Fehlfarben 27: Welt im Umbruch/About Us

Dieses Mal habt ihr noch richtig Zeit, in die beiden Ausstellungen zu gehen, die wir besprechen: „Welt im Umbruch. Von Otto Dix bis August Sander – Kunst der 20er Jahre“ im Stadtmuseum sowie „About Us. Junge Fotografie aus China“ in der Alexander-Tutsek-Stiftung laufen beide noch bis Januar 2021. Vielleicht einen Gutschein dafür in den Adventskalender basteln?

In other news habe ich mal wieder vergessen, ein gutes Foto zu machen, weswegen ihr die schon aufgedeckten Furmint-Flaschen seht, die wir nach der Aufnahme total selbstlos leertranken.

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00.00:00. Begrüßung und Vorstellung.

00.00:55. Blindverkostung Wein 1.

00.03:45. Unsere erste Ausstellung: „Welt im Umbruch.“ Wir haben etwas am Titel zu mosern und stürzen uns auch gleich in die Diskussion, warum die Ausstellung die 20er-Jahre betont, ein Großteil der ausgestellten Werke aber aus den 30ern ist. Das ist, wie langjährige Mitleserinnen ahnen, genau meine Seifenkiste, auf die ich klettere, vermutlich zu lang, sorry. (Vielleicht sollte ich nach 100 Jahren mal erklären, woher der Begriff Seifenkiste kommt.)

Wir erwähnen ein tolles „Selbstbildnis“ (1932) von Fridel Dethleffs-Edelmann und sprechen länger über Barthel Gilles’ „Selbstbildnis mit Gasmaske“ (1929). Ich monologisiere ewig über meinen Helden Carl Grossberg, von dem mehrere Werke zu sehen sind, die aber teilweise nicht als eigenständige Kunstwerke geplant waren, sondern als Aufträge entstanden. Zum Beispiel das „Stahlskelett“ (1935), das in Westermanns Monatsheften 1935 als Teil einer Serie zur deutschen Industrie unter dem Titel „Reichsluftfahrtministerium Berlin“ abgedruckt war (auch als Aquarell unter diesem Titel im Nachlass), oder die Lithografie für die BEWAG-Werke, deren Motiv vom Direktor des Betriebs ausgesucht wurde. Das ändert natürlich nichts daran, dass die Arbeiten toll sind, aber ich hätte mir da etwas mehr Infos am Bild gewünscht.

Dann meckere ich ewig darüber rum, dass Fotos von Erna Lendvai-Dircksen zu sehen sind, die aus den 1930er-Jahren sind und erwähne mal wieder ein winziges bisschen die Autobahnen because I can. Ich zitiere außerdem des Öfteren aus dem AKL, das doch etwas differenziertere biografische Daten hat als die Wikipedia, die ich gerade was das Thema Kunst rund um den NS angeht, als immer übler recherchiert empfinde. Wir schwärmen natürlich von August Sander, ich freue mich über meinen Liebling, den Konditormeister, wir erwähnen die Fotografinnen, die uns auffielen, und dann geraten Felix und ich kurz aneinander.

Was ich vergaß zu erwähnen: Die Ausstellung beginnt quasi schon vor der Ausstellung – an den Fenstern vor den ersten Räumen hängen alte Zeitungen, Artikel und Werbung gemeinsam, das fand ich einen schönen Reinkommer bzw. Rausschmeißer.

00.34:40. Mittendrin mal Wein 2, während wir uns darüber echauffieren, dass viele Werke aus Münchner Sammlungen gar nicht so recht ins Konzept passen. Trotzdem schön, sie zu sehen, wir hadern auf hohem Niveau. Immerhin hat das Stadtmuseum die falsche Bildunterschrift bei einem meiner liebsten Grossbergs geändert. (Beim Nachhören merke ich gerade, dass ich über die „üblichen Verdächtigen“ meckere, aber dann doch vieles gesehen habe, das ich noch nicht kannte. Verdammter Podcast. Nie kann man korrekturlesen!)

00.47:25. Wieder mittendrin: Wein 3.

01.03:00. Wir mäandern ums Fazit, einigen uns aber auf eine Anschauempfehlung. Wie immer. Läuft noch bis zum 10. Januar 2021.

01.09:25. Unsere zweite Ausstellungsbesprechung ist etwas kürzer, weil wir so lange mit dem Stadtmuseum ringen mussten. Von chinesischer Fotografie haben wir alle keine Ahnung, fanden die Ausstellung aber mit kleinen Abstrichen sehr sehenswert. Wir erwähnen unter anderem Cai Dongdong, die Menschenbilder von Wang Ningde, Werke von Rong Rong und Inri und fragten uns in diesem Zusammenhang, wer eigentlich das ikonische Foto von John Lennon und Yoko Ono gemacht hat, und das war natürlich Annie Leibovitz. Wieder was gelernt, Anschauempfehlung, läuft noch bis zum 21. Januar 2021.

01.39:40. Wir lösen unsere Weine auf, die wir alle nochmal trinken würden:

Wein 1: Kikelet, Tokaji Furmint Lónyai 2018, 13%, für 17 Euro im Online-Shop des Broeding (geht ins Broeding!).

Wein 2: Michael Wenzel, Furmint aus dem Quarz 2018, unfiltriert, 12%, für 17,50 bei Lobenbergs gute Weine.

Wein 3: Vino Gross, Gorca Furmint 2018, 12,5%, für 17,60 Euro bei Weinfurore, erstmals getrunken beim Mast in Wien (geht ins Mast!).

Tagebuch Montag, 12. Oktober 2020 – Autobahn und Apfelkuchen

Das tagelange Hin- und Herschieben von Zeug und Themen und Stichpunkten im Hinterkopf hat funktionert: Gestern schrieb ich meinen Vortrag fürs Doktorandenkolloquium fast in einem Rutsch runter, bastelte die Präsentation dazu und bin bis jetzt recht zufrieden. Gebt mir noch zwei Tage, bis ich wieder alles umschmeiße.

Mittendrin buk ich einen kleinen Apfelkuchen, weil zwei Äpfel doch allmählich dringend wegmussten. Weil ich aber so ins Referat vertieft war, vergaß ich den Kuchen im Ofen und bemerkte es erst, als die Wohnung nicht gut nach Kuchen, sondern latent angebrannt roch. Inzwischen hatte sich mein Magen aber so sehr auf Apfelkuchen vorgefreut, dass ich genervt einen zweiten ansetzte. Dafür mussten zwei Äpfel dran glauben, die eigentlich noch ein bisschen Zeit dekorativ in der Obstschale in der Küche hätten verbringen können, aber it is what it is.

Philosophy in the Shadow of Nazism

Ein Buchtipp des New Yorker, der mich natürlich gleich mit der Headline im Newsletter ködern konnte. Es geht ganz grob um den Wiener Kreis und wie sich nach umwälzenden Erfahrungen (wie hier dem Ersten Weltkrieg) neue Denkweisen ergeben bzw. verstärken – mit guten oder schlechten Ergebnissen.

„David Edmonds’s new book, “The Murder of Professor Schlick: The Rise and Fall of the Vienna Circle” (Princeton), offers a lively and accessible introduction to this much written-about group. Rather than plumbing the depths of the Vienna Circle’s work, which is formidably technical, Edmonds mainly explores how its ideas reflected the group’s tumultuous time and place. His research has also uncovered important new biographical information, including about its lesser-known female members. […]

Edmonds’s subtitle, “The Rise and Fall of the Vienna Circle,” suggests a closer connection between the group’s work and the titular murder than the book actually establishes. Schlick’s death had nothing to do with his ideas; he was killed by a psychotic former student, Johann Nelböck, who had been stalking and threatening him for years and finally shot him, in June, 1936, on the steps of a university building. But what happened next, Edmonds shows, was indeed shaped by what the Vienna Circle had come to represent in the ideological frenzy of interwar Austria.

No sooner had news of the crime broken than the nationalist, anti-Semitic press began to extenuate and even to praise it as a blow against degenerate Jewish thought. Schlick was accused of damaging “the fine porcelain of the national character” and of embodying Jewish “logicality, mathematicality, [and] formalism,” qualities inimical to “a Christian German state.” One writer urged that the murder should “quicken efforts to find a truly satisfactory solution of the Jewish Question.” Nelböck, at his trial, played to this sentiment, claiming that he had killed Schlick for ideological reasons. That defense didn’t keep him out of jail, but after Nazi Germany annexed Austria, in 1938, Nelböck was released, on the ground that his crime had been inspired by “strong national motives and explicit anti-Semitism.”

In this deranged atmosphere, no one was deterred by the fact that Schlick was not Jewish but, rather, a German Protestant. Some of his defamers probably didn’t know this, but others simply didn’t care, since in their eyes Jewishness wasn’t defined only by religion or ethnicity. It was also a mind-set, characterized by the modernism and liberalism they saw as sources of spiritual corruption.“

Nicht kaschierte Distanz – Zum Tod von Ruth Klüger

Christiane Frohmann ruft nach.

„Außerordentlich war, dass Ruth Klüger Trennendes – grundsätzliche Unvereinbarkeit ebenso wie temporäre Meinungsverschiedenheiten – nicht mit Höflichkeit kaschierte. Wo es kein Wir gab, wurde es spürbar, und wenn sie etwas falsch oder unangemessen fand, sagte sie es. Eine Frau, die sich nicht die ganze Zeit entschuldigt, ist auch heute noch ungewöhnlich. In Kombination mit ihrer distanzierten Ausstrahlung hat dies auf viele Menschen wohl so irritierend gewirkt, dass man ihr das Etikett »schwierig« verpasste.

Ich habe Ruth Klüger 2011 in eben dieser Erwartung kennengelernt, auf eine schwierige Person zu treffen. Das Gegenteil war der Fall. […] Beim anschließenden Essen im Restaurant fragte sie mich die üblichen Sachen, die Frauen im akademischen Rahmen einander fragen. »Kinder?« »Ja.« »Promoviert?« »Irgendwann aufgehört.« Kopfschütteln, nicht über mich, sondern über das System. Ich bat sie, mir die Geschichte mit dem übergekippten Wein zu erzählen. Ein Kollege hatte ihr, wohl weil sie zuvor auf Avancen von ihm nicht eingegangen war, hinter ihrem Rücken Antisemitismus unterstellt, was sie so empörte, dass sie ihm bei einem Universitäts-Event ein Glas Weißwein übergoss. Meine Vermutung, welcher »faule, aber gescheite Kafka-Forscher“ sich hinter S. in unterwegs verloren (2008) – dort wird die Begebenheit wiedergegeben – verbarg, erwies sich als richtig. (Der reale S. war der erste Professor gewesen, von dem ich bei meinem Studienjahr in den USA hörte, dass er bei Sprechstunden die Bürotüre offen stehen lassen musste, 20 Jahre vor #metoo.) Ruth Klügers Rat, einen so dickaufgetragenen Auftritt nur einmal im Leben hinzulegen, habe ich beherzigt, er steht uns allen noch bevor.“

Ein bisschen Quellenkunde der Bundesrepublik.

Tagebuch Samstag/Sonntag, 10./11. Oktober 2020 – Ausruhen und aufnehmen

Samstag war Kopf-aus-Tag. Ich ließ mein Unterbewusstsein am Vortrag weiterarbeiten, trank viel Tee und las Zeug, das nichts mit NS-Kunst zu tun hat.

Nebenbei traute ich mich erstmals eine side plank, wenn auch nicht so lange wie der Internet-Trainer es gerne gehabt hätte, aber: my body, my rules. Ich fühlte mich stark und super, auch wenn ich eher stärklich und nur so ein bisschen super war, aber stärker und superer als noch vor vier Wochen. Das war schön.

Gestern trank ich weiterhin viel Tee. Der Doktorvater schickte das Itinerar für mein letztes Doktorandenkolloquium rum, ich weiß nun, wann mein Slot ist und über was für spannende Themen ich Neues erfahren werde. Wie immer Vorfreude. Und: Wegen Zoom kann ich den Referaten sogar vom Sofa aus folgen und muss mich erst für die Diskussion mit Kameras wieder anständig hinsetzen. Keine unbequemen Stühle im kunsthistorischen Institut, yay!

Abends verbrachte ich ungefähr eine Stunde mit der zu treffenden Entscheidung, per Rad oder U-Bahn zum Podcastmitstreiter zu fahren. Aus Gründen (schwerer Rucksack mit Rechner, Weinflasche und Notizkram sowie sechs Grad draußen) wurde es die U-Bahn. Beim Heimfahren merkte ich, dass ich so kurz davor bin, mir ein Auto zu leasen, weil mir Öffis im Moment wieder wie Hotspots vorkommen, vor allem, weil anscheinend keiner mehr Lust auf Abstandhalten hat. Immerhin seit heute morgen wieder nur noch eine zu kurze Risikobegegnung mit grünem Hintergrund auf dem Handy. Spontanausflug ins Stuttgarter Kunstmuseum jetzt aber doch endgültig gestrichen. Muss ich halt den Katalog nochmal durchblättern. Mpf.

Tagebuch Freitag, 9. Oktober 2020 – Knorker Korken

Google Maps spuckte mir mehrere Fahrradrouten zu einer mir bis gestern unbekannten Location aus, in der ich die zweite Ausstellung für unseren Podcast anschauen wollte. Ich hätte über die mir bekannte Leopoldstraße fahren können, von der ich zwar weiß, dass die Radwege okay sind, aber ich weiß auch, dass sie immer voll ist, Fußgänger nicht wissen, dass sie dort nichts zu suchen haben und Autos eh parken, wo sie wollen. Also radelte ich einen anderen Weg, ohne Radwege, aber dafür viel ruhiger und hübscher, guckte mich um, besah Kirchtürme – und verfuhr mich natürlich, weil ich auf Kirchtürme guckte.

Die Location selbst fand ich äußerst attraktiv, die Ausstellung war aber deutlich kleiner als ich erwartet hatte. Man musste sich mit Telefonnummer und Mailadresse in eine Liste eintragen, und sobald man fertig war, wurde das weiße Blatt, das alles oberhalb der eigenen Zeile abdeckte, eine Zeile nach unten verschoben und mit einer Büroklammer fixiert. Datenschutz – so geht’s!

Den Rückweg nahm ich dann über die Leopold, denn ich wollte erstens zu einem bestimmten Bäcker und zweitens zur Stabi, wo zwei neue Bücher auf mich warteten. Mit der dritten Ausleihnummer meiner achtjährigen Stabimitgliedschaft suchte ich mein neues Regal und musste betrübt feststellen, dass es fast ganz hinten im Raum lag. Wo ich bis letzte Woche nur zwei Schritte gehen musste und quasi direkt hinter dem Ausleihschalter meine Bücher fand, ist mein Weg nun länger. Was theoretisch egal ist, aber ich finde es IN DIESER SITUATION ganz nett, so kurze Wege mit so wenigen Kontaktmöglichkeiten zu haben wie es halt geht. Egal. Neue Bücher!

Kunst geguckt! Gutes Brot gekauft! Rad gefahren! NEUE BÜCHER! Ein guter Tag.

Abends saßen F. und mal wieder etwas länger am Küchentisch und entkorkten einen Wein, den ich neu erworben hatte. Für unseren Podcast hatte ich einen bestimmten Wein gesucht und da ich es total unangenehm finde, nur eine Flasche zu erwerben, bestellte ich eine weitere dazu. (Als ich noch nicht sparen musste, wurde es immer eine Kiste.) Die zweite Flasche war ein Blaufränkisch, meine Lieblingsrebsorte, mit der man nie was falsch machen kann. Ich kaufte nach Etikett …

… werde aber ab jetzt nur noch nach Korken kaufen:

Tagebuch Donnerstag, 8. Oktober 2020 – Kunst-Hiwi

F. und ich verbrachten den Vormittag mit ein paar Protzens, wobei der Herr sich des Öfteren über die „bescheuerten Nazi-Formate“ beklagte, weil wir halt mal Leinwände in den Größen 130 x 200 cm bewegen mussten. Ich noch so: „Nebenan sind die kleineren“, wobei das kleinste dann auch 120 x 130 cm maß, aber das konnte ich immerhin alleine tragen. Ansonsten stand ich hinter den Gemälden und hielt sie halbwegs gerade, denn das war mein Problem mit den von mir im Januar per Handy abgelichteten Werken gewesen: Sie lehnten alle irgendwo an Wänden und ich habe sie nie vernünftig entzerren können, damit sie einigermaßen aufsichtig aussehen. Für einige der Werke ist das aber entscheidend, und netterweise gab es vor Kolloquium und Verteidigung noch einen Fototermin, so dass ich Ende Oktober und Ende November bessere Bilder vorzeigen kann.

Die Gemälde selbst dürft ihr leider noch nicht sehen, aber immerhin einen Teil der charmanten Dame, die manchmal im Weg stand. Oder hinter riesigen Autobahnen.



Die Tipps zum Leinwandreinigen, die ich mir vor ein paar Tagen auf Twitter geholt hatte, ließ ich lieber bleiben; bei einem Werk kam mir die Ölfarbe schon in Flöckchen entgegen, weswegen ich den ganzen Tag von „kuratorisch äußerst bedenklichen Zuständen“ wimmerte. Ich weiß, diese Werke interessieren außer mir vermutlich niemanden, aber wenn man sich drei Jahre lang mit ihnen befasst, ist man doch ein bisschen traurig, wenn sie zerbröseln. Jetzt sind sie immerhin vernünftig dokumentiert.

Tagebuch Mittwoch, 7. Oktober 2020 – Kein Titel mehr und lauter Grossbergs

Ich erwähnte es auf Twitter (wieder gelöscht) und hier im Blog (wieder gelöscht), dass die Stabi mir einen Doktortitel zu meiner Leihkarte eingetragen hatte, weil der ja quasi nur noch Formsache sei. Nach einer Mail von mir an die Stabi ist dieser Titel nun wieder gelöscht, denn er ist eben nicht nur noch Formsache, und wenn ich den Titel denn irgendwann haben sollte, möchte ich den bitte selbst triumphierend eintragen (Perso, Twitter-Bio, jede blöde Internetbestellung, die eine Adresse braucht, jeder Gastro-Zettel, der meinen Namen wissen möchte).

Recht hirntot am Rechner gesessen, nicht groß vorangekommen mit dem Vortrag, stattdessen ins Stadtmuseum gefahren, um mir eine Ausstellung zu Kunst der 1920er-Jahre anzuschauen. Mehr darüber in unserem nächsten Podcast, hier im Blog vermutlich erst nächsten Dienstag. Ich war glücklich über satte fünf Grossbergs, und über ein Werk, das ich gestern auch vertwitterte, freute ich mich besonders. Auch dazu möchte ich kurz auf meine übliche NS-Kunst-Seifenkiste steigen, und auch das steht alles nächste Woche hier.

Sehr müde (IST DAS CORONA?) in ein Gilmore-Girls-Loch auf Netflix gefallen und deutlich mehr als sonst über Michel gelacht. Außerdem den Burger nachgebaut, den ich vorgestern abend in der Chef Show (Herzchen!) auch auf Netflix gesehen hatte. Überrascht festgestellt, dass man wirklich kein Ketchup und keine Majo braucht für einen tollen Burger.

Nicht rechtzeitig ins Bett gekommen, weil ich erstens meinem Hobby bis zur US-Wahl – konstantes Doom-Scrolling – eifrig nachgegangen bin und mich außerdem nicht von Joseph Roths Radetzkymarsch trennen konnte. Tolles Buch (bis jetzt).

Tagebuch Dienstag, 6. Oktober 2020 – Erster Zoom-Call

Schreibtischtag. Ich bereitete mein vermutlich letztes Doktorandenkolloquium vor, auf dem ich meine Diss vorstellen möchte – auch als Übung für die Verteidigung. Ich werde vermutlich auf beiden Veranstaltungen nicht genau dasselbe erzählen, aber erstmal muss ich mir darüber klar werden, was ich überhaupt erzählen will. 360 Seiten in 15 Minuten zusammenzufassen, ist doch schwieriger als ich dachte. Also las ich gestern einen großen Teil meiner Diss quer und hielt mich dann hauptsächlich an den Zwischenfaziten und dem Schlussteil fest, in denen ich meine sensationellen Funde und Erkenntnisse brav aufgezählt habe.

Nachmittags hatte mein ewiges Quengeln endlich Erfolg gehabt und F. lud mich per Mail zu einem Zoom-Meeting ein. Ich bin bisher durch die ganze Pandemie ohne eine einzige Videokonferenz gekommen, wenn man von dem einen virtuellen Treffen mit den Hamburger Damen absieht, das aber per Facetime stattfand, wenn ich mich richtig erinnere. Ich wollte testen, ob Zoom noch funktioniert, obwohl ich die Uni-Version auf dem Rechner hatte, denn an der Uni bin ich ja jetzt offiziell nicht mehr. Ging. Was nicht ging, war die Kamera, was aber durch Neustart des Rechners behoben werden konnte. Dann testete ich lustige Dinge wie „Bildschirm freigeben“ und muten und freute mich darüber, dass meine blaue Arbeitszimmerwand ein ganz hervorragender ruhiger Hintergrund für mich ist.

Mein Corona-Kontakttagebuch auf den neuesten Stand gebracht (gestern: keine Kontakte), weiterhin zwei Risiko-Begegnungen in der Corona-App, aber alles auf grün. Die waren zwischenzeitig auf einen Kontakt zusammengeschrumpft, dann war wieder keiner zu sehen, seit vorgestern sind es wieder zwei.

Mit einer Behörde einen Fototermin ausgemacht, um ein paar Protzens erneut abzulichten, weil ich beim Erstkontakt viel zu aufgeregt gewesen war. Dieses Mal hält F. die Kamera und ich die Gemälde. Auf Twitter holte ich mir Tipps zum Abstauben, weil die Dinger seit gefühlt 30 Jahren nicht mehr abgestaubt worden sind, aber ich weiß nicht, ob ich sie morgen umsetzen werde. Mit der Behörde außerdem über die Formulierungen in der Diss gesprochen, die ich ja veröffentlichen muss, um den Titel tragen zu dürfen. Dem Amt ist es nicht ganz so recht, wenn genau zu lesen ist, wo sich die Gemälde befinden, da es in der Vergangenheit anscheinend schon öfter Menschen gab, die sich als Polizist oder ähnliches ausgewiesen haben, um an Zeug zu kommen (oder es wenigstens ablichten zu können), was eventuell als NS-Devotionalie durchgeht. Wieder was gelernt. Ahne allmählich, warum mir die Staatsgemäldesammlungen nicht verraten wollten, wo mein Lieblings-Protzen gerade hängt (gehört ihnen, ist ausgeliehen).

Was schön war, Samstag bis Montag, 2. bis 5. Oktober 2020 – Schlafen und eine neue Ausleihkarte

Das Wochenende nahm ich mir frei. Unglaublich, aber wahr: Ich tat nichts außer schlafen, auf der Yogamatte rumhüpfen, schlafen, essen, Serien gucken, ich las in meinem neuen, alten Buch (Radetzkymarsch, antiquarisch für 3 Euro erstanden und es ist auch vom Erscheinungsdatum nicht ganz neu) die ersten 80 Seiten und fand es hervorragend (ich lese deshalb auch den Wiki-Artikel nicht durch, denn ich weiß wirklich nicht, wie es ausgeht), schlief wieder ein bisschen, sah Augsburgs Unentschieden gegen Wolfsburg und den Verbleib auf Tabellenplatz 2, schlief, putzte die Wohnung nur so weit wie das Staubsaugerkabel reichte und steckte rebellisch nicht um, schlief wieder und war am Sonntagabend so erholt, dass ich entspannt berufliche Mails schrieb und die Steuer erledigte. Wir verbrachten das Wochenende bewusst getrennt, denn ich erhole mich alleine am besten, und auch F. brauchte mal ein bisschen Ruhe. Doch alles richtig gemacht mit dem Nicht-Zusammenziehen.

Gestern eröffnete ich den Herbst, indem ich mir nicht den üblichen Früchtetee kochte, den ich über den Tag kalt werden lasse und so trinke, sondern den geliebten Bünting-Grünpack zubereitete und ihn in die Thermoskanne füllte, damit ich ihn stundenlang heiß genießen konnte, natürlich mit Kluntjes und Sahnewölkchen.

Mein Doktorvater hatte mir netterweise Feedback auf meinen Abstract zugeschickt, er vermisste etwas mehr Theorie, weswegen ich mir seitdem natürlich Sorgen mache, dass auch in der Diss viel zu wenig davon steckt. Im Abstract wollte ich das jetzt aber brav einfügen und gab in der Maske der Uni-Bib wie gewohnt meine Uni-Mailadresse und das Passwort ein, um zu den herrlichen Datenbanken zu gelangen – nur um eine Fehlermeldung zu sehen. Ach ja. Mein Studierendenausweis ist ja am 30. September nach acht wunderschönen Jahren ungültig geworden. (Leises Wimmern.) Meine Mails kann ich noch abrufen, wie ich ausprobierte, aber die Datenbanken waren für mich geschlossen. Aber: Die Ausweisnumemr gilt ja auch für die Stabi, dann gucke ich da halt in die Datenbanken. Falsch gedacht, auch dort konnte ich mich nicht mehr für lustige Dinge einloggen. Dann las ich halt erstmal ein bisschen Papier, was noch auf meinen Schreibtisch war, holte die dicke „Mein Kampf“-Edition wieder aus dem Schrank (das war gut angelegtes Geld, da gucke ich sehr oft rein, wenn auch nölig und augenrollend), las, legte am Abstract an und war mittags halbwegs zufrieden. Aber eben nur halbwegs. Ich – wollte – Datenbanken!

Also zur UB geradelt, Bücher abgegeben, zur Stabi geradelt und mich am Infoschalter sozial distanziert angestellt. Ich wusste, dass ich die Karte umtragen konnte, danach hatte ich vor Kurzem gefragt, und darum bat ich nun. Ich wurde gefragt, ob ich noch irgendwo anders studiere – nein (leises Wimmern) – und mir wurde gesagt, dass, wenn ich bei der UB um den Wechsel gebeten hätte, ich dort auch die Datenbanken plus die der Stabi hätte nutzen können; jetzt halt nur die bei der Stabi. „Brauchen Sie die denn so dringend?“ – „Mmmh … ich liege in den letzten Zügen der Diss, eher nur so mittel.“ – „Also wenn Sie noch schreiben, dann würde ich schon lieber drüben …“ – „Nee, Diss ist schon abgegeben, es fehlt nur die Verteidigung.“ Also hier neue Karte.

Nachmittags hatte ich keine Lust auf die üblichen „True Beginner“-Videos, sondern wagte mich an ein normales Workout-Video, das angeblich „easy“ war. War es auch so halbwegs, ich änderte einige Übungen so, dass sie sich für mich richtig anfühlten, arbeitete aber sonst eifrig mit und stellte fest, dass ich inzwischen eine halbe Stunde rumhüpfen kann, ohne Pausen machen zu müssen. Das war schön.

Abends entdeckte ich „Ted Lasso“ für mich und damit war der Tag dann rum.

Was schön war, Mittwoch bis Freitag, 30. September bis 2. Oktober 2020 – Essen

Neulich empfahl die NYT mal wieder eine Magenverkleinerung als supidupi-Alternative zu mühseligen Diäten, woraufhin ich kurz mein Handy anschrie und dann was kochen ging. Netterweise erinnerten viele Kommentator:innen die Autorin daran, dass eine OP nie ein lustiger Spaß ist, dass es Folgen hat, ein Organ zu verkleinern und dass man danach nie wieder so essen werden kann wie vorher (kotzen und Durchfall gibt’s gratis dazu und wenn man sich nicht richtig anstrengt, auch das ganze verlorene Gewicht). Als dicker Mensch hatte ich mich natürlich (?) auch mal mit dieser Idee befasst und musste mir eingestehen, dass ich damit wahnsinnig werden würde. Vermutlich leichter und dünner, aber eben auch wahnsinnig. Essen ist für mich in Stresssituationen zwar des Öfteren eine blöde Krücke mit zu vielen Kalorien, aber eben auch eine Krücke, die mich hält. Ich bin nach der anstrengenden Woche bei meinen Eltern und ein paar Dingen, die nicht ins Blog gehören, immer noch sehr nah am Wasser und strenge mich derzeit an, nicht beim Edeka an der Kasse zu flennen. Wo ich aber sofort glücklich und nicht am Wasser war: im Asiamarkt. Dort entdeckte ich im Kühlraum eine Zutat, auf die ich schon länger gewartet hatte:

Und daraus wurde der Green Papaya Salad, der anscheinend ein Nationalgericht Thailands ist. Ich hoffe, ich habe ihn halbwegs korrekt hingekriegt. Das Video von Hot Thai Kitchen half sehr. Dort lernte ich auch, wie man eine Limette clever schneiden kann und dass man die Hüllen ruhig in den Salat werfen kann, sieht super aus.

Gelernt: Im Inneren der unreifen Papaya verbergen sich Kerne, die wie die weißen Styroporkügelchen aussehen, die früher in Sitzsäcken waren. Die kullern einem auch total überraschend entgegen, wenn man die Papaya halbiert und man muss erstmal die Küche fegen, bevor man sich ans Kochen macht.

Ebenfalls gelernt: eine Vogelaugenchili ohne Kerne im Salat erzeugt nur eine milde Wärme. Zwei Vogelaugenchilis mit Kernen sorgen dafür, dass ich nach zehn Gabeln erstmal ein halbes Glas Milch trinken muss, um meinen Mund zu beruhigen. Danach aß ich weiter, im vollen Bewusstsein, dass es wieder weh tun würde, aber es war so unglaublich lecker.

Das zweite Rezept war aus dem neuen Kochbuch. Ich röstete lustig Gewürze an …

… und nutzte Opas Kaffeemühle als Gewürzmühle. Der nächste Kaffee könnte eventuell etwas anders schmecken, aber wenn’s so gut wird wie die Pakoras, in die ich die Gewürze warf, passt mir das gut. Auch im Asialaden erworben: Kichererbsenmehl. Tolles Zeug.

Überhaupt hat mich nicht nur das Kochen glücklich gemacht – Essen ja sowieso –, sondern alleine der Laden, in dem so viel Zeug steht, das ich nicht kenne. Es ist ein einziger Abenteuerspielplatz, und neben dem Mehl kaufte ich noch Klebreis, Sriracha und thailändische Krabbenpaste, denn die indonesische, die ich überfordert beim ersten Einkauf erworben hatte, ist mir zu intensiv.

Den frischen Koriander und die Minze mixte ich mit Jogurt zu einem Dipp.

Die Sriracha brauchte ich für ein weiteres neues Rezept, das ich gestern F. servierte: simple Nudeln in einer Sauce aus Sojasaucen und Schalottenöl, das ich ebenfalls ansetzte. Dazu Frühlingszwiebeln und Knoblauch-Schnittlauch, den ich auch glücklich im Kühlraum gefunden hatte. Bei mir gab’s noch Brokkoli dazu und ein Ei drüber.

Und weil ich gestern nicht nur Lust zum Kochen, sondern auch zum Backen hatte, gab’s noch einen Marmorkuchen nach Mamas Rezept. Der hat nicht so viel Zucker, weswegen er dringend eine Glasur aus Schokolade braucht.

Auch wenn die thailändische Küche noch neu für mich ist, fühle ich mich in ihr recht wohl, einfach weil ich mich generell wohl am Herd oder bei Schneidearbeiten fühle. (Auch so ein Satz, von dem ich vor 15 Jahren noch nicht gedacht hätte, ihn ernst zu meinen.) Ich weiß bei den neuen Rezepten noch nicht, wo ich eigentlich hinkoche, aber es bereitet mir große Freude, sie zuzubereiten. Ich fühle mich sicher inmitten meiner ganzen wohlschmeckenden Schätze, und so lange ich am Herd stehe, kann die ganze Welt da draußen genau da bleiben: draußen.

Ein süß-würzig-scharfes Dankeschön …

… an eine:n unbekannte:n Schenker:in, der oder die mich mit Sarah Tiongs Sweet, Savory, Spicy: Exciting Street Market Food from Thailand, Cambodia, Malaysia and More überraschte. Tiong ist eine meiner liebsten Masterchef-Australia-Kandidatinnen, deren Gerichte stets so aussahen, als könne man sie halbwegs entspannt nachkochen und die anscheinend immer ziemlich gut geschmeckt haben. Ihre Website gibt nicht irre viel her, der Insta-Account schon etwas mehr. Das Buch gefällt mir beim ersten Durchblättern sehr gut, und gestern kochte ich gleich mal Pakoras daraus nach. Ich besitze nun neben diesem Buch auch noch Kichererbsenmehl. Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Tagebuch Dienstag, 29. September 2020 – Auswärtsfahrt

Für einen einstündigen Termin neun Stunden in diversen Verkehrsmitteln gehockt. Nächstes Mal frage ich nach Zoom.

Aber gelernt: Wenn man geistig umnachtet eine Zugfahrkarte mit Zugbindung bucht, kann man im Zug nicht mehr einfach nachzahlen. Ich hatte also die Wahl, aus dem früheren Zug, den ich netterweise noch gekriegt hatte, auszusteigen und eine Stunde zu warten, um in den eigentlich gebuchten Zug zu steigen, der aber laut App nur mit der Hälfte der Wagen fuhr und vermutlich dementsprechend voll gewesen sein wird und mein Sitzplatz dürfte auch weg gewesen sein – oder eine neue Fahrkarte zu kaufen. Hab ich gemacht, hilft ja nix. Lehrgeld.

Ansonsten: nettes Gespräch, gerne wieder.

Abends nach der sehr anstrengenden letzten, pausenfreien Woche nur noch ein Stündchen bräsig an die Decke geguckt, mir überlegt, was ich alles noch hätte im Gespräch sagen können (irre hilfreich, so fünf Stunden später), einen Liter Pepsi light geext, weil ich viel zu wenig getrunken hatte den Tag über und ins Bett gefallen. Keine Debatte für mich, aber anscheinend habe ich nicht viel verpasst außer dem üblichen Rumgeschreie des Idioten.

Tagebuch Montag, 28. September 2020 – Sorgen/Nicht-Sorgen

Den Doktorvater im ZI getroffen; sein Gutachten über meine Diss ist inzwischen abgegeben, aber er darf mir natürlich nicht sagen, wie er sie denn so fand. Durch die Blume kam aber irgendwann, ich solle mir bloß keine Sorgen machen. Dann mach ich das auch nicht. (Haha.) Ansonsten sprachen wir noch über den Abstract, den ich gerade schreibe, den ich ihm gerne vorlegen könne, bevor ich ihn abschicke (Feedback wanted) und über das Doktorandenkolloquium, das Ende Oktober per Zoom stattfindet. Dafür hatte ich mich letzte Woche angemeldet, obwohl ich ja eigentlich durch bin, aber ich dachte, das wäre eine gute Übung. Das sah er genauso.

Den Rest des Tages mit Vorbereitungen verbracht, gelesen, Dinge notiert, mir Dinge gemerkt, die MVG verflucht, weil ich heute zum Bahnhof radeln muss, weil keine Öffis fahren, was ich vor einem Termin mit anderen Menschen gerne vermieden hätte, um nicht zu zerzaust anzukommen, aber es hilft ja nichts. Mir Sorgen um das Mütterlein gemacht. Mir Sorgen um andere Dinge gemacht. Mich gefragt, warum es ab einem gewissen Alter keine Option mehr ist, einfach mit dem Teddybär unter der Decke zu bleiben. Den langen Artikel der NYT über Trumps Finanzen gelesen und resigniert gedacht, dass das eh keinen Einfluss auf die Wahlentscheidungen seiner Fans haben wird. Mich gefragt, ob ich mir wirklich die erste Debatte heute nacht anschauen werde. Die frische Minze aus dem Garten meiner Eltern vermisst, aus der ich immer zum Abendbrot dort Tee gekocht habe. Das vermisse ich immer am meisten, wenn ich von dort zurückkkomme.

Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 24. bis 27. September 2020 – Überschätzt

Am Donnerstag nutzte ich die elektrische Schiebehilfe für Papas Rollstuhl, um ihn einen Berg hochzukriegen, damit wir mit dem Mütterlein auf den Markt gehen/fahren konnten. Das Ding funktioniert über eine Art Toter-Mann-Schalter, also einen Kipphebel am rechten Handgriff des Rollstuhls, den man ständig gedrückt hält, damit es schiebt oder zieht, das Teil hat nämlich auch einen Rückwärtsgang. Sobald man den Hebel loslässt, steht der Stuhl oder sollte es zumindest. Abrupt bremsen ist allerdings doof, denn Papa ist nicht angeschnallt, hat aber einen Keil zwischen den Beinen, damit er nicht herausrutscht. Das tat er am Anfang mehrmals, weil er nicht mehr weiß, dass er eine linke Körperhälfte hat und er sich dementsprechend nur einseitig irgendwie aufrecht hält. Die Geschwindigkeit steuert man über ein Drehrädchen, das man mit dem Daumen bedienen kann, während der Zeigefinger den Kipphebel hält. Es funktioniert nicht ganz stufenlos, so dass ich interessiert feststellen konnte, dass die Anzeige 75 für mein Gehtempo zu langsam, 80 aber schon zu schnell ist.

Das Mütterchen erhoffte sich ein paar persönliche Ansprachen auf dem Markt, weil Papa dort früher – also vor anderthalb Jahren – regelmäßig eingekauft hatte. Es waren wohl auch Leute da, die ihn kannten – ich kannte natürlich niemanden –, aber es kam niemand auf Vaddern zu, was Mama erboste. Mich weniger, ich ahne, dass viele Menschen nicht damit umgehen können, wenn einem die möglicherweise eigene Verletztlichkeit so vor Augen geführt wird. Ich wäre auch weggeblieben, muss ich zugeben.

Also schoben wir ohne Begrüßungen, aber mit Obst und Gemüse in unseren Rucksäcken wieder nach Hause.

Den Nachmittag verbrachte ich damit, einen Zwetschgenkuchen mit Hefeteig zu backen und nölte etwas zu ausgiebig über die Küche und ihre Gerätschaften rum. Ich entschuldigte mich, weil ich ja weiß, dass es Quatsch ist, aber mich machen Arbeitsumgebungen kirre, die ich mir nicht selbst eingerichtet habe. Mama meinte, das hätte ich von Omi, die hätte auch immer in fremden Küchen gemeckert: „Wieso steht das nicht da, wo es hingehört?!?“ Yay, ich habe von Omi noch mehr geerbt als nur mein Lieblingsgeschirr!

Die weiße Tischplatte gehört zu Papas Beistelltischchen, das der Nachbar gebaut hat. Er bockte dazu einen normalen quadratischen Tisch auf vier Untersetzstangen auf, so dass Papa nun mit dem Rollstuhl und vor allem dessen hohen Armlehnen unter einen Tisch passt. Jetzt kann er „geradeaus“ essen und muss nicht immer seitwärts zu seinem Teller sitzen. (Und wir müssen nicht immer den Küchenfußboden saugen, fegen oder wischen, nachdem Papa gegessen hat.)

Freitag hatte ich eigentlich einen Vormittag für mich eingeplant, denn ich habe morgen einen wichtigen Termin, auf den ich mich noch etwas besser vorbereiten wollte; das meiste hatte ich schon in der letzten Woche in Bibliotheken erledigt, aber so ganz top fühlte ich mich noch nicht. Dummerweise kam ein weiterer Termin dazwischen, den ich nicht eingeplant hatte, aber wahrnehmen wollte. Damit war der Vormittag weg, nachmittags ist Arbeiten für sich selbst nicht möglich, weswegen ich etwas nervös wurde und, warum auch immer, plötzlich sehr nah am Wasser war. Momentan habe ich einige Bälle in der Luft, die teilweise voneinander abhängen und es macht mich nervös, dass ich nicht vernünftig für die nächsten Monate planen kann, weil die Entscheidungen nicht von mir abhängig sind. Das Mütterlein beschloss daraufhin, mich am Sonntag nach Hause zu schicken. Geplant war eigentlich, dass ich direkt von Hannover zum Termin fahre, aber ich war am Freitag schon so übermüdet und eben unvorbereitet, dass mir das wie eine sehr gute Idee erschien.

Ich hatte mal wieder unterschätzt, wie sehr man bei meinen Eltern fremdbestimmt ist. Den Tagesablauf von Papa kenne ich natürlich inzwischen, und ich habe mir auch ein Dokument angelegt, in dem ich eben diesen Plan minutengenau notiert habe, damit ich es immer wieder weiß. Was ich aber vergessen hatte: wie unterschiedlich Papa von Tag zu Tag und von morgens im Vergleich zu abends drauf ist. Mal geht er abends sofort ins Bett, wenn wir „Feierabend“ sagen, mal hält er einen bis 23 Uhr wach, weil er nach einem ruft und Angst hat, weil er vergessen hat, wo er ist. (Er bekommt ein mildes Schlafmittel, sonst kämen wir nie ins Bett.) Ich hatte vergessen, wie anstrengend es ist, völlig sinnfreie Unterhaltungen zu führen, wenn man ihn nicht einfach drei Stunden vor dem Fernseher parken will, was ich nicht will (und Mama auch nicht). Ich hatte unterschätzt, wie angeschlagen ich von DER GESAMTSITUATION bin und dass es mich anscheinend gerade doppelt so viel Kraft kostet, in der Wedemark zu sein als sonst. Ich hatte launig im Hinterkopf gehabt, dass ich dort auch schon an der Diss arbeiten konnte und daher optimistisch gesagt, dann spare ich mir zwei Zugfahrten und fahre von Hannover aus zum Termin und von da nach München, aber diese Idee zerbröselte ab Tag 1. So saß ich gestern im Zug, fing schon im Auto meiner Schwester, die mich zum Zug brachte, dauernd an zu heulen und heulte auch im Zug, keine Ahnung warum, Überforderung und akute Übermüdung, tippe ich laienpsychologisch. Ab Göttingen hatte ich dann einen lauten Vierertisch neben mir, der die Maskenpflicht umgang, indem erstmal alle ein paar Bierchen köpften, woraufhin ich mich umsetzte, weil ich sonst mit Dingen geworfen hätte.

Im Zug hatte ich dann auch mal Zeit, über die andere Gesamtsitutation nachzudenken. Meiner Mutter geht es gesundheitlich immer schlechter, weil sie natürlich auch ständig übermüdet ist. Einen Platz in der Tagespflege für Papa zu finden, damit sie wenigstens mal ein paar Stunden ohne Verantwortung sein kann, entpuppte sich in den vergangenen Monaten als unmöglich, und jeder gibt andere Gründe an, warum Papa nicht kurzfristig in ihr Heim könne. Die Krankenkasse hat ihre Kur abgelehnt, aber das scheinen Krankenkassen einfach per Default zu machen, wir legen natürlich Widerspruch ein. Ihre geplanten Kurzurlaube verschiebt sie von Monat zu Monat, und im Moment ist es eh schwierig wegen DER GESAMTSITUATION. Eigentlich hatte sie sich eine Deadline von Ende 2020 gesetzt, um für sich selbst zu gucken, wie lange sie das noch kann, aber so wie ich sie einschätze, hat längst ihre Kriegskindmentalität mit dem „Augen zu und durch und wir stellen uns da mal gar nicht an“ eingesetzt. Auch meine Schwester und ihr Mann können nicht alles abfangen, obwohl sie sehr viel aushelfen, und falls ich demnächst ganz möglicherweise eine Festanstellung finde, werden meine monatlichen Trips auch schwieriger. Nicht unmöglich, davon gehe ich jetzt mal bockig aus, aber schwieriger.

Und Vaddern macht mir auch Sorgen. Er schläft nicht mehr wie früher ausgestreckt, sondern verkeilt seine Beine ineinander, es sieht ein bisschen nach Embryonalhaltung aus. Er kann nicht mehr so gut unterscheiden, was Fernsehen und was Realität ist – noch ein Grund mehr, ihn nicht dauernd davor zu setzen –, und es fehlt ihm schlicht der Umgang mit anderen Menschen, auf die wir in der Tagespflege gehofft hatten. Er kam mir noch weniger kohärent vor als sonst; wo er in den vergangenen Monaten vormittags eigentlich immer so halbwegs bei sich war, fiel es ihm nun schon schwerer, Worte zu finden oder sich zu merken, dass ich nur nebenan in der Küche bin und er nicht dauernd nach mir rufen muss.

Am Samstag ließ ich ein bisschen Fußball für uns laufen, die dritten Programme übertragen teilweise die dritte Liga. Weil ich nicht Rostock gucken wollte, wurden es die 1860er, wofür ich mich natürlich bei meiner FC-Bayern-Leserschaft entschuldigen möchte.

Per Handy verband ich dann meinen Laptop mit dem Interweb, das bei meinen Eltern ja immer noch nicht per Kabel vorhanden ist, und fand einen total legalen Stream für das Augsburg-Spiel. Die Herren gewannen überraschend gegen Dortmund, weswegen ich zwischenzeitig gute Laune hatte. Papa freute sich auch, fragte aber dauernd, welche denn die Münchner seien. Mama freute sich, dass ich mich freute und dass mal eine andere Stimme in der Küche zu hören war. Ich erklärte Sky und Bezahlfernsehen und erfuhr, dass sie auch immer auf die Augsburg-Ergebnisse gucken, weil sie ja wissen, dass F. und ich da zusammen hinfahren.

Es musste noch ein zweiter Kuchen gebacken werden, wenn schon mal Hefe im Haus ist. Der Nachbar hatte wieder kiloweise Äpfel rübergebracht, die teilweise eingekocht wurden und teilweise auf dem Backblech landeten. Um Papa zu beschäftigen, bat ich ihn, mir aus der Kiste die gelben rauszusuchen, „nicht die grünen“, und die möglichst großen und die ohne Stellen. Je länger der Tag dauert, desto mehr benutzt Papa Worte, die es nicht gibt, oder baut solche, die es gibt, in Sätze ein und wir raten dann, was er meinte. Irgendwann gab er mir einen Apfel und meinte, der habe „nur ganz wenige … Erlebnisstellen“, womit er die braunen Stellen der Falläpfel meinte. Das twitterte ich, weil ich den Begriff so schön fand, aber ich ahne, dass die meisten, die diesen Tweet favten, nicht wussten, dass es kein poetisches Wort war, sondern schlicht eins aus einem Gehirn, das mehrere Schlaganfälle hinter sich hat.

Tagebuch Mittwoch, 23. September 2020 – Bissniss und Mundharmonika

Vormittags hatte ich einen Termin im uralten Heimatstädtchen. Eigentlich wollte ich die S-Bahn nehmen, die aber ausfiel; netterweise stand die Nachbarin meiner Eltern mit mir am Bahnsteig und fragte, ob sie mich mit dem Auto in die Stadt mitnehmen solle. (Mir fällt gerade der Ausdruck „in die Stadt“ auf. Wir haben nie gesagt: „Ich fahr mal nach Hannover“, egal ob per Auto oder Bahn, sondern immer „ich fahr in die Stadt“. Alternativ „Warst du grad in der Stadt?“)

Die Dame setzte mich am Kröpcke ab und ich fand blind den Weg zur U-Bahn-Station, was mich selbst erstaunte. Die Station mit ihren drei Stockwerken erschien mir nicht mehr so einschüchtern wie früher als Kind, wo ich dachte, dass die Rolltreppen nie aufhören. Von dort ging’s zum Aegi, dann zum Braunschweiger Platz. Ich hatte dort früher in der Nähe gewohnt und fragte mich jetzt, zwanzig Jahre zu spät, wieso ich immer bis zur U-Bahn-Station Marienstraße gegangen bin, wo doch Braunschweiger Platz viel näher liegt. Das war allerdings eine Zeit, in der ich auch die 200 Meter bis zum Bäcker mit dem Auto zurückgelegt habe. Vermutlich wusste ich nicht mal, dass da hinten eine U-Bahn-Station war, ich Depp.

Bissnisstermin wahrgenommen, wieder mit U- und S-Bahnen nach Hause gefahren, das Mütterlein holte mich sogar vom Bahnhof ab.

Nach der Mittagspause lungerte ich ein wenig bei Papa im Zimmer rum, er beschwerte sich über seine Socken, ich fragte, ob ich ihm neue anziehen solle, was er bejahte. Papas Zimmer war früher das Esszimmer, es liegt im Erdgeschoss, nach oben kommt er ja leider nicht mehr. Der Esstisch steht jetzt in der Diele, wo früher Papas repräsentativer Schreibtisch stand. Der steht jetzt in seinem Zimmer und beinhaltet keine Akten mehr, sondern seine Kleidung und die vielen Dinge, die das Pflegepersonal braucht. In der einzigen Schublade liegen seine Socken – und wie ich gestern feststellte, auch seine Mundharmonika, die er schon als Kind gehabt hatte, leicht rostig. Ich fragte Papa, ob er noch spielen könne und reichte ihm das Instrument. Ohne zu zögern spielte Papa eine Melodie, die ich nicht erkannte, aber es war eindeutig eine Melodie mit erkennbarem Takt und kein sinnloses Rumtröten. Das freute mich sehr. Nach einem Lied hatte er aber keine Lust mehr, noch ein zweites zu spielen.

Er fragte mich, wo ich die Mundharmonika denn her hätte, woraufhin ich meinte, die lag im Schreibtisch. Woraufhin er sagte, er hätte auch mal eine Mundharmonika gehabt, die hätte auch immer in seinem Schreibtisch gelegen. Als ich meinte, das sei genau die, hat er mir nicht geglaubt.

Nachmittags war die Ergotherapeutin da, was das Mütterlein und ich nutzten, einkaufen zu fahren. Dieses Mal durfte ich ans Steuer des neuen Autos und war ziemlich begeistert. Hoher Einstieg for the win! Ich habe in meiner Autofahrerinnenkarriere stets gebrauchte und gerne mal sehr alte Karren gefahren (still missing Rocky), weil ich nie verstanden habe, warum man so viel Geld für eine neue Schüssel ausgeben soll. Deswegen bin ich bei modernen Autos auch immer davon überfordert, wie schnell man schnell fährt. Ich habe mehr auf die Geschwindigkeitsanzeige als auf die Straße geachtet, glaube ich. Schönes Auto, das Auto.

Abends war Papa ausnahmsweise direkt nach Ende des üblichen Naturfilms müde und rief auch nicht mehr eine Stunde lang nach einem, weil er wieder vergessen hatte, wo er ist. Daher sprachen das Mütterlein und ich dem Rosésekt vielleicht etwas zu enthusiastisch zu, wie ich heute merkte, als der Wecker klingelte. Das war aber ein schöner Abend, weil wir einfach klönen konnten. Beim letzten Besuch hatte sie jeden Tag Termine, weswegen sie lieber nichts trinken wollte und nicht ausschlafen konnte, und ich habe doch erstaunt festgestellt, das mir das gefehlt hat, mit ihr zu quatschen.

(Bist ne alte Kuh, lernst immer noch dazu.)

Tagebuch Dienstag, 22. September 2020 – Zugfahren

Das war mein Tag. Zugfahren. Maskendisziplin zumindest in der 1. Klasse top. Die Fahrgastbefragungsdame kam mir allerdings persönlich etwas zu nahe, aber nun gut. Auf die Frage, ob ich privat oder geschäftlich reise, meinte ich: „Teils, teils“, worauf sie den interessanten Satz sagte: „Ich schreib geschäftlich, geht ja auch keinen was an.“ Den hörte ich im Laufe der Fahrt noch öfter und frage mich seitdem, wozu ich gefragt werde, wenn meine Reise niemanden etwas angeht. Hat sie aber locker wettgemacht mit sehr ausführlichen Wünschen für einen guten Tag und viel Gesundheit, auch für die Angehörigen.

Papa geht’s gut, hustet ein bisschen viel, weil er nicht genug trinkt. Mist. Schwester und Schwager machen seit gestern irgendeine komische Diät, weswegen Mütterchen und ich ihren Kühlschrank plündern mussten. Soll mir recht sein, endlich mal guter Käse hier im Haus. Ebenfalls erbeutet: Käse-Sahne-Mandarinentorte. Die war dann gestern mein Mittag- und gleichzeitiges Abendessen war, weil ich erst gegen 17 Uhr im Elternhaus ankam und im Zug nichts gegessen hatte, bis auf die zwei Lieblingsgast-Kekse. Die haben wir uns auch redlich erarbeitet: Der Zug wurde bereit zu spät eingesetzt und dann gab’s noch eine kurzfristige Streckensperrung zwischen München und Ingolstadt. Hat aber alles nur eine halbe Stunde gedauert.

Ein kleines Video vom New Yorker, das mich doch noch verblüffen konnte. In How Wagner shaped the sound of Hollywood blockbusters geht es neben vielen weiteren kleinen Ausschnitten – natürlich – um den Walkürenritt in Apocalpyse Now. (Zuerst darf man aber herzlich über einen Ausschnitt aus den Simpsons lachen, den ich noch nicht kannte.) Der Cutter Walter Murch von Apocalpyse Now ist derselbe, der auch Jarhead schnitt, und in diesem Film schauen sich die Soldaten genau diese Szene aus dem ersten Film an, um sich auf den Kampf vorzubereiten. Inzwischen spielt das amerikanische Militär wirklich auf Einsätzen dieses Stückchen Oper, was ich immer noch nicht so recht glauben möchte. Es ist alles absurd.