Was schön war, Sonntag, 21. Mai 2017 – Zeitunglesen

Na gut, bevor ich Zeitung lesen konnte, musste ich erst mal auf Twitter meckern, dass meine Probe-Abo-FAS nicht im Briefkasten steckte. Der allwissende F. meinte, vielleicht liegt sie vor der Haustür, was ich spontan abstritt, aber ganz hinten im Köpfchen wachten Bilder auf von Tüten, die an Türklinken hingen. Ich stapfte erneut fünf Stockwerke nach unten – und natürlich war sie da. Korrekturtweet abgesetzt anstatt den ersten verschämt zu löschen. Trotzdem sorry an den/die Zusteller*in. Das wollte ich mir ja eigentlich schon längst abgewöhnt haben: das Rummeckern, ohne es zu hinterfragen. Ist anscheinend noch in Arbeit.

Aber dann: fast den kompletten Tag auf dem Sofa verbracht, ab und zu mal einen neuen Kaffee gekocht oder ein Nutellabrot geschmiert und halt Zeitung gelesen.

Ich habe in den vergangenen Jahren mehrfach versucht, die SZ, den Spiegel oder die FAZ auf dem iPad zu abonnieren, aber egal, in welchem Format sie da waren, ich habe sie kaum bis nie gelesen. Die New York Times und die Washington Post lese ich (als Abonnentin) auf der Website und nur dann auf dem iPhone, wenn mir ein Artikel in die Twittertimeline gespült wird. Sonst gucke ich da, genau wie auf Papier, nach den Inhalten, die mich interessieren. Das klappt, warum auch immer, auf der vollgeballerten FAZ– und der noch schlimmeren SZ-Website nicht, wobei die SZ mich zusätzlich noch mit blinkender Werbung nervt. Auf SpON versuche ich schon seit längerer Zeit zu verzichten, weil das noch atemloser ist als alles andere und mich jede dusselige Promi-Geschichte anödet. Ich weiß, ich kann die überlesen. Mache ich ja auch. Aber sie sind halt da. *krückstockfuchtel*

Deswegen genieße ich es sehr, wieder mit einer Papierzeitung vor der Nase entspannt irgendwo rumzusitzen und ebenso entspannt lesen zu können. Ich überblicke sofort, was mich auf einer Seite erwartet und muss nicht erst irgendwelche Headlines anklicken, nichts blinkt und nervt, es gibt keine Kommentare und kein Forum; es ist ein seltsam statisches Angebot, das ich nach zwei Jahrzehnten im Internet wieder zu schätzen weiß.

Dass es die FAZ und nicht die Süddeutsche geworden ist, die eher auf meiner politischen Linie liegt und die dazu auch noch einen nicht ganz unspannenden Lokalteil für mich da hätte, liegt natürlich am Feuilleton, das ich auch immer als erstes lese. Danach kommt das erste Buch mit Politik, wo ich bei fast jedem Kommentar mit den Augen rolle, ihn aber gleichzeitig als Gegenentwurf zu meinen eigenen Gedanken wahrnehme, was ich momentan auch als angenehm empfinde. Es ist, als ob man wissenschaftliche Aufsätze liest, die man danach in der Hausarbeit auseinandernimmt. So lese ich den Großteil der FAZ – und bin so schön beschäftigt.

Was schön war, Samstag, 20. Mai 2017 – Geisterbahnhof

Morgens freute ich mich über das rege Teilen und Herzen meines Eintrags von gestern. Dabei saß ich brav in der Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts (mein geliebtes ZI ist nur von Montag bis Freitag geöffnet) und starrte hirntot einen Kiefer-Ausstellungskatalog an. Ich las meine bisherigen 30.000 Zeichen durch, korrigierte ein wenig an ihnen rum, fügte noch was ein, was ich Freitag in der Stabi erlesen hatte, aber so richtig konzentriert war ich nicht. Nach zwei Stunden klappte ich meinen Rechner zu und ging nach Hause, las die FAZ, deren Probeabo ich in ein richtiges Abo umwandeln werde, und zog mich dann langsam für die Arena um. Zur Feier des Tages wählte ich mal wieder das Gomez-Trikot, nachdem ich die letzten Male in normalen Shirts gegangen war, weil mir der Eventfußball des FCB inzwischen so auf die Nerven geht. Aber ich drückte ein bisschen Wolfsburg die Daumen, bei denen Herr Gomez gerade unter Vertrag steht, weil ich ihnen eher zutraute, den HSV zu schlagen als umgekehrt; bei einem Sieg von WOB wäre Ausgburg auf jeden Fall der Klassenerhalt sicher, ganz egal, wie sie sich selbst bei Hoffenheim anstellen. Bei einem HSV-Sieg musste mindestens ein Unentschieden her.

Die Fahrt zur Arena war entspannt, die U-Bahn nicht irre voll; ich war auch etwas spät dran. Die Kontrollen vor dem Stadion waren nervig wie schon die ganze Saison lang, und ich bin froh, dass ich mir das demnächst ersparen werde. Im Geiste dachte ich wehmütig an die WWK-Arena, wo es einen großen Eingang für Frauen und einen großen für Männer gibt, man ist schnell durch, und alle wissen, wo es hingeht – im Gegensatz zur Allianz-Arena, wo, ich schrieb es bereits mal, pro großem Tor vier Eingänge gibt und einer davon ist für Frauen, was durch ein ungefähr handgroßes Schildchen bekannt gemacht wird, das man, wenn man nicht öfter dort ist, erst erkennt, wenn man quasi davor steht. Deswegen gehen da gerne auch Kerle durch, die sich anscheinend lieber von Frauen abtasten lassen, während die meisten Frauen das eher ungern von einem Mann machen lassen, weswegen wir durch diesen einen blöden kleinen Eingang müssen, der immer voll ist, weil halt auch Männer durchrennen, und ach, ich reg mich schon wieder sinnlos und Stunden zu spät auf. Gestern stand immerhin noch eine zweite Frau an einem der anderen Eingänge, weswegen ich auch das tat, was alle tun: irgendwo hindrängeln, irgendwo reingehen.

Das Spiel gegen Freiburg war mir ziemlich egal, ich guckte immer ängstlich auf die Anzeigentafel, wo ab und zu die Ergebnisse aus den anderen Stadien eingeblendet wurden und hörte mit halbem Ohr den Augsburgfans hinter mir zu, die früher als eben diese Tafel informiert waren, wie es wo stand. Erst zum Schluss versiegte dieser Informationsfluss, und ich musste nach Ende des Spiels selber googeln: HSV schlägt WOB und bleibt erstklassig, WOB muss in die Relegation, und weil der wackere FCA ein 0:0 in Hoffenheim halten konnte, bleibt auch er erstklassig. Darauf eine Emoji-Tröte!

Am letzten Spieltag wurden wie üblich die Herren verabschiedet, die nicht mehr mitspielen wollen; das waren gestern unter anderem auch Xabi Alonso, der mir eher egal war, und Philipp Lahm, bei dessen Einspielerfilmchen ich dann doch ein wenig rührselig wurde. Die beiden bekamen vor dem Spiel dicken Applaus – und dann nochmal in der 85. und gefühlt 88. Minute, als beide ausgewechselt wurden. Freiburg hätte noch die Chance gehabt, sich aus eigener Kraft direkt für die Europaleague zu qualifizieren, weswegen ich nachvollziehen kann, dass ihnen das Theater rund ums Spiel eher auf die Nerven ging. Die Auswechslungen waren schon fast egal, denn da stand es 2:1 (es ging 4:1 aus) und Köln war schon durch, aber trotzdem hätte ich als Freiburger etwas mehr Krach geschlagen, zum Beispiel direkt nach der Halbzeit. Die ging nämlich deutlich später los als es eigentlich im heiligen DFB-Ablaufplan vorgesehen war, denn die mies getimte Halbzeitshow mit Anastacia (die lebt noch?) überzog deutlich, während die Spieler ernsthaft schon auf dem Rasen standen. Der Sitzplatzultra hat das etwas ausführlicher aufgeschrieben.

Dann war das Spiel irgendwann rum, und die Meisterfeierlichkeiten begannen. Alleine dafür wollte ich noch mal in die Arena, denn die hatte ich bisher nur im Fernsehen gesehen. Da hätte ich auch den besseren Blick gehabt, denn natürlich sind die Aufbauten in Richtung Kameras (und Businesslogen). Ich sah aber immerhin viel Konfetti und war sehr beeindruckt davon, wie lange sich das Zeug in der Luft hielt.


Auch die Rückfahrt war entspannt, ich las in meinem mitgebrachten Suhrkamp, bis die U6 am Odeonsplatz hielt. Die Meisterfeier des FCB fand auf dem Marienplatz statt, der dafür schon den ganzen Tag gesperrt war bzw. bei dem man sich auf Taschenkontrollen etc. einstellen musste. Ab irgendwann abends hielten dann die U-Bahnen nicht mehr dort, sondern fuhren direkt zum Sendlinger Tor durch. Genau wie wir jetzt: Die Bahn verlangsamte, als sie durch die orangefarbene Station fuhr, und ich genoss diesen für mich neuen Anblick. Die Station ist sonst ein einziger wuseliger Haufen Leute, und jetzt war alles leer. Ein echter Geisterbahnhof. Das war schön.

Ich feierte den Meistertitel und noch mehr den Klassenerhalt mit einem Stückchen Erdbeerplunder, den ich mir noch am Hauptbahnhof holte, nachdem ich gesehen hatte, dass am Sendlinger Tor schon alle Bäckereien dicht gemacht hatten, las die FAZ aus und erwischte einen Zwei-Stunden-Freispiel-Bonus bei Candy Crush, ich Partytiger, ich.

Mein rechter Fuß

Ich gehe seit Ende Februar regelmäßig walken. Und ab und zu wird aus dem Gehen ein winziges bisschen Laufen. Und das ist ziemlich toll, aber damit ihr versteht, warum das so toll ist, muss ich etwas ausholen. Bis 2001, um genau zu sein.

2001 hatte ich fiese Rückenschmerzen. Also fieser als die, die ich sowieso hatte seit ich 15 oder so war. Ich hatte eigentlich immer irgendwie Rückenschmerzen, auch als ich noch schlank war, aber 2001 wurden sie so schlimm, dass ich nicht mehr sitzen oder schmerzfrei gehen konnte. Das war ein schöner Bandscheibenvorfall, und die damalige Empfehlung lautete: viel Ruhe und Krankengymnastik. Dass sich das total widersprach, ist mir erst viel später aufgefallen. Ich habe also wochenlang im Bett rumgelegen, bis von meinen Bauch- und Rückenmuskeln überhaupt nichts mehr da war, ging aber immer brav zur Krankengymnastik. Dabei musste ich eine Übung machen, bei der man im Vierfüßlerstand den linken Arm und das rechte Bein von sich wegstreckt (oder umgekehrt). Eigentlich kein Ding, aber wenn man nicht mehr viele Muskeln hat, die das halten, gibt es ein komisches Geräusch in der Wirbelsäule, an das ich mich noch erinnere, und ein komisches Gefühl, dass irgendwie was anders ist als vorher, aber ich bin hier ja bei medizinischem Fachpersonal (das meistens keine Ahnung hat, wie man mit dicken Menschen umgeht, aber das wusste ich damals auch noch nicht), das wird schon passen. Ich turnte weiter, fuhr mit dem Bus nach Hause, merkte beim Gehen schon, dass ich irgendwie ein bisschen wackelig war, schob das auf meine Erschöpfung und legte mich wieder ins Bett. Und als ich eine Stunde später mal aufs Klo wollte, war mein linkes Bein nicht mehr da.

Die Kurzfassung: zweiter Bandscheibenvorfall, dieses Mal so schlimm, dass es aufs Rückenmark drückte, ich rief den Notarzt, kam ins Krankenhaus, da war ab Bauchnabel abwärts schon alles weg, Gefühl, Beweglichkeit, alles halt, und ich wurde einen halben Tag später operiert.

Normalerweise bleibt man nach operierten Bandscheibenvorfällen drei, vier Tage im Krankenhaus. Bei mir waren es vier Wochen. Ich konnte nicht mehr pinkeln, ich konnte zunächst auch nicht gehen, dann irgendwann mit Rollator, aber auch nur fünf Schritte, irgendwann klappte ich im Bad zusammen, weil mein Kreislauf nicht mehr wollte, aber das ist jetzt alles egal. Es war klar, dass nach dem Krankenhaus noch eine Reha sein musste, und da wurde ich dann liegend hintransportiert – nach Damp an der Ostsee. Wenn schon Reha, dann wenigstens am Meer. Der dortige Orthopäde nahm mir sofort den Rollator ab und drückte mir Krücken in die Hand, und als ich mich traute, nicht mehr mit den Oberarmen an der Wand langzugehen, damit ich nicht umfiel, ging das ganz gut. Sehr langsam, nicht sehr weit, noch sehr wackelig, aber ich konnte wieder gehen.

Ich merkte in der Reha aber, dass einiges anders war. Im Krankenhaus hatte ich nur irgendwelche Schlappen an den Füßen gehabt oder sogar nur Socken, jetzt musste ich aber Schuhe anziehen, um im Gebäude rumzugehen oder auch mal ans Meer zu kommen. (Ich merkte leider relativ schnell, dass man mit Krücken schwer bzw. gar nicht auf Sand gehen kann.) Ich zog also wie gewohnt den linken Turnschuh zuerst an und wollte dann in den rechten schlüpfen – aber es ging nicht. Mein Fuß wusste nicht mehr, wie man sich einen Schuh anzieht. Ich guckte mir genau an, was der linke machte und versuchte das rechts zu reproduzieren, aber es ging immer noch nicht. Es geht auch bis heute nicht; wenn ich irgendwo hinfahre oder fliege, habe ich immer einen Schuhlöffel im Gepäck, weil ich sonst nicht in meine Schuhe komme. Oder zumindest nicht in einen.

In der Reha lernte ich viele Dinge wieder, zum Beispiel aufs Klo zu gehen. Das erste Mal nach Wochen ohne Katheter zu pinkeln, war unfassbar großartig, und wenn der Weg zum Edeka gegenüber der Klinik nicht so weit gewesen wäre (200 Meter) und ich gewusst hätte, wie ich meine Schuhe anziehe, hätte ich eine Flasche Billosekt besorgt – und sie gleich wieder ausgepinkelt, ohne Katheter, fuck yeah!

Nochmal die Kurzfassung: Ich habe bis heute nicht alle Körperfunktionen wieder, und ich weiß inzwischen auch, dass das so bleibt. Vor allem mein rechter Fuß kann nicht mehr so viel wie früher, aber das merkte ich erst nach und nach. Die Schuhe waren nur der Anfang. Ich merkte irgendwann, als ich auf dem Fußboden meiner Agentur landete, dass mein rechter Fuß es anscheinend nicht mehr mitkriegt, wenn er an Telefonkabeln oder ähnlichem hängenbleibt. Deswegen gehe ich bis heute eher mit gesenktem Blick, vor allem auf unbekanntem Terrain, einfach weil ich nicht hinfallen will. Ich merkte irgendwann, als ich mitten im Zimmer nach hinten zu fallen begann, dass ich darauf achten muss, mich bewusst nach vorne zu lehnen, weil mein Fuß sonst einfach vergisst, was sein Job ist. Ich merkte irgendwann, dass ich nicht mehr wie gewohnt auf Leitern steigen kann, weil meine rechten Zehen mich nicht mehr halten können; ich muss den Fuß quer auf die Stufen setzen, denn mein Ballen kann noch was. Und ich merkte irgendwann, dass ich nicht mehr laufen kann. Ich wollte morgens dem Bus hinterherrennen, aber weil die Fußheberschwäche eben dafür sorgt, dass meine Zehen mich nicht mehr vorwärtskatapultieren, fühlte es sich an wie hüpfendes Humpeln. Deswegen ließ ich das nach wenigen Metern und merkte mir: Ich kann nicht mehr laufen. Und das tat ich dann 16 Jahre auch einfach nicht mehr. Irgendwann ist man ja auch zu alt und zu würdevoll, um noch öffentlichen Verkehrsmitteln hinterherzurennen.

Februar 2017. Frau Gröner geht gehen. Den Plan hatte ich schon länger, denn es begann mich selbst zu nerven, dass meine Alltagsfitness immer mieser wurde. Seit ich nur noch Rad fahre bzw. zu Fuß nur noch den Weg von der Haustür zur U-Bahn zurücklege, hatte ich keine Rumlaufkondition mehr. Das merkte ich vor allem, als ich mit F. in Amsterdam und Madrid war; gefühlt wollte ich mich alle 500 Meter nur mal kurz setzen und jammerte innerlich dauernd „Issesnochweitissesnochweit?“ Also nahm ich mir vor, wieder im Alltag mehr zu gehen, was mich aber auch nervte, denn eigentlich fahre ich ja viel lieber Fahrrad. Also nahm ich mir stattdessen vor, wieder öfter aufs Laufband zu gehen, denn ich habe ja ein Laufband. … Äh, nein. … Ich hatte ein Laufband, und das steht auch immer noch in Hamburg, aber jetzt habe ich’s halt nicht mehr, und selbst wenn ich’s hätte, hätte ich keinen Platz dafür. Alleine diese Feststellung warf mich wieder wochenlang in Traurigkeit und ich fuhr weiter Fahrrad.

Dann googelte ich nach Fitnesstudios, auf die ich zwar überhaupt keine Lust hatte, aber ich wollte verdammt noch mal gehen. Ich wollte, wenn überhaupt, alleine auf ein Laufband, aber nicht mitten in einem Pulk von Läufer*innen sein, die alle toller als ich aussehen und viel schneller und fitter sind. Und ich wollte mich nicht vor anderen Leuten umziehen. Das letzte Mal habe ich das vor Jahren beim Kieser-Training gemacht, und auch dort, wo ja alle angeblich nur wegen der Gesundheit sind und nicht wegen der schlanken Taille, gucken die Leute, wenn sich ein Mensch mit deutlich nicht schlanker Taille nackt macht. Fand ich scheiße, will ich nicht mehr.

Ich fand ein Studio in meiner Nähe, wo ich theoretisch morgens hätte hinradeln können, eine Stunde aufs Laufband, wieder nach Hause radeln und dort duschen etc. Aber alleine der Gedanke daran nervte mich schon, ich fuhr weiter Fahrrad und wurde immer nöliger. Bis ich mir eines Morgens dachte, scheiß drauf, du hast den Alten Nordfriedhof fast vor der Haustür, da joggen immer Leute rum – steh einfach so früh auf, dass noch niemand da ist, der dich in Schlumpfklamotten und mit rotem Kopf sieht und geh los. Geh einfach los. Und genau das habe ich im Februar gemacht.

Eine Runde um den Friedhof sind ungefähr 750 Meter; das sagen jedenfalls Google Maps, die Wikipedia und die Umsonstversion von Runtastic, die ich mir irgendwann mal runtergeladen hatte und nun zum ersten Mal benutzte. Ich nahm mir zwei Runden vor, merkte am Ende dieser zwei Runden, dass eine dritte noch locker drin war, ging sie und hörte danach auf. Zwei Tage später ging ich wieder drei Runden, und als die Woche rum war, ging ich eine Woche lang vier Runden, dann eine Woche lang fünf und so weiter. Irgendwann war ich bei fast acht Kilometern, was ich ziemlich großartig fand für jemanden, die sonst nie weiter als 500 Meter gegangen war und das auch nur unter großem inneren Protest, weil Radeln halt super ist und man im Bus lesen kann. Ich ging bei Nike einkaufen, so dass ich nicht mehr in den weiten Baumwollhosen rumlief, sondern total professionell in Tights, ich ignorierte Regen und Schnee und ging und ging und ging. (Nebenbei: Hey, Gesellschaft, wenn du willst, dass wir dicken Menschen Sport treiben, weil du dir so große Sorgen um unsere Gesundheit machst – um Ästhetik geht’s dir ja nicht, gell, knick-knack? –, dann sorg gefälligst dafür, dass wir Klamotten haben, in denen man Sport machen kann. Die blöden weiten Baumwollplünnen kannst du dir an die Backe zimmern; gib mir Funktionskleidung in größer als 46/48 – weiter geht’s bei den ganzen Sportartikelherstellern nämlich nicht. Außer eben jetzt bei Nike, weswegen ich das weiterhin großflächig verlinken werde.)

Meistens ging ich alleine, aber natürlich nicht immer. Je wärmer es wurde bzw. je früher es hell wurde, desto mehr Leute waren plötzlich da. Inzwischen machte es mir nichts mehr aus, mit rotem Kopf und hautengen Hosen durch die Gegend zu gehen, denn hier sahen alle so aus und jeder wollte einfach nur ein paar Runden laufen. Laufen, nicht gehen. Walkende Menschen sah ich sehr wenige, aber stattdessen irrsinnig viele Läufer in jeder Konditionsphase. Ich sah eine ältere Dame, die im Rocky-Jogginganzug eine Runde lief und dabei ungefähr so schnell war wie ich. Ich sah einen jungen Mann, der dauernd auf die Uhr guckte, und der so schnell an mir vorbeizog, dass ich kaum glauben konnte, dass man in diesem Tempo mehr als 100 Meter laufen kann. Ich sah eine junge Frau, die nur auf den Zehenspitzen lief, eine ältere, die federleicht in Regenjacke und weiten Hosen an mir vorbeizog, zwei Damen, die sich beim Laufen unterhielten, und fast jeden Morgen meinen Liebling: einen jungen Mann in knielangen Tights und blauem Oberteil, der so wunderschön gerade und aufrecht und entspannt läuft (und so tolle Waden hat), dass ich ihm ewig hinterhergucke.

Ich sah Menschen jeder Altersklasse, aber kaum jemanden, dessen Körperfülle meiner ähnelte. Aber selbst das war egal, denn dadurch, dass man eh bloß überholt wird oder jemanden für wenige Sekunden gegenüber hat, hat man kaum die Möglichkeit, sich zu vergleichen – ganz anders als im Fitnessstudio, wo ich vermutlich eine Stunde lang schlanken, durchtrainierten, überglücklichen und gut verdienenden Traummenschen mit Doktortitel zugeguckt hätte, während vor mir eine Kalorienverbrauchsanzeige blinkt (I DON’T CARE!). Hier nicht. Hier sah ich gut gelaunt und entspannt Eichhörnchen, Grabsteine und den Sonnenaufgang. Und halt Läufer.

Ich wusste, ich kann nicht laufen, aber je mehr Menschen ich sah, die eben das taten, desto mehr wollte ich das auch. Und obwohl ich theoretisch einfach nur meine Füße etwas weiter vom Boden hätte heben müssen, habe ich mich nicht getraut. Wenn man etwas 16 Jahre lang nicht gemacht hat und davon überzeugt ist, dass man es nicht kann, fällt es irrsinnig schwer, es einfach doch noch mal auszuprobieren. Ich sprach mit F. darüber, der meinte: „Warte auf einen richtig guten Tag, an dem dir nichts die Laune verderben und dich nichts traurig machen kann. Du weißt ja, du kannst nicht laufen, also kannst du eigentlich auch nicht enttäuscht sein, wenn’s eben nicht klappt, aber falls doch, dann hast du einen guten Tag, an dem du dich wohlfühlst und es dir gut geht – das wird dann nicht so schlimm.“ Die Worte hatte ich tagelang im Ohr, bis ich einen Sonntagmorgen ganz alleine auf der Runde war. Niemand sah mir zu, mir ging’s gut, ich bilde mir ein, Spotify spuckte besonders motivierende Lieder aus – und irgendwann dachte ich, ich lauf jetzt ein bisschen.

Und dann lief ich ein bisschen.

Es sah vermutlich immer noch wie hüpfendes Humpeln aus, aber FUCK IT ICH LIEF. Ungefähr zehn Meter, weil ich so überrascht davon war, dass ich laufen konnte, dass ich gleich wieder stehenblieb. Außerdem habe ich innerhalb von einer Sekunde den Sinn von Sport-BHs verstanden, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich war so bräsig-glücklich, dass ich den Rest der Runde wieder ging, aber beim nächsten Mal nahm ich mir vor, wenn niemand guckt, laufe ich von dieser einen Bank da bis zur nächsten. Beim nächsten Mal lief ich von der ersten Bank bis zur dritten und dann bis zur vierten und irgendwann bis zum Baum da vorne und dann noch um die Kurve. Ich kann immer noch nicht wirklich lange laufen; ich habe bis heute keine ganze Runde geschafft, auch weil ich nicht weiß, ob ich meinem Rücken und meinem Knie damit einen Gefallen tue, wenn ich laufe. Dadurch, dass meine Zehen mich nicht abfedern, kriegen Knie und Rücken alles mit, und besonders leicht bin ich ja nun auch nicht. Außerdem muss ich beim Laufen noch mehr darauf achten, was mein Fuß tut und wo er hinstapft, weswegen ich die ganze Zeit einen inneren Monolog führe: „Okay, krall deine rechten Zehen nicht so ein, als ob du den Schuh festhalten willst, der hält schon. Roll dich links mal bewusster ab. Versuch, das rechte Knie vorne zu halten, auch wenn du’s eigentlich nicht halten kannst. Wie geht’s der Lendenwirbelsäule, alles gut, tut nix weh? Nicht die Zehen einkrallen!“ Und so weiter und so fort. Das ist alles deutlich unentspannter als einfach zu gehen, aber momentan bin ich immer noch so fasziniert davon, zu laufen, dass ich das für ein paar hundert Meter mitmache. Daher ist mein Ehrgeiz auch nicht, einen 5k zu laufen. Mein Ehrgeiz ist es, schmerzfrei meine Runden zu drehen, ganz egal, ob laufend oder gehend, und meine Alltagsfitness zu verbessern. Wenn ich Lust habe zu laufen, dann laufe ich, wenn ich nur gehen will, dann gehe ich, und inzwischen ist es auch egal, ob mich jemand sieht, wie ich hüpfend humpele.

Das ist jetzt vielleicht nicht die Pointe, auf die ihr gewartet habt – „Hey, ich trainiere jetzt für den Marathon“ –, aber ich denke jedesmal, wenn ich loslaufe: OMG ich laufe. Momentan laufe ich meist eine halbe Runde, dann gehe ich eine halbe, dann laufe ich wieder oder auch nicht. Das fühlt sich gut an, und mein ganzer Körper scheint damit einverstanden zu sein. Ich merke seit Wochen, dass mir Gehen im Alltag viel leichter fällt als noch vor wenigen Monaten, und ich freue mich schon sehr darauf, durch Paris und Wien und St. Petersburg zu gehen. Das einzig Dumme: Meine Ausrede, aus der Puste zu sein, ob F. vielleicht mal ein Eis, was zu trinken, Sonnencreme besorgen könnte, während ich hier rumsitze … die zieht jetzt nicht mehr. Verdammt.

Was schön war, Mittwoch, 17. Mai 2017 – Konzentration und Leberwurst

Brav den ganzen Tag im ZI gesessen und gelesen und geschrieben und einen neuen Schwung Bücher an den Tisch geschleppt und gelesen und geschrieben. Viel über Baselitz gelernt; auch, dass er mir immer noch egal ist. Lustige Zitate über Richter gefunden, die ich ihm gerne mal unter die Nase reiben würde, aber ich versuche ja, Künstleraussagen zu ignorieren und mir nur die Werke anzugucken. Einleitung, Thema Vergangenheitsbewältigung, Thema bundesdeutsche Kunst nach 45 sind fertig. Heute kann ich endlich mit Kiefer anfangen. Und nebenbei ist mir noch eine riesige Glühbirne aufgegangen für eine schöne, dicke These, aber die lasse ich noch ein paar Tage rumglühen, die muss noch ein bisschen liegen.

Zum Abendessen versucht, ein Banh Mi nachzubauen, nachdem F. und ich neuerdings gerne im Bami-Haus rumhängen und es uns dort gut gehen lassen. Das war eher eine spontane Idee beim Einkaufen, weswegen ich nur Koriander, Baguette und ein paar Scheiben Schweinebraten kaufte. Die Paté, die eigentlich aus Hühnerleber besteht, wie ich nachträglich las, baute ich aus Leberwurst nach, die ich mit einem bisschen Fischsauce vermischte. Klingt fürchterlich, schmeckte aber erstaunlich gut. Dazu pickelte ich … nee, Moment, das ist Masterchef-Sprech, ich googele mal eben die Übersetzung … ah … dazu legte ich ein paar Möhren- und Gurkenscheiben sauer ein, das heißt, ich ließ sie in Apfelessig liegen, in den ich Zucker gerührt hatte. Pseudo-Paté aufs Baguettebrötchen, Gemüse drauf, Schweinebraten drauf, viel, viel Koriander drauf. Das nächste Mal brauche ich noch ein warmes und ein scharfes Element, dann passt das.

(Und vielleicht ein paar Hühnerlebern.)

Wieder mit Genuss die FAZ gelesen. Ich habe noch fünf Tage, bis ich das Probeabo kündigen muss oder es einfach weiterlaufen lasse, aber im Moment mag ich das sehr, wieder eine Zeitung zu haben.

Am späten Abend noch mit F. die Balkonsaison eröffnet. Ich kann mit dem Konzept Sommer ja immer noch nicht so recht was anfangen, aber dieses „auf dem Balkon sitzen und was Nettes trinken“ gefällt mir immer besser.

Was schön war, Dienstag, 16. Mai 2017 – Bücher lesen, Zeitung lesen, Internet lesen

Morgens öffnete ich vorsichtig die Wohnungstür und guckte auf meinen Abtreter – auf dem leider nichts lag. Gestern begann mein Probeabo für die Frankfurter Allgemeine, und ich wusste, dass in unserem Haus die Süddeutsche vor die Wohnungstür gelegt wird, während der Merkur nur im Briefkasten landet. Ich ging enttäuscht fünf Stockwerke nach unten und fischte die FAZ aus dem Briefkasten. Mal sehen, ob der Ablageplatz der Zeitung das Killerargument wird.

Beim Frühstück las ich das Feuilleton an, weswegen ich die FAZ haben wollte, merkte aber, dass ich mich festlas. Ich legte die Zeitung weg und freute mich darauf, sie später zu lesen.

Dann radelte ich ins ZI und las gefühlt zwanzig Kataloge durch. Ich ergänzte meine Einleitung durch den noch fehlenden Forschungsstand zu Kiefer und begann den zweiten Teil der Arbeit: bundesdeutsche Kunst nach 1945, die sich mit der NS-Zeit beschäftigt. Da gab es nicht viel, aber einen kleinen Abriss schrieb ich doch. Heute werde ich mich vertiefend mit Georg Baselitz, seiner Großen Nacht im Eimer (in der manche Kunsthistoriker*innen einen Hitlerjungen sehen) und seinem Pandämonischen Manifest befassen sowie mit Gerhard Richters Werken Onkel Rudi, Tante Marianne und Herr Heyde.

Den Feierabend genoss ich mit der angefangenen Zeitung, bevor ich mir ein bisschen Fisch und Gemüse zubereitete. #nofilterjusttageslicht

Memo to me: noch die lang geplante Ode an Kartoffelbrei schreiben.

Und dann las ich noch etwas im Internet rum.

My Family’s Slave

Hervorragend erzählte Geschichte eines philippinischen Autors, der als Kind in den USA merkt, dass die Dienerin der Familie eher eine Sklavin ist und wie sich sein Verhalten zu ihr und seiner Mutter ändert.

„Admitting the truth would have meant exposing us all. We spent our first decade in the country learning the ways of the new land and trying to fit in. Having a slave did not fit. Having a slave gave me grave doubts about what kind of people we were, what kind of place we came from. Whether we deserved to be accepted. I was ashamed of it all, including my complicity. Didn’t I eat the food she cooked, and wear the clothes she washed and ironed and hung in the closet? But losing her would have been devastating.

There was another reason for secrecy: Lola’s travel papers had expired in 1969, five years after we arrived in the U.S. She’d come on a special passport linked to my father’s job. After a series of fallings-out with his superiors, Dad quit the consulate and declared his intent to stay in the United States. He arranged for permanent-resident status for his family, but Lola wasn’t eligible. He was supposed to send her back.“

Digitalisierung, Bloggen und Leselust in der Münchner Stadtbibliothek

Katrin Schuster erzählt unter anderem über die digitale Transformation der Münchner Stadtbibliothek.

„Die digitale Transformation verstehen wir als große Chance. Digitalisierung ermöglicht so vielen Menschen so viel mehr Teilhabe! Gedruckte Bücher etwa sind nur bedingt barrierefrei – bei eBooks dagegen kann ich die Schrift beliebig vergrößern oder sie mir sogar vorlesen lassen. Um ein eBook zu leihen, muss ich das Haus nicht verlassen – ein enormer Vorteil für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Ganz zu schweigen von den sozialen Netzwerken, die z.B. gehörlosen Menschen Zugang zu ganz neuen Gemeinschaften und Kommunikationsräumen eröffnen. Und nicht zu vergessen jene Münchnerinnen und Münchner, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, sich aber dennoch informieren möchten: Unser digitaler PressReader hält über internationale 6.000 tagesaktuelle Zeitungen und Zeitschriften aus rund 200 Ländern in über 60 Sprachen vorrätig – in der gedruckten Version würden wir die niemals unterbringen! Und andersherum schafft die Digitalisierung unseres Bestands Platz für mehr reale Interaktionen, an denen ja in digitalen Zeiten nicht weniger Bedarf besteht.“

What Makes a Parent?

Porträt zweier Frauen, die sich beide als Elternteil eines Jungen ansehen, obwohl nur eine von beiden seine Adoptivmutter ist. Der Fall wurde gerade in New York vor Gericht verhandelt. Es fiel mir schwer, einen Ausschnitt auszuwählen, weil alles auf allem aufbaut und viele Namen vorkommen – wenn euch die untenstehenden Zeilen noch nicht so recht anfixen, klickt trotzdem mal rüber zum New Yorker.

„New York’s statutes describe the obligations and entitlements of a parent, but they don’t define what a parent is. That definition derives from case law. In 1991, in a ruling in Alison D. v. Virginia M., a case involving an estranged lesbian couple and a child, the Court of Appeals opted for a definition with “bright line” clarity. A parent was either a biological parent or an adoptive parent; there were no other kinds. Lawyers in this field warn of “opening the floodgates”—an uncontrolled flow of dubious, would-be parents. Alison D. kept the gates shut, so that a biological mother wouldn’t find, say, that she had accidentally given away partial custody of her child to a worthless ex-boyfriend. But many saw the decision as discriminatory against same-sex couples, who can choose to raise a child together but can’t share the act of producing one. Judge Judith Kaye, in a dissent that has since been celebrated, noted that millions of American children had been born into families with a gay or lesbian parent; the court’s decision would restrict the ability of these children to “maintain bonds that may be crucial to their development.”

Starting in the mid-nineties, some U.S. states began recognizing a new legal category: the de-facto parent. This usually defined someone who had been given permission, by a legal parent, to share parental duties; who had lived with, and bonded with, a child; and who had assumed some of the financial burdens of parenthood. This person would not necessarily be granted full parental rights but would at least have standing to argue, in the face of a legal parent’s objection, that a child’s best interests would be served by a continued relationship.“

< quote >

Eine wunderbare Beschreibung davon, wie es ist, Las Meninas im Prado zu begegnen. Ich kann das seit letztem Jahr abnicken.

„I was passing the opening to a large gallery when a strange frisson of light caught the edge of my eye. As I turned to look, all the people standing at the other end of the gallery suddenly moved aside as one, clearing an open view to the source of that light: Velázquez’s monumental Las Meninas. I had no thought of it, no idea it would be there or how vast it would be – an image the size of life, and fully as profound. The living people revealed the painted people behind them like actors in the same performance, and flashing up before me was the mirror-bright vision of a little princess, her young maidservants and the artist himself, all gathered in a pool of sunlight at the bottom of a great volume of shadow, an impending darkness that instantly sets the tenor of the scene. The moment you set eyes on them, you know that these beautiful children will die, that they are already dead and gone, and yet they live in the here and now of this moment, brief and bright as fireflies beneath the sepulchral gloom. And what keeps them here, what keeps them alive, or so the artist implies, is not just the painting but you.

You are here, you have appeared: that is the split-second revelation in their eyes, all the people looking back at you from their side of the room. The princess in her shimmering dress, the maids in their ribbons and bows, the tiny page and the tall, dark painter, the nun whose murmur is just fading away and the chamberlain silhouetted in the glowing doorway at the back: everyone registers your presence. They were here like guests at a surprise party waiting for your arrival and now you have entered the room – their room, not the real one around you – or so it mysteriously seems. The whole scene twinkles with expectation. That is the first sensation on the treshold of that gallery in the Prado where Las Meninas hangs: that you have walked into their world and become suddenly as present to them as they are to you.“ […]

But take a few steps towards this painting in all its astounding veracity and the vision withers. The princess’s lustrous hair begins to look like a mirage, or a heatwave scintillating above a summer road that vanishes at your approach. The face of the lady dwarf dissolves into illegible brushstrokes. The figures in the background become inchoate at point-blank range and you can no longer see where a hand stops and the tray it is holding begins. The nearer you get to the painting, the more these semblances of reality start to disappear, to the point where it is impossible to fathom how the image could have been made in the first place. Everything is on the verge of dissolution and yet so vividly present that the sunshine in the painting seems to float free and drift out into the gallery. It is the most spellbinding vision of art.“

Laura Cumming: The Vanishing Man: In Pursuit of Velázquez, London 2016, S. 1–3.

Was schön war, Sonntag, 14. Mai 2017 – Einleitung

Vormittags Der goldene Handschuh ausgelesen. Ich weiß immer noch nicht, was ich vom Buch halten soll außer dass ich mir nicht wünsche, dass es irgendwer lesen muss. Mich hat die schonungslose Sprache beeindruckt, aber gleichzeitig mehr als verschreckt. Das Milieu kam mir sehr genau beobachtet vor – das kann ich aber glücklicherweise nicht beurteilen –, die Gewaltfantasien waren mir manchmal zu detailliert, so dass ich nicht wusste, ob sich da der Autor kurz selbst an seinen Formulierungen berauscht. Das mag aber meine persönliche Abneigung gegen derartige Schilderungen und auch der Tatsache geschuldet sein, dass ich schlicht nicht mehr lesen will, wie ein männlicher Autor seine männlichen Figuren sich Dinge überlegen lässt, die sie in all ihrer Widerwärtigkeit an Frauen ausprobieren könnten. Reicht jetzt. Ein eher unangenehmes Leseerlebnis, aber wieder ein Buch, das ich nicht weglegen wollte.

(Perlentaucher-Kritiken.)

Nachmittags am Schreibtisch gesessen, auch um dem schmutzigen Sumpf im Kopf zu entfliehen, in den Strunk mich geschickt hatte. Jetzt schön wieder über die Nazis lesen, yay! (Sorry.)

Bis zum frühen Abend hatte ich den First Draft der Einleitung für meine Masterarbeit fertig. Ich beginne mit der sich ändernden Rezeption von Anselm Kiefer und Markus Lüpertz, denen in den 1970er Jahren unterstellt wurde, blöde Faschos zu sein, weil sie sich NS-Ikonografie bedienten. 40 Jahre später ist sich die Kunstgeschichte dann plötzlich einig, dass das eine clevere Auseinandersetzung mit der nicht-bewältigten NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik ist. Ich beschreibe diese Nichtbewältigung, indem ich die verschiedenen Phasen aufzeige, in denen in der BRD über die NS-Zeit gesprochen und verhandelt wurde und zeige die Unterschiede der Phasen auf.

Es beginnt mit der persönlichen Auseinandersetzung z.B. durch Entnazifizierungsverfahren, was dann vor allem in den 1950er Jahren in ein kollektives Beschweigen übergeht (wir haben alle Dreck am Stecken, aber jetzt muss ein neuer Staat aufgebaut werden, also lasst uns mal ne Pause machen und Gesetze erlassen, dass NS-Beamte Rente kriegen (1951) und man die alten Orden wieder tragen darf (1957)). Für dieses Beschweigen fand ich in einem (umstrittenen) Aufsatz den Ausdruck der „nicht-symmetrischen Diskretion“, der aussagen soll, dass Täter und Opfer sich mal kurz miteinander arrangierten, um ein neues Land aufzubauen; diese Formulierung empfinde ich als überaus zynisch und hatte daher viel Spaß mit einer dementsprechenden Fußnote. In den 1960er Jahren begann dann wieder eine Auseinandersetzung (Eichmann-Prozess, Frankfurter Auschwitzprozesse, sehr verkürzt ausgedrückt: die 1968er), weil die erste Generation, die die NS-Zeit nicht selbst miterlebt hatte, sich unbefangener mit dem Thema – und der eigenen Elterngeneration – auseinandersetzen konnte und wollte.

Mit dieser Zeit beendete ich die Chronologie, denn das ist die Zeit, in der Kiefer und Lüpertz ihre Werke schaffen, auf die ich in der Arbeit eingehen werde. Ich formulierte einen Forschungsstand für Kiefer in Stichworten (an den muss ich heute noch mal im ZI ran, wo die ganzen alten Kataloge stehen) und einen ausführlichen für Lüpertz; für ihn hatte ich mir genug in der Stoffsammlung notiert.

Abends mit F. Spaghetti Carbonara und einen netten Rotwein genossen. Gemeinsam die neue Folge Masterchef Australia geguckt, aber ich glaube, ich konnte den Mann nicht anfixen.

Was schön war, Samstag, 13. Mai 2017 – Letztes Heimspiel

Der Tag stand im Zeichen der Fahrt nach Augsburg. F. war nervös und haderte wieder mit allem (so cute), eine unserer zwei üblichen Mitfahrerinnen war recht entspannt, ich hatte mich in ein Unentschieden reingequatscht (das mit dem in einen Sieg reinquatschen hatte beim HSV ja auch so schön funktioniert), und als ungewohnter Mitfahrer gesellte sich Herr @Surfin_Bird zu uns, der eher Augsburgs Gegner Dortmund die Daumen drückte. Der Herr trug nur dezentes Yellow-Wall-Shirt unter schwarzer Jacke, wo ich mich schon auf mindestens Schal eingestellt hatte, aber er meinte: „Das macht man nicht im Heimblock.“ Mit dieser Einschätzung war er sehr alleine, wir stellten rund ums Stadion verdammt viel Gelbschwarz statt Rotgrünweiß fest.

Die letzte Heimspielwurst der Saison. Wohlschmeckend wie immer und ausnahmsweise bar bezahlt, denn das Unternehmen, das diese ollen Geldkarten für Stadionbesucher*innen ausgibt, geht gerade insolvent. Super Sache. Nicht. (Okay, ich hatte nur noch zehn Euro oder so auf der Karte, aber trotzdem. Dusseliges System.)

Augsburg brauchte mindestens ein Unentschieden, und es wäre echt nett gewesen, wenn der HSV oder Wolfsburg mal verlieren hätte können, aber nein, die Pappnasen müssen das ja unbedingt am letzten Spieltag nächsten Samstag entscheiden, wer von den drei Vereinen in die Relegation muss. Ich habe mir nach dem Spiel erklären lassen, wer jetzt wie spielen muss. Das wird toll nächsten Samstag, wenn ich in der Allianz-Arena dem Meister bei der Bierdusche zugucke, aber eigenlich nur wissen will, wie’s in Sinsheim und Hamburg steht. Okay, Gomez, wenn du dir meine Zuneigung sichern willst, dann triffst du bittebitte mindestens fünfmal. (Sorry, Hansestadt. Ich bin raus.)

Ich hatte, wie eigentlich immer in Augsburg, viel Spaß beim Spiel. Erst die Wurst, dann das Liedchen mit dem fähnchenschwenkenden Kid’s Club – und dann eine Bemerkung vom Bird, über die ich sehr grinsen musste. Wenn die Kinder durchs Stadion gehen und das Vereinslied erklingt, kommt irgendwann folgende Strophe:

„Und jeder Gastverein / soll hier willkommen sein
denn Fußball-Freundschaft / ist für uns Pflicht
Doch wenn der Ball im Spiel ist / wird die Fahne gehisst
denn wir sind Augsburger / und ihr nicht“

Bei „und ihr nicht“ dreht sich das ganze Publikum zum Gästeblock, zeigt auf die auswärtigen Fans und brüllt die drei Worte sehr laut mit. Bird zu mir, die das natürlich brav und überzeugt und laut mitmachte: „Total assimiliert.“ Ich so: „Man tut, was man kann.“ Das tat ich dann auch weitere 90 Minuten; wenn die Nordkurve klatschte, klatschte ich mit und feuerte mehr an als sonst, wo ich gerne einfach still rumsitze und Fußball gucke. Aber gestern musste gebrüllt und geklatscht werden, was der Rest vom Stadion ähnlich sah – ich habe die WWK-Arena noch nie so laut erlebt, aber ich gehe ja auch erst seit dieser Saison halbwegs regelmäßig hin.

Außerdem hatte ich endlich mal Zeit, mir Dortmund in Ruhe anzugucken. Beim letzten Spiel in der Allianz-Arena waren beide Vereine auf Augenhöhe, aber beim üblichen Augsburger Rumpelfuppes war der Unterschied zu den BVB-Schönspielern sehr deutlich zu sehen. Es hat viel Freude gemacht, vor allem den Herren Aubameyang und Dembélé zuzuschauen. Schon spannend, wie man Spielzüge gleichzeitig schön (weil schön) und fürchterlich (WEIL’S EBEN DER VERDAMMTE GEGNER IST) finden kann.

Im Endeffekt ging’s 1:1 aus, wir waren mit dem Unentschieden zufrieden (okay, Bird nicht) und genossen auf der Heimfahrt das übliche Augustiner. Das ist entweder ein Trost- oder ein Siegbier oder eben auch ein Hey-unentschieden-gegen-Dortmund-ist-auch-ganz-okay-Bier.

#12von12 im Mai 2017

Die anderen 12von12er gibt’s wie immer bei Caro.

Vor dem Wecker aufgewacht. Eigentlich stehe ich, wenn ich walken gehen will, um 6 auf. Ich freute mich aber darüber, dass es früher war, denn dann komme ich auch früher wieder nach Hause und kann nochmal an F. rumpuscheln, bevor der los muss. Außerdem freute ich mich über die Chance auf Niederschlag, denn in der Regenjacke gehe ich gerne durch die Gegend, weil ich das Geräusch von Regen auf der Kapuze so mag. Hat dann aber nur so ein bisschen memmig rumgenieselt.

Da ich morgens noch recht bräsig bin, lege ich alles zum Walken am Vorabend raus. Die Klamotten liegen in Anziehreihenfolge im Bad, die Schuhe stehen mit Fußspitzen in Richtung Wohnungstür im Flur. Ich ahne, dass das übertrieben ist, aber es sieht so motiviert aus. (Diss-Thema: „Inszenierung von Sportartikeln in der Werbefotografie: Winckelmann, Riefenstahl, Koons, Goldin?“) In der Küche liegen die entwirrten Kopfhörer, weil ich gerne leise Musik höre, während ich vor mich hinmarschiere. Dazu gibt’s ein Glas Wasser, damit ich nicht ganz nüchtern rausgehe, und einen Hub Asthmaspray, damit sich auch die Lunge auf die Runde freuen kann.

Das ging leider etwas zäher als sonst, ich fühlte mich sehr langsam (war ich auch) und hatte erstmals ein bisschen Knieprobleme. Nicht gelaufen, nur gegangen bzw. geschlichen. Dafür acht Eichhörnchen gesehen. Hey, A-Hörnchen, ich weiß, wo deine Nüsse liegen!

Mein Sofafrühstück bestand wie üblich aus Cappuccino und Saft, dazu gab’s Cornflakes und Weintrauben. Hunger!

Neues Buch angefangen. Nach A Little Life fühlte ich mich abgehärtet genug, um endlich den Strunk zu lesen. Ich ahne aber nach 100 Seiten, dass das eine andere Art Herausforderung wird als Life.

Hande von Vinoroma empfahl neulich die Pasta von Mancini, und weil ich ja auf alles höre, was Katha und Hande sagen, habe ich mir mal ein Kilo geordert. Ich kann Handes Urteil vollumfänglich bestätigen: richtig gutes Zeug! Die Spaghetti fassen sich viel rauer an als meine üblichen De Ceccos und scheinen mir auch dicker zu sein.

Ein Überbleibsel aus meiner Abnehmzeit ist, dass ich mir Nudeln abwiege, weil ich inzwischen weiß, von wie viel (oder wenig) ich satt werde. Ich kann es blöderweise aber immer noch nicht abschätzen, wieviel ich in der Hand habe, wenn ich einfach ein Bündel Spaghetti nehme, also wiege ich sie weiterhin ab. Meistens komme ich der Zielzahl recht nahe, gestern lag ich mit den ungewohnt dicken Mancinis aber weit daneben. Aber deswegen wiegen wir ja ab. Auf die richtige Menge reduziert und ab ins Wasser damit. Sobald die Nudeln dort sind, besteht das Wasser quasi nur noch aus Stärke, und die herrliche Tomatensauce (Marcella Hazan, kennt ihr ja), die ich mir dazu kochte, klebte ganz wunderbar an den Spaghetti. Gerne wieder.

Nebenbei: schönes Packungsdesign. (Diss-Thema: „Inszenierung von Grundnahrungsmitteln in der Werbefotografie der 1950er bis 2000er Jahre: Von der Pflicht zum Genuss.“)

Falls ihr das nicht eben schon gegoogelt habt: Für eine satte Portion 400 g gute Dosentomaten mit einer Zwiebel, halbiert, und einem ordentlichen Esslöffel Butter circa 45 Minuten köcheln lassen. Ab und zu die Tomaten am Topfrand zerdrücken, danach durch ein Sieb passieren, mit Salz und Zucker abschmecken. Pures Tomatenglück. Bei mir gab’s noch unfotogenen Parmesan drüber.

Ich muss immer darüber grinsen, dass man für eine Sauce, die nur aus drei Zutaten besteht, auch drei Gerätschaften dreckig machen muss: Topf, Sieb und irgendein Gefäß, um die passierte Sauce aufzufangen. (Diss-Thema: „Porzellanherstellung in München. Vom Luxusgut zur Massenware.“)

Nachtisch. In der überaus hässlichen Verpackung steckt ein kleinformatiges Magnum mit Himbeerschlotz und einer zweiten Schokoschicht.

Dann saß ich brav am Schreibtisch. Die Bücher über Vergangenheitsbewältigung liegen zuhause und nicht in irgendwelchen Bibliotheken, was mir gestern ganz gut passte. Ich war, total überraschend, ein winziges bisschen müde und daher froh, am eigenen Schreibtisch wegzunicken anstatt in der Stabi. (Diss-Thema: einfach mit diesem Kram weitermachen, weil dieser Kram echt spannend ist.)

Abends per Chauffeur zu F.

Dort noch ein sehr schmackhaftes Abendbierchen genossen: Das Franz Josef ist überraschend fruchtig, ohne süß zu sein. Gefällt sehr.

(Beim Einschlafen über Masterarbeit und Dissertation nachgedacht. What else is new?)

Was schön war, Donnerstag, 11. Mai 2017 – Angetippt

Wir erwachten gemeinsam, dösten viel zu lange rum, F. ging irgendwann, ich duschte gemütlich, frühstückte gemütlich, bloggte gemütlich und wollte mich endlich um kurz vor 10 ausgehfein machen, um ins ZI zu fahren, als ich, einer spontanen Eingebung folgend, meinen Kalender anklickte, um zu überprüfen, ob heute wirklich nichts war und ich den ganzen Tag im ZI sitzen könnte. Das war sehr clever, denn so sah ich, dass das zweite unserer drei Kolloquien heute war und nicht morgen, wie ich kleiner Schafkopf es mir falsch gemerkt hatte. Und auch nicht um 12, sondern um, genau, war ja klar, 10. Ich schaffte es, in dreizehn Minuten mir irgendwelche Klamotten überzuwerfen, meinen Rucksack fürs ZI zu packen, mein Fahrrad aus dem Keller zu zerren, zum Institut für Kunstgeschichte zu radeln, dort alles bis auf mein Notizbuch in ein Schließfach zu werfen und die drei Treppen zum Besprechungsraum in der Bibliothek hochzuhetzen.

Nur fünf Minuten zu spät bekam ich so noch fast das ganze Referat einer Kommilitonin mit, von der ich sogleich ein neues Wort lernte: Calligraffiti, also Graffiti in Schriftform. Tolles Thema. Eine weitere Dame befasst sich in ihrer Bachelorarbeit mit Swoon und geht eventuell noch auf weitere Frauen, die Street Art herstellen, ein, die ich auch alle nicht kannte. Sie nannte auf ihrem Handout zum Beispiel Hera, Miss Van, ELLE und Lady Aiko. Auch die beiden anderen Künstler, die jetzt eine BA-Arbeit kriegen, kannte ich nicht: Wilhelm Laage und Joel-Peter Witkin. Das waren zwei sehr spannende Stunden, in denen ich auch vom MUCA erfahren habe, das mir peinlicherweise kein Begriff war. Gleich mal vorbeigehen.

Danach radelte ich ins ZI und starrte meinen Rechner an. Seit ungefähr einer Woche würfele ich im Kopf erste Sätze durch die Gegend, die aber alle doof klingen. Vorgestern in der Stabi schrieb ich endlich mal einen auf und dann noch einen zweiten und fünf weitere, war mir aber beim Schreiben schon bewusst, dass das noch nicht der Anfang ist, den ich haben will. Abends sprach ich endlich mal mit F. über mein Kopfgewusel und dass ich mal wieder so viel Zeug habe, dass ich nicht weiß, mit welchem winzigen Detail ich anfangen soll. Der Mann stellte schlaue Fragen, ich hatte irgendwann die Glühbirne über dem Kopf und gestern saß ich dann im ZI, löschte den Anfang vom Mittwoch und schrieb einen neuen. Und dann schrieb ich einfach weiter, las noch ein paar uralte Kataloge von Kiefer, die ich noch nicht kannte, und machte um 16 Uhr Feierabend. Vor mir lagen vier schöne Seiten, die mich ganz hervorragend in die Untiefen meiner Masterarbeit schubsen. Puh. Endlich angetippt. Den Rest rocke ich jetzt runter.

Was schön war, Mittwoch, 10. Mai 2017 – „Lohengrin“-Vorspiel

F. und ich sahen uns Insgeheim Lohengrin im Residenztheater an bzw. in einer seiner Außenstellen, dem Cuvilliés-Theater. Das alleine ist ja schon schön, denn wenn’s langweilig ist, kann man sich immerhin viel barocke Pracht angucken. (Was ich öfter gemacht habe.) Das Stück folgt der Idee des Neobanalismus – den Begriff habe ich auf der Website gelernt und werde ihn jetzt dauernd benutzen, FÜR ALLES.

Was mir gefallen hat: dass ich wenigstens den Anfang des Lohengrin-Vorspiels hören durfte und zwar nicht aus den schraddeligen MacBook-Lautsprechern, sondern in einem anständigen Theater, denn es gehört zu meinen Lieblingen und ist wunderschön und nicht mal die Tatsache, dass danach noch drei Stunden NEOBANALES Geplapper folgte, konnte mir die fünf Minuten madig machen. Die ersten zwanzig Minuten war ich dem Stück sogar sehr zugetan. Fünf Wagner-Fans treffen sich in einer Airbnb-Wohnung, um Wagner zu hören und darüber zu sprechen. Sie lesen sich Wagners manchmal seltsame Regieanweisungen aus ihren Reclams vor und diskutieren, sie erzählen sich, welche Farbe für sie welche Oper hat und protzen mit angelesenem Wagner-Wissen (genau mein Ding). Dann allerdings beginnen die persönlichen Erzählungen, die nun nichts mehr mit Wagner zu tun haben, und ab da hatte mich das Stück verloren. Vermutlich weil ich gerade wieder durch Anselm Kiefer und Friedrich Nietzsche in der Masterarbeit an Wagner rumgrabe, stellte mein Hirn trotzdem alle möglichen Verbindungen her, die vermutlich gar nicht vorgesehen waren. Die Story über das frierende Kind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Eindeutig ein Hinweis auf den Missbrauch Wagners im „Dritten Reich“. Die Geschichte über die betrunkene Frau, die ihrem älteren Freund nicht gestehen will, dass sie Jungfrau ist und sich daher volltrunken irgendwen in der Kneipe schnappt, um den Job zu erledigen? Eindeutig ein Hinweis auf die eigensinnigen Frauenfiguren, die sich für Dinge opfern, die es nicht wert sind wie Senta im Holländer. Oder auch auf dusselige Damen wie Elsa im Lohengrin, die ihre Klappe nicht halten kann und ihren Ritter unbedingt nach seinem Namen fragen muss anstatt sich dem anonymen Kerl hinzugeben. Close your eyes and think of Brabant.

Das Stück schafft es, in seinen drei Akten die zunehmende Intimität zwischen den Figuren zu verdeutlichen, was aber überhaupt keinen Sinn ergibt, denn angeblich haben sie sich schon oft genug getroffen, um alle Opern Wagners durchzuhören (okay, so viele sind das ja nicht), und Lohengrin ist jetzt die letzte. Danach legen alle ihre Schlüssel auf den Tisch und gehen. Ernsthaft: Wer den Ring miteinander durchgestanden hat, der ist sich vermutlich schon näher gekommen. Außerdem hat schon die Prämisse des Stücks genervt: Man muss sich im heutigen München nicht konspirativ treffen, um Wagner zu hören. (Gerade nicht in München.) Wagner gehört mit Mozart zu den meistgespielten Komponisten weltweit, außer in Israel, aus Gründen. Alleine deswegen waren wir in der Pause sehr mit Augenrollen beschäftigt. Aber was dann auch schön war: Ich konnte diesen einzigartigen F.-Blick genießen, den der Mann über Jahre perfektioniert hat, den „Ich verachte schlechtes Theater“-Blick. Ganz großartig. So eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Genervtheit. Die brauche ich auch noch. Ich gucke immer bloß schlecht gelaunt. (Pausensekt half.)

PS: Die Nachtkritik fand’s auch eher banal, während der wütende FAZ-Kritiker anscheinend ein Bruder im Geiste von F. ist. (Nach unten scrollen.)

Was schön war, Dienstag, 9. Mai 2017 – „A Little Life“

Ich musste die Uni gestern schwänzen und ich konnte auch nicht ins ZI fahren, denn ich wollte A Little Life zuende lesen, das mich seit Tagen in seinem Bann hatte. Es ist kein leicht zu lesender Roman, denn eine der vier Hauptfiguren leidet unermüdlich und einsam vor sich hin, und als Leserin leidet man mit und weiß nie so recht, ob man ihn jetzt durchschütteln oder in den Arm nehmen will, was beides keine guten Ideen wären bei seinem Hintergrund. Das ganze Ausmaß seines Schmerzes enthüllt sich erst im Laufe der gut 800 Seiten, und obwohl man recht schnell ahnt, wo es hingeht, nimmt einen doch jede Seite mit. Die letzten 100 Seiten habe ich quasi durchgeheult, weil ich nur noch wollte, dass es vorbei ist.

Und dann eben doch nicht. Die Sprache ist unwiderstehlich, auch wenn ich manchmal gerne einen Adjektivschlenker weniger gehabt hätte; da ist eine Aussage auf die Zwölf und dann muss unbedingt noch eine Dreizehn oder eine Vierzehn draus gemacht werden. Die Figuren sind manchmal etwas platt, dann aber doch vielschichtig skizziert, so dass man ihnen gerne folgt. Das Motiv des Aushaltens wird im Laufe des Romans immer schwerer, haha, auszuhalten, aber auch das habe ich dem Buch verziehen, weil es trotz aller Schwere mühelos drei Jahrzehnte beschreibt, die sich nicht sprunghaft, sondern organisch entwickelt anfühlen.

Ich kann jede Perlentaucher-Kritik nachvollziehen und lege euch das Ding einfach mal ans Herz. Nun muss ich allerdings sehr überlegen, was ich als nächstes lese. Vielleicht traue ich mich endlich an Strunks Der goldene Handschuh ran, um das ich seit einem Jahr ängstlich schleiche. Abgehärtet bin ich jetzt.

Nachtrag: mein Interview von Tanja Praske

Ich erwähnte es letzte Woche bereits, dass ich da drüben ein paar Fragen beantwortet habe. Weil ich so lange über die Antworten nachgedacht habe, kommen sie jetzt auch ins eigene Blog. Nochmal Danke für die Fragen an Tanja.

1. Stelle dich doch bitte kurz mal vor: Wer bist du? Was ist dein beruflicher Hintergrund? Und was machst du aktuell?

Ich wurde 1969 in Hannover geboren und habe nach dem Abitur verschiedenes gemacht. Erstmal ein Studium abgebrochen (Anglistik und Geschichte), dann im Kino gearbeitet (als Kartenabreißerin angefangen, als stellvertretende Leiterin aufgehört) und in einer Kneipe als Servicekraft und Zapferin; ich kann also super Filmrollen und Bierfässer wechseln.

Was ich noch gemacht habe: schreiben. Schon immer. In der Schule bei der Schülerzeitung, dann bei uns auf dem Dorf für die Lokalzeitung und schließlich kurz für die Hannoversche Allgemeine Zeitung. Dann fing mein bester Freund an, als Werbetexter zu arbeiten und erzählte mir, was er den ganzen Tag so macht. Ich meinte: Das kann ich auch. Er meinte: Dann mach doch. Und vier Wochen später hatte ich einen Praktikumsplatz in Hamburg. Daraus sind dann knapp 15 Jahre in der Werbung geworden, die letzten fünf davon als selbständige Texterin.

Das ist aber alles gefühlt ein anderes Leben. Seit fünf Jahren studiere ich in München Kunstgeschichte; den Bachelor habe ich im Sommer 2015 gemacht, derzeit schreibe ich an meiner Masterarbeit.

2. Du hast als freie Werbetexterin und Autorin fest im Sattel gesessen. Deine Auftraggeber waren große Firmen. Auch für die Zeit hast du geschrieben. Warum hast du damit „gebrochen“ und dich dem Studium der Kunstgeschichte hingegeben? Wie hat dein Umfeld darauf reagiert?

Als „Autorin“ habe ich mich höchstens mal fünf Minuten lang bezeichnet, nachdem ich mein Buch übers Dicksein veröffentlich hatte. Auch fürs Zeit-Magazin habe ich nur kurz arbeitet; Kochrezepte schreibe ich doch lieber flapsig ins Blog anstatt in einem Stil, der mir nicht liegt, auf Hochglanz. Ich kam mir dabei sehr schnell albern vor.

Werbung war eine feine Sache, aber nach 15 Jahren merkte ich, dass ich mich immer öfter wiederhole. Ich habe mich auf Autokataloge oder generell Katalogliteratur, also lange Texte statt knackiger Anzeigen, spezialisiert. Und auch wenn Autobauer sagen, dass jedes neue Auto das Nonplusultra ist, ist es eben doch immer wieder nur: ein Auto. Das heißt, ich schreibe über das Design, den Innenraum, den Motor, technischen Kram, fertig. Klar macht man für jede Karre eine andere Kampagne, spricht andere Käufer*innen an, denkt sich neue Textmechaniken aus, aber ich hatte trotzdem irgendwann das Gefühl, meinen Job nur noch auf Autopilot zu machen und immer genervter von meiner Langeweile zu werden. Ich wollte wieder etwas lernen, mich herausfordern, mich wieder anstrengen, über neue Dinge nachdenken.

Durch die Selbständigkeit hatte ich ein bisschen … okay, eine Menge Geld zur Seite legen können, und ich überlegte, ob ich einfach mal ein halbes Jahr lang aussetzen sollte, vielleicht reisen, mehr lesen, öfter in Museen gehen. Daraus entstand die Idee, nochmal zu studieren, also quasi ein dreijähriges Sabbatical zu machen und dann frisch und mit vielen neuen Einsichten wieder in die Werbung zurückzukehren. Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, irgendwo angenommen zu werden, aber ich hatte drei Zusagen von vier Unis und habe mich schließlich für München entschieden. (Meine Immatrikulation in München habe ich verbloggt; dieser Eintrag ist einer der Greatest Hits im Blog.) Blöderweise habe ich bereits im zweiten Semester gemerkt, dass mir Studieren weitaus mehr Freude macht als Werben, weswegen ich nach dem Bachelor noch den Master drangehängt habe.

Mein Umfeld war geteilter Meinung: Alle Freund*innen und Kolleg*innen fanden es super, und von jeder zweiten kam ein Satz à la „Ach, ich wünschte, ich könnte das auch.“ Mein damaliger Lebensgefährte fand es eher doof, weil wir plötzlich eine Wochenendbeziehung hatten – unter anderem deswegen heißt der gute Mann jetzt leider auch „damaliger“ Lebensgefährte. Womit ich gar nicht gerechnet hatte: Mein Vater hat das erste und bis jetzt einzige Mal seine Papa-gibt-Töchterlein-wichtige-Lebensratschläge-Stimme aufgesetzt und mich versucht, davon abzubringen. Seine Argumente, die ich natürlich auch alle nachvollziehen konnte, waren das gute Geld, der sichere Job (Texter*innen werden so ziemlich überall gesucht, nur so als Tipp) und die alte Weisheit, dass Arbeit halt nicht immer Spaß macht. Mein einziges Argument dagegen, und ich halte es immer noch für wichtiger als alle anderen: Ich habe nur dieses eine Leben. Und jetzt gerade verfüge ich über das Geld und die Zeit, etwas zu machen, was ich machen möchte. Also mache ich das auch.

3. Wie finanzierst du dich und das Studium? Arbeitest du noch als Texterin? Was sind deine kurzfristigen Ziele?

Ich gönne mir seit fünf Jahren den Luxus, fast ausschließlich von meinen Ersparnissen zu leben, die jetzt aber auch so gut wie aufgezehrt sind. Anfangs habe ich noch nebenbei getextet, das aber schnell gelassen. Der naive Plan, der sich schon im ersten Semester erledigt hatte, war: 20 Stunden die Woche für die Uni, 20 Stunden texten. Ich merkte aber schnell, dass ich auf Autotexten sowas von überhaupt keine Lust habe, wenn mein Kopf gerade über Kathedralen nachdenkt. Und da ich nicht wirklich arbeiten musste, habe ich irgendwann alle Jobs abgesagt und nur noch studiert. Das war ein großes Geschenk, das man vermutlich erst zu schätzen weiß, wenn man 15 Jahre lang sinnlose Meetings überlebt hat. Ich habe mich jedenfalls oft gefragt, wieso ich mit 20 Studieren so langweilig fand, während ich heute nichts lieber tun würde als noch zu promovieren und weiter über Kunst nachzudenken.

Ich erwähnte meine Spezialisierung auf Autokataloge. Das sind langfristige Projekte, die (zumindest damals vor fünf Jahren, als ich den letzten geschrieben habe) zwischen sechs und zwölf Monate dauerten. Deswegen wurde ich als Texterin auch nicht mal eben für drei Tage, sondern eher für drei Wochen oder sogar Monate gebucht. Das war zum Geldverdienen sehr schön, aber als Job neben dem Studium ging es leider nicht. Oder ich hätte meine Ansprüche an mich selbst herunterschrauben müssen, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet – wie gerne ich in der Bibliothek sitze und stundenlang vor mich hinlese. Und wie gerne ich eben nicht nach den ersten Erkenntnissen sage, so, fertig, das schreiben wir runter und dann gehen wir in den Biergarten, sondern stattdessen sage, ja, das klingt gut, aber lass mal gucken, ob wir noch eine Gegenstimme finden. Und natürlich finde ich eine und kann weiter stundenlang lesen. Ich kann aber nicht entspannt lesen, wenn ein Katalog geschrieben werden muss, und ich kann keinen guten Katalog schreiben, wenn ich lieber in der Bibliothek wäre. Also habe ich mich für eins von beiden entschieden.

Eines meiner kurzfristigen Ziele wäre, beides wieder zu verbinden, aber schlauer als in den Anfangssemestern, wo ich schlicht genug damit zu tun hatte zu verstehen, was Studieren und wissenschaftliches Arbeiten überhaupt bedeuten. Wie gesagt, ich würde gerne noch promovieren, muss aber dringend mal wieder das Konto auffüllen. Bis ich ein eventuelles Stipendium bekomme, würde ich wieder werben wollen, aber vielleicht nur drei oder vier Tage die Woche – die anderen wäre ich komplett unerreichbar, weil ich in meiner Lieblingsbibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte sitze und selig ein Buch nach dem anderen verschlinge.

4. Du hast 2015 zwei spannende Semesterarbeiten verfasst über a) Heimatbezug in Blogs und auf Instagram, und b) Open Access, wissenschaftliches Bloggen und Software als Chance für Kunsthistoriker. Wie schätzt du die Entwicklung der Digitalen Kunstgeschichte ein? Diese ist sehr vielfältig mit neuen Forschungsrichtungen, die nicht nur etablierte Kunsthistoriker verunsichern. Muss es das? Wo liegen für dich die Chancen und Risiken des Digitalen für die Forschung?

Die Chancen habe ich ganz gut in der Hausarbeit zu Open Access zusammengefasst, daher hier nur einige Aspekte, die mich persönlich betreffen. Durch wissenschaftliches Bloggen zum Beispiel zwingt man sich, öfter über sein Thema nachzudenken und macht es sichtbar. Durch das Blog sind Menschen auf mich aufmerksam geworden, mit denen ich gar nicht gerechnet hätte: Ich habe über meine Hausarbeit zu Anselm Kiefer geschrieben, über den ich jetzt auch meine Masterarbeit schreibe, und wurde von der Albertina eingeladen, ihre Kiefer-Ausstellung als Pressevertreterin anzuschauen – also schön ohne Publikum, das vor den Bildern rumsteht. Alleine für diese (bezahlte) Reise hätte sich das Bloggen schon gelohnt, aber auch das Art Centre Basel ist auf mich aufmerksam geworden und hat mich um einen längeren Katalogbeitrag gebeten; der Katalog erscheint im Mai.

Ich habe also durch mein Blog meinen ersten ernstzunehmenden kunsthistorischen Auftrag bekommen. In der ersten Mail des Art Centres stand ein schöner Satz, über den ich mich immer noch freue: „Ich mag Ihren klaren Schreibstil, gerade auch bei den akademischen Texten für die Uni.“ Den habe ich mir eher durch Werbung und Bloggen erarbeitet als durch die Uni, kann ihn aber anscheinend auch wissenschaftlich umsetzen.

Publizieren ist natürlich nicht alles. Auch in der Forschung sehe ich eher Chancen als Risiken durch das Digitale, denn es ermöglicht uns, Fragen zu stellen, die wir ohne die neuen Hilfsmittel nicht gehabt hätten oder nicht beantworten könnten. Hier sehe ich aber auch meine ganz persönliche Grenze. In meiner Bachelorarbeit habe ich mich mit digitalen Architekturmodellen im Vergleich zu klassischen Architekturdarstellungen auseinandergesetzt. In der Architektur macht das Digitale immer noch am meisten für mich Sinn – in den anderen Bereichen der Kunstgeschichte hadere ich inzwischen ein bisschen damit. Wenn ich mir die Angebote zu digitaler Kunstgeschichte an meiner Uni anschaue, nehme ich sie entweder als Marketing für Museen wahr (z.B. App-Entwicklung), als neue, bildliche Dokumentationsform (gescannte Deckengemälde statt fotografierte) oder als sehr nah an der Informatik. Ich finde es spannend, als Kunsthistorikerin mehr übers Coden erfahren zu können, aber ich frage mich, warum man dafür Kunstgeschichte studieren soll. Für derartige Problemstellungen gibt es ja Informatikerinnen, die ich fragen kann.

Ich stehe Studiengängen wie Digital Art History oder Digital Humanities ein wenig kritisch gegenüber, weil ich einen Studiengang Analoge Kunstgeschichte auch nicht belegen wollen würde, beides zusammen aber für sehr sinnvoll halte. Für mich sind die neuen digitalen Möglichkeiten erst einmal Arbeitsmittel, genau wie Kugelschreiber und Notizblock, und keine Forschungsrichtung, in die ich gehen will – auch weil ich die Beschäftigung mit dem digitalen Bild eher bei den Bildwissenschaften oder den Visual Studies sehe als in der guten, alten Kunstgeschichte. Wobei ja seit Jahren diskutiert wird, diese Fächer alle unter einen Hut zu bekommen. Ich persönlich bleibe bei der Geschichte, freue mich aber, dass mein Fach auf einmal irre modern ist.

5. Was ist dein Themenschwerpunkt in der Kunstgeschichte? Was fasziniert dich daran? Was glaubst du, damit beruflich anfangen zu können bzw. was sind deine Ziele?

Meine Masterarbeit beschäftigt sich mit dem Frühwerk von Markus Lüpertz und Anselm Kiefer, ich bewege mich also Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. Ich vergleiche den Umgang der beiden Künstler mit der nicht-bewältigten NS-Vergangenheit der jungen Bundesrepublik. In den Semestern davor habe ich viel zur Kunst des Nationalsozialismus gearbeitet. Mich interessiert dabei weniger die Kunst, die in dieser Zeit entstand, sondern, unser Dozent drückte es so schön aus, das „Betriebssystem Kunst“. Also wie funktioniert Kunst in einer Diktatur im Gegensatz zu einer Demokratie? Welche Rolle spielten neben den Künstler*innen Auktionshäuser, Museen, Kunstvereine, der Staat, die Kunstgeschichte oder die Kunstkritik?

Mein Nebenfach im Studium war Geschichte, und je länger ich studiere, desto mehr merke ich – das klang in der letzten Frage schon an –, dass mich das „-geschichte“ einen Hauch mehr interessiert als das „Kunst-“.

Ob ich jemals etwas damit anfangen kann, weiß ich nicht. Für eine klassische Kunsthistorikerinnenkarriere bin ich schlicht zu alt, und ehrlich gesagt will ich auch nicht mehr für einen Volontärshungerlohn arbeiten; die Summen, die ich in Stellenausschreibungen sehe, grenzen für mich an Unverschämtheit für jemanden, der eine fünfjährige Ausbildung hinter sich hat. Ich hoffe darauf, dass eine kulturelle Institution oder Agentur mit einer nicht-klassischen Kunsthistorikerin zusammenarbeiten möchte, die zwar keine 25 mehr ist, aber dafür einen Riesenberg an Enthusiasmus und Lebenserfahrung aus diversen Bereichen mitbringt. (Ich kann auf der Weihnachtsfeier die Bierfässer wechseln!) Ich habe durchaus Ideen, wie man Museumsmarketing, Social-Media-Aktivitäten, Besucherbespaßung und wissenschaftliche Forschung in einem Haus gestalten könnte, die meine Kenntnisse aus dem Studium mit denen aus der Werbung verbinden.

Ich ahne aber, dass ich mir diesen Job selbst backen muss und dass einige Museen eventuell kein Geld für ihn haben werden. Mal sehen. Ich mache jetzt meine Masterarbeit fertig, überdenke mein Promotionsthema, bewerbe mich um Stipendien und dann gucke ich, wie’s weitergeht.

6. Du bloggst seit 2002 auf www.ankegroener.de. Ein Weblog im ursprünglichen Sinne, das heißt es ist ein Webtagebuch. Du schreibst das, was dich an dem Tag beschäftigt hat, ins Web. Deine Themen sind sehr vielfältig und aktuell konzentriert auf: Kunstgeschichte, Zeitgeschehen, FC Bayern, Food und Filmkritiken. Ich kann das gar nicht alles auflisten. Hat sich das Bloggen, die Art und Weise, das Reden darüber seit deiner Podiumsdiskussion auf der re:publica 2011 nennenswert verändert?

Ich habe 2002 mit Filmkritiken angefangen, inzwischen gehe ich kaum noch ins Kino, daher ist das kein Thema mehr für mich. Auch über Fußball schreibe ich meist nur, wenn ich die Qualität von Stadionwürstchen vergleiche (der FC Augsburg gewinnt knapp vor Altona 93). Aber im Prinzip hast du recht: Ich schreibe darüber, was mich beschäftigt. Das war in den letzten Jahren hauptsächlich der große Umbruch in meinem Leben: ein neuer Job, wenn man das Studium so bezeichnen möchte, eine neue Stadt, eine andere Wohnung, ein neuer Mann an meiner Seite und eine deutlich unsichere Zukunft als vorher – und davon war nur das Studium geplant, der Rest ist eben passiert.

Um mir selbst über einiges klar zu werden und vor allem, um nicht zu vergessen, was sich gerade alles ändert und wie es mich beeinflusst, habe ich angefangen, wieder ganz klassisch Tagebuch zu schreiben, wie 2002. Jeden Tag. Inzwischen nenne ich die Einträge „Was schön war“, um mich bei allem Durcheinander vor allem daran zu erinnern, was die Tage gut gemacht hat. Und das war manchmal eben mein Mittagessen oder ein Bayernsieg.

Ob sich das Bloggen verändert hat, ist schwierig zu sagen, weil ich nicht mehr viele Blogs lese und auch die Diskussionen um dieses Medium nicht mehr aktiv verfolge (Oma Gröner hat schon alles gesehen). Früher hatte ich mindestens 50 Blogs, die ich jeden Tag angeklickt habe, heute sind es fünf, die Pflicht und Vergnügen sind. Ich lese außer diesen wenigen nur noch ausgewählte Artikel, auf die mich Twitter oder Facebook aufmerksam machen.

Generell sind mir Blog-Moden immer egaler geworden; die Diskussionen, ob man mit Blogs Geld verdienen darf oder muss, ob man Werbung schalten darf oder muss, ob man Kommentare haben darf oder muss – ist mir alles egal. Ich schreibe für mich, und anscheinend wollen es Menschen lesen, was mich freut. Siehe nächste Frage.

7. Warum gibt es bei dir keine Kommentarfunktion? Wie kommen deine Leser mit deinem „Themen-Bauchladen“ klar? Berührt dich das überhaupt, ob sie damit klarkommen? Was bedeutet dir das Bloggen?

Meine Leser*innen kommen mit meinem Bauchladen ganz hervorragend klar. Die Zugriffszahlen sind seit Jahren halbwegs konstant, ganz egal, worüber ich schreibe. Mit den Filmkritiken ging’s los, dann kam irgendwann Pärchenkram dazu, dann habe ich angefangen, Golf zu spielen, worüber ich seitenlang bloggen musste (ich habe nie wieder so viele Mails zu einem Thema bekommen und der Tenor der meisten war: Das interessiert mich überhaupt nicht, aber ich lese es trotzdem!), dann fing ich an, anständig zu kochen und mich für Wein zu interessieren, dann kamen Fat Acceptance und Feminismus und schließlich Kunstgeschichte. Und selbst das lesen die Leute, was mich natürlich freut. Eine meiner Lieblingsmails zu diesem Thema lautete – ich zitiere ausschnittsweise:

„Es macht mir großen Spaß, regelmäßig die Einträge zu lesen und dabei fast jedesmal etwas spannendes zu lernen […] [Ich] hatte mich bisher nicht für Kunstgeschichte und Kunst im spezielleren (also mehr als im Urlaub mal durch ein Museum schlurfen, um die Bilder anhand ihrer Farbigkeit zu loben und noch aus dem Schul-Kunstunterricht erhalten gebliebenes gefährliches Halbwissen -> „van Gogh, das war doch der mit dem Ohr?!?“ o_O…) interessiert. Seit die Freundin und ich das Blog lesen, behaupten wir bei jedem porösen Gesteinsanteil älterer Bauwerke vehement, dass das Nagelfluh ist (soll erstmal einer das Gegenteil beweisen, haha […], wollen auch dringend mal in dieses ZI [Zentralinstitut für Kunstgeschichte] und dort alles bewundern und ich hab zumindest die eine Wissenslücke geschlossen, dass Guernica nicht (nur) ein Lied der Manic Street Preachers ist.“

Es freut mich sehr, dass meine Begeisterung für mein Fach auch auf Menschen überspringt, die damit eigentlich nichts am Hut haben. Ein größeres Kompliment kann man meinen Texten nicht machen. Trotzdem brauche ich nicht unter jedem Eintrag Beifall (oder auch Schulterzucken oder Kritik), gerade wenn ich über sehr persönliche Dinge schreibe. Menschen, die mir daraufhin etwas mitteilen möchten, schreiben mir Mails oder sprechen mich auf Twitter an, und das sind meistens sehr sinnvolle oder hilfreiche Anmerkungen. Hassmails bekomme ich extrem wenige und wenn, dann garantiert bei Themen wie Feminismus oder Fat Acceptance; das scheinen immer noch ganz fürchterliche Aufreger zu sein, obwohl beide unser Zusammenleben um so vieles einfacher machen würden.

Ich habe seit 2005 keine Kommentare mehr im Blog und es hat weder die Zugriffszahlen verändert noch die Wahrnehmung meines Blogs. Ich persönlich mag die Ruhe unter den Einträgen sehr gerne und lese auch äußerst selten in anderen Blogs Kommentare, geschweige denn auf Nachrichtenseiten. Vielleicht mag ich auch deshalb das Lesen in der Bibliothek so gerne: Ich kann mich auf die Stimme einer Autorin konzentrieren und stehe nicht mitten in einer Kakophonie aus Meinungen. Ich muss allerdings gestehen, dass mir bei den kunsthistorischen Einträgen ein fachlicher Austausch schon manchmal fehlt. Das hatte ich vorher bei keinem anderen Thema.

Bloggen bedeutet für mich vor allem, eine Meinung zu haben. Oder eine Stimme. Natürlich könnte ich meine ganzen schönen Erkenntnisse über die Städtische Galerie Rosenheim (die mit dem Nagelfluh im Portikus) auch in ein nicht-öffentliches Dokument schreiben, aber dann würden mindestens zwei Leute nicht wissen, wie beeindruckend Picasso ist.

8. Mich interessieren naturgemäß vor allem deine kunsthistorischen Texte bzw. dein Schreiben über Kunst. Hier mag ich auch sehr gerne deine Favorite Entries im Archiv. Fließen Ideen daraus in deiner wissenschaftlichen Arbeit mit ein, oder ist es eher ein befreiendes Brainstorming und Verarbeiten einer anderen Ideenwelt? Werden diese Texte genau so viel gelesen wie deine anderen? Bei mir explodieren die Zugriffe auf Beiträge über die ultimativen Blogger- oder Social-Media-Tipps, während Ausstellungs-/Museumsbesprechungen generell weniger gelesen werden. Aber mein Blog ist anders aufgebaut als deines. Trotzdem, ist das bei dir ähnlich oder anders, weil deine Leserschaft eine andere ist? Du schreibst „Tagesberichte“ und lässt die Leser nah an deine Gedanken- und Gefühlswelt heran.

Ich weiß nicht genau, welche Einträge mehr Zugriffe bekommen als andere, ich ahne es nur anhand der Reaktionen darauf. Ansonsten habe ich einen schraddeligen Umsonst-Counter auf der Seite, nicht mal Google Analytics, weil es mir eher wurscht ist, wer was liest und woher jemand dabei kommt. Anscheinend lesen irgendwelche Menschen meine Texte, schicken nette Mails oder Amazon-Päckchen oder haben durch meine Begeisterung wieder mehr Motivation fürs eigene Studium. Das reicht mir als Bestätigung und als Ansporn, weiter zu schreiben.

Ich weiß, das klingt immer wie Pseudo-Bescheidenheit oder gleichgültige Lässigkeit, aber ich schreibe in erster Linie für mich, um meine Entwicklung festzuhalten. Da ich aber öffentlich schreibe, habe ich natürlich meine Leserschaft im Hinterkopf. Das heißt, ich schreibe so, dass es lesbar, spannend, interessant, unterhaltsam ist. Das heißt auch, dass ich über manches nicht schreibe, weil es den Rest der Welt schlicht nichts angeht. Ich mache aber auch viel Persönliches öffentlich, weil ich weiß, dass ich mit kaum einer Gefühlsregung alleine auf der Welt bin. Ich habe von persönlichen Blogs in den letzten 15 Jahren so viel gelernt, bin auf so viele Themen gestoßen oder habe Hilfe erfahren, dass ich einfach etwas zurückgebe.

Deswegen bin ich auch überhaupt kein Fan von Blogs, die auf Teufel komm raus etwas von mir wollen oder mir erzählen, wie ich mein Leben zu leben habe. Dazu gehört auch „10 Tipps, wie Museen soziale Medien besser nutzen können“ oder ähnliches, weil jedes Museum anders ist, eine andere Zielgruppe hat und vielleicht auch einfach auf Snapchat verzichten kann, ohne dass die Welt untergeht. Das ist jetzt keine Kritik an speziell deinen Listen – jede*r sollte schreiben, worauf er oder sie Lust hat, das ist ja das Tolle am Bloggen –, aber ich persönlich überfliege das meist ohne großen Erkenntnisgewinn. Gerade solche Listen wie „10 Dinge, die jedes Museum auf Instagram machen sollte“ rufen bei mir nur Augenrollen hervor. Macht auf Instagram, was ihr wollt – außer vielleicht als große Institution miese Fotos zu posten, wenn ihr euch schon auf einer Fotoplattform bewegt. Aussagen wie „10 Dinge, die in jeder Werbeanzeige vertreten sein sollten“ würde auch niemand ernstnehmen, weil klar ist, dass jedes Produkt einen einzigartigen Auftritt haben muss.

Tipps wie „Beteiligen Sie sich am #lampenmittwoch und am #treppenhausfreitag, weil das Ihrem Publikum zeigt, dass Sie das Medium verstanden haben“ machen mich irre. Nach 20 Leuchtmitteln im Stream habe ich eh vergessen, zu wem jetzt welche gehören. Nebenbei ist es mir als eventuelle Besucherin eures Hauses auch ziemlich egal, wie bei euch die Beleuchtung aussieht. Vor allem die in der Kantine. (Die Alte Pinakothek darf von mir aus aber gerne jeden Freitag Hans Döllgasts irrwitzige Treppe herzeigen.)

Ich würde mir von jedem Museum einen persönlichen Stil wünschen, sowohl inhaltlich als auch in der Bildauffassung und beim Text. Aber das kostet natürlich Zeit und Geld und die geistige Arbeit für ein Konzept und die haben viele Institutionen für Social Media nicht. Dann frage ich mich, ob man es nicht lieber lassen sollte, diese Medien weiter halbgar zu bespielen, nur um irgendwie dabei zu sein.

Zurück zu meinem Blog: Meine Texte über Kunst dienen mir gerne als Verlaufskurve, gerade wenn ich länger an einem Thema knabbere. In den vergangenen zwei Semestern habe ich mich mit dem Maler Leo von Welden (1899–1967) beschäftigt, der in der Nähe von Rosenheim gelebt hat. Mir war am Anfang der Arbeit noch überhaupt nicht klar, welche Fragen ich an sein Werk hatte, und mir hat es sehr geholfen, einfach runterzuschreiben, was ich am jeweiligen Tag gelernt oder gelesen hatte – und zwar so, dass meine Leser*innen es nachvollziehen können. Besonders geliebt habe ich die Archivarbeit – das wusste ich vorher auch nicht, dass ich neben bergeweise Büchern auch wirklich gerne bergeweise alte Akten und Aufzeichnungen lese. (Falls irgendeine Münchner Institution mal ihre Geschichte aufgearbeitet haben möchte – Mail an mich!) Auch dazu gab’s natürlich Leserpost, je mehr ich über von Welden herausfinden konnte: „Die Recherchen für Ihre Hausarbeit sind spannender als jeder Krimi!“

Meist entstehen beim Aufschreiben fürs Blog konkretere Gedankengänge zu einem Thema. Dinge etwas flapsiger und mit einer unbekannten Leserin statt dem Dozenten im Hinterkopf aufzuschreiben, der eh alles weiß, hat mir bisher immer geholfen.

9. Museumsfrage: Du hast kürzlich sehr differenziert über die neue Online-Sammlung der Pinakotheken geschrieben. Es ist richtig, dass Museen ihre Sammlungen digital verfügbar machen. Dabei ist es in meinen Augen kein Beinbruch, wenn am Anfang nicht alles perfekt ist. Wo siehst du die Aufgaben von Museen im digitalen Raum? Was ist sinnvoll, was weniger bzw. was wünschst du dir von Museen, auch gerne ganz analog?

Da ähnelt meine Antwort dem Satz, den ich eben schon aufgeschrieben habe: Jedes Museum ist anders. Daher kann ich kaum generell sagen, was jedes Museum für mich tun soll. Ich teile mich zudem auch gerne in zwei Persönlichkeiten: die Kunsthistorikerin, die mit einem Detektivblick durch die Räume geht, und die Besucherin, die gerne zwischendurch mal sitzen und Kaffee trinken möchte. Obwohl, hey, das ist eine Anforderung an alle Museen: SOFAS! Das kunsthistorische Museum in Wien ist wundervoll und ich habe nach meinem Besuch ewig allen Interessierten davon vorgeschwärmt, aber was bei allen hängengeblieben ist, ist: DIE HABEN DA SOFAS!

Ganz generell erwarte ich von Museen, dass sie mich darüber informieren, was man bei ihnen sehen kann. Klingt so simpel, aber bei vielen Museumswebsites fühlt es sich so an, als sollten die Besucher doch bitte froh sein, dass überhaupt die Öffnungszeiten zu finden sind. Als Kunsthistorikerin hätte ich gerne die ganze Sammlung, als Besucherin wenigstens ein paar Meisterwerke (oder was immer die betreffenden Kurator*innen dafür halten). Meine Mutter fragte mich neulich, ob ich wüsste, ob was von Lüpertz oder Kiefer im Hannoverschen Sprengel-Museum hinge, damit sie sich mal angucken könne, womit sich das Kind so beschäftigt. Und das konnte ich ihr nach dem Besuch der Website leider nicht sagen.

Ich weiß, dass Abbildungen schwierig sind, aber eine Datenbank aus MuseumPlus generiert, die wenigstens den Titel des Werks und ob es ausgestellt ist, ausspuckt? Ist das möglich? (Wenn ich jetzt digitale Kunstgeschichte studiert hätte, wüsste ich das vielleicht selber.)

Ich wünsche mir von Museen außerdem, dass sie nicht jeder App besinnungslos hinterherhecheln, und dass sie, im Bemühen, die jungen hippen Digital Natives abzuholen, nicht ihre Stammkundschaft vergessen, die vielleicht lieber ein Faltblatt als ein Tablet in der Hand hat und sich vor dem Besuch auch keine Führung aufs iPhone laden möchte. Trotzdem erwarte ich eine Neugier auf neue Medien und die Möglichkeiten, die sie bieten, aber das erwarte ich eigentlich in jedem Lebensbereich. Eine Bank, bei der ich persönlich vorbeikommen muss, um eine Überweisung zu tätigen, oder einen Autohersteller, bei dem ich mir einen Katalog nicht online herunterladen kann, kann ich nicht ernstnehmen.

Zu guter Letzt wünsche ich mir mehr Forschung zur eigenen Sammlung und eine publikumswirksame Aufbereitung (vielleicht in einem Blog, hint, hint). Aber das mag ein sehr persönliches Interesse sein. Dieser Promotionsstudiengang der Leuphana-Universität klingt für mich wie das Paradies, und wenn wir sowas in München hätten, würde ich dafür vor der Studierendenkanzlei campieren. (Alternativ vor dem Lenbachhaus oder der Pinakothek der Moderne.)

10. Dein Lebensmotto für die LeserInnen: Was möchtest du ihnen mitgeben?

In den letzten fünf Jahren, die mein Leben gehörig durcheinander gebracht, aber mich definitiv zu einem glücklicheren Menschen gemacht haben, dachte ich oft an einen Satz von Arthur Ashe: „Start where you are. Use what you have. Do what you can.“ Das hat mir bei Trennungsschmerz, Prüfungspanik und Zukunftsangst bis jetzt sehr gute Dienste geleistet. Geh einfach los, mit allen Talenten, die du hast, und streng dich an. Du wirst schon irgendwo ankommen.

Was schön war, Sonntag/Montag, 7./8. Mai 2017 – Laufen, Kunstgucken, Lesen

Sonntagmorgen ging ich wieder laufen bzw. gehen. Ausnahmsweise war ich ganz alleine auf der Strecke, und so begann ich, ganz in Ruhe meine Runden zu drehen, ohne darauf achten zu müssen, ob von hinten ein schnellerer Mensch ankommt, während ich gerade eine Pfütze umrunde. Spotify spielte mir die gesamten melancholischen 80er-Jahre-Songs der Welt vor, es wurde heller und heller, aus der dunklen, grünen Gasse, die am Anfang meiner Läufe/Gänge auf dem alten Nordfriedhof liegt und die ich so mag in ihrer gefühlten Unendlichkeit, wurde eine freundliche Parklandschaft, und ich ging und ging, ein schwarzes Eichhörnchen lief vor mir über den Weg, ein anderes erklomm einen Baum und ich sah ihm zu, bis ich es oben in den Blättern nicht mehr sehen konnte, und ich ging und ging, es begann leicht zu nieseln und hörte wieder auf, ich lief zwischendurch ein wenig, ich las Grabsteine und bewunderte Statuen, und ich ging und ging und ging einfach weiter, obwohl ich die Strecke, die ich mir vorgenommen hatte, schon erlaufen hatte, weil die Musik so gut war, das Wetter genau meins, mir nichts wehtat und mein Kopf immer leerer wurde, bis dieser eine Moment kam, in dem alles klar vor mir lag, wo ich mir keine Sorgen mehr machte um meine Zukunft und die Miete und die Masterarbeit, weil ich wusste, dass gerade alles gut war und alles gut werden würde, und ich ging und ging und ging irgendwann sehr ruhig und glücklich nach Hause.

Um 11 saß ich mit F. in der Pinakothek der Moderne, wo wir uns im Rahmen des Dokfestes Beuys anschauten. Der Saal war sehr gut gefüllt, was mich etwas überraschte; ich hätte nicht gedacht, dass Beuys so zieht. Das Publikum war ungefähr das, was auch in meinen Kunstgeschichtsvorlesungen saß – überwiegend über 60 –, und genau wie dort wunderte ich mich auch hier über viele Lacher im Publikum, wenn sperrige Werktitel von Beuys genannt wurden oder Ausschnitte aus seinen Performances zu sehen waren. Ich hatte vorausgesetzt, dass diese Titel und Arbeiten 30 Jahre nach dem Tod des Künstlers allmählich zur Allgemeinbildung gehörten und selbst wenn nicht, sie kein Grund zur Belustigung waren. F. und ich waren uns einig, dass Lachen auch ein Zeichen von Unsicherheit sein kann – und gerade bei Beuys steht man ja gerne vor Vitrinen und Räumen und weiß nicht so recht, was diese Dinge jetzt von einem wollen. Genau das mag ich aber an Beuys; er war der Künstler, bei dem ich mir abgewöhnt habe, Kunst verstehen zu wollen. Mit Beuys konfrontiere ich mich gerne – besonders im Lenbachhaus – und gucke einfach, was mit mir passiert.

Der Film ist keine Biografie, sondern macht das ähnlich: Er präsentiert Ausschnitte und Versatzstücke von Beuys und überlässt es der Zuschauerin, was sie damit anfangen möchte. Eingebettet ist alles in ein Zitat von Beuys, in dem er sagt, dass seine Kunst nur im Zusammenspiel mit der Gesellschaft geschieht; seine Aufgabe ist es, Fragen zu beantworten, die die Gesellschaft hat, ohne diese Fragen wäre seine Kunst nichts. (Ich hoffe, ich habe das halbwegs richtig paraphrasiert.) Deswegen ist ein großer Teil im Film auch den 7000 Eichen in Kassel gewidmet, was ich sehr clever fand.

Mir war der Film einen Hauch zu lang, und ich persönlich hätte gerne mehr von den Diskussionen um Kunst erfahren, die in den 1960er, 1970er Jahren stattfanden, aber das wäre dann ein anderer Film geworden. Bei einer Szene zuckte ich aber doch schmerzlich zusammen: Wenn Beuys einem Interviewer erzählt, dass nach jedem seiner Fernsehauftritte irgendjemand bei ihm anruft, nur um „Idiot!“ oder „Arschloch!“ ins Telefon zu pöbeln. F. und ich mussten an Leute im Theater denken, die nach Vorstellungen, die ihnen nicht gefallen haben, unbedingt Buhrufe loswerden müssen anstatt einfach zu gehen. Diese Hybris, dass die eigene Meinung so wichtig – und vor allem richtig – ist, dass sie jemandem lautstark mitgeilt werden muss, der diese Meinung nicht teilt, ist so anstrengend. Und meiner Meinung nach auch ein Zeichen von Unsicherheit. Da ist plötzlich etwas, das über mein Verständnis, über meine Kenntnis hinausgeht, das an irgendwas reibt und kratzt und dafür sorgt, dass ich mich unwohl fühle. Dann habe ich die Möglichkeit, am Verständnis oder an der Unkenntnis zu arbeiten, indem ich googele oder in eine Bibliothek gehe oder mich mit anderen Menschen austausche. Oder ich pöbele doof und beschränkt in Kommentarspalten oder Theatersälen rum, das geht natürlich auch.

PS: Die Kritik im Perlentaucher meint auch, dass man nach dem Film sofort was über Beuys lesen möchte (ging mir auch so), weiß aber außerdem viel zum Urheberrecht zu sagen, das für Regisseur Andres Veiel auch Thema war. Einige der Bilder, Werke oder Ausschnitte, die er für seine Erzählung haben wollte, durfte er nicht verwenden, weswegen er vieles umschneiden musste. Ich augenrolle immer härter, wenn es um Bildrechte geht.

Nach dem Film spazierten wir noch durch die Pinakothek, wenn wir schon mal da waren. Ich sagte meinem Kiefer (Nero malt, 1973) Guten Tag, lief wieder auf Carl Andre herum (ich gehe so gerne auf Kunst spazieren, wenn ich darf) und vermisste meinen Lieblingsflavin, der gerade einer Installation von Pipilotti Rist weichen musste. Dann guckte ich online, ob von Herrn Lüpertz vielleicht was zu sehen war, fand aber nichts. Immerhin weiß ich jetzt, dass die Pinakotheken auch eine Version der Helme, sinkend – dithyrambisch haben, was ich vorher nicht wusste. Die hätte ich gerne mal gesehen, denn über die schreibe ich gerade (auch). Dass sie nicht hängen, bestätigt mein leise gefälltes Urteil über Lüpertz, aber das kann natürlich auch nur eine Platzfrage sein.

Wir standen am längsten vor Antonio Sauras Triptychon Crucifixión – darüber hat F. geschrieben.

Den Rest des Tages fraß ich mich weiter durch A Little Life (wie Samstag) und setzte das den kompletten Montag über fort. Die Masterarbeit muss warten, bis ich das Buch durchgelesen habe. Prioritäten! Im Kopf steht eh alles, das schreib ich jetzt einfach runter. Ich bin seit Sonntagmorgen tiefenentspannt.

Was schön war, Samstag, 6. Mai 2017 – Lesetag

Nachdem ich am Freitag den vorletzten Brocken des Studiums weggeschaufelt hatte – mein Referat zur Masterarbeit –, verschlief ich den Rest des Tages gnadenlos. Ich merke neuerdings immer erst, nachdem ich Dinge erledigt habe, wie sehr sie mich angespannt haben, denn meistens macht sich mein Kopf direkt danach aus, brabbelt nur noch alte Simpsons-Zitate oder 80er-Jahre-Songfetzen vor sich hin, ist aber sonst zu nichts mehr zu gebrauchen.

Daher entschied ich mich, dieses Wochenende mal ganz klassisch als Wochenende zu nutzen. Ich würdigte meine ganzen Uni-Bücher und -Ausdrucke keines Blickes, sondern verzog mich mit Gebäck und Kaffee auf die Couch, um den ganzen Tag einen Roman zu lesen: A Little Life von Hanya Yanagihara. Ich bekomme nicht mehr viele Buchkritiken mit; meistens spült mir die Bingereader Dinge in die Twitter-Timeline oder ich freue mich über schöne Cover auf Instagram. Eben dort sah ich dauernd Life und hatte den Eindruck, dass das anscheinend toll sei. Die Leseprobe gefiel, also wurde es gekauft. Als ich selbst das Cover instagramte, war das Feedback allerdings eher verhalten.

Ich bin jetzt auf Seite 300 von 800, und mir gefällt es bis jetzt recht gut. Ich mag die Sprache, auch wenn sie manchmal ein bisschen zu sehr in sich selbst verliebt ist. Ich mag auch die Art, wie von den vier (männlichen, meh) Protagonisten erzählt wird; man bekommt immer einen längeren Einblick in das Leben eines Einzelnen, bevor die Perspektive wechselt und der Nächste beleuchtet wird. Bisher kam einmal ein kleiner Einschub in der Ich-Perspektive, ansonsten guckt man von draußen auf alles rauf. Was einen Hauch anstrengend ist, ist das Grundgefühl, das über dem gesamten Buch liegt: Da ist was Fürchterliches passiert oder vielleicht wird noch was Fürchterliches passieren; ich weiß nicht. ob das noch 500 Seiten so weiter geht, aber manchmal würde ich mich über kleine Atempausen im ganzen Drama freuen. Vielleicht können die Jungs einfach mal ein Eis essen und das kritiklos und ohne innere Monologe oder melancholisch-mystische Flashbacks super finden. Außerdem haben mich die vielen, vielen Sachbücher der letzten fünf Jahre völlig verdorben; ich kann mich kaum noch in Geschichten fallen lassen, sondern frage dauernd innerlich „Wieso?“ „Wo kommt das jetzt her?“ „Erklär mir das bitte und behaupte hier nicht einfach rum“ oder auch „Was? Ach komm!“. Der Herr Fahrenbach kommentierte bei Instagram mit dem Stichwort „tragedy porn“, und das finde ich bisher ganz passend. Das Buch suhlt sich manchmal ein bisschen zu sehr in seinem Leid, aber wie gesagt, ich habe es noch längst nicht durch. Ich freue mich aber sehr darauf, heute weiterlesen zu können, bevor ich mich morgen wieder an Kiefer und Lüpertz abarbeiten werde, brave Studentin, die ich (noch, wimmer) bin.