mit noch zwei Kästen vollgeballert.

Nach dem Frühstück und ein bisschen Zeitungslektüre dachte ich, und ich konnte das selbst kaum glauben, ach, das ist ja gerade ganz nett, so draußen. Hey, setz dich doch auf dein Fahrrad und fahr irgendwo hin, wo man ein bisschen spazierengehen kann. Und ehe ich mir das selbst wieder ausreden konnte, war ich zum Alten Südfriedhof geradelt, las Grabsteine, instagrammte und spazierte in der Gegend herum. BEI SONNENSCHEIN!


Ich mag das Motiv der abgebrochenen Säule (also die sich nicht fortsetzende Lebenslinie) sehr gern.


Mal wieder dem Grandmaster of Munich Hallo gesagt. Wie ich schon auf Instagram schrieb: Wenn man sich ein bisschen mit der Stadtgeschichte Münchens beschäftigt, was nicht ausbleibt, wenn man hier ein historisches Fach studiert, ist der Alte Südfriedhof ein einziges Namedropping.

Ich lernte aber auch Menschen kennen, die ich vorher nicht kannte: Konrad Maurer zum Beispiel.

Oder Frau Seiler, von der ich einfach mal vermute, dass sie viele Kinder zu Grabe tragen musste und dann nach der Geburt des letzten mit gerade mal 32 selbst verstarb. Während der Herr Malzfabrikant neu heiratete und selbst seine zweite Frau überlebte und ich reg mich hier gerade 100 Jahre zu spät auf.



Ich kann kein Griechisch, aber hat der Stein irgendwas mit der bayerisch-griechischen Geschichte zu tun?

(Edit: Richtig geraten, danke, @Annealenaplurabelle auf Instagram: „Der Stein mit der griechischen Inschrift ist das Grab von Ilias Mavromichalis, Neffe des Petrobey, begleitete den König (Otto I) nach München und starb dort an Cholera. Laut Wikipedia gibt es sogar ein Grablied. / Ich zitiere:
„Da liegt er nun, der große Held,
Alt sechs und dreissig Jahre,
Und eine schwere Thräne fällt
Auf seine Todtenbahre
Von König Ottos Aug herab,
Das unterm Thränenflor sich ab
Von seinem Liebling wendet.“ (Klar auch, dass es für Therese Seiler kein Grablied gibt.)“

Nachmittags Fußball, abends dann mit F. auf dem Balkon … ähem. Caesar Salad mit Hähnchen, Knoblauchbaguette und ein äußerst unspektakulärer Riesling.

Tagebuch Freitag, 7. Juni 2019 – Blümchenkaufen

Meine Kontakterin meinte Anfang der Woche launig, jetzt sollte der Kunde den Text aber wirklich freigeben, an dem wir seit geschlagenen acht Wochen rumhühnern, am Freitag kannste bestimmt endlich ne Rechnung schreiben. Ich läutete daher die Pfingstferien einen Tag früher ein, nahm mir nichts vor und stellte mir keinen Wecker. Ich wurde trotzdem recht früh wach, lüftete, bezog das Bett neu, verdunkelte dann die Wohnung und schloss alle Fenster, damit die herrliche Morgenkühle möglichst lange erhalten blieb. Dann bloggte ich, frühstückte, las Zeitung und finalisierte schließlich meinen Einkaufszettel, denn F. hatte sich für nachmittags das Auto seines Mütterchens geliehen, damit wir gemeinsam zu einem Gartencenter fahren konnten.

Eigentlich hatte ich seit Monaten Bücher und Blogs gelesen, um bei meiner ersten Balkonbepflanzung auch ja alles richtig zu machen, aber dann kam Väterchens OP (er ist noch in der Reha), eine Menge Orgakram und Zeug, und daher versäumte ich den kompletten Mai, der, soweit ich weiß, der beste Monat ist, um Blümchen ins Freie zu bringen. Aber hey, Anfang Juni sollte ja auch gehen. Ich wälzte weiterhin Bücher und Blogs, merkte mir seltsame Pflanzennamen, um brav nur Dinge zu kaufen, die damit zurechtkommen, den ganzen Tag in der Sonne zu stehen, lernte Worte wie „Drainage“ und „Wurzelfäule“, machte mir natürlich – natürlich – eine lange Liste und fuhr moralisch gerüstet und top informiert mit U-Bahn und Bus ins Gartencenter.

Kleiner Schlenker: Ich wohne recht nah an einer U-Bahn- und einer Bushaltestelle. Die eine U-Bahn, auf die man tagsüber höchstens fünf Minuten wartet, brachte mich in fünf Minuten zu einem der Münchner Knotenpunkte, dort musste ich nur eine Treppe hochgehen, um zur nächsten U-Bahn zu kommen, auf die man tagsüber höchstens drei Minuten wartet. Die hatte sogar zur Feierabendzeit einen Sitzplatz für mich und war klimatisiert; die erste nicht, aber damit rechne ich auf der Strecke auch nicht – vielleicht aber mit ein paar Leuten, die bei 28 Grad mal die Fenster öffnen. Ich fuhr 17 Minuten ans gefühlte Ende der Stadt (München ist SO WINZIG!), wo ich zwei Treppen hochmusste, um zum Bus zu kommen, der direkt an der Station auf mich wartete. Weitere drei Minuten später war ich an der Endhaltestelle, von wo ich noch ungefähr 150 Meter bis zu meinem Ziel gehen musste. Öffis sind super, und ich bin im Dostojewski wieder 40 Seiten weiter.

F. war schon da, aber noch nebenan im Baumarkt – ist das eigentlich ein Gesetz, das neben Gartencentern auch immer ein Baumarkt ist? –, weswegen ich schon mal alleine todesmutig in eine für mich neue Umgebung ging und guckte. (Mir fallen die drei Satzzeichen hintereinander im vorherigen Satz durchaus auf, aber ich lasse die jetzt mal so stehen, ich Danger Seeker.)

Vorne rechts waren lustige Gartengeräte, bergeweise Rasendünger, dann kam Bekleidung (also Handschuhe und Fußschuhe), links war der ganze Tierbereich, bei dem meine Nase immer sofort zuckt und wegwill. Ich schob mein Wägelchen in Richtung Blumenpracht – und war dann natürlich total überfordert. So viel herrliches Zeug! Aber erstmal die Basics: Balkonkästen in der richtigen Farbe und Größe. Befestigung dafür. Eine Gießkanne, die ich auch gefüllt noch heben kann (in der richtigen Farbe). Ein Schäufelchen für Erde und Blähton (noch so ein neues Wort). Erde und Blähton. Inzwischen war auch F. da, dessen Wagen mit dem schweren Zeug bestückt wurde, der Gentleman. Und nachdem alles andere gefunden war, stand ich erneut zwischen 1000 Blumen und wusste gar nichts mehr.

Meine Einkaufsliste war zwar hilfreich, aber im Prinzip auch egal. Ich richtete mich also nach „Da hinten steht eine Blume, die so aussieht wie eine, die ich mir online ausgesucht hatte“, prüfte am Schild, ob ich recht hatte, suchte nach der richtigen Farbe und packte meinen Wagen voll. Ich wollte eigentlich Blumen in Blautönen und Weiß mit ein oder zwei pinkfarbenen Akzenten. Jetzt ist es mehr Pink und Weiß mit einem Hauch Blau geworden, aber das ist auch okay. Als ich eigentlich schon fertig war, sah ich einen Berg Dahlien, bei dem ich sofort zugreifen musste. Eine meiner stärksten Erinnerungen an meine Oma ist ihr riesiger Gemüsegarten und die wenigen Blumeninseln dazwischen oder am Rand davon. Vor ihrem Haus standen immer Dahlien, in allen Farben und Größen. Ich behaupte, das ist der erste Blumenname, den ich mir in meinem Leben gemerkt habe (waren vermutlich eher Pusteblumen), und daher musste ich eine Dahlie kaufen. Zuhause stellte ich natürlich fest, dass sie viel zu groß für den Blumenkasten war, weswegen mein wohlkalkuliertes Pflanzkonzept nach Größe und Farbe von Vornherein keine Chance hatte. Jetzt habe ich eine einzelne Dahlie, für die ich wohl noch einen größeren Topf kaufen muss. Schlimm!

Zuhause sah dann nach dem Hochschleppen alles erstmal so aus:

F. machte sich wieder auf den Weg, ich zog meine Umzugs- und Malarbeiten-Klamotten an und begann mit der Arbeit. Die Befestigungen erwiesen sich als selbsterklärend, die Kästen passten hervorragend, ich konnte sogar den 60-Liter-Sack Erde von einem Ende des Balkons ans andere bewegen, ohne mir was wehzutun. Ich schaufelte Blähton in die Kästen, Erde darauf, puschelte ein bisschen Erde von den Wurzeln der Blumen und Kräuter ab, setzte sie ein, schichtete Erde um sie – erst mit der Schaufel, irgendwann mit den Händen, ging schneller und besser und ich saute den mit Zeitung ausgelegten Balkon nicht ganz so sehr ein –, und nach zwei Stunden sah die eine Balkonecke dann so aus:

Die Kräuter habe ich nicht fotografiert, Kräuter halt. Bei denen habe ich eigentlich noch mehr Angst, dass sie vor meinen Augen dahinsiechen, weil ich bis jetzt noch jeden Basilikumtopf auf dem Küchenfensterbrett kaputtgekriegt habe. Bei den Blumen habe ich etwas mehr Hoffnung. In Hamburg hatte ich mal eine Wohnung mit Terrasse, auf der irgendwann ein paar Topfpflanzen standen. Die hatte ich damals einfach gekauft, ohne vorher wochenlang Blogs und Bücher zu lesen, und die gediehen lustig vor sich hin, bis ich umzog in eine Wohnung ohne Terrasse und ich sie einfach stehenließ.

Ich war den ganzen Tag sehr zufrieden, freute mich über diverse Dinge wie frisch bezogene Betten, funktionierende Öffis, eine staufreie Autofahrt mit F., die Blümchen, die ich jetzt vom Schreibtisch aus immer sehen kann und die mir ausnehmend gut gefallen.

Dann öffnete ich abends dummerweise meinen Rechner, um das Eröffnungsspiel der Frauen-Fußball-WM zu schauen und sah eine Mail der Kontakterin sowie eine Sprachnachricht auf dem Handy, lernte, dass der Kunde mal wieder neue Ideen für den Text hatte, überflog das Dokument und schüttelte zum wiederholten Male den Kopf. Einen derartig seltsamen Job habe ich noch nie gehabt: Der Kunde hat eigentlich ein gutes Produkt, das man auch prima erklären kann, aber er ist sich selbst nie sicher, ob wir jetzt wirklich die Top-Eigenschaft desselben herausgestellt haben, weswegen er uns seit Wochen mit neuen Top-Eigenschaften beglückt und alte, schon eingebriefte und getextete, plötzlich unwichtig findet. Zudem korrigiert nicht ein Mensch die Texte, sondern anscheinend wird da basisdemokratisch über jedes Adjektiv abgestimmt, weswegen wir gerne fünf Korrekturwünsche für einen Satz im Dokument haben, die sich widersprechen oder als Frage formuliert sind. Meine Kontakterin und ich steuern so gut dagegen, wie es geht, aber inzwischen ist der Text nur noch eine reine Bullshit-Bingo-Wortwüste aus viel zu langen Sätzen, die, man weiß ja nie, sich auch dauernd wiederholen. Das möchte niemand mehr lesen. Schade, hätte schön werden können.

Diese Mail hieß aber auch: Wir drehen noch eine komplett sinnlose Runde von jetzt ingesamt gefühlt zehn sinnlosen Runden, und ich kann noch keine Rechnung stellen.

Ich seufzte tief, duschte vor dem Fußballspiel, das war dann immerhin halbwegs guckbar, beschaute mir zum Tagesabschluss nochmal meinen bunten Balkon, den ich auch aus dem Küchenfenster sehen kann, und ging frisch geduscht in ein frisch bezogenes Bett. Das rette den Tag dann doch noch.

Ein Hinweis für die Leser*innen der Süddeutschen Zeitung:

Der Blogeintrag über Frau Hingst, den Sie gerade suchen, steht hier.

Tagebuch Donnerstag, 6. Juni 2019 – Puddle or Floor

Morgens alleine vor dem Wecker aufgewacht, entspannt wach geworden. Aufgestanden, erst die schwere Schlafzimmergardine weggeschoben, dann die Außenjalousie hochgezogen, einen Fensterflügel weit geöffnet. Ins danebenliegende Arbeitszimmer gegangen und die Außenjalousie hochgefahren – die einzige in der Wohnung mit Elektrik. Zuerst habe ich ewig darüber genölt, weil’s länger dauert als sie händisch zu bedienen, aber inzwischen stehe ich ganz gern wie eine kleine Königin vor meinen Balkonfenstern und sehe zu, wie das Licht im Zimmer stufenlos und ohne mein Zutun immer mehr wird. Dann die leichte, weiße, fast transparente Flattergardine weggezogen und die Balkontür geöffnet. Der Durchzug sorgt sofort dafür, dass die Gardine etwas angehoben wird und sich leicht im Wind bewegt.

Genau für diesen Effekt habe ich die billigen Ikea-Gardinen seit knapp 20 Jahren von Wohnung zu Wohnung getragen. In Hannover hingen sie in meinem Schlafzimmer, wo es einen winzigen Balkon gab, auf dem ich nie gesessen habe. Aber ich mochte es so gern, die Tür zu öffnen und den Gardinen beim Wehen und Wölben und Flattern zuzuschauen. In keiner meiner Hamburger Wohnungen hatten sie so recht Platz, aber sie waren klein und konnten sich in jeder Kiste zusammenrollen, so dass ich sie nie aussortiert habe. Und seit September hängen sie hier, und jetzt, wo es warm genug es, nicht nur stoßzulüften, um Sauerstoff in die Wohnung zu kriegen, sondern die Fenster länger aufzulassen und den wenigen Hinterhofgeräuschen zu lauschen, genieße ich es so sehr, wieder meinen alten Gardine zuzuschauen.

Nebenbei habe ich bei Queer Eye die richtige Gardinenlänge gelernt, die ich instinktiv meist beachtet habe: Sie sollten, laut Bobby, und dem Mann glaube ich ja alles, entweder kiss the floor or fall in a puddle. Meine Schlafzimmergardinen küssen den Fußboden, die Flattergardine fällt wie ein Wasserfall. (Klingt besser als Pfütze.)

Den restlichen Tag mit der Diss verbracht.

Dazu musste ich erstmal in den Lesesaal der Uni-Bibliothek, wo ein Berliner Ausstellungskatalog per Fernleihe auf mich wartete, der unglaublicherweise nicht im ZI steht.

(Dass mein Bällebad inzwischen auf Instagram ist, habe ich zwar in den sozialen Netzwerken kundgetan, aber hier noch nicht. Jetzt aber! Hier der Lesesaal. Swoon!)

Ich arbeitete den Katalog durch und gab ihn wieder zurück. Danke, Uni-Bibliothek Regensburg, Küsschen!

Danach ging’s in die Stabi, wo ich mir ein zweites Mal einen Katalog aus Breslau hatte zurücklegen lassen. Am Anfang meiner Diss hatte ich andere Fragen als jetzt, weswegen ich da nochmal reinschauen wollte.

Und je länger ich arbeitete, desto mehr wurde mir klar, dass meine heilige, total durchdachte Struktur mal wieder verändert werden musste, wozu mir nur ein gif einfiel.

Ich meckerte mal wieder darüber, dass in der Wissenschaft nie was fix ist, jede Deadline quasi nur ein Zwischenschritt und überhaupt macht mich das alles wahnsinnig, dass Wissen und Lernen nie aufhört. (Okay, es ist toll, ABER ES MACHT MICH AUCH WAHNSINNIG.)

Doktor F. war natürlich unbeeindruckt.

An den drei!!! Ausrufezeichen!!! seht ihr, wie aufgeregt ich war.

Auf Twitter hatte Canzonett aber einen hervorragenden Kommentar, den ich mir als Motivationsbildchen ausdrucken werde: „Find joy in it. It’s your thoughts growing (and outgrowing their baby clothes).“

Heute beginnt in Frankreich die Fußball-WM der Damen. Wir gucken das gemeinsam, oder?

Und ab nächster Saison die Bundesliga. YAY!

Tagebuch Mittwoch, 5. Juni 2019 – In eine Papiertüte atmen

Vormittags Orgakram gemacht, was halt so am Quartals- und Monatsende anfällt. Mal wieder die Ablage runtergearbeitet, ein bisschen im Rest der Wohnung rumgeräumt, erneut über Balkonbepflanzung nachgedacht, was ich eigentlich aus Gründen schon auf nächstes Jahr verschoben hatte, aber in den letzten Wochen immer wieder hochploppte, und wer bin ich, es armen Blümchen zu versagen, unter meinen Händen zu sterben.

Mittags bloß ein Müsli mit Äpfeln drin, keine Lust zu kochen, zu warm. Cold Brew ist ein fantastisches Zeug, und ich ahne, dass es ganz eventuell ein bisschen daran gelegen haben könnte, dass ich Montag so mies geschlafen gehabe, weil ich im Überschwang einen ganzen Liter des herrlichen Sommergetränks über den Tag hinweg genossen hatte. Wobei ich natürlich weiß, dass Koffein nicht so lange im Körper bleibt, sondern nur einen kurzen Kick verursacht. Tee ist da langlebiger, und der stört mich null, wenn ich ihn literweise trinke.

Nachmittags und abends weiter an der Diss gesessen. Irgendwann habe ich dabei angefangen, geistig in eine Papiertüte zu atmen, weil mir bei jedem Bearbeitungsschritt klar wird, wieviele noch vor mir liegen. Das klang als Konzept total machbar, und jetzt denke ich dauernd, das ist viel zu viel, das wirst du nie hinkriegen. Werde ich vermutlich doch, auch das habe ich im Studium gelernt, dass ich mich immer irgendwann im Kopf verzettele und alles runterdummen will, im Endeffekt aber dann doch was Lesbares und wissenschaftlich Sinnvolles dabei rumkommt. (Jedenfalls in den höheren Semestern.)

Ein Farbbild von Protzen gefunden, das ich bisher nur schwarzweiß kannte, Mails geschrieben und um Auskunft gebeten, in Archivsuchmasken gearbeitet, Zeug vorbereitet, geschrieben, gedacht, verglichen, geschrieben. Diss halt.

Mit F. die Balkonsaison so halbwegs eröffnet, indem wir vor weit geöffneten Türflügeln auf meinem ausgeklappten Sofa rumlagen und nach draußen auf die Lichterkette guckten. Okay, es ist nicht wirklich Balkon, das habe ich jetzt auch kapiert. Aber wieso muss man nach draußen, wo es drinnen so bequem ist?

Ich grüße, das heißt, ich lebe noch

Die FAZ schreibt kurz über die Arolsen Archives, ehemals Internationaler Suchdienst in Bad Arolsen, deren Bestände in Partnerschaft mit Yad Vashem nun zu großen Teilen online sind:

„Ein Besuch im Archiv lohnt immer. Zum Beispiel in jenem, das dem beschaulichen hessischen Städtchen Bad Arolsen – so darf man es sagen – zu Weltruhm verholfen hat. Hier ist der 1944 von den Alliierten gegründete Internationale Suchdienst zu Hause, der helfen sollte, kriegsbedingt zerrissene Familien wieder zusammenzuführen. Er hat sich angesichts des Wandels seiner Aufgaben jetzt einen neuen Namen gegeben: Arolsen Archives. Hier sind, großenteils auf Papier, Informationen zu etwa 17,5 Millionen Opfern des Nationalsozialismus gespeichert. Damit ist das Archiv, Teil des Unesco-Weltdokumentenerbes, das größte NS-Opfer-Archiv überhaupt. Vor allem das wehrlose Heer der Zwangsarbeiter aus den deutsch besetzten Ländern hat in Bad Arolsen einen Hüter seiner Erinnerung gefunden.“

Tagebuch Dienstag, 4. Juni 2019 – Übermüdet, aber produktiv

Vormittags noch einen Hauch für Geld gearbeitet, dann brav an der Dissertation. Gestern wagte ich die ersten Zeilen zu den Themen Forschungsstand und Quellenlage, denn so richtig ausführlich kann ich zu einigen Teilbereichen meiner Arbeit noch nichts sagen, aber die Basis konnte ich schon aufschreiben: Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus, Forschungsstand Protzen (Kurzfassung: nicht existent, ich schreibe gerade die erste ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm), Forschungsstand Malerei zur Reichsautobahn, Forschungsstand zu Umgang mit systemkonformer Kunst im Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und Ausstellungen mit derselben. Anschließend dann die Quellenlage, wo ich Teile des Nachlasses im Kunstarchiv Nürnberg beschrieb und wie ich diese verwende sowie weitere Quellen, die ich bisher aufgetan habe. Ich müsste irgendwann nochmal erwähnen, wozu das alles da sein soll, aber das kommt erst ans Ende der Einleitung, das ich, wie immer, erst schreibe, wenn die ganze Arbeit steht und ich weiß, was ich überhaupt alles rausgefunden habe.

Zum Mittag ließ ich mich von Arthurs Tochter inspirieren und fabrizierte Bohnenmus aus Tigerbohnen statt weißen (waren halt im Schrank), geschmolzene Tomaten, bei denen ich zu faul war, die Haut abzuziehen, und Fladenbrot, das ich vorgestern nach diesem Rezept gebacken hatte, was mir noch besser gefällt als das hier, von dem ich Samstag ein Foto instragrammte. Letzteres wird fast hefezopfig fluffig, während das Brot von „Koch dich türkisch“ fester und zäher bleibt – genau wie ich es mag.

Nachmittags nickte ich auf dem Sofa bei der werktäglichen Folge Masterchef Australia ein, wachte auf, klickte mich in der Sendung wieder 20 Minuten zurück, nickte ein, klickte rückwärts, nickte ein, und das machte ich dann dreimal, bevor ich die grandiose Idee hatte, mal vom Sofa aufzustehen und einen Kaffee zu trinken. Danach ging’s, aber so richtig konzentriert war ich nicht mehr fürs Schreiben. Früher Feierabend, früh ins Bett.

Conduction

In der diesjährigen Fiction Issue des New Yorker steht unter anderem eine Kurzgeschichte von Ta-Nehisi Coates. Man kann sie sich dort auch vorlesen lassen.

The Secret Oral History of Bennington: The 1980s’ Most Decadent College

Esquire lässt diverse Zeitzeug*innen sowie Donna Tartt, Jonatham Lethem und Bret Easton Ellis zu Wort kommen, die alle 1986 in Bennington studiert haben. Ich muss gestehen, ich habe den Artikel noch nicht gelesen, aber ehe er wieder in meinen unendlichen Twitter-Herzchen versinkt, verblogge ich ihn einfach, dann finde ich ihn wieder.

(via @aldaily)

Tagebuch Montag, 3. Juni 2019 – KTS und Fladenbrot

Den Vormittag an einem Job gesessen, der ein arger Fall von KTS ist – Kunde textet selbst. Dagegen habe ich ja im Prinzip nichts, aber wenn ihr eure Formulierungen so gerne mögt, warum bucht ihr mich dann überhaupt? Früher hätte ich gesagt: „Egal, gibt Geld.“ Heute denke ich: „Die Stunden hättest du auch sinnvoller auf der Diss verbringen können.“ Oder ehrlich gesagt auch beim Seriengucken auf dem Sofa.

Lange mit der besten Freundin telefoniert, das war schön.

Dadurch verrutschte allerdings mein Zeitplan für den Tag; ich kam erst um 15 Uhr aus dem Haus, um ein paar Bücher in die Stabi zu schleppen und mir einige weitere aus der Uni-Bibliothek abzuholen. Für die zehnminütige Radfahrt zu den Bibliotheken cremte ich mich ein, als wollte ich nach Augschburg zum Fuppes, aber ich kenne ja inzwischen meine memmige Alabasterhaut. Wie ich festgestellt habe, ist meine Hauptradelstrecke inzwischen eine Fahrradstraße, aber das ist den meisten Autos natürlich weiterhin egal. Wenn ich irgendwann mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus liege, kann ich immerhin triumphierend krächzen: „ABER ICH HATTE VORFAHRT!“

Zeitung gelesen, eher unkonzentriert in ein paar Büchern. Lieber Brot gebacken und eine Lichterkette am Balkon angebracht. (Ich ahne eure Kommentare zum Stichwort „Lichterkette“, keine Bange.)

F. kam nach einem Biergartenbesuch noch vorbei, gemeinsam eingeschlafen. Dann aber um 2 aufgewacht und schlaflos rumgelegen. Irgendwann gegen 4 ging ich ernsthaft zum Arbeiten an den Rechner, bis ich mir selber sagte, dass ich spinne. Dostojewski weitergelesen, HitlerWagnerDings weitergelesen, irgendwann gegen 5 war ich dann wieder müde. Um 7 klingelte der Wecker, und ich sitze hier recht hirntot, aber mit einem Eimer Cold Brew. Wenigstens das.

Klaus Graf ergänzt seinen ersten Blogeintrag zu Hingst um viele Links.

Andreas Wolf über Fiktionalität und Blogs:

„Ich denke, dass die Form „Blog“ nicht automatisch den autobiographischen Pakt herbeibeschwört, über den Philippe Lejeune schrieb, ein Pakt zwischen Autor und Leser, durch welchen beide sich darauf vereinbaren, dass hier Annäherung an Wahrheit, an ein wirklich Passiertes, so unmöglich das sein mag, so doch wenigstens versucht wird. Bloggen heißt, viel simpler, ein Geschriebenes im Internet zu veröffentlichen, was über den Inhalt, die Natur dieser Schrift erstmal gar keine Aussage trifft. Ein Blog ist nicht per Form automatisch ein der Wahrheit verpflichtetes Tagebuch seines Autors. Niemand nähme es mir krumm, wenn ich hier in Wald und Höhle die unglaublichen Abenteuer eines Wolpertingers schilderte, weil alle wüssten: Wolpertinger gibts ja nicht.

Und Holocaust ist eben das Gegenteil davon: Das gab es wirklich, das hat tatsächlich stattgefunden, das Unvorstellbare – Auschwitz – war wirklich in der Welt. Hier zu erfinden, zu fabulieren, sich selbst (bzw. der Großmutter) eine Opferbiographie anzudichten – das verbietet sich einfach.“

Rhabarber-Streuselkuchen

Wie ich am Samstag schon auf Instagram schrieb: Selbst an Tagen, an denen man das ganze Internet anschreien will, kann man noch Futterfotos veröffentlichen. Deswegen kommt heute ein Rezept, auch wenn es gerade nicht zu meinem Blog passen mag, weil viele Menschen wegen eines anderen Themas hier sind. Aber zu mir passt es. Und sobald der Text online ist, geht es wieder an die Dissertation und den ganzen „Nazischeiß“, wie F. immer so schön zu meinem systemkonformen Maler und seinen Werken sagt. Ich formuliere im Kopf schon die Danksagung vor, aber das Wort traue ich mich noch nicht unterzubringen. Vielleicht sollte ich es einfach machen.

(Dieser Vorspann wird gelöscht, sobald alle wieder nur wegen Kunstgeschichte und Kuchen hier sind. Zu letzterem kommen wir jetzt:)

Sehr dünner, knuspriger Boden, nicht zu süß, schnell gemacht, genau meins. Im Originalrezept sind die Mengen verdoppelt und für eine 24-cm-Springform gedacht. Habe ich nicht, also nahm ich die 26-er und halbierte alles, auch weil ich nur 400 Gramm Obst im Haus hatte. Kam aber genau das raus, was ich haben wollte.

Hier die Mengen, die ich verwendet habe – da kommen, wie erwähnt, ein sehr dünner Boden und nicht irre viel Belag bei rum. Die Verfasserin des Originals weist auf das Mengenverhältnis von 2:2:4 von Butter:Zucker:Mehl hin – ihr könnt also beliebig skalieren. Was mir natürlich alles viel zu kompliziert war, weswegen ich eben einen dünnen Boden uswusf.

75 g Butter in kleinen Stücken mit
75 g Kristallzucker und
150 g Mehl, Type 405, mit den Teighaken des Mixers vermischen. Bei mir blieb es bei feinem Sand, weswegen ich aus den Bröckchen erstmal einen halbwegs festen Teig in der Schüssel geknetet habe, um den dann mit den Teighaken wieder zu Bröseln zu verwandeln. Was auch immer ihr macht: Wenn die Streusel so aussehen, wie ihr sie haben wollt, Schüssel in den Kühlschrank packen.

400 g Rhabarber waschen, putzen und in mundgerechte Stücke schneiden. In einer Pfanne
1 TL Butter erhitzen, den Rhabarber plus
3 EL Kristallzucker dazugeben und alles etwas karamellisieren lassen. (War bei mir eher weiterhin Obst mit Zucker.) Mit
1 EL Speisestärke bestreuen und alles zwei Minuten sanft köcheln lassen.

In der Zeit ungefähr zwei Drittel der Streusel auf dem Boden einer gefetteten und eventuell mit Backpapier ausgelegten Springform verteilen (bei mir nur gefettet). Die Streusel festdrücken, mit den Händen oder zum Beispiel mit dem Boden eines Cup-Maßes, bis sie eine ebene Fläche bilden.

Den Rhabarber auf dem Kuchenboden verteilen, die restlichen Streusel darüber und dann im auf 180° C vorgeheizten Ofen für 45 Minuten backen. Einer der ersten Obstkuchen, bei dem ich keine Sahne wollte, reichte völlig aus, wie er war.

Tagebuch Samstag, 1. Juni 2019 – Offene Tabs

Schlecht geschlafen, weil mein Kopf die halbe Nacht an einem Blogeintrag rumformulierte. Den schrieb ich dann als erstes am Samstagmorgen, noch bevor ich einen Kaffee hatte, weil mich manche Dinge einfach so wütend machen.

Was ich im gestrigen Eintrag vermutlich nicht deutlich genug gemacht habe: Derartige Storys – das Annehmen von Opferidentitäten, die gar keine sind – machen es wahren Opfern immer schwerer, Gehör und Glauben zu finden. Jeder Fake sorgt dafür, dass echte Opfer von Gewalt, Traumata, Übergriffen etc. erstmal irgendwie beweisen müssen, dass ihnen wirklich Schlimmes widerfahren ist. Ich kann mich nur wiederholen: Es kotzt mich an.

Der Blogeintrag wurde sehr oft geteilt. Ich hatte den ganzen Tag über mehrere Browsertabs offen, um zu gucken, ob es Kritik oder Ergänzungen gab. Eine Kritik war, dass ich vielleicht zu deutlich „Hab ich ja immer gewusst“ hätte raushängen lassen. Genau das wollte ich nicht: Ich habe es eben nicht schon immer gewusst, ich war genauso faul wie alle anderen, die jetzt sagen, sie hätten auch schon immer geahnt, dass da was nicht stimmt. Deswegen hieß mein Eintrag auch „Was man glauben möchte“. Ich wollte glauben, dass es derart altruistische, engagierte, kluge und freundliche Menschen gibt. Gibt es vermutlich auch. Nur die Person hinter diesem Blog ist vielleicht nicht alles davon.

Nebenbei wünsche ich ihr alle Hilfe, die sie braucht. Auch das ging gestern in meiner Wut unter.

Ich bekam auch diverse Mails. Eine wies mich auf diesen (selbstverfassten) Artikel auf hagalil.com hin: Jewish Disneyland (um 2002, wenn ich das richtig recherchiert habe).

„Es gab Zeiten, da kostete es Anstrengungen, an jüdischer Kultur teilhaben zu können: Jüdische Erziehung, sei es die religiöse, historische oder säkulare Variante war eine Voraussetzung dafür.
Jewish Disneyland ist die Instant-Light-Version, eine Art Mc Donalds. Fatal ist nur, dass diese Mc Donalds-Variante für das 5-Sterne-Edelmenü gehalten wird. Und leichter, als sich mit dem Siddur (Gebetbuch) auszukennen oder Hebräisch zu lernen, um alte Texte im Orginal lesen zu können, ist es allemal. Nach der Schoah hatten viele Juden der 2. Generation gar nicht die Möglichkeit, sich dies anzueignen, weil diejenigen, die das hätten vermitteln können, größtenteils ermordet oder vertrieben worden waren und die Elterngeneration mit dem Leben nach dem Überleben kämpfen musste.

Die Mechanismen des Jewish Disneyland sind Romantisierung, Exotisierung, Folklorisierung und Historisierung des Jüdischen. Als Folge davon wird real Jüdisches unsichtbar (gemacht). Die Fiktionen des Jewish Disneyland werden zunehmend zum Maßstab auch für die Medien und dessen, was dort als “jüdische Kultur” präsentiert wird. Da können reale Juden – soweit sie noch oder wieder vorhanden sind – oft nicht mithalten. Sie werden zur Enttäuschung.“

Klaus Graf schreibt auf archivalia.hypotheses gewohnt klug über die Quellen und Hintergründe zum Fall und zitiert auch ausführlich aus dem Spiegel-Artikel. Nur für den Fall, dass ihr ihn noch nicht selbst gelesen habt.

Nathalie beschreibt, wie es ihr als Leserin nach diesem Tag ging.

Irgendwann lenkte ich mich mit Brotbacken ab; Rezept ist gut, gebe ich in den nächsten Tagen weiter.

Es kommt mir gerade alles so unwichtig vor. Dabei war es für mich persönlich wichtig, gestern gutes Essen zu produzieren und es gemeinsam zu genießen. Trotzdem hatten F. und ich nur ein Gesprächsthema, bevor wir dann einfach schweigend in die Nacht schauten, weil alles gesagt war.

Tagebuch Freitag, 31. Mai 2019 – Was man glauben möchte

Als gestern am späten Nachmittag ein Tweet von Moritz Hoffmann in meiner Timeline landete, in dem es um das Blog von Mlle ReadOn ging und ihre, Zitat, „Hochstapelei“, war mein erster Gedanke: „Ach, ist ihr endlich jemand auf die Schliche gekommen?“

Ich kaufte den digitalen Spiegel, denn die Story, die Hoffmann erwähnte, war mir fünf Euro wert, und las, dass nicht nur mein vages Unwohlsein gegenüber dem Blog gerechtfertigt, sondern dass es noch viel schlimmer war als ich vermutet hatte. Wenn die Spiegel-Story stimmt, und natürlich haben wir alle jetzt Relotius im Hinterkopf, hat Frau Hingst nicht nur im Blog Teile ihrer Biografie erfunden oder verfälscht, sondern, und deswegen bin ich seit gestern abend extrem pissig, Dokumente beim Archiv von Yad Vashem eingereicht. Zitat aus dem Artikel:

„Tatsächlich aber hat Hingst die Namen von 22 angeblichen Holocaust-Opfern […] dem Archiv der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gemeldet – 22 Menschen, von denen die meisten gar nicht existierten. Die Unterlagen des Stadtarchivs [Stralsund] und weitere Quellen zeigen: Nur drei Personen haben wirklich gelebt. Keiner von ihnen war Jude, keiner wurde ermordet.“

Und:

„2018 wurde Hingst bei einem Essaywettbewerb mit dem »Future of Europe«-Preis der »Financial Times« ausgezeichnet. Bei der Preisverleihung in Dublin – man kann sie im Internet hören – erzählte sie wieder vom Leidensweg ihrer vermeintlich jüdischen Familie und verglich deren Schicksal mit dem der Flüchtlinge, die heute an Europas Küsten strandeten. Es gab starken Beifall.

Wer ist diese Frau, und warum hat sie das getan? Hochstapler gibt es viele, überall auf der Welt. Der Wunsch, Opfer des Holocausts zu seinen Vorfahren zu zählen, dürfte eine deutsche Besonderheit sein.“

Und genau das ist die Fallhöhe.

Hingsts Blog war seit Jahren auf meinem Radar; ich stolperte irgendwann darüber, als sie noch auf Englisch schrieb, dann wechselte sie zu Deutsch, woraufhin mehrere Leute in meiner Timeline oder meiner Blogblase sie häufiger zu lesen und zu verlinken schienen. Ich kam mit ihrem poetischen Stil nicht so recht zurande, mir war immer alles zu hübsch und noch ein Adjektiv und hier noch ein Nebensatz; bei Büchern nenne ich den Stil „Da hängen immer Lichterketten in den Bäumen“ und lese die betreffenden Werke meist nicht zuende.

Das war aber nicht das ursächliche Problem, warum ich dem Blog schließlich recht bewusst fernblieb. Ich kann den genauen Eintrag nicht mehr benennen – und jetzt kann ihn auch nicht mehr suchen, denn das Blog ist gelöscht oder zumindest offline –, aber ein paar historische Details, den Holocaust bzw. ihre Familiengeschichte betreffend, schienen mir nicht so recht zusammenzupassen. Es war mir nicht wichtig genug, um das ganze Blog rückwärts zu lesen oder die Inhalte ernsthaft zu prüfen – es war nur ein unbehagliches Gefühl. Ich ahne inzwischen, warum ich diesem Gefühl nicht weiter nachgegangen bin – was bilde ich mir als Nachkomme der Tätergeneration ein, eine Opfergeschichte anzuzweifeln?

Und genau das ist die Fallhöhe.

2017 erschienen dann weitere Artikel über Hingst oder unter Pseudonym von ihr; es ging um eine Klinik, die sie in sehr jungen Jahren angeblich in Indien eröffnet hatte und um eine Beratungssprechstunde für arabischstämmige Geflüchtete, mit denen sie offen über Sexualität sprach. Einer dieser Artikel erschien in der Zeit, die inzwischen der Meinung ist, die Inhalte damals nicht gut genug überprüft zu haben. Zitat:

„Am 27. Mai 2019 erreichte uns ein Hinweis des Spiegel, der nahelegt, dass die Geschichte um die beschriebenen Aufklärungsstunden erfunden sei. Wir nahmen daraufhin erneut und diesmal erfolgreich Kontakt mit der Autorin auf und baten sie um eine Stellungnahme.

In einem Telefonat versicherte sie erneut die Authentizität ihrer Geschichte. Sie nannte uns Adressen, E-Mail-Adressen und Telefonnummern von Menschen, die sie bestätigen könnten. Wir sind den Hinweisen der Autorin nachgegangen und haben darüber hinaus weitere Personen, Institutionen und Behörden kontaktiert. Wir sind in die von ihr benannte Kleinstadt gefahren und haben vor Ort die genannten Adressen und weitere Personen überprüft.

Dabei haben wir festgestellt, dass die Autorin – wohl erneut – versuchte, uns mit Scheinidentitäten, falschen Zeugen und vermeintlichen Belegen zu täuschen. Hierfür hat sie etwa die Identität einer verstorbenen Person benutzt, um in deren Namen E-Mails an uns zu schreiben. Zudem hat sie versucht, uns über die Existenz und die Lebensumstände von Verwandten und ihre Familienverhältnisse zu täuschen.

Erst ein Besuch bei einer engen Verwandten schaffte Klarheit über das Ausmaß der Legende, die sie offensichtlich seit vielen Jahren aufgebaut hat. Die Autorin hat Teile ihrer Biografie erfunden, andere verfälscht, und mit großem Aufwand jahrelang öffentlich vorgetäuscht, eine Person zu sein, die sie nicht ist. Selbst Teile ihres engeren Umfelds scheinen ihren Schilderungen bis heute zu glauben. Wir haben die Autorin mit diesen Recherchen konfrontiert, sie möchte sich derzeit nicht dazu äußern.“

Auch hier: Wer bin ich als behäbige Mittelstandsdeutsche, eine antirassistische, engagierte Kämpferin für Aufklärung und Gesundheit anzuzweifeln? Zudem besänftigten die damaligen Berichte mein gefühltes Unwohlsein, denn ich dachte mir, prä-Relotius, dass große Medienhäuser Storys vermutlich akribisch überprüften. Vor allem solche, die sich relativ leicht überprüfen lassen: einfach mal in die angebliche Kleinstadt fahren und gucken, ob’s die angebliche Sprechstunde überhaupt gibt. Ich ging nun davon aus, dass mein Unwohlsein der Biografie und der Autorin gegenüber ungerechfertigt gewesen sei, blieb dem Blog aber weiterhin aus stilistischen Gründen eher fern und es wurde mir egal.

Ich bekam allerdings mit, dass Hingst mindestens einmal einen Kommentar (oder eine DM oder eine Mail, ich erinnere mich nicht genau) veröffentlichte, in der eben genau ihre Biografie angezweifelt wurde; in der an sie als Historikerin appelliert wurde, es mit den Fakten genauer zu nehmen, gerade bei diesem sensiblen Thema. Ich las die gefühlt 100 Kommentare, die ihr beistanden und es nicht fassen konnten, dass sie angezweifelt wurde, aber mein Unwohlsein war wieder da: Ich war anscheinend nicht die einzige, die stutzig geworden war.

Mich selbst bzw. mein Blog verlinkte Hingst mindestens einmal: Mein Konzertbericht von Januar 2018 hatte ihr anscheinend gefallen. Ich verlinkte sie auch, und auch deswegen war ich gestern pissig und bin es heute noch mehr, denn meine Verlinkung betraf den 9. November sowie die Stolpersteine, zu denen Hingst eine Meinung hatte, die ich netterweise im Blog zitierte, weswegen ich sie jetzt nochmal zitieren kann:

„Ich wünschte an jedem 9. November wäre es still, ich wünschte einmal nur wären wir mit unseren Toten allein, ich wünschte es gäbe keine Stolpersteinputzkolonnen, keine Spruchbänder, keine Aufrufe, keine Bilder der Namen mit den Namen der Toten, die sich nicht weigern können, die blank sein sollen, denn jetzt wird ihrer gedacht und das ist auch leichter, denn die Fragen nach dem Ring mit dem blauen Stein am Finger einer anderen Frau sind schwieriger.

An keinem Tag wie am 9. November wünschte ich mir, ich könnte die Steine mit Laub bedecken, sie davor bewahren wieder Ziel deutscher Sauberkeit und Gründlichkeit zu werden, aber ich habe schon vor vielen Jahren gelernt, dass die Enkel und Kinder der Toten nur stören im unbedingten Willen zu gedenken.“

Ich selbst schrieb folgendes:

„Der Blogeintrag hat mir aber wieder einmal klar gemacht, dass hier die Täter*innen(nachkommen) darüber entscheiden, wie der Opfer gedacht wird. Das ist im Prinzip genauso eklig wie Menschen, die anderen Menschen vorschreiben möchten, sich nicht so anzustellen, wenn ihnen Missbrauch widerfährt, ohne dass sie selbst wissen, wie sich ein solcher anfühlt. (Das Thema ist ja leider gerade wieder aktuell.) Bei den Stolpersteinen weiß ich immerhin, dass es auch genug Juden und Jüdinnen gibt, die diese Form des Gedenkens gutheißen, siehe den verlinken SZ-Artikel. Aber der Blogeintrag zeigt, dass es natürlich nicht alle sind, wie vermutlich nie irgendetwas von allen gleich beurteilt wird.“

Und damit sind wir erneut bei der Fallhöhe.

Holocaust-Opfer zu erfinden, ist nicht nur geschmacklos, es ist gefährlich. Es ist Wasser auf den Mühlen der Holocaust-Leugner, es ist Wasser auf den Mühlen derer, die Opfern eine Mitschuld unterstellen, ganz gleich, von was sie Opfer geworden sind, es ist Wasser auf den Mühlen der Geschichtsverfälscher und -umdeuter, die im Nachhinein besser wissen wollen, was passiert ist und wie wir damit umgehen sollten („Schlusstrich“, „langt jetzt auch“, „DRESDEN!“).

Es ist zum Kotzen, und ich bin sehr wütend. Wütend auf Hingst, wütend auf mich selbst, dass ich das Unwohlsein bequem zur Seite geschoben habe, aber auch wütend darauf, dass so viele in meiner Timeline sich auf Hingsts Seite schlagen, ohne den Spiegel-Artikel gelesen zu haben, der faktenreich belegt, worum es geht.

Es geht nicht darum, dass die Dame eventuell ihr Leben in Dublin ein bisschen aufgehübscht und Lichterketten in Bäume gehängt hat. Es ist egal, ob die Tasse, aus der sie morgens Tee trinkt, nun blau oder grün ist, ob das Kälbchen existierte oder welches Auto der Tierarzt fuhr, wenn es ihn denn gab. Mich haben gestern die vielen Reaktionen auf Twitter überrascht, in denen Hingst bescheinigt wurde, dass, selbst wenn das alles ausgedacht war, es doch immerhin schön zu lesen war.

Aber: Es macht einen Unterschied, ob man sich eine evangelische oder eine jüdische Großmutter erfindet. Es macht einen Unterschied, ob man sich eine Opferperspektive und damit eine Deutungshoheit aneignet, die man schlicht nicht hat. Es macht einen Unterschied, ob man Lesern und Leserinnen vortäuscht, ein Leben zu führen, das nicht existiert oder es von vornherein als ein literarisches Experiment aufzieht und kenntlich macht. Wenn Hingst das getan hätte, hätte es vermutlich öfter Kommentare gegeben, die genau diese Opferperspektive latent geschmacklos gefunden hätten, ähnlich wie bei Würgers Roman Stella, bei dem die Perspektive ähnlich war.

Ihr letzter Blogeintrag versuchte genau das – das Blog als Experiment und Literatur zu verbrämen, das es einfach nicht war. Ich bin ihr auf Twitter schon länger nicht mehr gefolgt und jetzt sind ihre Tweets geschützt, weswegen ich ihre Rechtfertigungen nicht lesen kann. Sie sind mir aber auch eher egal.