Joyce lesen

Die Überschrift ist eine Anspielung auf einen älteren Blogeintrag, den ich schrieb, nachdem ich den letzten Band der Recherche von Proust durchgelesen hatte. Gestern beendete ich Ulysses von Joyce. Ratet, was ich danach geschrieben habe.

Ich versammele mal (fast) alle Blogeinträge zum Buch, die ich seit Anfang diesen Jahres veröffentlicht habe. Wer die alle schon kennt, springt zum Instagram-Bild am Ende vor, danach kommt die große Erkenntnis, die mir vergönnt war.

Am 8. Januar erwähnte ich erstmals, was ich gerade las:

Für Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit habe ich drei Anläufe gebraucht, um über die ersten fünf Seiten hinauszukommen, aber dann habe ich einfach alle dreitausend gelesen. Mal sehen, ob das auch beim Ulysses klappt. Den lese ich nämlich seit gestern, und ich habe bereits zwei Kapitel bezwungen, nachdem ich bei den ersten Versuchen nach zwei Seiten aufgegeben hatte.

F. hat im letzten Jahr mehrere Monate Finnegans Wake vor der Nase gehabt, an das ich mich vermutlich nicht rantrauen werde, aber wir sprachen öfter darüber und über die Züricher James-Joyce-Stiftung, die F. mit einem seiner Freunde schon mehrfach besucht hat. Der Leiter der Stiftung Fritz Senn hat einen guten Tipp fürs Joyce-Lesen, wenn man eingeschüchtert vor dem Wälzer steht und gar nicht weiß, mit welcher Sekundärliteratur man anfangen soll, um die ganzen Anspielungen zu verstehen. Er meint: „Take the short cut. Read the book.“

Genau das habe ich gestern gemacht. Ich selbst besitze den Text der Erstausgabe von 1922, laut meiner Eintragung auf der ersten Buchseite seit 2004. Diese wurde aber von Joyce wieder und wieder überarbeitet – wenn ich dem Vorwort glauben darf, musste man ihm die Druckfahnen quasi aus der Hand reißen, und selbst dann hat er noch darauf rumgemalt, weswegen es diverse Textfassungen gibt. Seit Jahren gilt die Gabler-Edition von 1984 als der Text, der Joyces Vorstellung am nächsten kommt, auch wenn die Ausgabe große Kontroversen hervorrief. Die Editionsgeschichte in der englischen Wikipedia tut so, als wäre die Gabler-Edition Schrott, was, soweit ich weiß, selbst Schrott ist. Aber eigentlich weiß ich über das Thema noch viel zu wenig.

Wie dem auch sei: Ich lese seit gestern die Gabler-Edition von F., die keine Fußnoten hat, gucke aber nach jedem Kapitel in die Endnotes meiner Edition, um im Nachhinein zu verstehen, was ich da gerade gelesen habe. Es macht aber ziemlichen Spaß, sich einfach so in Joyce fallenzulassen, seine Sprache zu genießen, auch wenn ich bei manchen Zeilen nicht weiß, was die schönen Wörter mir sagen wollen. But look how pretty:

„Woodshadows floated silently by through the morning peace from the stairhead seaward where he gazed. Inshore and farther out the mirror of water whitened, spurned by lightshod hurrying feet. White breast of the dim sea. The twining stresses, two by two. A hand plucking the harpstrings, merging their twining chords. Wavewhite wedded words shimmering on the dim tide.“

Oder hier, als Dedalus an seine tote Mutter denkt:

„Folded away in the memory of nature with her toys. Memories beset his brooding brain. Her glass of water from the kitchen tap when she had approached the sacrament. A cored apple, filled with brown sugar, roasting for her at the hob on a dark autumn evening. Her shapely fingernails reddened by the blood of squashed lice from the children’s shirts.“

Oder so Nebenbeisätze, die mich kurz innehalten lassen – wenn Dedalus sich selbst im Spiegel sieht und denkt: „Who chose this face for me?“

Ich freue mich jetzt schon auf den Feierabend, wenn ich das dritte Kapitel beginnen werde.

Am 9. Januar hatte ich bereits drei Kapitel geschafft:

Kurz vor dem Schlafengehen schaffte ich noch das dritte Kapitel von Ulysses, den ich vorgestern begonnen hatte. Ich glaube, die ersten zwei Kapitel hatten mich in falsche Sicherheit gewogen, denn sie waren zwar schwierig, aber irgendwie nachvollziehbar. Aber nach dem dritten dachte ich: „I have no idea what I’ve just read.“ Dass es ein Stream of Consciousness war, hatte ich immerhin kapiert, aber worum es genau ging, konnte ich nur erahnen.

Trotzdem war es eine Freude, den Text zu lesen, was mich die ganze Zeit selbst verwirrte. Bei Sachtexten schimpfe ich sofort los, wenn irgendwas unklar ist, und auch bei literarischen weiß ich gerne, was das Buch von mir will. Hier habe ich keine Ahnung, ich treibe einfach so durch die Worte und gucke, was sie mit mir machen. Mir fiel auf, dass ich genauso auch inzwischen an Kunst herangehe – ich versuche nicht mehr zu verstehen, ich gucke einfach nur und warte, was passiert. Meist lese ich danach schlaue Texte über die Bilder, vor denen ich gerade stand – und genauso wollte ich Ulysses lesen. Als ich aber gestern merkte, dass die Explanatory Notes länger waren als das eigentliche Kapitel, dachte ich mir, ach, Schnickschnack, ich lese einfach das Buch weiter und gucke mal, wo es mich hinwirft. Wie ich vorgestern schon schrieb: „Take the short cut, read the book.“ Den Satz verstand ich erst gestern abend so richtig.

Einen Tag später hatte ich das vierte Kapitel durch:

Abends das vierte Kapitel von Ulysses gelesen. Die Taktik, sich wirklich immer nur ein Kapitel vorzunehmen, klappt ganz gut, ich werde nicht erschlagen von den vielen Fragen, die ich während des Lesens habe, kann aber schon Dinge einordnen, die mir bekannt vorkommen. Außerdem habe ich neben der Oxford-Studienausgabe mit den Endnotes noch ein weiteres Buch bei mir im Regal gefunden, das ich sehr hilfreich finde: The New Bloomsday Book: Guide Through “Ulysses”. Darin wird der Inhalt nacherzählt, aber es werden keine literarischen Anspielungen erklärt oder die vielen fremdsprachigen Einwürfe und Begriffe übersetzt. Diesen Satz aus einer Rezension fand ich sehr schön: „He guides the first-time reader carefully through Joyce’s (famously difficult) novel, but does not challenge the mystery that make[s] Ulysses a joy to read.“ Mit diesen beiden Sekundärliteraturen kann man sich das Buch ziemlich gut erarbeiten. Yay, ich lese Ulysses!

Am 12. Januar steckte ich in Kapitel 5 fest:

Genau wie in Kapitel 4 folgen wir Herrn Bloom bei seinem Weg durch Dublin und kriegen wie aus den Augenwinkeln mit, was er tut, was er sieht und worüber er nachdenkt, gerne flüchtig und in schwer durchschaubaren Halbsätzen. Gestern fiel mir zum ersten Mal auf, dass einige dieser Halbsätze wie Bildbeschreibungen aussehen – und mit denen kann ich rein aus Erfahrung mehr anfangen als mit, ich nenne sie jetzt mal so, literarischen Halbsätzen. Sobald ich anfing, seine Worte nicht mehr als Gedankenstrom und Assoziationsgeklingel anzusehen, sondern als einen Bildeindruck, verstand ich sie gefühlt eher. Ich nahm Cluster war, die ich vorher nicht gesehen hatte, Symboliken, die auf einmal Sinn ergaben.

Ich merke, dass es mir schwerfällt, meine Leseeindrücke in Worte zu fassen. Vielleicht sind meine Gedanken genau die gleichen Assoziationen, die mir gerade beschrieben werden: Bloom blubbert innerlich vor sich hin und ich lege im Geist weitere Dinge an. Das ist ein sehr neues Leseerlebnis, was mir da gerade widerfährt. Es ist deutlich zeitaufwändiger als das meiste, was ich bisher gelesen habe, weil ich mich sehr konzentrieren muss – Ulysses ist kein Buch für die U-Bahn, am gestrigen dreizehnseitigen Kapitel saß ich eine Stunde –, aber es ist sehr lohnend.

Am 19. Januar erwähnte ich nur, dass ich ein weiteres Kapitel hinter mir gelassen hatte, beschrieb das Leseerlebnis aber nicht groß – außer meine Überraschung, dass „Ulysses“ lustig sein kann. Am 21. Januar hatte ich das achte Kapitel beendet und schrieb über meine Assoziationen zu Essen, das in diesem Kapitel eine Rolle spielte. Am 30. Januar war anscheinend eine Erkältung auskuriert und ich konnte wieder lesen:

Der Husten hält sich hartnäckig, aber der Kopf ist wieder klar. Das heißt, ich konnte nach tagelanger Pause endlich im Ulysses weitermachen, für den mein Hirn die ganze letzte Woche gefühlt zu matschig gewesen war. Ich beendete das neunte Kapitel.

In den Kapiteln zuvor folgte ich Bloom und meckerte innerlich rum, dass ich viel lieber Dedalus folgen würde und zack, durfte ich das im neunten Kapitel tun. Schon nach den ersten Seiten fiel mir ein, warum ich lieber über Stephen lesen wollte: Bisher sind die Dedalus-Kapitel die fiesen, bei denen man quasi nichts versteht, aber dafür lesen sie sich für meinen Geschmack viel spannender, eben weil man quasi nichts versteht. Wobei das falsch formuliert ist: Ich lese viel neugieriger, viel aufmerksamer, weil ich stets versuche, doch irgendwas mitzukriegen. Ich kann die Worte erfassen, die mir begegnen, aber sie ergeben keinen für mich bekannten Sinneszusammenhang. Es liest sich wie der irre zweite Wein, den wir im Tantris hatten, es liest sich wie ein Twombly-Gemälde. Man wird irgendwo reingeworfen und muss sehen, wie man mit den Umständen klarkommt. Ich kann verstehen, dass das nicht jedermanns Sache ist, ich habe, wie beschrieben, auch drei Anläufe für dieses Buch gebraucht, aber jetzt sitze ich mitten drin und lasse mich durch die Wortwellen schaukeln.

Außerdem habe ich seit gestern die perfekte Reply auf alles auf Twitter: „I know. Shut up. Blast you. I have reasons.“ (Kapitel 9, Zeile 847, Gabler-Edition.)

Und eine wunderbare Beschreibung des Zustands, wenn man aus der Bibliothek kommt: „Stephen, greeting, then all amort, followed a lubber jester, a wellkempt head, newbarbered, out of the vaulted cell into a shattering daylight of no thought.“ A shattering daylight of no thought. <3 (Kapitel 9, Zeilen 1110–1113, Gabler-Edition.)

Erst am 23. Februar fand sich der nächste Eintrag:

Abends endlich mal wieder ein Kapitel im Ulysses gelesen: Wandering Rocks. Dabei bummeln wir mit diversen Protagonist*innen durch Dublin. Es war das Kapitel, das mir bisher am modernsten vorkam, es fühlte sich an wie eine filmische Montage, die mehrere Handlungsstränge aufmacht und sie am Ende stimmig wieder zusammenführt.

Und nebenbei kam der schöne Satz „Damn good gin that was“ darin vor. Soll nochmal einer sagen, dass Joyce so unverständlich ist.

Und wiederum erst gut einen Monat später der nächste Eintrag, der sich inhaltlich mit dem Buch auseinandersetzte:

Nachmittags lockte dann aber wieder der Ulysses. Im Sirenen-Kapitel saß ich sehr lange fest, weil ich immer nur zwei Seiten geschafft hatte, bevor mir abends die Augen zufielen. […]

Gestern wollte ich dieses Kapitel aber endlich abschließen. Nicht weil es so langweilig ist (haha, langweilig. Der Ulysses und langweilig. Ihr seid ja niedlich), sondern … ähm … ich weiß gar nicht, warum ich es so dringend abschließen wollte. Vielleicht einfach nur, um mich ins nächste Kapitel stürzen zu können, das wieder ganz anders klingt. Wobei mir bisher Sirens am besten gefallen hat, denn es liest sich irre musikalisch. Die nachträglich aufgeschlagene Sekundärliteratur verriet mir, dass Joyce 150 Stücke oder Lieder irgendwie anreißt, aber das war mir alles wurst. Dieses Kapitel klingt durch seine vielen Alliterationen, abgekürzte Wörter, Sätze ohne Kommata, wildes Wortgewusel teilweise so, als ob man es singen könnte, was total toll zu den Sirenen passt. (Ach was?!?)

Nebenbei lernte ich neulich auf Twitter, dass Sirenen nicht sexy sind. Das wusste Joyce mit seiner englischen Übersetzung vermutlich nicht; auch darauf weist jemand im Thread hin. Denn das Kapitel kam mir neben seiner Musikalität sehr sinnlich vor, teilweise schon fast niedlich-platt auf die Zwölf, teilweise verführerisch, tastend, langsam, mal sehen, was geht. Und außerdem fand ich in diesem Kapitel meinen Künstlernamen, falls ich jemals einen brauche. […]

Jedenfalls geht es in diesem Kapitel um zwei Bardamen, Lydia und Mina. Den beiden werden Bronze und Gold zugeordnet, warum, steht bei der Wikipedia, und zum Schluss verkürzt Joyce mal wieder wild, weil er’s halt kann, auch Namen, und dann kommen Sätze dabei heraus wie: „Blind he was she told George Lidwell second I saw. And played so exquisitely, treat to hear. Exquisite contrast, bronzelid, minagold.“

Mina Gold. Super Name. Die Idee hatte allerdings schon jemand. Und eine Mine ist es auch. Aber bis zum Googeln war ich der Meinung, ich hätte einen schönen Künstlernamen gefunden.

Am 2. April war wieder ein Kapitel erledigt:

Wieder ein Kapitel im Ulysses durchschritten. Ich verweise faul auf die Zusammenfassung in der Wikipedia, die ich aber noch ergänzen möchte. Ich empfand den Schreibstil nicht als Slang oder Alltagssprache – im Vergleich zu den anderen Kapiteln las sich dieses fast wie ein normales Buch mit Dialogen, denen man folgen konnte. Diese Gespräche einer Männergruppe im Pub werden unterbrochen von Berichten, die völlig überzogen von verschiedenen Dingen erzählen. Mit „völlig überzogen“ meine ich nicht nur den Tonfall, sondern auch die Beschreibungen. Hier zum Beispiel der Beginn der Beschreibung eines irischen Helden:

„The figure seated on a large boulder at the foot of a round tower was that of a broadshouldered deepchested stronglimbed frankeyed redhaired freely freckled shaggybearded wide-mouthed largenosed longheaded deepvoiced barekneed brawnyhanded hairylegged ruddyfaced sinewyarmed hero.“ (Gabler-Edition, S. 243, Zeile 151–156.)

Die Herren unterhalten sich über Hinrichtungen. Auch hier wird wieder ein Bericht eingeschoben. Er erwähnt unter anderem die anwesenden Zeugen, bei deren Fantasiennamen man heute wegen ihres Alltagsrassismus latent zusammenzuckt. Ich muss gestehen, ich habe bei den deutschsprachigen aber doch lachen müssen. (Den Bindestrich habe ich eingefügt, weil der Name mir sonst ernsthaft das Layout zerschossen hätte.)

„The viceregal houseparty which included many wellknown ladies was chaperoned by Their Excellencies to the most favourable positions on the grand stand while the picturesque foreign delegation known as the Friends of the Emerald Isle was accommodated on a tribune directly opposite. The delegation, present in full force, consisted of Commendatore Bacibaci Beninobenone (the semi-paralysed doyen of the party who had to be assisted to his seat by the aid of a powerful steam crane), Monsieur Pierrepaul Petitépatant, the Grandjoker Vladinmire Pokethankertscheff, the Archjoker Leopold Rudolph von Schwanzenbad-Hodenthaler, Countess Marha Virdga Kisászony Putrápesthi, Hiram Y. Bomboost, Count Athanatos Karamelopulos. Ali Baba Backsheesh Rahat Lokum Effendi, Señor Hidalgo Caballero Don Pecadillo y Palabras y Paternoster de la Malora de la Malaria, Hokopoko Harakiri, Hi Hung Chang, Olaf Kobberkeddelsen, Mynheer Trik van Trumps, Pan Poleaxe Paddyrisky, Goosepond Prhklstr Kratchinabritchisitch, Herr Hurhausdirektorprasident Hans Chuechli-Steuerli, Nationalgymnasiummuseumsanatoriumandsuspensoriumsordinary-privatdocentgeneralhistoryspecialprofessordoctor Kriegfried Ueberallgemein. All the delegates without exception expressed themselves in the strongest possible heterogeneous terms concerning the nameless barbarity which they had been called upon to witness.“ (Gabler-Edition, S. 252, Zeilen 552–571.)

Was im Wikipedia-Eintrag ein bisschen zu kurz kommt: Es geht nicht nur um Antisemitismus. Auch Schwarze, Engländer und Frauen kommen nicht besonders gut weg in diesem Kapitel. Wobei ich fast bei allen Büchern aus dieser Zeit bei den Frauenbeschreibungen die Augen rolle, aber da muss ich wohl weiterhin durch. Wie oben angesprochen, las sich dieses Kapitel im Vergleich recht einfach. Aber da will mich Joyce nur in Sicherheit wiegen, denn das übernächste wird eine schöne Herausforderung, wenn ich der Wikipedia und F. glauben darf.

Auf der Rückfahrt von Hamburg am 23. April las ich teilweise augenrollend, aber größtenteils fasziniert „Nausica“ (das Kapitel vor dem eben angesprochenen „Oxen of the Sun“):

[D]ann las ich ein weiteres Kapitel im Ulysses und musste wiederholt die Augen rollen bei den Beschreibungen der Damenwelt. Wenn es irgendeinen Grund gibt, warum ich die Bücher des literarischen Kanons (also den von weißen Kerlen aufgestellten) allmählich ignoriere, dann den, weil es so irrsinnig anstrengend ist, den male gaze, den ich schon in der Kunstgeschichte dauernd sehe, auch noch lesen zu müssen. Hier entspannt sich Bloom gerade, nachdem er sich befriedigt hat und schaut der hinkenden Frau nach, die sich von ihm dafür hat anschauen lassen:

„Mr Bloom watched her as she limped away. Poor girl! That’s why she’s left on the shelf and the others did a sprint. Thought something was wrong by the cut of her jib. Jilted beauty. A defect is ten times worse in a woman. But makes them polite. Glad I didn’t know it when she was on show. Hot little devil all The same. Wouldn’t mind. Curiosity like a nun or a negress or a girl with glasses. That squinty one is delicate. Near her monthlies, I expect, makes them feel ticklish. I have such a bad headache today. Where did I put the letter? Yes, all right. All kinds of crazy longings. Licking pennies. Girl in Tranquilla convent that nun told me liked to smell rock oil. Virgins go mad in the end I suppose. Sister? How many women in Dublin have it today? Martha, she. Something in the air. That’s the moon. But then why don’t all women menstruate at the same time with same moon, I mean? Depends on the time they were born, I suppose. Or all start scratch then get out of step. Sometimes Molly and Milly together. Anyhow I got the best of that. Damned glad I didn’t do it in the bath this morning over her silly I will punish you letter. Made up for that tramdriver this morning. That gouger M’Coy stopping me to say nothing. And his wife engagement in the country valise, voice like a pickaxe. Thankful for small mercies. Cheap too. Yours for the asking. Because they want it themselves. Their natural craving. Shoals of them every evening poured out of offices. Reserve better. Don’t want it they throw it at you. Catch em alive, O. Pity they can’t see themselves. A dream of wellfilled hose.“

(Kapitel 13, Zeilen 772–793, Gabler-Edition.)

EYEROLL!

„Oxen of the Sun“ erwähnte ich sehr kurz am 10. Mai:

Wieder ein Kapitel im Ulysses in Angriff genommen. Nicht ganz fertig geworden, mich aber wieder gefreut, Ulysses zu lesen. Ich wusste, dass sich in diesem Kapitel der Sprachstil ändert und hatte mir vorgenommen, darauf zu achten, wann und wie er das tut, also ob sich das am Inhalt direkt festmachen lässt, wann das Englische vom Altenglisch zu einem etwas moderneren wird. Trotzdem habe ich diesen einen Satz, diesen einen Zeitpunkt nie mitbekommen, weil ich so mit dem Inhalt beschäftigt war. Mir ist nur irgendwann mittendrin aufgefallen, dass es sich auf einmal anders liest. Joyce, der alte DJ! Schön übergeblendet! (Oder wie immer das bei DJs heißt, wenn ein Stück ins nächste übergeht, ohne dass man es mitbekommt.)

Und am 24. Mai war ich dann im längsten Kapitel des Buchs: „Ich bin endlich im Circe-Kapitel angekommen, dem Everest des ganzen Buchs, und ich ahne, dass ich darin ein bisschen versacken werde.“ Am 27. Mai bloggte ich darüber:

Ansonsten widmete ich mich dem riesigen Circe-Kapitel im Ulysses, das ich allerdings nicht durchbekam; irgendwie geriet mir ein Schläfchen dazwischen. Mein Plan ist es, das Buch bis zum 15. Juni durchgelesen zu haben, denn am 16. ist bekanntlich Bloomsday, und den könnte ich dann in diesem Jahr erstmals mitfeiern. Zumindest im Geist, nach Dublin fahren werde ich dazu nicht. Aber ich könnte eine schöne Zitronenseife kaufen.

Vorher muss ich aber noch ein bisschen lesen. Circe ist in Form eines Theaterstücks geschrieben. Die Regieanweisungen sind genauso surreal wie die theoretisch gesprochenen Texte, und was mir in diesem Kapitel zum ersten Mal im Buch passierte, ist, dass sich das Gefühl beim Lesen dauernd ändert. Klar gibt es auch in den anderen Kapiteln Spannungsbögen – oder eben nicht –, aber gestern stellte ich quasi alle fünf Minuten fest, dass ich mich anders fühlte als eben noch.

Es gibt Stellen, bei denen ich keine Ahnung habe, worum es gerade geht, aber auch das kenne ich schon, und ich glaube inzwischen, das muss so sein. Ich lasse mich von den Worten und Beschreibungen mittragen, ohne dass ich weiß, was sie von mir wollen; es ist ein bisschen wie Touristin in einem fremden Land zu sein, dessen Sprache man nicht spricht. Man wird zu irgendeiner Feier eingeladen, es gibt Dinge zu essen und zu trinken, die man nicht kennt, und man macht halt mit und es ist irgendwie okay. Wenige Seiten später merkte ich, dass ich traurig war und nicht einmal sagen konnte, warum eigentlich. Bloom muss sich verteidigen, er stottert Wortbrocken vor sich hin, beschreibt die Beerdigung, von der er kommt, bis sogar der Leichnam persönlich seine Aussage bestätigt. Wieder einige Seiten später scheint Bloom erst zum Bürgermeister Dublins zu werden und dann gottähnlich, es folgen Beschreibungen von üppigen Festivitäten mit riesigen Aufbauten und Menschenmengen, und ich wurde ehrfürchtig (und mochte die Beschreibungen gern).

„BLOOM My beloved subjects, a new era is about to dawn. I, Bloom, tell you verily it is even now at hand. Yea, on the word of a Bloom, ye shall ere long enter into the golden city which is to be, the new Bloomusalem in the Nova Hibernia of the future.

(Thirtytwo workmen wearing rosettes, from all the counties of Ireland, under the guidance of Derwan the builder construct the new Bloomusalem. It is a colossal edifice, with crystal roof built in the shape of a huge pork kidney, containing forty thousand rooms. In the course of its extension several buildings and monuments are demolished. Government offices are temporarily transferred to railway sheds. Numerous houses are razed to the ground. The inhabitants are lodged in barrels and boxes, all marked in red with the letters: L. B. Several paupers fall from a ladder. A part of the walls of Dublin, crowded with loyal sightseers, collapses.)

THE SIGHTSEERS (Dying) Morituri te salutant. (They die.)“

(Gabler-Edition, Kapitel 15, Zeilen 1541–1557)

Ein paar Seiten später musste ich sehr über die neuen Musen dieser neuen Zeit lachen:

„Bloom explains to those near him his schemes for social regeneration. All agree with him. The keeper of the Kildare Street Museum appears, dragging a lorry on which are the shaking statues of several naked goddesses, Venus Callipyge, Venus Pandemos Venus Metempsychosis, and plaster figures, also naked, representing the new nine muses, Commerce, Operatic Music, Amor Publicity, Manufacture, liberty of Speech, Plural Voting, Gastronomy, Private Hygiene, Seaside Concert Entertainments, Painless Obstetrics and Astronomy for the People.“ (1702–1710)

Dann wird Bloom plötzlich zu einer Frau und gebiert Kinder und ich las vermutlich mit offenem Mund und simpler Begeisterung.

„DR DIXON (Reads a bill of health) Professor Bloom is a finished example of the new womanly man. His moral nature is simple and lovable. Many have found him a dear man, a dear person. He is a rather quaint fellow on the whole, coy though not feeble-minded in the medical sense. He has written a really beautiful letter, a poem in itself, to the court missionary of the Reformed Priests’ Protection Society which clears up everything. He is practically a total abstainer and I can affirm that he sleeps on a straw litter and eats the most Spartan food, cold dried grocer’s peas. He wears a hairshirt winter and summer and scourges himself every Saturday. He was, I understand, at one time a firstclass misdemeanant in Glencree reformatory. Another report states that he was a very posthumous child. I appeal for clemency in the name of the most sacred word our vocal organs have ever been called upon to speak. He is about to have a baby.

(General commotion and compassion. Women faint. A wealthy American makes a street collection for Bloom. Gold and silver coins, bank cheques, banknotes, jewels, treasury bonds, maturing bills of exchange, I.O.U.s, wedding rings’ watch-chains, lockets, necklaces and bracelets are rapidly collected.)

BLOOM O, I so want to be a mother.

MRS THORNTON (In nursetender’s gown) Embrace me tight, dear. You’ll be soon over it. Tight, dear.

(Bloom embraces her tightly and bears eight male yellow and white children. They appear on a redcarpeted staircase adorned with expensive plants. All are handsome, with valuable metallic faces, wellmade, respectably dressed and wellconducted, speaking five modern languages fluently and interested in various arts and sciences. Each has his name printed in legible letters on his shirtfront: Nasodoro, Goldfinger, Chrysostomos, Maindorée, Silversmile, Silberselber, Vifargent, Panargros. They are immediately appointed to positions of high public trust in several different countries as managing directors of banks, traffic managers of railways, chairmen of limited liability companies, vice chairmen of hotel syndicates.)“ (1798–1832)

Dann sind wir wieder im Bordell, wo das ganze Kapitel spielt, die anwesenden Damen und ihre körperlichen Vorzüge werden beschrieben, was mich genervt hat, aber immerhin ist Stephen wieder da, dem ich so gerne folge. Und dann singt eine Motte ein Lied, das mich rührte, warum auch immer:

„I’m a tiny tiny thing
Ever flying in the spring
Round and round a ringaring.
Long ago I was a king,
Now I do this kind of thing
On the wing, on the wing!
Bing!“ (2469–2475)

„Long ago I was a king / Now I do this kind of thing“ fand ich sehr schön und gleichzeitig sehr traurig. (Ja, es ist eine Motte, schon gut. Trotzdem.)

Ich beendete das Kapitel bei circa Zeile 2700; auf mich warten noch ungefähr 2300. Die Drogen, die Joyce bei diesem Kapitel eingenommen hat, will ich auch.

Am 10. Juni war das drittletzte Kapitel erledigt:

Gestern durchschritt ich das drittletzte Kapitel vom Ulysses, das mir wie eine Pastiche (oder sogar Parodie) auf Proust, Dickens, Melville und die anderen Herren mit den langen Texten und den vielen Adjektiven vorkam. Das war mit Abstand das un-ulysseischste Kapitel im Buch, weil es sich so normal angefühlt hat. Und so sehr ich bei allen anderen Kapiteln zwar davon fasziniert war, dass ich Dinge lese und nicht weiß warum, weil ich nicht weiß, was das alles soll, aber gleichzeitig ein bisschen verlassen auf hoher See war, weil ich eben nicht wusste, wo es hingeht, so war ich hier auf einmal im sicheren Hafen total gelangweilt. Hier kenne ich ja alles! Werd bitte wieder irre, du seltsamstes Buch aller Zeiten!

Vergangenen Montag dann das vorletzte:

[D]ann nahm ich mir das vorletzte Kapitel im Ulysses vor: Ithaca.

Die Wikipedia behauptet, „Die Handlung wird – mühsam und umständlich – in Form von pseudo-wissenschaftlichen Fragen und Antworten erzählt“, was ich überhaupt nicht so empfunden habe. Frage und Antwort, ja, oder auch gerne mal eine Anweisung: „Compile the budget for 16 June 1904“, worauf eine Liste mit Dingen und Preisen folgt, aber dass das „mühsam und umständlich“ gewesen sein soll, fand ich überhaupt nicht. Ich habe das Kapitel mit großem Genuss gelesen und hätte davon auch gerne noch weitere 50 Seiten gehabt, gerade weil ich es so spannend fand, dass das relativ strenge Format – Frage und Antwort – nie langweilig wurde, ganz im Gegenteil.

Das lag natürlich auch an den Fragen. Manche erforderten eine kurze Antwort, andere brauchten eine Seite. Zum Beispiel, als Bloom sich in der Küche die Hände waschen möchte, bevor er sich und Stephen einen Kakao zubereitet. Die total logische Frage, die uns allen auf der Seele brennt, lautet:

„What in water did Bloom, waterlover, drawer of water, watercarrier returning to the range, admire?“

Und die Antwort, nach der ich das Buch mal eben umarmen und F. eine schwärmische DM schicken musste, weil ich so verliebt in den Text war:

„Its universality: its democratic equality and constancy to its nature in seeking its own level: its vastness in the ocean of Mercator’s projection: its umplumbed profundity in the Sundam trench of the Pacific exceeding 8,000 fathoms: the restlessness of its waves and surface particles visiting in turn all points of its seaboard: the independence of its units: the variability of states of sea: its hydrostatic quiescence in calm: its hydrokinetic turgidity in neap and spring tides: its subsidence after devastation: its sterility in the circumpolar icecaps, arctic and antarctic: its climatic and commercial significance: its preponderance of 3 to 1 over the dry land of the globe: its indisputable hegemony extending in square leagues over all the region below the subequatorial tropic of Capricorn: the multisecular stability of its primeval basin: its luteofulvous bed: Its capacity to dissolve and hold in solution all soluble substances including billions of tons of the most precious metals: its slow erosions of peninsulas and downwardtending promontories: its alluvial deposits: its weight and volume and density: its imperturbability in lagoons and highland tarns: its gradation of colours in the torrid and temperate and frigid zones: its vehicular ramifications in continental lakecontained streams and confluent oceanflowing rivers with their tributaries and transoceanic currents: gulfstream, north and south equatorial courses: its violence in seaquakes, waterspouts, artesian wells, eruptions, torrents, eddies, freshets, spates, groundswells, watersheds, waterpartings, geysers, cataracts, whirlpools, maelstroms, inundations, deluges, cloudbursts: its vast circumterrestrial ahorizontal curve: its secrecy in springs, and latent humidity, revealed by rhabdomantic or hygrometric instruments and exemplified by the hole in the wall at Ashtown gate, saturation of air, distillation of dew: the simplicity of its composition, two constituent parts of hydrogen with one constituent part of oxygen: its healing virtues: its buoyancy in the waters of the Dead Sea: its persevering penetrativeness in runnels, gullies, inadequate dams, leaks on shipboard: its properties for cleansing, quenching thirst and fire, nourishing vegetation: its infallibility as paradigm and paragon: its metamorphoses as vapour, mist, cloud, rain, sleet, snow, hail: its strength in rigid hydrants: its variety of forms in loughs and bays and gulfs and bights and guts and lagoons and atolls and archipelagos and sounds and fjords and minches and tidal estuaries and arms of sea: its solidity in glaciers, icebergs, icefloes: its docility in working hydraulic millwheels, turbines, dynamos, electric power stations, bleachworks, tanneries, scutchmills: its utility in canals, rivers, if navigable, floating and graving docks: its potentiality derivable from harnessed tides or watercourses falling from level to level: its submarine fauna and flora (anacoustic, photophobe) numerically, if not literally, the inhabitants of the globe: its ubiquity as constituting 90% of the human body: the noxiousness of its effluvia in lacustrine marshes, pestilential fens, faded flowerwater, stagnant pools in the waning moon.“

(Zeilen 185–228, Gabler-Edition)

HACH! He, Wallace, THIS is water.

Zwischendurch war ich wie immer im Buch verzückt von schönen Formulierungen, die bei längerem Nachdenken keinen Sinn ergeben, aber schön klingen („with winedark hair“, Zeile 785) oder die schön klingen und viel zu viel Sinn ergeben wie „the ecstasy of catastrophe“, Zeile 786, oder:

„What events might nullify these calculations? [die Altersberechnung von Stephen und Bloom]

The cessation of existence of both or either, the inauguration of a new era or calendar, the annihilation of the world and consequent extermination of the human species, inevitable but impredictable.“ (462–465)

oder

„Alone, what did Bloom feel?

The cold of interstellar space, thousands of degrees below freezing point or the absolute zero of Fahrenheit, Centigrade or Réaumur: the incipient intimations of proximate dawn.“ (1242–1244)

[…]

Jetzt muss ich aber los, Penelope wartet.

Penelope las ich vorgestern und gestern durch und damit den Rest des Buchs. 644 Seiten in gut fünf Monaten ist vermutlich nicht irre schnell, aber man kann Ulysses anscheinend auch mit größeren Pausen darin lesen. Vielleicht sind sie sogar nötig.

Goodbye, „Ulysses“. It‘s been quite a journey. ❤️

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Mir ist beim nachträglichen Sammeln der Blogeinträge einiges aufgefallen. Zum Beispiel, dass ich bereits relativ früh aufgehört habe, die Fußnoten zu lesen, die in meiner Oxford-Ausgabe drin sind und die ich anfangs parallel zur Gabler-Edition las. Ich merkte aber schnell, dass ich gar nicht jedes fremdsprachige Wort und jede Anspielung verstehen musste, um das Buch zu genießen. Genauso ging es mir mit der Sekundärliteratur. Während ich anfangs nach jedem Kapitel im Bloomsday Book nachlas, ob ich das eben Gelesene auch richtig verstanden hatte, merkte ich hier ungefähr in der Mitte des Buchs, dass es völlig egal ist, ob man irgendwas versteht.

Das war vermutlich für mich das größte Aha-Erlebnis dieses Werks: Es geht gar nicht darum, es zu verstehen. Genauso wenig wie man abstrakte Kunst verstehen muss oder zeitgenössische Musik. Man kann natürlich die viele Literatur zum Ulysses nebenbei lesen, man kann versuchen, das Gilbert-Schema wiederzufinden (ich habe das komplett ignoriert), man kann sich an jedes Wort und jede Szene klammern. Man kann sich aber auch einfach dem Roman überlassen und die völlige Distanzlosigkeit zwischen Verfasser und Leserin erleben.

Meiner Meinung nach geht es schlicht darum, die Schönheit und Vielfalt der englischen Sprache zu würdigen, zu genießen, sie zu bewundern oder sich auch von ihren Möglichkeiten einschüchtern zu lassen. Jedes Kapitel ist in einem anderen Stil verfasst, weswegen sich das Buch auch nach 500 Seiten noch so anfühlt, als hätte man gerade erst damit angefangen. Manche Kapitel gefielen mir besser, andere las ich eher pflichtschuldig durch, aber bei denen, die ich mit Begeisterung las, ging es mir wie bei Proust: Mir war bewusst, dass ich etwas Außergewöhnliches lese. Warum, ist egal. Ob ich alles kapiere, auch egal. Ich darf an etwas teilnehmen, was vielleicht nicht jeder vergönnt ist. Ich hatte die Zeit und die Muße und, ja vielleicht auch die innere Einstellung, mich in dieses Buch und seine Kapriolen fallen zu lassen.

Zu dieser Einstellung schrieb F. vor ein paar Tagen etwas sehr Gutes, das ich mal zusammenfasse:

„Seit dem Lachenmann-Konzert am Freitag habe ich über etwas nachgedacht. Der Herr neben mir zog während des Schlußapplauses mit seiner Frau empört von dannen und konstatierte, es sei eine Zumutung gewesen. Abgesehen von der Frage, warum er überhaupt da war (vermutlich Ehrenkarte). / Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß jegliche Infragestellung unserer kulturellen Gewohnheiten (sei es Musik, Theater oder bildende Kunst) zunächst eine Zumutung ist, dann aber zur Herausforderung wird, die wiederum Erkenntnis gebiert, was dann am Ende unseren Horizont erweitert. / Ich bin froh, für mich selber an dem Punkt angekommen zu sein, dass ich es gleich als Herausforderung empfinde, in meinen Seh- oder Hörgewohnheiten angegriffen zu werden. Und daß dann in gewisser Regelmäßigkeit auch Erkenntnis folgt. / Glücklich kann sich schätzen, wer in einem oder mehrerer dieser Bereiche so bewandert ist, dass er sowohl Zumutung als auch Herausforderung überspringen kann, und gleich zum Erkenntnisgewinn kommt.“

Zunächst schrieb ich nach dieser Tweetkette diese Sätze in den Blogeintrag: „So bewandert bin ich literarisch nicht, dass der Ulysses für mich eine Erkenntnis bereitgehalten hat – außer dass ich jetzt noch mehr Joyce lesen möchte, hey!“ Ein paar Stunden später fiel mir aber auf, dass ich eine irre große Erkenntnis gewinnen konnte, die mir aber nicht sofort eingefallen war, weil sie mit meinem Handwerk und meiner Einschätzung meiner eigenen Fähigkeiten zu tun hat, die ich beide gerne abtue, was sehr doof ist. Also, Erkenntnis, Achtung: was Sprache alles kann. Was sie kann, wenn man sie lässt bzw. wenn man jemanden hat, der*die weiß, wie er*sie mit ihr arbeitet. Und was man selber kann, wenn man sich lässt und nicht dauernd hinterfragt, ob das jetzt Sinn ergibt oder was nützt. (!) Erkenntnisausrufezeichen! Bloom gilt als der Allerweltsmann, und wir lesen lauter Allerweltsdinge in einer Allerweltsstadt. Genau deshalb, denke ich, kann der Ulysses auch jede Leserin zu einer anderen Erkenntnis bringen, denn jeder Alltag ist anders. Dein Leben ist anders als meins, und deswegen liest du dieses Buch auch anders.

Nochmal zurück zur Tweetkette: Ja, Ulysses war mehrere Anläufe lang eine Zumutung, der ich mich nicht aussetzen wollte. In diesem Jahr aber ist es anscheinend zu einer Herausforderung geworden, ohne dass ich es darauf angelegt hätte. Wie bei Proust denke ich, dass die Zeit – bzw. ich – einfach dafür reif war, mich von diesem Werk mitnehmen zu lassen und mich ihm völlig auszuliefern.

Ich las mal irgendwo, dass man Ulysses mindestens dreimal liest: das erste Mal, um einfach zu gucken, warum alle so eine Angst vor diesem Buch haben – ist das wirklich so schlimm und unverständlich und anstrengend? (Nein, oft, selten.) Dann das zweite Mal, wo man schon weiß, worum es geht, man kennt die Orte und Personen – jetzt kann man sich den tausend Fußnoten und Anmerkungen hingeben, um das Buch vielleicht doch zu entschlüsseln, wenn man es denn darauf anlegt. Und das dritte Mal liest man zum Spaß: Das Buch hat keine Geheimnisse mehr – aber jetzt ist man gewappnet für alle Ebenen, die man bei den ersten beiden Anläufen noch nicht mitbekommen hat und die man jetzt ganz individuell für sich aufdröselt. Dazu zitiere ich noch mal Fritz Senn:

„Natürlich verdient der Ulysses die ganze intellektuelle Belastung durchaus. Der Roman ist noch lange nicht ausgebeutet: Da ist noch viel zu entdecken. Das Buch eignet sich vorzüglich für gelehrte und geistesgeschichtliche Untersuchungen, ob deren Ergebnisse nun pedantisch, abseitig, lehrreich, abstrakt oder wegweisend sind. Was alles wir über den Ulysses schon gehört haben, trifft meistens auch zu; aber noch viel mehr stimmt das, was vielleicht noch nicht gesagt worden ist und worauf vielleicht, wer weiß, gerade wir bei der unvoreingenommenen Lektüre, wenn’s die gäbe, zuerst stoßen. Trotz der vielen Wegweiser, die hilfreich in alle Richtungen zeigen, weist die Landkarte noch ein paar weiße Flecke auf.“

(Fritz Senn: „Lese-Abenteuer ‚Ulysses‘“, in: Franz Cavigelli (Hrsg.)/Ders.: Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959–1983, Zürich 1983, S. 32–47, hier S. 32.)

Anders ausgedrückt: Ulysses ist, was du daraus machst.

Take the short cut. Read the book.