(2021, 2020, 2019, 2018, 2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2011, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004, 2003.)
1. Der hirnrissigste Plan?
„2022 kann ja nur besser werden als die letzten beiden Jahre!“
Und: den Tod verstehen zu wollen. Es heißt ja immer, dass Kinder den Tod nicht verstehen, dass man ihnen nicht erklären könne, dass jemand nicht mehr da sei. Meine Großeltern sind seit über 20 Jahren tot, das habe ich kapiert, auch als Kind wusste ich, dass der eine Opa, den ich nie kennenlernen konnte, weil er 1943 bei Leningrad gefallen war, halt nicht da ist. Aber ich verstehe immer noch nicht, dass Papa nicht mehr da ist. Dass er einfach nicht mehr vorhanden ist. Dass nur Asche von ihm übrig ist. Aber das ist nicht mehr er. Wo ist er dann? Man kann doch nicht einfach nicht mehr da sein mit allem, was einen ausgemacht hat, mit allen Erinnerungen und dem ganzen Wissen und den Eigenarten und dem Einzigartigen. Ich verstehe es genau so wenig wie ich Lichtgeschwindigkeit verstehe oder die Unendlichkeit.
2. Die gefährlichste Unternehmung?
Einen Drei-Kilo-Kürbis mit einem Messer zerteilen zu wollen, das ich noch nie in der Hand gehabt habe. Es hat sehr geblutet und die Stelle, wo mir im August das Messer in den Daumen fuhr, tut immer noch weh.
3. Die teuerste Anschaffung?
Unglaublicherweise Kleidung und eine Handtasche. Das dürfte eine Premiere sein. Falls ich demnächst wieder bei Frau Rinaldi einkehren möchte, erinnert mich bitte daran, dass ich wirklich genug wunderschöne Dinge im Schrank habe.
4. Das leckerste Essen?
In Wien: Steirereck und Mraz & Sohn. In München: Tohru, Alois, Tantris, in dieser Reihenfolge, aber nur mit minimalen Sympathien voneinander unterschieden. Runner-up, weil wunderbare Abende: Mast in Wien und Brothers in München. Danach so ziemlich alles, was ich für mich selbst gekocht und mit Genuss auf dem Sofa verzehrt habe, während Netflix lief. Essen ist super und wird immer superer, vor allem, weil wir inzwischen Champagner für uns entdeckt haben. Das wird böse enden, aber herrlich werden.
Alle größeren Restaurantbesuche waren gesponsort von F., weil ich mit der Kunstgeschichte lächerlich wenig verdiene und nicht ganz so viel Werbung mehr mache. Umso mehr freue ich mich über jede Einladung, weil jede einzigartig ist und mich/uns sehr glücklich macht.
5. Das beeindruckendste Buch?
Sachbuch: Stephan Kühl: Ganz normale Organisationen. Soziologie des Holocaust, weil es meinen Blick auf die Gesamtheit sowie die Einzelnen der Täter und Täterinnen sehr erweitern konnte.
Stephan Malinowski: Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration, weil es gefühlt alles, was es zu diesem Thema gibt, kenntnisreich und lesbar zusammenfasst.
Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, weil es meinen Blick auf diese Gruppe, zu der ja auch meine Mutter gehört, sehr verändert hat. Mit am besten lesbar von allen Sachbüchern in diesem Jahr.
Fiktion: Sayaka Murata (Ursula Gräfe, Übers.): Die Ladenhüterin, weil es so herrlich schräg und gleichzeitig ergreifend schlicht war.
Gabrielle Zevin: Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow, weil ich es in nur wenigen Stunden verschlungen habe und nicht aus der Hand legen wollte.
Regina Scheer: Machandel, weil es deutsche Geschichte über Jahrzehnte an glaubhaften (und sehr gut recherchierten) Figuren nachvollziehbar macht.
Comics las ich nur einen, deswegen ist Das Humboldt-Tier von Flix ganz oben auf der Liste. Wäre es vermutlich auch, wenn ich mehrere Comics gelesen hätte.
6. Der ergreifendste Film?
Ich war nur einmal im Kino, bei Igor Levits „No Fear“. Ergreifend waren nur ein paar Momente, aber generell fand ich den Film sehr gut.
Ansonsten gucke ich weiterhin Serien in einer Menge, dass ich schon gar nicht mehr weiß, was alles gut war. Im Kopf gelieben sind mir „Atlanta“, „The Good Fight“, wobei ich die letzte Season nicht mehr so richtig überzeugend fand, und „The Bear“.
7. Die beste Musik?
Ich höre quasi nur noch Klassik, außer im Zug, wo ich alte 1980er-Playlists auf Spotify leerhöre, um nach anstrengenden Tagen im Norden wieder runterzukommen. Diese Anstrengung hat sich seit August leider erledigt.
Die beste Musik ist die, die dafür sorgt, dass es mir besser geht. Das war in diesem Jahr Robert Schumanns Klavierkonzert in a-moll, op. 54, weil es mich sowohl in Wien unter den Händen von Martha Argerich und in München mit Igor Levit sehr glücklich gemacht hat. Und weil es in Spotify mit zu den meist angeklickten Stücken gehörte.
Meine Schwester und mein Schwager brachten mir vor Kurzem in ihrem geräumigen Auto einige meiner Umzugskisten nach München, die seit 2015 auf dem Dachboden meiner Eltern standen. (Ich schreibe weiterhin „Eltern“, weil mein Kopf verständnislos ist.) In einer der Kisten war meine uralte Anlage, also Verstärker, Tuner und Tapedeck, die ich mit dem Geld erworben hatte, das ich zur Konfirmation erhalten hatte. Schon vor meinem Umzug steckte sie in Kartons, weil ich Musik nur noch vom klirrenden Macbook hörte. Nun war sie aber in München – und meine Boxen noch im Norden. Die trug ich am zweiten Weihnachtstag in einer blauen Ikeatüte nach München und schloss alles an. Funktioniert noch wie eine Eins. Vor wenigen Tagen erwarb ich einen CD-Player und jetzt gerade erfreut mich Sol Gabetta mit, natürlich, Bohuslav Martinůs Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 (1955). Die CD hatte mir F. geschenkt, nachdem wir die Dame mit diesem Werk 2018 erlebt hatten. Ich höre die CD zum ersten Mal.
8. Das schönste Konzert?
Wir waren in vielen sehr schönen Konzerten in diesem Jahr. Am besondersten waren vermutlich die Wiener Philharmoniker im Musikverein, denn dort hörten wir Bruckners Vierte – also an dem Ort, an dem diese Sinfonie uraufführt wurde. Und meine Güte, ist die Akustik irrwitzig gut. Wir saßen seitlich auf dem Balkon in der letzten Reihe, ungefähr auf halber Höhe des Saals und konnten nur ein Drittel der Bühne sehen. Aber klanglich saßen wir mitten im Orchester. Ein kleines Wunderwerk, dieser Raum.
Runner-up war Anna Thorvaldsdottir in der Isarphilharmonie, weil ihr Werk mich völlig aus dem Hier und Jetzt wegzerren konnte.
9. Die tollste Ausstellung?
Die tollste Ausstellung habe ich leider nicht verbloggt, weil ich in diesem Jahr zeitweilig sehr blogmüde war: „Lebensnah. Realistische Malerei von 1850 bis 1950“ im Wiener Belvedere. Auf Twitter veröffentlichte ich immerhin einen Thread. Für diesen Link habe ich den Account mal entsperrt, eigentlich hängt davor inzwischen ein Schloss.
Runner-up: „Kunst und Leben 1918 bis 1955“ im Lenbachhaus, auch weil ich im Katalog mit zwei Texten vertreten bin. Das ist nicht mein erster Ausstellungskatalog, aber der erste als erwachsene Kunsthistorikerin und ausgewiesene Expertin für dieses Thema. Über Protzen weiß auf der ganzen Welt niemand mehr als ich. (Na supi.)
10. Die meiste Zeit verbracht mit …?
Gefühlt mit meiner Familie im Norden, vor Ort, per WhatsApp, am Telefon, im Heim, auf dem Friedhof. Das war nicht so, aber es hat geistig und irgendwie auch körperlich den meisten Raum eingenommen.
11. Die schönste Zeit verbracht mit …?
… mir selbst. Und natürlich F. Ich wurde auf einer Hochzeit im Juli gefragt, wie lange wir eigentlich schon zusammen sind und musste nachrechnen. Das verflixte siebte Jahr haben wir trotz Pandemie und anderer Herausforderungen ganz gut hingekriegt, wie ich feststellen durfte.
12. Vorherrschendes Gefühl 2022?
Reicht jetzt. (Kam aber immer noch was nach.)
(In diesem Foto versteckt sich ein lange verschobenes Nachholkonzert.)
13. 2022 zum ersten Mal getan?
Ein Elternteil beerdigt. Einen Doktortitel getragen. Seeigel gegessen. Als veröffentlichte Wissenschaftlerin auf einer Konferenz gesprochen. Einen Videokurs belegt. Wikipedia-Einträge angelegt. Meinen Twitter-Account stillgelegt. Geld, das ich eigentlich gerade gar nicht übrig habe, für Kleidung ausgegeben, was überraschend gut getan hat. Ich gebe sonst nie Geld aus, das ich nicht habe; was ich mir nicht leisten kann, gibt’s halt nicht. Aber in diesem Jahr war vieles etwas anders als sonst.
14. 2022 nach langer Zeit wieder getan?
Um einen Verstorbenen im engen Umfeld getrauert. Ein Buch veröffentlicht. Die Wiener Philharmoniker live gehört (März 2020 zum letzten Mal). Im Kino gewesen (vermutlich 2019 das letzte Mal). Den Spaß an Mode, Schmuck und Make-up wiederentdeckt. Blogmüde gewesen.
15. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Eine globale Pandemie. Krieg in Europa. Papas Tod. (Hey, wisst ihr noch, als hier Dinge standen wie „Zensursula“ oder „Rückenschmerzen“? Das waren gute Zeiten.)
16. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Dass Papa gehen kann, weil er alles erledigt hat, was zu erledigen war, er alles gut bestellt zurückgelassen hat und es uns allen gut geht, auch dank seiner Lebensleistung.
17. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Wie schon 2019, 2020 und 2021: Zeit zu haben, in den Norden zu fahren und meiner Mutter wenigstens ein bisschen Arbeit abnehmen und meine Schwester/meinen Schwager entlasten zu können. Papas Pflege ist nun leider nicht mehr nötig, aber auch die Beerdigung und alles darum herum waren anstrengend für Mama. Und wenn es ihr und dem Schwesterherz hilft, dass ich 50 Trauerkarten beschrifte, Kürbissuppe koche und Busfahrpläne ergoogele, dann freue ich mich darüber, 50 Trauerkarten zu beschriften, mir den halben Daumen beim Kürbiszerkleinern abzusäbeln und die Google-Ergebnisse an die Schwester weiterzureichen, weil mein Macbook immer noch nicht mit dem Uraltdrucker bei meiner Mutter klarkommt.
18. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Jeder Restaurantbesuch mit und von F. Und die gute Beratung bei einer gewissen italienischen Modemarke.
19. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
„Ich liebe dich.“
20. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
„Ich hab dich lieb, Papa.“
21. 2022 war mit einem Wort …?
Kräftezehrend.