Freitag bis Sonntag, 9. bis 11. April 2021 – Kopf aus, Füße hoch

Ich habe mir drei Ruhetage gegönnt, keinen Sport gemacht, nichts Schlaues gelesen, ab und zu auf Twitter nachgeguckt, wie’s der Welt geht – aha, wie vor zehn Minuten auch, okay –, mich geärgert, so oft auf Twitter zu sein anstatt was Schlaues zu lesen. Momentan sorgen meine übergroße Enttäuschung und mein Ärger über eine nicht im Sinne der Wissenschaft und damit unser aller Gesundheit handelnde Politik und die achttausend Hot Takes zu diesem Thema in den sozialen Medien dafür, dass ich dauergenervt bin. Einem von beiden kann ich blöderweise nicht ausweichen, vor allem, wenn ich demnächst gerne mal wieder einen Zug in den Norden nehmen würde, möglichst angstfrei.

Weiterhin brav in der SafeVac-App eingetragen, dass es mir sehr gut geht. Die Frage lautet immer: „Haben Sie Beschwerden“, und bis auf den Zeitpunkt sechs Stunden nach der Impfung, wo die Einstichstelle etwas schmerzte, konnte ich immer „Nein“ anklicken. Die App fragt dann rottenmeiermäßig: „Sind Sie sicher?“ und ich will sie immer anschreien, ja, du Nervensäge, MIT GEHT’S GRAD SUPER VERDAMMTE AXT.

Ich hatte vor der Impfung schon Zeug ergoogelt, um mich über die Wirksamkeit von Comirnaty nach der ersten Dosis zu informieren, eben damit ich etwas beruhigter in Züge steigen kann, bevor ich die zweite Dosis bekomme. Das erledigte ich jetzt nochmal, weil ich bis zur Impfung Angst hatte, dass mir im Impfzentrum doch noch jemand sagt, nee, du bist doch noch nicht dran. Daher hatte ich meinen Termin auch vorher nicht vertwittert oder wild rumerzählt (nur meinen Peeps). Ich reiche mal weiter, was ich gefunden habe:

– Dezember 2020, NYT: „Pfizer’s Vaccine Offers Strong Protection After First Dose“. Dort steht, dass man ungefähr zehn Tage nach der ersten Spritze einen gewissen Schutz habe, egal wie alt man ist und wieviel man wiegt. Der Schutz wird hier mit 52% angegeben.

– 18.3.2021, NYT: Answers to All Your Questions About Getting Vaccinated for Covid-19. Sehr auf die USA bezogen, aber auch hier wieder ein paar Zahlen für mich, die ich auch anderswo fand: Voller Schutz (ca. 95%) zwei Wochen nach der zweiten Dosis, davor die eben schon erwähnten 52%. Hier steht auch was zu den anderen Impfstoffen.

– 23.2.2021: COVID-19: Analysing first vaccine effectiveness in the UK. Hier geht es auch um die Gefahr von Erkrankung bzw. Krankenhausaufenthalt: „When combining the lower risk of hospitalisation and deaths with our estimate for vaccine effectiveness against symptomatic disease, this suggest that a single dose of Pfizer-BioNTech vaccine is over 75% effective at preventing hospitalisation and death from COVID-19. […] These data show clear protection from the first dose, particularly against severe disease, supporting the decision to maximise the number of people vaccinated with a single dose.“ Am Anfang wurde Comirnaty im Abstand von drei Wochen gespritzt, inzwischen scheint das auf die längstmögliche Tageszahl von 42, also sechs Wochen, ausgedeht worden zu sein, um mehr Menschen erstzuimpfen und damit mehr Menschen wenigstens etwas zu schützen anstatt gar nicht. Klingt logisch für mich. Steht auch so auf der RKI-Website, Stand 1.4.2021.

1.4.2021, Pressemitteilung Biontech, in der erneut die Wirksamkeit bescheinigt wird. Hier steht allerdings nichts zur Effektivität nach nur einer Dosis.

Ich stolpere seit Wochen über den Impfstoffnamen Comirnaty. CORminaty wäre eindeutig einfacher auszusprechen, aber: ComiRNAty weist halbwegs elegant auf die Bausteine des Impfstoffs hin. Die Texterin freut sich, die Konsumentin stolpert weiterhin.

Seit auf Twitter netterweise immer mehr Menschen von ihren Impfungen berichten und auch gerne, welchen Impfstoff sie bekommen haben, frage ich mich, ob hier der gute, alte Geha-Pelikan-Krieg der Schulzeit wieder aufleben könnte. Tragen wir irgendwann Buttons oder kleben Sticker auf unsere Laptops, um uns einer Gruppe zugehörig zu fühlen? The AZ Team, Comirnaty Ultras, Depeche Moderna? Und irgendwann Sigue Sigue Sputnik?

Die Modernas sind natürlich die Lamys. Wie hießen Schulfüller in der DDR? (Edit: Die hießen Heiko.)

Ansonsten: angespargelt, Espresso-Hollandaise gemacht, aber ernsthaft 20 Sekunden vor dem Servieren noch verkackt wegen Stocken über zu warmem Wasserbad, sehr geärgert. Nicht so richtig Lust auf den Champagner der Date Night gehabt; auf Insta wies mich jemand darauf hin, dass man vielleicht nach der Impfung keinen Alkohol trinken sollte. Davon hat mir im Impfzentrum niemand was gesagt, und ich googele das jetzt auch nicht. Macht ihr das mal.

Erneut Himbeer-Marmorkuchen gebacken und innerhalb von drei Tagen verspeist. Ich hoffe, dieser Backwahn hört allmählich auf, denn am Freitag bekam ich das Verlagsangebot zur Veröffentlichung meiner Diss und kann mich jetzt um Bildrechte, Druckkostenzuschussstipendien und weiteren Firlefanz kümmern. Endlich wieder was zu tun.

Donnerstag, 8. April 2021 – Im Impfzentrum gewesen. Nicht geweint!

Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dass ich weinen würde, denn sobald die E-Mail des Impfzentrums am vergangenen Donnerstag auf meinem Handy aufpoppte mit dem Hinweis, dass ich jetzt online einen Termin buchen könne, heulte ich schon los. Aber dann: Tränchen getrocknet, an den Rechner gesprintet, auf der Seite für die bayerischen Impfungen eingeloggt, alles bestätigt, was die Website bestätigt haben wollte, egal, komm, gib Termin, dann die riesige Schaltfläche „Nächstmöglicher Termin“ angeklickt, kurz gewartet, außer mir waren vermutlich noch tausende andere Menschen der Prio 2 an den Rechner gesprintet, aber da! Ein Termin! Mittwoch, 7. April. HABEN WOLLEN! KLICK! MEINS! Ich bekam eine Mail und eine SMS mit den zwei Terminen für Erst- und Zweitimpfung, und schon heulte ich wieder, weil sich dieser Termin wie das Licht am Ende des langen Tunnels anfühlte.

Aus Gründen, über die ich hier verschämt schweigen möchte, lehnte ich diesen Termin dann allen Ernstes am Ostersonntag ab, besann mich aber kurze Zeit später wieder und klickte erneut auf der Website herum. Dieses Mal dauerte es 90 Minuten und ungefähr 800 Refreshs der Seite, um einen neuen Termin zu bekommen, und der war dann gestern. Ich hätte diese Aktion vermutlich verschwiegen, denn sie ist mir und meinem hysterischen Hühnerhirn sehr peinlich, aber vielleicht hilft es dem einen oder der anderen da draußen zu wissen, dass man bei einem abgelehnten Termin nicht wieder nach ganz hinten in die Schlange rutscht. Man muss halt nur sehr … sehr … sehr oft die Seite neu laden.

Gestern machte ich mich um kurz nach 13 Uhr auf den Weg, um mit der U-Bahn zum Messegelände München zu fahren, wo mein für mich zuständiges Impfzentrum eingerichtet wurde. F.s Vater wurde netterweise am Dienstag geimpft, sein Mütterchen ist heute dran, und Vaddern berichtete Dienstag schon per Mail vom leider etwas vollen Shuttlebus, der einen von der U-Bahn-Station zur betreffenden Messehalle bringt. Seitdem schob ich Panik vor diesem Bus und vor der Halle sowieso.

Ich hatte in den vergangenen Tagen mal nachgezählt, mit wievielen Menschen ich in den letzten dreizehn Monaten Kontakt hatte, der über eine zufällige gemeinsame Busfahrt oder einen Supermarktbesuch hinausging, der also mindestens eine halbe Stunde dauerte; Bibliotheksbenutzer:innen nicht mitgerechnet. Es sind zwölf, inklusive Doktorvater. Und das Tantris im November, das ich im Nachhinein immer weniger nachvollziehen kann. Großes Glück gehabt. Je länger die Pandemie dauerte, je öfter ich vom vorhandenen Impfstoff las und hörte, der aber nie für mich da zu sein schien, desto panischer wurde ich, was Menschen angeht. In den letzten Wochen hätte ich ins Museum oder ins ZI gehen können, was ich aber nicht tat, weil ich es nicht noch auf den letzten Metern versauen wollte. Und nun warteten eine 20-minütige U-Bahn-Fahrt auf mich sowie der Shuttlebus. Ich war so angespannt, dass ich in der – netterweise nur mäßig besetzten – U-Bahn bei knapp über 0 Grad das Fensterlein kippte und nicht mal lesen konnte, so nervös starrte ich in der Gegend rum und atmete so flach wie möglich in meine Maske. Der Bus war dann gut gefüllt, Abstand war nicht möglich, aber ich würde ihn als halb besetzt bezeichnen. Und netterweise wussten alle, wohin wir wollten, hielten daher die acht Minuten Fahrtzeit die Klappe und bemühten sich, sich nicht unbedingt anzuatmen.

Schon in der U-Bahn-Haltestelle war der Weg zum Impfzentrum großflächig und alle fünf Meter erneut ausgeschildert, der Bus hielt direkt vor dem Eingang. Dort gab es vier Drehtüren, vor denen Freiwillige den Ankommenden zuriefen: „Erstimpfung hier lang, Zweitimpfung da vorne“, sehr praktisch. Direkt hinter den Drehtüren stand was zum Desinfizieren, darüber hing ein riesiges Schild, dass man den Perso bereithalten sollte, aber man hatte genug Zeit, ihn aus dem Portemonnaie zu zuppeln, denn erstmal wurde kontaktlos die Temperatur gemessen. Erst bei der zweiten Station möchte jemand den Ausweis sehen: Hat Frau Gröner denn wirklich einen Termin? Ja, sieht so aus, bitte geradeaus und dann nach links. Eigentlich rennt man die ganze Zeit an Absperrbändern und Freiwilligen entlang und achtet auf die Abstandsmarkierungen am Boden und das klappte alles hervorragend.

Im Vorfeld hatte ich gedacht, dass die Anmeldung der Flaschenhals sein würde, an dem sich alles staute, aber als ich in die große Halle trat, in der geschätzt 40, vermutlich noch mehr Anmeldeplätze in kleinen Häuschen warteten, zu denen man von erneut Absperrbändern und Freiwilligen gelotst wird, ahnte ich, dass dem nicht so sein würde. In amerikanischen Pathosfilmen wäre das die Aufnahme, wo die Kamera vom POV der Hauptperson aufzieht und den Blick auf eine immer größer und höher werdende Halle freigibt, dazu kraftspendende Musik mit vielen Bläsern in Dur. Ich gebe zu, ich war beeindruckt und hatte das Jurassic-Park-Theme im Kopf.

Man muss in Bayern und vermutlich auch in den anderen Bundesländern mehrere Dinge vorlegen: offensichtlich den Perso, sonst kommt man gar nicht rein. Die Krankenkassenkarte wollte niemand sehen. Was der freundliche Herr im Häuschen von mir haben wollte, was ich natürlich, NATÜRLICH, alles in einer Sichthülle, immer und immer wieder TEAM SICHTHÜLLE, dabei hatte, waren der Aufklärungsbogen, den man unterschreiben musste, sowie den Anamnesebogen mit der Einwilligungserklärung. Der Häuschenmann zeigte sich hocherfreut darüber, dass ich beides von der Website des RKI geladen hatte und nicht von der des bayerischen Gesundheitsministeriums, „denn beim RKI sind die Daten immer schön aktuell“. Das gebe ich euch hiermit weiter. Ich hatte außerdem noch eine Bescheinigung vom Arzt über meine Vorerkrankungen dabei, da wurde ein flüchtiger Blick drauf geworfen, „oh, ganz neu!“, dann bekam ich die beiden Bögen neu ausgedruckt nochmal (keine Ahnung warum), musste beide unterschreiben, aber nicht mehr ausfüllen, und der Herr malte einen Smiley auf die erste Seite: „Damit wissen meine Kollegen, dass Sie alle Dokumente dabei haben. Bitte zwischen den Häuschen durchgehen und nach rechts, da laufen Sie schon den nächsten Mitarbeitern in die Arme, die Ihnen sagen, wo’s weitergeht.“ Und so war es dann auch.

Hinter den Häuschen standen bergeweise Stehtische, an denen die Nichtmitglieder des TEAM SICHTHÜLLE ihre Bögen ausfüllten. Außerdem stehen gefühlt alle zehn Meter Desinfektionsspender, von denen ich einige benutzte, zum Beispiel jetzt, nachdem ich den Stift des freundlichen Häuschenmenschens in der Hand gehabt hatte. Es ging durch eine weitere Tür in eine weitere Halle, und hier trafen sich die beiden Schlangen aus der ersten Halle wieder: Die Menschen, die schon zum zweiten Mal hier waren, musste nicht noch einmal durch die Häuschenhalle, aber in der Impfhalle waren wir wieder alle vereint. Hier trennten sich die Schlangen in die Astra-Zeneca- und die Biontech-Schlange, bei den Zweitimpfungen las ich noch Moderna. Die AZ-Schlange war eindeutig kürzer, aber, sorry, Impfstoff, du bist bestimmt super, ich war unlogisch und egoistisch doch ganz froh, bei Biontech zu stehen. Was man voraussichtlich bekommt, steht auf dem Impfbogen mit den Terminen des Impfzentrums, den man auch mitbringen muss und den ich weiter in der Hand hielt.

Die Impfhalle war eindeutig voller als die Häuschenhalle, es hielten aber alle Abstand, und hier war der einzige Zeitpunkt, an dem ich wirklich mal ein paar Minuten warten musste. Die Impflinge wurden gefühlt schwallweise in die vielen Kabinen in mehreren Gängen gebeten, auch hier wieder Absperrbänder und Freiwillige, ich fühlte mich sehr umpuschelt. Als ich fast dran war, rief ein Mitarbeiter der Dame am Einlass zu den Impfkabinen zu: „Fünf!“ Und die Dame winkte dann die fünf nächsten durch, es war ein bisschen wie früher bei McDonald’s, wo man hinten am Grill dem Mensch vorne am Pass zuruft: „Auf zwölf?“ Was bedeutet: Auf wieviele von den zwölf Hamburgern auf dem Tablett vor mir hättest du gerne Käse für einen Cheeseburger, und vielleicht ruft der Pass dann „Auf fünf!“ und so marschierten wir fünf Impflinge mit Käse dem freundlichen Freiwilligen hinterher, der uns Vorhänge zu Kabinen aufzog, und dann saß ich in einer. In den letzten Monaten hatte mein störrischer Glaube an die deutsche Effizienz sehr gelitten; das Impfzentrum gab ihn mir höflich, freundlich und gut organisiert wieder.

Jacke aus, umgucken. Ich wartete immer noch auf die große Rührung, aber eigentlich war ich viel zu gespannt. Die fiese Nervosität aus der U-Bahn war weg, dafür war ich auch zu viel in Bewegung gewesen und hatte viele Schilder gelesen und mich großäugig umgeschaut und das ganze Impfballett sehr fasziniert beobachtet. Eine Ärztin setzte sich zu mir, nahm mir die Dokumente ab, wollte wissen, ob ich Fragen hätte, hatte ich nicht, dann fragte sie nach meinem Impfpass und klebte das Comirnaty-Schildchen ein. Sie sah meine Stempel der Grippeimpfungen und meinte, wenn ich die gut vertragen hätte, sollte die Covid-Impfung auch kein Problem sein. Bisher scheint das zu stimmen, die Einstichstelle ziepte gestern etwas, am frühen Abend wurde ich schlagartig müde und hatte gerade in den Schultern ein paar Schmerzen. Die erinnerten mich aber eher an das Gefühl, nachdem ich zu heftig an meinen Therabändern gezerrt habe, und nicht an eine Grippe. Ich ahne, dass einfach sehr viel Anspannung von mir abgefallen ist, und heute, nach acht Stunden tiefem Schlaf, fühle ich mich pudelwohl.

Den Impfbogen mit den beiden Terminen aus der Häuschenhalle ließ ich hier und bekam dafür einen neuen ausgedruckt, auf dem nur noch der zweite stand („Dokumentation Erstimpfung“). Den soll ich dann in sechs Wochen wieder mitbringen. Ich dachte kurz daran, dass neben den ganzen Aerosolen auch die Dämpfe von 1000 Laserdruckern hier rumwabern, aber das war mir dann doch eher egal und wir trugen ja alle Masken. Auf dem Bogen steht auch die Chargennummer meines Impfstoffs, die aufgezogene Spritze lag schon bereit, als ich die Kabine betreten hatte. Nun krempelte ich einen Ärmel hoch, als Rechtshänderin hätte ich die Nadel gerne in den linken Arm, auf dem seit über 25 Jahren eine blaue Sonne tätowiert vor sich hinleuchtet. Ärztin: „Ich stech nicht in die Sonne“, den Satz werde ich jetzt ewig mit mir rumtragen. Es piekste kurz und ich grinste sehr breit unter meiner Maske. Nicht geweint, ganz im Gegenteil. Ich durfte aus der Kabine gehen, „Alles Gute!“, dann bekam ich bei der nächsten Freiwilligen den Stempel in den Impfpass und erreichte damit die letzte Halle, in der man noch 15 Minuten rumsitzen sollte, falls es einem doch nicht gut ging. Ich war kurz erstaunt darüber, dass ich den Stempel nicht gleich in der Kabine bekommen hatte, aber so war die natürlich schon wieder frei für den nächsten Impfling.

In der letzten Halle standen dutzende von Stühlen in schönem Abstand, ich suchte mir einen freien, zückte das Handy, schickte erstmal F. ein Foto des Impfpasses und twitterte dann. Oder wollte es zumindest, aber mitten im Satz sprach mich der letzte Freiwillige des Tages an: Ob es mir gut gehen würde? Ich sei doch sehr rot im Gesicht. Ich lauschte erstaunt in mich hinein, meinte, dass es mir gut ginge, der Herr brachte mich aber trotzdem lieber zur Ecke mit dem Notarztzelt, wo ich erneut gefragt wurde, wie’s mir ginge und ich erneut sagte, mir geht’s prima. „Ich war fürchterlich nervös, ich habe heute mehr Kontakte in 30 Minuten als in den letzten 13 Monaten, ich trage eine nagelneue Maske mit sehr engen Bändern, ich wiege viel und es ist hier recht warm – ich ahne, dass ich eher deswegen rot im Gesicht bin. Ich fühle mich wirklich wohl.“ Alle waren zufrieden, ich sollte mich aber trotzdem bitte nochmal 15 Minuten ausruhen, klar, mache ich, schnell getwittert und dann das Handy weggesteckt und brav meditativ rumgesessen und sehr auf meinen Körper gehört. Der hatte aber nur Hunger und Durst und es war ihm wirklich zu warm.

Durch den Ausgang aus dieser Halle kam man direkt ins Freie, dort setzte ich die Maske ab und nahm einen großen Schluck aus der mitgebrachten Wasserflasche. Maske wieder auf, ab zum Bus, den Fußweg zur U-Bahn, den ich mir eigentlich vorgenommen hatte, ließ ich doch lieber bleiben, vielleicht war ich doch angeschlagenener als ich dachte. Also Bus, dann Bahn, dann die 300 Meter Fußweg nach Hause, alles gut.

Den Champagner zur Feier der Impfung gibt es erst heute abend während der Date Night; ich gönnte mir gestern kochfaul eine kleine Bringdienstpizza und verdöste quasi den Rest des Tages, weil auf einmal sehr viel Spannung von mir abgefallen war. Eins erledigte ich aber noch neben diesem Blogeintrag: die ersten Notizen in der SafeVac-App. Dort wird man direkt nach der Impfung, eine Stunde danach und dann nochmal nach sechs Stunden gefragt, wie’s einem denn so geht, und es folgen noch ein paar weitere Termine bis zur Zweitimpfung. Die ersten beiden konnte ich gestern nachtragen, das hatte ich nicht auf dem Schirm, dass man da sofort etwas anklicken muss.

Im Impfzentrum darf man übrigens nicht fotografieren, deswegen ist dieser Eintrag hier Bleiwüste, aber das ist echt egal, denn: erstgeimpft. Ich bin endlich erstgeimpft. Mir fielen schon in der U-Bahn ungefähr acht Gebirge vom Herzen, und jetzt als Mitglied der Comirnaty Ultras fühlt sich die Pandemie ein ganz winziges bisschen bezwingbarer an als noch gestern morgen. Wir enden erneut auf dem Jurassic-Park-Thema.

Mittwoch, 7. April 2021 – Nachdenken über die Pandemie

Im Atlantic schreibt Melissa Fay Greene über unsere Erinnerungen an die Pandemie und dass sie vielleicht etwas widerspiegeln, was gar nicht so war: You Won’t Remember the Pandemic the Way You Think You Will.

Ich fand den Artikel sehr spannend; er nutzt Covid als Ausgangspunkt und erklärt, wie unsere Erinnerungen sich entwickeln, verändern und festigen – bis sie gar nicht mehr unsere eigentlichen Erinnerungen sind und stattdessen gute Storys, die man am Lagerfeuer erzählen kann.

„The pandemic has not been a single, traumatic “flashbulb” event like the assassination of John F. Kennedy, the fiery disintegration of the space shuttle Challenger, or 9/11. Instead, it’s a life period in which everybody’s memories will be embedded, more like the Great Depression or World War II, or My High-School Years or When I Was Married to Barbara. Starting in March 2020, hundreds of millions of Americans began forming their own impressions of it. As psychologists and anthropologists who study memory will tell you, we tend to lay out our anecdotes almost like short stories or screenplays to give our lives meaning; our plots (do they have silver linings? hopeful endings?) can reveal something about how we handle setbacks.“

Greene zählt einige Momente auf, die als eine Art „flashbulb“ fungieren: als ihr Flug gestrichen wurde, als ein Basketballspiel nicht mehr stattfand, als Büros von jetzt auf gleich verlassen wurden. Mein Moment waren mehrere: als die letzten zwei der vier geplanten Konzerte der Wiener Philharmoniker ausfielen, die alle neun Beethoven-Sinfonien spielen wollten; F. hatte Karten für alle Abende, ich nur für den ersten, aber das war die erste Absage, die ich richtig mitbekam. Dann natürlich die plötzliche Schließung der Archive und Bibliotheken, in denen ich für die Diss arbeiten wollte. Und als Erinnerung, die mir sehr deutlich klar machte, wie ernst alles ist: dass beim ersten Lockdown ein Lautsprecherwagen durch München fuhr, der alle Einwohner:innen darauf aufmerksam machte, gefälligst zuhause zu bleiben, was auch alle taten. Dass es auf einmal keine Hefe mehr gab oder man auf Klopapier hoffte, ist in meinem Kopf schon eine lustige Anekdote geworden und fühlt sich nicht mehr so dramatisch an wie es sich im März 2020 angefühlt hatte, als ich erstmals über Warenströme und globalen Handel nachdachte.

Diese Momente scheinen wir alle gemeinsam zu haben:

„While reporting this story, I asked people via social media to tell me what had made the deepest impression on them so far about the pandemic and what they thought they’d remember. Memory experts then helped me assess the submissions—and what they indicate about how our minds work. Many replies to my prompts and to my follow-up questions began with the moment a person learned the college dorm was closing, the performances were suspended, the restaurant was shutting down. The psychology professor Henry L. Roediger III and the anthropology professor James Wertsch, scholars of collective memory at Washington University in St. Louis, introduced me to the “primacy effect,” one of the ways a memory gets “pinned” (as we say of tweets), to be easily retrievable. […] “I don’t think people will ever forget March of 2020 and how the world changed in the matter of a week or so,” Dan P. McAdams, a psychology professor at Northwestern University and an expert in narrative memory, told me. “I remember that week. I can tell you the days of the week.”“

Der Artikel beschreibt, dass die Zeit während der Pandemie – die immer noch nicht vorbei ist – sich anders in unserem Gedächtnis manifestieren wird als ihr Beginn, vermutlich ausgefranster, weniger spezifisch, eher als einzelne Momentaufnahmen. Ich musste daran denken, wie ich im ersten Lockdown an einem Sonntag durch München radelte – es war so gut wie kein Auto auf den Straßen, was nicht am Sonntag lag, die Strecke ist sonst belebt. Ich kann mich an die irritierende Ruhe erinnern, die über der Stadt lag, weil alle Bewegungen ausfielen und so gut wie niemand draußen war. Die Sonne schien, es war ein herrlicher Tag – aber es fühlte sich an, als ob ich eine der letzten zehn Menschen in der Stadt, im Land, auf der Welt war.

Ich hatte immerhin die Diss, an der ich mich festhalten konnte, ich musste kein Sprachprogramm beginnen oder ein Instrument lernen. Okay, der erste Sauerteig wurde, glaube ich, im April 2020 angesetzt. Ich kann mich noch an die Tage und Wochen erinnern, an denen ich mich durch meinen eigenen Text kämpfte, aber nicht mehr an genaue Änderungen und Formulierungen, Zeitpläne oder Korrekturgänge.

„“Most of our memories are in the form of generalities,” says Robyn Fivush, a psychology professor at Emory University. Because most of life is routine and recurring, she told me, you remember what life was like. “I might tell you about my memories of childhood: ‘One of the most important things to me was having Shabbat dinner every Friday night with my family.’ You might ask: ‘Tell me about one of those family dinners.’ I’d say: ‘Oh gosh, I don’t think I can.’ […]

Fivush is intrigued by which moments get tucked away in the slick curlicues of a person’s brain, and why those moments—rather than the tens of millions of others from a lifetime—are saved. We use our memory in part to create a continuous sense of self, she told me, “a ‘narrative identity’ through all of life’s ups and downs: I am a person whose life has meaning and purpose. I’m more than the subject of brute forces. There’s a Story of Me.” What we tend to remember most specifically are high moments and low moments, which become “episodes” in our memory, invested with meaning.“

Der Artikel nutzt ein Ehepaar als roten Faden und Sprungbrett für größere Einordnungen, das lasse ich hier weg; es lohnt sich aber sehr, den ganzen Artikel zu lesen.

„“Even as we experience an event,” Robyn Fivush has written, “we are already beginning to think about how to tell this event to another person at a later time.” In a 2008 paper for the academic journal Memory, she and a co-author elaborated on the ideas of the 20th-century French sociologist Maurice Halbwachs, who developed the concept of collective memory: “Even when experiencing events for the first time, the traveller has in mind the reactions of others, which colour both his perception of the event and his recollection of it.”“

According to Halbwachs, we begin composing our memories in anticipation of sharing them. I’ve caught myself doing this (and the more confusing or stressful the event, the more likely I am to start framing it before it’s over, picturing the friends and family I will entertain with my tale of woe and mishap). But I had no idea that everyone does it, nor did I know that retailing our memories into shareable stories is intrinsic to the art of remembering. “When something is going terribly wrong,” Fivush confirmed, “you’re already thinking, When this is all over, if it ends well, it’s going to be a great story. […]

Oder anders: Während ich einem Ereignis beiwohne, überlege ich schon, wie der Blogeintrag klingt. Ähem.

The work of Elizabeth Loftus, a cognitive psychologist at UC Irvine, and others has shown that, if we discuss a memory with listeners who remember it differently, we may unconsciously borrow a bit of their local color or scrap of dialogue for our own version. “Every time you bring a memory to mind, it’s activated, then reconsolidated,” Fivush told me. And we’re open to accepting other people’s interpretation of our own memories. “We need to make sense of things,” she continued. “During COVID, you call your friend to say, ‘I’m so lonely,’ and she says, ‘I know, but Zooming with your family helps, doesn’t it? I feel like I’m talking to my grown kids more than ever,’ and you immediately start to think about your situation differently. You’ll remember it differently.”

We don’t shelve a pristine first edition of an experience in a dust-free inner sanctum; we sloppily pass the memory around, inviting comment. The consolidated edition, with other people’s fingerprints all over it, is what we put on the shelf of long-term memory, unaware that we’ve done so.“

Den Aspekt fand ich spannend, auch weil ich an sehr gute Serien wie The Affair denken musste, wo dieselbe Story aus zwei Perspektiven erzählt wird. Gleichzeitig erinnerte ich mich an Momente, die ich notgedrungen alleine verbrachte, obwohl sie normalerweise eher in Gemeinschaft begangen werden. Meine Verteidigung zum Beispiel. Ich war nie als Zuhörerin bei einer, ich habe auch noch nie jemandem vor der Seminarraumtür zu einer erfolgreichen Verteidigung gratuliert, einen Doktorhut gebastelt oder dazu gemeinsam mit Sekt angestoßen. Aber ich weiß, dass das eigentlich der normale Ablauf ist, und als ich nach meiner Zoom-Verteidigung im November 2020 alleine vor meinem stummen Rechner war, habe ich angefangen zu weinen. Ich weiß im Nachhinein nicht mehr, ob es schlicht Erleichterung war, dass es vorbei ist, Angst vor dem, was jetzt noch kommt – was mach ich denn jetzt? jetzt hab ich nichts mehr zu tun, was mich ablenkt – oder schlicht Trauer darüber, einen so wichtigen biografischen Moment alleine erleben zu müssen, der nicht dazu gedacht ist, alleine erlebt zu werden. Vielleicht werde ich in den kommenden Jahren die Erinnerungen ändern, wenn mir andere von ihren Verteidigungen erzählen – also wenn wir irgendwann wieder in Cafés oder Biergärten sitzen, wo andere einem etwas erzählen können. Vielleicht werde ich aus der Trauer etwas anderes machen, vielleicht wird meine Verteidigung etwas positiv Besonderes. Ich kann es mir allerdings momentan nicht recht vorstellen.

Vielleicht erinnere ich mich aber auch jetzt schon falsch, wobei ich immerhin meinen Blogeintrag als Gedächtnisstütze habe.

„The founder of the field of cognitive psychology, Ulric Neisser, who died in 2012, was Fivush’s mentor and colleague at Emory. On January 29, 1986, he distributed a brief questionnaire to his Psych 101 undergrads, asking for details about how they’d learned—the previous day—about the cataclysmic failure of the Challenger. He collected answers from 106 students. In the fall of 1988, he tracked down 44 of the students and asked them to answer the same questions again. The results were striking: 25 percent of the subjects were wrong about everything, scoring zero. Half of the subjects scored two or less on a seven-point scale. Meanwhile, most of the students felt confident about their replies. “Our data leave no doubt that vivid and confident flashbulb recollections can be mistaken,” Neisser concluded. “When this happens, the original memories seem to have disappeared entirely; none of our retrieval cues enabled the subjects to recover them.”

In the process of remembering their Challenger stories, the Emory undergrads may have unwittingly borrowed parts of their friends’ narratives. One student wrote, in 1986, “I was in my religion class and some people walked in and started talking about [it].” Two and a half years later, the same student wrote: “When I first heard about the explosion I was sitting in my freshman dorm room with my roommate and we were watching TV.” […]

This plague year has left us feeling isolated. Each of us seems to dwell alone within a damp grotto of private thoughts. But we’re already engaged in the crowdsourcing project of organizing collective memories. […] In daily chitchat and in give-and-take on social media, we share with others how it started for us and how it’s going. We instinctively compare and match what we’ve got to what they’ve got, like the Emory undergrads settling on a blended version of How I Learned About the Challenger Disaster. Within each community, for years to come, stories will be passed around, tweaked, and polished until a small number of gems come to represent This is what it was like to live through the coronavirus pandemic. Narrative-memory experts call this “the social construction of autobiographical memory.”“

Der Artikel beschreibt im Folgenden die verschiedenen Story-Typen, die immer und immer wieder erzählt und variiert werden, und die sich auf sechs Typen eingrenzen lassen. Indem wir unsere eigenen Erinnerungen in die große Gemeinschaftserzählung einfügen, ändern wir möglicherweise Details an unseren eigenen Erzählungen und passen sie unbewusst an. Auch um unserer eigenen Geschichte einen Sinn zu geben, einen Zweck. War diese Pandemie zu etwas gut? Ja: [hier deine Erkenntnisse einsetzen]

„“I’m not convinced we store our memories as narratives,” Fivush told me. “The neurobiology and neurochemistry of memory suggest that our memories are stored in dynamic, fluid pieces. When we are in the process of reassembling a memory, we have these story shapes also stored and available to us.

“The particular form we give a memory depends on the context,” she said. “For example: When you’re telling a sad story, most Americans will demand a redemptive end. They’ll say, ‘But you learned something about yourself, didn’t you?’ […] Many folks, mid-pandemic, described still-unfolding situations. Fivush cautions that the final shape of a story we tell now might not be known yet. She categorizes narratives of events in progress simply as “unfinished.”“

So fühle ich mich derzeit: unfinished. Ich habe nun zwei Berufe, kann aber keinen gerade vernünftig ausüben. Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, vielleicht nimmt sie gerade zu einer dritten Welle Anlauf. Es sind noch längst nicht genügend Menschen geimpft, und irgendwann bröckelt auch jede gute Laune mal. So ging es mir in den vergangenen Wochen: Nachdem das Diss-Dokument an den Verlag gegangen war (noch keine Reaktion), schaltete mein Gehirn gefühlt in den Leerlauf. Ich lese zwar momentan recht viel und auch gerne, ich backe aber auch viel zu viel, meine Gefrierfäche sind übervoll, ich esse zu viel und zu süß, ich kenne gerade kein Maß bei vielem, weil mir das Maß von außen, der Tagesablauf, der Job, das Ziel, verloren gegangen ist. (Frau Donnerhallen geht es ähnlich.)

Ich ahne, dass das tägliche Bloggen ein gutes Ersatz-Maß war, eine Aufgabe, die erledigt werden musste, und sei es, ein Kuchenrezept zu verbloggen. Ich möchte im Moment meine alten Einträge nicht erneut lesen, aber ich bin gespannt darauf, sie in fünf Jahre noch einmal komplett durchzuwühlen, um wenigstens meine Perspektive nachlesen zu können, wie es sich angefühlt hat, in einer Pandemie zu leben. Vermutlich werde ich einiges lesen, was nicht mehr zu dem passt, was sich inzwischen in meinem Gedächtnis manifestiert hat. Auch darauf bin ich gespannt.

Mandelkuchen mit Blaubeeren und Zitrone

Ein Rezept aus Ottolenghis Simple bzw. der NYTimes. Keine weitere Vorrede nötig.

Eine Kastenform von ca. 20 cm Länge fetten und mit Backpapier auslegen. Der Kuchen wird ein ziemlicher Brocken, das Papier hilft sehr, ihn heile aus der Form zu bekommen.

150 g weiche Butter mit
190 Zucker,
dem Mark von 1 Vanilleschote,
der abgeriebenen Schale von 1 Bio-Zitrone
sowie 1 EL Zitronensaft mehrere Minuten lang aufschlagen, bis die Masse hell und schaumig ist bzw. der Zucker sich aufgelöst hat. Im Buch wird nur nach 2 TL abgeriebener Schale verlangt, aber come on.

3 Eier, Größe M, nach und nach unterrühren.

90 g Mehl, Type 405, mit
110 g gemahlenen Mandeln und
1 guten Prise Salz mischen. Diese Masse in mehreren Gängen einarbeiten. Bei mir waren es je 100 Gramm Mehl und Mandeln, weil meine Mandeltüte nur 100 g fasste, auch hier wollen wir nicht päpstlicher werden als das Rezept es haben möchte.

Zum Schluss
150 g Blaubeeren vorsichtig unterheben und die Masse in die Form füllen. Im auf 180° Umluft vorgeheizten Ofen für 15 Minuten backen, dann weitere
50 g Blaubeeren auf der Oberfläche verteilen. Weitere 15 Minuten backen, dann notfalls mit Alufolie locker abdecken, damit der Kuchen nicht zu dunkel wird. Die gesamte Backzeit beträgt 55 bis 60 Minuten; vor dem Herausnehmen per Stäbchenprobe checken, ob der Kuchen durch ist.

Zehn Minuten in der Form auskühlen lassen, dann mit Hilfe des Backpapiers aus der Form heben und auf einem Gitter vollständig erkalten lassen. Den ausgekühlten Kuchen mit einem Guss bestreichen, der aus
70 g Puderzucker und
1 EL Zitronensaft besteht.

Ich habe frische Blaubeeren benutzt, das schien mir sicherer als TK-Ware. Ein Versuch mit TK-Himbeeren war nur so mittelprächtig okay, der Kuchen wird sehr feucht und war innen immer noch nicht durch, während er außen schon trocken wurde.

Röschenbrioche „Brioche bouclettes“

Ja, schon wieder ein Rezept von La Pâticesse, da müssen wir jetzt durch. Das ist genauso großartig wie die beiden Kastenkuchenrezepte. Ich habe zu dieser Köstlichkeit noch salzige Karamellcreme gemacht, ratet, von welcher Website, und die ist auch toll, aber leider bei mir äußerst unfotogen. Daher wird das nicht verbloggt, aber dafür sowas von das Rezept für die Röschenbrioche. Ausnahmsweise sogar mit Phasenfotos, denn die brauchte ich wirklich. Merke: Als Kunsthistorikerin komme ich mit visuellen Hilfen anscheinend besser klar als mit geschriebenen. Die Texterin in mir weint bittere Zähren.

Ihr braucht eine 24-Zentimeter-Springform (meine misst 26, ging auch) und etwas Zeit. Ansonsten ist das ein stinknormaler Hefeteig, aber viel hübscher.

350 g Mehl, Type 405, mit
10 g frischer Hefe, zerbröselt,
6 g Salz,
200 g Ei (das waren bei mir 4 Eier, Größe M),
1 Eigelb zu 20 g und
35 g Zucker auf niedriger Geschwindigkeit in ungefähr zehn Minuten geduldig zu einem Teig verkneten. Ich habe immer noch keine Küchenmaschine, der Mixer tut’s auch, auch wenn die Schultern danach weh tun. La Pâticesse fügt auch noch das Mark einer halben Vanilleschote hinzu, das habe ich weggelassen.

Wenn sich alles verbunden hat, nach und nach stückeweise
225 g zimmerwarme Butter einrühren. Das dauert nochmal so lange wie das erste Kneten; immer nur so viel Butter hinzugeben, wie der Teig aufnehmen kann.

Den sehr weichen Teig auf einer gut bemehlten Arbeitsfläche mit ebenfalls gut bemehlten Händen, auch zwischen den Fingern, zu einer Art Kugel formen und in einer leicht bemehlten Schüssel abgedeckt eine Stunde bei Zimmertemperatur gehen lassen. Zum Kugelformen bei weichen Teigen hatte die Verfasserin einen sehr guten Tipp, den ich nicht besser formulieren könnte, daher zitiere ich: „Die Finger geschlossen halten. Eure Hände sind kleine Schaufeln und keine Gabeln.“ Ein wunderbares Bild, das ich vermutlich nicht wieder vergesse.

Nach einer Stunde ist der Teig nicht wirklich viel aufgegangen, macht nichts. Er muss nun abgeschlagen werden: dazu den Brocken aus der Schüssel holen (Teigkarte hilft), und zwei-, dreimal kräftig auf die bemehlte Arbeitsfläche oder in die Schüssel werfen. Wieder zu einer Kugel formen, in die Schüssel damit, Schüssel abdecken und alles für eine Nacht im Kühlschrank parken. Mein Teig war vermutlich mindestens 14 Stunden drin, scheint ihm nicht geschadet zu haben.

Und so wundervoll sah er gestern morgen aus. Ich trug die Schüssel ernsthaft zu F. ans Bett, weil ich so schockverliebt in den Teig war. F. war eher indifferent, WAS STIMMT MIT DEM MANN NICHT?!?

Die Springform fetten und/oder mit Backpapier auslegen, bei mir hat fetten gereicht.

Den deutlich fester gewordenen Teig nun in drei Teilen nacheinander aus dem Kühlschrank holen. Er ist noch fieser als Mürbeteig, der bei Zimmertemperatur zu kleben beginnt, kein Wunder bei der Buttermenge. Daher: wirklich nur kleinere Mengen verarbeiten. (Ich ahne, dass dieser Teig nicht für Sommermonate in einer haushaltsüblichen Küche geeignet ist.)

Die Phasenfotos drüben sind eindeutig hübscher, klickt lieber dahin. Für alle Hiergebliebenen nun die Anleitung für die Röschen. Den Teig 1 bis 2 Millimeter dünn ausrollen (Arbeitsfläche bemehlen!), dann 7 bis 8 cm große Kreise ausstechen (Glas statt Ausstecher geht auch). Drei dieser Kreise leicht versetzt aufeinander legen und einrollen. Diese Rolle halbieren, die Hälften hochkant stellen – et voilà, Röschen.


Mit den Röschen von innen nach außen die Form befüllen. Ein bisschen Abstand schadet nicht, aber im Prinzip ist es egal. Meine Kreise und dementsprechend Rollen und Röschen sahen nach dem Bild nie wieder so gut aus, es war eher ein Massaker, aber: Das sieht man bei der fertigen Brioche netterweise nicht mehr. Die letzten Teigreste ließen sich partout nicht mehr rollen oder formen, die landeten einfach als kleine Klopse am Rand.

Die gefüllte Springform noch einmal abgedeckt 45 bis 60 Minuten bei Zimmertemperatur ruhen lassen. Mein Teig ging nicht mehr wirklich auf, aber dafür im Ofen.

Nach der Ruhezeit
1 Eigelb mit
1 TL Wasser verquirlen und die Röschen damit bestreichen. Das ganze im auf 180° Umluft vorgeheizten Ofen auf der mittleren Schiene für 30 bis 35 Minuten backen, notfalls nach der Hälfte der Backzeit mit Alufolie locker abdecken, damit die Brioche nicht zu dunkel wird. Habe ich erst nach zwei Dritteln der Backzeit gemacht.

Nach der Backzeit kurz auskühlen lassen, mit
1 EL Puderzucker bestreuen und dann lustig auseinanderpflücken.

Ich war von der Struktur des ganzen sehr fasziniert und wurde nicht müde, sie zu bewundern.

Ich würde beim nächsten Mal die Zuckermenge etwas erhöhen, ich hätte es gerne etwas süßer. Gestern half ich dem durch großzügigen Einsatz von Marmelade oder Karamellcreme ab, was ich sehr empfehlen kann.

Bonuspic als quasi-Tagebucheintrag: Hier steht die Brioche noch auf dem Holzbrett zum Auskühlen auf dem Boden der Springform. Im Vordergrund zwei Krustis und zwei Semmeln vom Brantner, falls wir verhungern sollten, daneben der Blaubeer-Zitronen-Kuchen von Ottolenghi, man weiß ja nie, und zum Dessert in Opas Kristallschale ein Berg von Ostereiern.

Und noch ein Bonuspic, für das ich eben erst per DM das Okay bekommen habe, daher als Edit. Ich knipste nach dem Tischabräumen mit dem iPhone wild rum und F. nur so seufzend: „Ich hol die Kamera.“ Bis auf die Phasenfotos, das drittletzte und das folgende sind die Bilder von ihm.

Es heißt übrigens Rös-chen und nicht Röschn.

Zitronenkuchen (nicht vegan)

Die Überschrift steht da, weil ich schon einen veganen in meiner Rezeptliste habe. Dieser hier stammt von meinem neuen Lieblingsblog zum Nachbacken, der Pâticesse. Sie hat noch mindestens einen weiteren Zitronenkuchen im Angebot, aber ich habe erstmal den etwas weniger herausfordernden gemacht. Der schmeckt genauso toll wie der Himbeer-Marmorkuchen von ihrer Site, und gerade jetzt geht eine Brioche vor sich hin, die hoffentlich auch toll werden wird. Klickt euch da drüben mal durch, wenn ihr es aushaltet.

Eine Kastenform (ca. 20 x 11 cm) fetten und mit Backpapier auslegen.

Einen Zitronensirup herstellen:
80 g Wasser mit
30 g frisch gepresstem Zitronensaft und
40 g Zucker aufkochen, kurz köcheln, dann komplett abkühlen lassen. Wer mag, gibt noch 2 Tropfen Bergamotte-Öl hinzu, ich habe das weggelassen.

90 g Butter schmelzen und leicht abkühlen lassen.

4 Bio-Zitronen abreiben, die Schale bereithalten.

In einer Schüssel
200 g Ei (ca. 4 Eier, Größe M) mit
270 g Zucker ein paar Minuten lang aufschlagen, bis ihr eine schöne, helle, wattige Masse habt und der Zucker sich aufgelöst hat.
115 g Crème fraîche,
215 g Mehl, Type 405,
5 g Backpulver,
1 g Salz sowie die abgeriebene Zitronenschale kurz unterrühren, bis sich alles verbunden hat. Danach die flüssige, aber nicht mehr heiße Butter ebenfalls kurz unterrühren.

Alles in die Kastenform füllen und im auf 180° Umluft vorgeheizten Ofen für 15 Minuten backen. Dann mit einem Messer, das in flüssige Butter getaucht wurde (ich reibe das Messer mit fester Butter ein, scheint auch zu funktionieren), einmal längs durch den Kuchen schneiden. Nicht so tief, wie ich das gemacht habe, ähem, sondern nur die Oberfläche; dadurch reißt der Kuchen nicht auf und bekommt einen hübscheren Buckel. Den Kuchen für mindestens weitere 35 Minuten backen, bei mir brauchte er etwas länger.

Nach der erfolgreichen Stäbchenprobe den Kuchen ein paar Minuten in der Form abkühlen lassen. Den noch warmen Kuchen mit dem abkühlten Sirup tränken und auskühlen lassen. Der Sirup ist nicht zwingend nötig, aber ich fand das ganz hervorragend. Hier war der zu tiefe Schnitt auch super, da passte nämlich mehr Sirup rein. Alles richtig gemacht.

Für den Guss
115 g Puderzucker mit
30 g frisch gepresstem Zitronensaft mischen und ihn mit einem Pinsel auf dem ausgekühlten Kuchen verteilen. Wer mag, streut noch ein paar Zesten oben drauf, das habe ich natürlich vergessen.

Donnerstag, 1. April 2021 – Bücherstapel

Ich verbloggte jahrelang am Ende des jeweiligen Monats meine Lektüre und stapelte dazu stets die Bücher für ein mehr oder weniger schickes Foto. Das ganze war am Jahresende auch immer ein einzelner Blogeintrag, hier der von 2012. In diesem Jahr begann ich mein Studium und meine Lektüre verlagerte sich sehr auf kunsthistorische Bücher in Massen. Der Stapel von 2013 ist schon ein bisschen gemogelt, weil in ihm auch diverse Fachbücher stecken, die ich niemals ganz durchgelesen hatte, sondern nur die Kapitel, die ich jetzt gerade brauchte (meine ich mich zu erinnern). Daher schlief diese Idee 2014 auch sanft ein, vor allem, weil ich schlicht weniger Romane las.

Seit die Diss durch ist und nur noch, nur, haha, auf ihre Veröffentlichung wartet, habe ich wieder etwas mehr Zeit für andere Lektüre. Die Frequenz von vor dem Studium ist noch nicht wieder da, aber das hier wäre die Ausbeute des ersten Quartals 2021. Fast alles Empfehlungen, vor allem Ruth Klüger sowie „Tauben im Gras“, das jetzt schon Anwärter auf das Buch des Jahres ist.

Christian Kracht – 1979
Christian Kracht – Faserland
Hedwig Richter – Demokratie. Eine deutsche Affäre
Rachel Cusk – Outline (eher doof, ich quälte mich bis zum Schluss)
Stephan Thoma – Gegenspiel
Alena Schröder – Junge Frau, am Fenster stehend, blaues Kleid etc.
Ruth Klüger – weiter leben
Hans Rosenthal – Zwei Leben in Deutschland
Gabriele Tergit – Effingers
Ruth Klüger – unterwegs verloren
Christian Kracht – Eurotrash
Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst
Wolfgang Koeppen – Tauben im Gras
Anke Stelling – Schäfchen im Trockenen

Mittwoch, 31. März 2021 – Medienkonsum

Viel gelesen, wenig geschrieben. Zwischendurch in die Stabi geradelt, um Bücher abzugeben, die noch lange nicht hätten zurückgegeben werden müssen, aber ich hatte Hummeln im Hintern. Die blieben auch nach der sehr kurzen Fahrt, woraufhin ich nicht mein gewohntes Sportprogramm anklickte, sondern mal ein anderes.

Mein Programm Daily Burn veröffentlicht jeden Tag eine Übungseinheit aus unterschiedlichen Bereichen und in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, daher klicke ich meist nie drauf, sondern speichere mir höchstens Einheiten, die so aussehen, als könnte ich sie bewältigen. Ansonsten turne ich weiter mein Anfängerprogramm rauf und runter und bin damit sehr zufrieden. Gestern war aber eine eher gemächliche Übung dran, während ich lieber schwitzen und außer Atem kommen wollte, weswegen ich eine der sogenannten 365-Übungen anwählte, in der Kickboxing Cardio dran war, was ich sehr mag. (Ich denke über einen Boxsack nach.)

Die täglichen Einheiten werden immer ein paar Minuten anmoderiert, warum auch immer, vielleicht damit man Zeit hat, seine Yogamatte irgendwo auszubreiten oder sich nochmal die Schuhe festzuziehen. Der Herr plauderte launig drauf los: „It’s spring …“ und alle meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich wartete auf die Erwähnung von Winterspeck und Bikinifigur, aber: davon kam nichts. Stattdessen ging es ungefähr so weiter: „We all want to feel strong, we want to feel powerful, we want to feel good.“ Kein Wort zu einem erstrebenswerten Gewicht oder Aussehen, einfach nur: gut fühlen, stark fühlen. Genau mein Ding. Das sind gut angelegte 20 Dollar im Monat.

Aus der FAZ erfuhr ich von einer Sendung, die gestern spät auf BR zu sehen war, aber netterweise schon vorher in der Mediathek stand. Der Enkel von Leo Wagner versucht in seinem Dokumentarfilm „Die Geheimnisse des schönen Leo“, seinem Großvater sowohl privat als auch in seiner Eigenschaft als Bundestagsabgeordneter auf die Spur zu kommen. Am Anfang irritierte mich diese Vermischung etwas, aber im Laufe des Films wird sehr klar, wie sich hier Politisches und Persönliches bedingen. Gerne gesehen.

Ebenfalls gerne gesehen: die Folge von „Chez Krömer“, in der Kurt Krömer sich mit dem Kabarettisten Torsten Sträter unterhält. Nach zehn Minuten Geplänkel spricht Krömer unvermittelt seine Depressionen an, von denen auch Sträter betroffen ist. Die beiden erklären gut, wie sich Depressionen anfühlen und vermitteln ohne Pathos, eher im Gegenteil, was es heißt, mit dieser Krankheit zu leben und wie geholfen werden kann. Große Empfehlung.

Beste Erklärung für die Nervensägen, die einem sagen, aber du hast doch alles, was stellst du dich denn so an, Krömer sinngemäß: „Wenn mir jemand sagt, hey, du hast sechs Millionen im Lotto gewonnen, würde ich sagen, ach, das muss ich abholen, das ist mir zu schwer, ich hab keine passende Tasche und ich müsste auch noch Steuern zahlen, nee, lass mal.“

Tagebuch Dienstag, 30. März 2021 – Bagel, Brötchen, Biontech

Für mich gab’s leider nur zwei der in der Überschrift angegebenen Herrlichkeiten, aber immerhin.

Morgens Bagels gebrüht und gebacken. Gefallen mir gut, der Anteil an Vollkornmehl sorgt für mehr Biss als meine bisherigen Versuche. Mir fehlt immer noch die perfekte charakteristische Zähigkeit und die perfekte Knackigkeit der Kruste, aber das Rezept vom Vollmilchmädchen ist nahe dran.

Direkt danach wanderten die Fettsemmeln nach Lutz Geißler in den Ofen, ja, die Dinger heißen wirklich so, was sie mir sofort sympathisch gemacht hat. Hier passierte mir ein kleines Missgeschick beim Umsiedeln der Teigklopse auf das brüllend heiße Backblech, so dass die Form von einigen etwas litt und ich bei anderen schlicht nicht wusste, ob sie jetzt wirklich mit der richtigen Seite nach oben auf dem Blech liegen, aber egal. Die Semmel, die ich gestern probierte, war sehr gut, schöne Zähigkeit, gute Krume, ich hatte sie nur, wie fast immer und fast alles, einen Hauch zu früh aus dem Ofen genommen, weil ich Angst hatte, sie zu lange drin zu lassen; sie waren schon zwei Minuten über der Backzeit von 20, daher kamen sie raus, ehe sie zu Stein wurden. Aber ich ahne, dass sie noch ein, zwei Minütchen gekonnt hätten für ein hübscheres Äußeres.

Gestern war Marmeladentag, ich hatte überhaupt keine Lust auf salzigen Brotaufstrich, weswegen es beide Probestücke mit Frischkäse und Kirschmarmelade zum Mittag gab. Abends Müsli mit Apfel und Weintrauben, danach (und einen Hauch über den Tag verteilt) Schoko-Ostereier. Ein Teufelszeug. Gut, dass Ostern bald rum ist und ich nicht mehr gezwungen, GEZWUNGEN bin, sie zu kaufen.

Zwei Bücher aus der Buchhandlung abgeholt und darüber gefreut. Auf dem Rückweg die FAZ erstanden, da scheint sich was einzuschleifen.

Gleich mit zwei Menschen gestern länger telefoniert, huch.

Und nachmittags kam dann die WhatsApp vom Schwesterchen, auf die ich seit Wochen warte: Das Mütterchen wurde im Impfzentrum Hannover mit dem guten Stoff von Biontech erstgeimpft. Damit ist sie die erste Person aus meinem direkten Umfeld, die geimpft wurde. Als Prio 1.

Über die Nachricht der Aussetzung von AstraZeneca an jüngere Frauen (zu denen ich mit über 50, aber noch nicht 55 lustigerweise auch zähle, vielleicht wollt ihr das mal an alle Arbeitgeber dieser Republik weitergeben, liebe Medien, ICH BIN JUNG) habe ich mich nicht mehr aufregen können, mein Empörungskontingent ist gerade ausgereizt. Vielleicht im April wieder.

Vier Folgen „Masterchef UK“ am Stück geguckt und hirntot nach einer Runde Schreibtischarbeit den Tag beendet.

Tagebuch Montag, 29. März 2021 – Teigliebe

Das Vollmilchmädchen postete ein Bagel-Sauerteigrezept, das ich allerdings nicht ganz verstand – was bedeutet Teigausbeute? Ich war zu faul zum ewigen Googeln, es reichte nur zum mittelprächtigen, weswegen ich einfach ein älteres Rezept ansetzte. Mal sehen, was dabei herauskommt.

Gleichzeitig mischte ich mal wieder einen Teig nach Lutz Geißlers Sauerteigbuch an. Der erfreute mich dann auch den ganzen Tag: Er musste zwar nur zweimal gedehnt werden, aber bei beiden Malen dachte ich spontan, dass das mit Abstand das tollste Teiggefühl war, das ich je in den Händen hatte. Ich hoffe, das bleibt auch beim Backen und beim Verzehr so.

Darüber gefreut, bergeweise Mehl und frische Sauerteige im Haus zu haben. Das übliche Ablenken durch Backen.

Einen Brief zum Kasten gebracht, auf dem Rückweg die FAZ erstanden, in der ein sehr ernüchternder Artikel über den Profifußball und die Champions League stand (nicht online). Die geht eh ein bisschen mehr an mir vorbei als früher, als ich noch Bayern-Spiele verfolgte, Augsburg (haha) hat mit diesem Wettbewerb so null zu tun. Aber auch bei den Vereinsspielen bin ich derzeit kaum noch mit Interesse dabei, ich glaube, die letzten beiden Spieltage habe ich nur noch in der Kicker-App nachgelesen, aber nicht mehr angeschaut. Überall hadern alle mit ihrem täglichen Leben, während die Bundesliga bräsig vor sich hinspielt bzw. sogar Länderspiele stattfinden, wofür alle durch die Gegend reisen müssen, was sich mir derzeit so gar nicht erschließen mag. Ich habe gerade keine Lust mehr auf den Quatsch – und stelle teils beruhigt, teils traurig fest, dass mir Fußball nicht so recht fehlt. Jetzt bitte noch die EM absagen, ja? Braucht gerade niemand.

Zum winzigen Mittagessen kochte ich Milchreis in der vom letzten Curry übriggebliebenen Kokosmilch. Das machte allerdings nicht lange satt, weil ich nicht mehr viel Milch hatte, weswegen ich abends noch ein Eierbrot mit Bacon nachlegte, frei nach diesem Rezept. Ein Stückchen Käse in ein Omelette einzuschließen, hielt ich für eine hervorragende Idee. War es auch. Dazu ein Berg Paprikastreifen und eine Handvoll Schoko-Ostereier. Immer auf die ausgewogene Ernährung achten.

Am Sonntag schickte ich eine Mail mit der Bitte nach NoCovid-Plänen an meine Bundestagsabgeordneten – und einer bzw. dessen Büro antwortete überraschend schnell, genauer gesagt, Bernhard Loos (CSU). Allerdings nicht wirklich befriedigend – sinngemäß: ein deutscher Lockdown bringt nichts, wenn Europa nicht mitspielt. Hm. Vielleicht probieren wir das erstmal und gucken dann? Machen wir ja gefühlt seit zwölf Monaten eh. Warum nicht mal was anderes antesten als das, was bisher offensichtlich nicht ganz so gut funktioniert hat?

Ich fand es trotzdem nett, eine Antwort zu bekommen. Auch spannend aus Textersicht, wie so eine Antwort aufgebaut ist, die mir im Prinzip sagt: Danke für Ihre Post, finde ich alles supi, aber nee.

Als lehrreiche Abendunterhaltung, wenn man das so nennen möchte, sah ich auf Arte eine Doku über die Kunstsammlung von Hermann Göring. Die Sammlung war mir natürlich ein Begriff, auch die Art, wie er an viele Kunstgegenstände kam, Rose Valland, Bruno Lohse, Walter Andreas Hofer, kenn ich alles, klar. Trotzdem konnte auch ich noch ein paar Dinge lernen. Und nebenbei durfte, natürlich, der Herr Doktorvater ein paar Sätze sagen, in seinem Büro im ZI aka dem ehemaligen NS-Verwaltungsgebäude. Im Bild dazu ein paar Bücher aus der Bib des ZI, natürlich an der Signatur erkannt. Ich empfehle die Sendung hiermit weiter.

Tagebuch Sonntag, 28. März 2021 – An Frau Dr. Merkel schreiben

Ausgeschlafen, kein Weckerklingeln, logisch, Sonntag, aber auch sonst einfach ausgeschlafen. Ich mag die Zeitumstellung, es ist auf einmal viel früher hell (stimmt natürlich nicht, danke, Thomas, es muss heißen:) es bleibt länger dunkel und ich werde nicht so fies von der blöden Sonne geweckt, Zauberei, aber dafür abends, toll, und im Herbst ist eh alles egal, da ist es dauernd dunkel, von mir aus kann die Zeitumstellung sehr gerne bleiben.

Himbeer-Marmorkuchen zum sehr späten Frühstück. Dieses Mal wieder auf Omis Tellern, nicht mehr von einem der Teller der Sammeltassen.

Die Rechtsanwälting Nina Diercks twitterte am Samstag, dass es vermutlich sinnvoller sei, an die eigenen Bundes- und Landtagsabgeordneten zu schreiben anstatt weiter in die Twitterblase zu meckern. Das habe ich dann auch gemacht.

Auf der Seite des Bundestags kann man durch Postleitzahlsuche seine Abgeordneten finden. Ich stellte, ähem, etwas überrascht, ähem, so sehr interessiere ich mich also für meinen Wahlkreis, ähem, fest, dass für meinen Wahlkreis nur Männer zuständig waren, weswegen meine Briefvorlage, die ich auch vertwitterte, nur „Sehr geehrter Herr …“ in der Anrede hat. Falls sich jemand inspirieren lassen möchte, leicht zum gestrigen Text korrigiert:

Bemühung um eine NoCovid-Strategie

Sehr geehrter Herr …

hiermit möchte ich Sie bitten, sich im Bundestag und in den betreffenden Ausschüssen für die Strategie NoCovid einzusetzen.

Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass halbherzige Quasi-Lockdowns nicht die erwünschten Ergebnisse erzielen. Wir brauchen dramatisch verringerte Inzidenzzahlen, um das Gesundheitssystem zu entlasten sowie Infektionsherde wieder nachverfolgen und beherrschen zu können. Wissenschaftler und Virologinnen fordern dringend einen konsequenten und zeitlich überschaubaren Lockdown, in den auch Schulen, Kitas und vor allem Arbeitsplätze einbezogen werden.

Aktuelle Umfragen, zum Beispiel des ZDF-Politbarometers, zeigen eine deutliche Bereitschaft der Bevölkerung zu einem derartigen Lockdown. Er würde das Hin und Her von Schließen, Öffnen, Beschränkungen und Lockerungen beenden. Er würde voraussichtlich die Inzidenzzahlen soweit senken, dass eine vorsichtige Rückkehr in das Leben, das wir im Sommer 2020 führen konnten, möglich wäre: weiterhin mit Abstand- und Maskenregelungen, aber nun flankiert durch die Impfkampagne. Das gäbe uns eine echte Perspektive für Herbst und Winter, wenn möglicherweise die Herdenimmunität erreicht sein könnte.

Ich weiß, dass Sie das Beste für Ihre Wähler und Wählerinnen im Blick haben, genau wie für Ihre Familie und Freunde. Bitte setzen Sie sich für eine konsequente Strategie in Bund und Ländern ein und unterstützen Sie die Forderungen der Wissenschaft und des Großteils der Bevölkerung.

Ich bedanke mich für Ihre Zeit und hoffe, dass Sie und Ihre Lieben gut durch die Pandemie kommen.

Mit freundlichen Grüßen

Till Raether stellte eine wütendere Textvorlage auf Twitter, falls das eher Ihr Ding ist. Und Frau Novemberregen bietet Schreibberatung per DM.

Nach meinen Abgeordneten schrieb ich noch an den sehr geehrten Herrn Ministerpräsidenten sowie an die sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wobei ich bei beiden erstmal die Anrede googelte, sicher ist sicher. Bei meinen Abgeordneten guckte ich übrigens streberhaft nach Doktortiteln, ich ahne, dass das Pluspunkte bringt, wenn der genannt wird. Keine Doctores in meinem Wahlkreis, auch gut. (Nein, ich unterschreibe nicht mit Dr. des.) Mag sein, dass die Mails nichts bringen, aber sie fühlten sich deutlich sinnvoller an als den nächsten „Was sich alles ändern muss“-Thread auf Twitter zu retweeten.

Außerdem diese Petition unterzeichnet.

Den Rest des Tages mit drei Avengers-Filmen verbracht. Disney+ listet die Filme praktischerweise in der Reihenfolge ihres Entstehens auf (Marvel Cinematic Universe in Phasen #allebekloppt), so dass ich die vier Filme aus der ersten Phase, die ich kannte, überspringen konnte. The Avengers mochte ich sehr gern, eher lustig als dramatischer Action-Kracher, lohnt sich alleine für die Szene, in der Hulk Loki verkloppt. Iron Man 3 gefiel auch, generell mag ich die Iron-Man-Serie gern. Thor – The Dark World ging mir dann eher auf den Zeiger mit dem Mythenkrempel, weil ich das alles ständig mit Wagner abgleiche, ohne es zu wollen. Gut, Loki geht ja immer, aber ich gebe zu, ich habe mir den Inhalt in der Wikipedia durchgelesen und den Mittelteil übersprungen. Hier fielen mir die wenigen Frauenrollen deutlicher auf als in den Filmen zuvor, und man muss ja schon dankbar sein, dass Scarlett Johansson mitprügeln darf anstatt wie Nathalie Portmann nur gerettet wird, wobei ich bei den Avengers sehr das Gefühl hatte, dass der Po von Frau Johansson etwas deutlicher in Szene gesetzt wurde als irgendein Körperteil bei den Herren (der Hulk immer ausgenommen, der ist ja irgendwann nur noch Körper). Immerhin ist Kat Dennings wieder als bebrillte Wissenschaftlerin dabei, die ich auch bei WandaVision ins Herz geschlossen hatte.

Zum Abendessen gab’s die lustigen slurry potatoes mit Zhug.

Kartoffeln in Stücken fast fertig kochen, währenddessen Olivenöl mit Kräutern und Knoblauchkrümeln aromatisieren. Die Krümel abschöpfen und entfetten, das Kochwasser der Kartoffeln abgießen, das Öl in den Topf geben, Deckel drauf und dann alles ordentlich durchschütteln. Die Kartoffeln brechen an der Oberfläche auf. Alles in eine Backform oder einfach aufs Blech geben und für eine halbe Stunden in den Ofen damit: knusprigere Oberfläche als sonst, innen flauschig. Bei mir lagen noch Mohrrüben und Zwiebeln dabei.

Zhug: Koriander, Petersilie und Minze mit Zitronensaft, Olivenöl und Gewürzen mixen, fertig. Ich orientiere mich gern an diesem Rezept, nehme aber weniger Öl (irgendwas zwischen 100 und 120 ml), weil ich das Zhug lieber etwas pastöser als flüssig mag. Drei grüne Chilis knallen mehr als drei rote, wie ich gestern freudig überrascht feststellen durfte. Bei Koriander und Petersilie nutze ich die Stengel immer mit, und damit sind dann auch meine frischen Asiashop-Käufe aufgebraucht.

Was schön war, Donnerstag bis Samstag, 25. bis 27. März 2021 – Selbsthilfe

Ich muss die steigenden Infiziertenzahlen, meine Angst vor Covid, meine Fassungslosigkeit gegenüber den inkonsequenten politischen Entscheidungen und überhaupt gerade generell sehr viel mal von mir wegkriegen, daher führe ich die Rubrik „Was schön war“ für die eigene Seelenhygiene wieder ein. Keine Ahnung für wie lange oder wieviele Kuchenrezepte ich dazwischen schieben kann.

Donnerstag war schön:
– die Reaktionen auf den Sammeltassen-Eintrag, sowohl auf Twitter als auch bei Insta, wo ich einen Outtake veröffentlichte. Und per Paypal *hust*

– Ich holte das erste Mal vorbestelltes Backwerk beim Brantner ab, so nennen F. und ich den Lieblingsbäcker inzwischen leutselig-vertraut. Ein ganzes Sesam-Walnuss-Brot nur für mich. Und im voraus per Paypal bezahlt, daher nur eine Minute im Laden gewesen.

– Zu Fuß gegangen und auf dem Rückweg nach sehr langem Nicht-Zeitungskaufen spontan mal wieder die FAZ erstanden und gern gelesen. Ein bewusstes Gegengewicht zu den achthunderten Hot Takes auf Twitter.

– Ich begann, „WandaVision“ auf Disney+ zu schauen, was sehr viel Spaß macht, auch wenn man die letzten 15 „Avengers“-Filme ausgelassen hat, so wie ich. Die muss ich jetzt allerdings nachholen, es hilft ja nichts. Danke an F. für sein Abo.

Freitag war schön:
– Noch kein Balkonkaffee, aber immerhin schon An-der-offenen-Balkontür-auf-dem-Sofa-sitzen-und-rausgucken-Kaffee.

– Beim wöchentlichen Einkauf gleich nochmal die FAZ mitgenommen und gern gelesen. Ihr ahnt schon, was Samstag schön war.

– Herrlich die Yogamatte vollgeschwitzt. Liegestütze und Planks sind der Everest von Frau Puddingärmchen, aber sie tun so gut. Und inzwischen ist der Everest auch ein bisschen kleiner geworden. Generell bei jeder Sporteinheit die Freude darüber, dass ich Dinge kann, die ich vor einem halben Jahr noch nicht konnte. Oder nicht so gut oder nicht so lange. Und im Alltag die Freude darüber, dass ich mir inzwischen Bewegungen traue, die ich mich vor einem halben Jahr noch nicht getraut habe. Es gibt immer noch Übungen, die ich aus Selbstschutzgründen etwas abwandele, oder die ich mit meinem Gewicht bzw. meinen Maßen schlicht nicht ausführen kann, aber das nervt nicht mehr so wie am Anfang des Programms.

– Abends durfte ich Gounods „Faust“ aus Paris anschauen, einem der Beteiligten und seinem Link zur Aufzeichnung sei dank. Ich kannte die Oper noch nicht, las vorher in der Wikipedia den Inhalt und verfolgte dann mit einem Auge die französischen Untertitel und mit dem anderen das deutsche Libretto auf dem Handy (Internet. So toll). Das tat sehr gut, sich drei Stunden nur auf Oper zu konzentrieren, für mich neue Musik zu hören und nebenbei eine wirklich tolle Inszenierung zu sehen. Die meisten Einfälle kamen mir so simpel und logisch vor, wie schon beim Bayreuther „Tannhäuser“ vom selben Team, kein wildes Regie-Geeiere, keine überflüssigen Videosequenzen, kein Bühnenbombast, sondern clever eingesetze Medien, klare Bauten, gute Personenregie – und eben die erwähnten Einfälle, die nicht aus dem Libretto kamen, aber total passten. Dass Mephisto mit einer Zigarette die Notre Dame in Brand steckt, kommt mir nach dem Seuchenjahr 2020 total schlüssig vor. (Foto 18 in der oben verlinkten Galerie.)

Samstag war schön:
– Zum stummen Verkäufer spaziert und die FAZ gekauft. Die Dinger sind zur Kontaktvermeidung echt prima, man braucht halt nur passendes Kleingeld.

– Danach zur Buchhandlung gegangen, um drei Bücher vorzubestellen. Bücher sind immer gut. Zwei standen auf meinem Wunschzettel, die gönne ich mir jetzt, eins hatte ich gerade auf Twitter entdeckt.

– Beim Schreiben des Sammeltassen-Eintrags hatte ich gemerkt, dass ich noch nie Kaffee aus den Tassen getrunken hatte, sondern nur Tee. Das korrigierte ich, mahlte Kaffee in Opas Mühle (aka dem Zerhacker), goss ihn als schönen altmodischen Filterkaffee auf und genoss ihn am Küchentisch zusammen mit einem Stück Himbeer-Marmorkuchen, den ich jetzt schon dreimal gebacken habe, der macht süchtig.



Dazu las ich das für einen Euro erstandene „Tod in Rom“ von Koeppen, das 1954 veröffentlicht wurde, das passte auch zu den Sammeltassen. Wobei mich der Roman auf den ersten 25 Seiten sowohl wieder schnell gekriegt als auch schnell genervt hat. Mit den Beschreibungen der Frauenfiguren haderte ich ja schon in Koeppens anderen beiden Werken, aber hier kriegt das noch eine unangenehmere Qualität. „Mir fiel ein, das Weib könnte ermordet werden. Ich stellte sie mir stranguliert vor“ schon auf Seite 15, Reduzierung auf Körperlichkeiten auf S. 21, „man konnte die Mädchen in der Taille erwürgen“ usw. Die Herren kommen einen Hauch besser weg, hier fiel mir nur der Begriff „Menschenmaterial“ als verächtlich auf, als es um die Schilderung von Soldaten im Zweiten Weltkrieg ging, sowie „Haremskinder“ für afrikanische Männer. Beides soll vielleicht der Charakterzeichnung des ehemaligen SS-Mannes gelten, der seine Untergebenen so beschreibt, das weiß ich noch nicht genau. Aber es nervt mich inzwischen wirklich, wie mich auch das üppig verwendete N-Wort in Koeppens „Tauben im Gras“ extrem gestört hat. Ja, Zeitkolorit, jajaja. Quatsch. Auch 1954 wollten Frauen nicht umgebracht und generell Menschen nicht rassistisch bezeichnet werden.

Menschenmaterial“ ist, nebenbei bemerkt, kein Begriff des NS, sondern wurde schon im Ersten Weltkrieg verwendet, wie ich aus Klemperers „LTI“ in den letzten Tagen gelernt habe, das ich weiterhin neben den Romanen lese. Das Wort „Kanonenfutter“ stammt bereits aus den Napoleonischen Kriegen, sagt zumindest die Wikipedia.

Damit endet der Eintrag von schönen Dingen eher unschön, aber dass ich viel lese, lege ich unter „schön“ ab. Auch wenn die Literatur manchmal nervt.

Links von Samstag, 27. März 2021

Murnau liegt bei Mexiko

Das Lenbachhaus hat seine Sammlung des Blauen Reiters umgestaltet und dafür den gesamten zweiten Stock freigeräumt, was mich etwas stoßatmen lässt. Hauptsache, die Neue Sachlichkeit ist noch da, wenn ich irgendwann mal gucken komme (Post-Impfung). Die genauere Beschreibung steht im Artikel, ich copypaste hier den Einstieg, weil ich genau diesen Ansatz – lokale Kunst ist auch immer globale Kunst – sehr spannend finde. Gerade in der Zeit des Internets, in der man sich buchstäblich die ganze Welt an den Schreibtisch oder ins Atelier holen kann.

„Wie umfassend das Konzept des Münchner Lenbachhauses tatsächlich ist, wird man vollständig erst im Herbst wissen. Dann nämlich, wenn auch der zweite Teil der “Gruppendynamik” mit dem Schwerpunkt “Kollektive der Moderne” zu sehen sein wird. Im direkten Vergleich mit anderen Künstlerkollektiven soll sich zeigen, wie zukunftsweisend die zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierten Ideen des Blauen Reiters waren. Doch jetzt schon zeichnet sich ab: Das Lenbachhaus hat für dieses Projekt tief gegraben – in der eigenen wie in anderen Sammlungen.

Die Doppelausstellung bildet den Abschluss der über vier Jahre von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Reihe “Museum Global”, bei der Museen in Deutschland ihre Sammlungen im Kontext außereuropäischer Kunstproduktion beleuchteten. Den Anfang hatte im November 2017 das Museum für moderne Kunst Frankfurt gemacht, das seine Werke zusammen mit lateinamerikanischer Kunst “A Tale of Two Worlds” erzählen ließ. Es folgte die Berliner Nationalgalerie, die sich mit der Ausstellung “Hello World” der Frage stellte, wie die eigene Sammlung heute aussehen würde, hätte ein global orientiertes Kunstverständnis ihren Aufbau geprägt. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen schließlich kontrastierte in der Ausstellung “Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne” ihre westlich geprägte Sammlung mit Kunstwerken aus den Ländern Süd- und Mittelamerikas, Asiens und Afrikas. Und nun also ist das Münchner Lenbachhaus mit seiner zweiteiligen “Gruppendynamik”-Schau dran.“

How Art Historian Aby Warburg Changed the Way We See

Apropos global: Art Review erläutert Warburgs Mnemosyne-Bilderatlas, der in Berlin zu sehen ist – und online, yay! Quasi Erster-Semester-Bachelor-Inhalt, da durften wir alle durch.

„Your first impression on encountering this reconstruction of German art-historian Aby Warburg’s most celebrated work is that it looks like a primitive, pinboard version of a Google image search. Or the evidence board in some 1970s crime movie. Yet to many, Warburg’s Bilderatlas (picture atlas), begun in the final years of his life and incomplete at his death, in 1929, represents the origins of modern (Western) art history, when disciplines such as iconography, sociology, ethnography and psychology were introduced into a history of Western art that had until then been dominated by aesthetics alone; to others it presages contemporary image-culture; while to others still it really is symptomatic of Warburg’s ‘crimes’. For Warburg himself it was part of ‘a laboratory of the study of civilization’. As long as you accept, according to a map that opens the presentation, that civilisation is the property of a geography that stretches from Bagdad to Coruña and from Hamburg to Aswan. Prepared according to Warburg’s instructions, it’s titled ‘The Road Map to Cultural Exchange Routes’.“

Die Zukunft des kunsthistorischen Publizierens

Ein neuer Sammelband, der auch online zu lesen ist. Da wühle ich mich heute durch.

„Quasi als experimenteller Selbstversuch wird bei unserem Tagungsband, der auf der von der DFG-geförderten Open-Access-Publikationsplattform arthistoricum.net – ART-Books erscheint, dem PDF-E-Book und der Druckausgabe (Print-on-Demand) nicht nur eine XML-basierte HTML-Version zur Seite gestellt, sondern als viertes Ausgabeformat ein maschinell lesbares und mit Normdatentagging angereichertes XML zum Download angeboten.“

(Zitat aus der Einführung.)

Louvre probes its collection for Nazi and colonial loot in massive provenance research project

Die gute Nachricht: Der Louvre hat seit Kurzem fast seine gesamte Sammlung online, noch ein yay. Die schlechte: darunter sind auch noch einige Stücke, deren Herkunft problematisch oder ungeklärt ist.

„More than 1,700 works that were recovered in Germany after the Second World War but have never been returned to the descendants of their rightful owners are listed under the category of Musées Nationaux Récupération (MNR). The works do not belong to the French state but are managed by the Louvre and entrusted to French national museums for safekeeping. The new collection website says the Louvre “is committed to carrying out research to find their rightful owners or beneficiaries”. In late 2017, the museum opened two galleries of MNR paintings to encourage heirs to come forward.

In addition, the Louvre has so far checked some two-thirds of the 13,943 works it acquired between 1933 and 1945 for problematic provenance, Martinez said during a preliminary appraisal of the research earlier this month. He anticipates that the museum will add the findings from this initiative to the new digital collection catalogue at a future date. The website “is evolving and putting it online is only a first step”, he tells The Art Newspaper.“

Wir mäandern um die Sammeltasse

Ich erwähnte vor einigen Wochen, dass ich mal wieder Geschirr aus der alten Heimat in den Süden geschleppt habe. Dieses Mal: Sammeltassen. Und weil ich mich neugierig ein bisschen für diese seltsamen Teile interessierte, reiche ich meine bescheidene Recherche hier an euch weiter. Bescheiden, weil ich gerade nicht in der Bibliothek sitzen möchte und nur weniges zum Ausleihen bzw. online gefunden habe. Im ZI hätte ich mich jetzt stundenlang in die Porzellanherstellung im 19. Jahrhundert vertieft, aber das muss leider ausfallen.

Die Wikipedia ist ziemlich weit vorne mit ihrem Eintrag, aus dem ich mal zitiere:

„Die Tradition der Sammeltasse geht zurück auf die Zeit des Biedermeier. Im frühen 19. Jahrhundert wurde Porzellan preiswerter, und es entwickelte sich in bürgerlichen Kreisen der Brauch, Tassen zu sammeln oder zu besonderen Anlässen zu verschenken, auch als Freundschaftsgabe und oft mit namentlicher Widmung. Als Souvenir waren Sammeltassen wie sonstiger Nippes aus Porzellan bereits im 19. Jahrhundert weit verbreitet. […] Auf die zunehmende Lust am Sammeln von Geschirr reagierten die Hersteller mit immer umfangreicheren Modellpaletten. Die Porzellanmanufaktur Fürstenberg entwickelte zum Beispiel im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts über einhundert verschiedene Tassenformen und entsprechend viele Dekore. 1860 umfasste der lieferbare Bestand 91 Modelle, und 1926 wurden rund 200 zum Teil hochwertig dekorierte Sammeltassen und die um 1900 aufgekommenen kleineren Mokkatassen angeboten.

Die Blütezeit der Sammeltassen im 20. Jahrhundert währte bis in die 1930er Jahre. Nach wie vor wurden sie nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt und waren beliebte Geschenke für die Aussteuer oder zum Geburtstag. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die Tradition noch für zwei Jahrzehnte fort, bis sie in den 1970er Jahren schließlich endgültig an Bedeutung verlor. Für ältere Stücke entwickelte sich dann in den 1990er Jahren ein Sammlermarkt. Zugleich kreierten Künstler neue, dem Zeitgeschmack in Form und Dekor angepasste Einzelgedeck-Kollektionen, deren Erfolg aber nicht zuletzt von dem Verlangen junger Käufer nach spülmaschinenfestem Gebrauchsgeschirr bestimmt wird.“

In den wenigen Literaturangaben dort findet sich ein Katalog zur Kunst des Biedermeier, der netterweise bei mir zuhause im Regal steht. Den hatte ich noch vor dem Studium erworben, weil ich das Titelbild so mochte und weil ich vermutlich gerade aus der Hamburger Kunsthalle gekommen war, deren Sammlung zum 19. Jahrhundert ich sehr mag, allen voran natürlich Herrn Leibl, ich weiß, ihr könnt das nicht mehr hören, aber ich nutze jede Gelegenheit, das Gemälde der drei Frauen in der Kirche zu verlinken weil toll.

Zurück zu den Sammeltassen. Im Katalog gibt es ein Kapitel zur Kunst des Biedermeier, wo neben Gemälden, Skulpturen und Architektur auch über das Kunstgewerbe gesprochen wird, also über Möbel, Glas und Porzellan. Ich lernte, dass die europäischen Porzellanmanufakturen zur Zeit des Wiener Kongresses und danach Blütezeiten erlebten. Fürstenhöfe orderten „umfangreiche prunkvolle Services“, auf denen Ereignisse und Orte im Leben des damit zu Ehrenden abgebildet waren.

„In Bayern wurde die Manufaktur aufgewertet, indem man die Malerei von der Produktion trennte. Während letztere in Nymphenburg verlieb, wurde die Malerei nach München verlegt. In der räumlichen Nähe der Gemäldegalerie und der Akademie der bildenden Künste wurde sie in den Rang einer ‚Kunstanstalt‘ erhoben. Alle Löhne der Maler wurden erhöht, ein Generaldirektor ernannt.“ [1]

Die Blüte war nur von kurzer Dauer, die Aufträge von oben konnten die Manufakturen finanziell nicht über Wasser halten. Man verlegte sich auf günstiger zu produzierendes Steingut, das im späten 18. Jahrhundert erfunden worden war. Erst in den 1830er-Jahren erfolgten größere, betriebswirtschaftliche Umgestaltungen in diversen Manufakturen.

„Einzelne Erfindungen, größere und kleinere Verbesserungen im Produktionsablauf gab es aber immerhin schon im Biedermeier. So wurde in Meißen beispielsweise 1817 der Etagenofen eingeführt, wordurch die Produktion allmählich vervierfacht, Personal- und Heizkosten eingespart werden konnten. Im selben Jahr hat dort Gottlob Kühn das Chromoxydgrün als neue Unterglasurfarbe entwickelt, offenbar gleichzeitig mit Georg Frick in Berlin. Ein wichtiger Schritt hin zu billiger Produktion war zehn Jahre später Kühns Erfindung des Glanzgoldes, das nicht nur kostbares Material einsparte, da es nicht poliert werden musste. Es ist dies der erste aus merkantilen Gründen bewusst herbeigeführe Qualitätsverlust.“ [2]

Der Aufsatz erwähnt, dass zu den damals produzierten Kaffeegeschirren eine Kaffee- und eine Teekanne gehörten, ein Milchkännchen, eine Zuckerschale sowie Tassen mit Untertassen. Kuchenteller gehörten noch nicht dazu, sie wurden erst im 20. Jahrhundert Standard, als die Sammeltassen nicht nur ein Geschenk, sondern wirklich ein Gebrauchsgegenstand wurden. Als Dekor setzte sich, gerade für die günstigere Massenware, hauptsächlich die Blumenmalerei durch. Bei den hochwertigeren Geschenktassen des 19. Jahrhunderts gab es mehrere Ausfertigungen:

„Ganz besonders verbreitet waren bei den Geschenktassen Landschaftsdarstellungen oder Städteansichten, die dann zumeist die vordere Hälfte der Tasse vollständig bedeckten. Berühmte Baudenkmäler waren beliebt, auch Innenansichten. Ein großer Teil der Erinnerungstassen enstand aber durch unmittelbaren Auftrag, wobei Porträts, das eigene Wohnhaus oder gar das Wohnzimmer Thema der Darstellung sein konnten, oder auch Blumen so angeordnet wurden, dass die Anfangsbuchstaben ihrer Namen einen bestimmten Text ergaben.“ [3]

Müßig zu sagen, ich erwähne es trotzdem: Alleine dass ein Wohnzimmer zur Verfügung stand, weist den zu Beschenkenden als Teil des Bürgertums aus. Er oder sie scheint in einem Haushalt zu wohnen, der es sich leisten kann, mehrere Zimmer zu haben, darunter das repräsentative Wohnzimmer. Ich verweise auf eine alte Hausarbeit von mir, wo es auch nebenbei um Wohnkultur bzw. das Wohnzimmer geht, hier die S. 16/17.

Die Wikipedia erwähnt, dass die Sammeltasse bis in die 1930er-Jahre hinein beliebt war. Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin Teil der bürgerlichen Selbstinszenierung war; viele Arbeiterfamilien hatten weder das Geld noch den Raum, um sich dieses dekorative Geschirr anzuschaffen. Gerade Arbeiter bzw. Handwerker in Städten zogen oft um, arbeiteten von zuhause oder vermieteten Schlafstellen ihrer engen Wohnungen unter, um überleben zu können. Nur die unteren Beamten- und Angestelltenschichten oder Arbeiter mit wenigen Kindern hatten die finanziellen Möglichkeiten, größere Wohnungen zu bewohnen.

„So heißt es in einem Bericht über die kleinbürgerliche Behaglichkeit eines Münchner Graveurs aus dem Jahre 1907/08, der eine Ehefrau und drei Kinder zu versorgen hatte: ‚Die dreiräumige Wohnung ist in dem ersten Stockwerk eines Rückgebäudes gelegen und mit eigenem Vorplatz und Abort für sich abgeschlossen. Die Wohnstube hat 3,30 mal 5 Meter Bodenfläche und, ähnlich den anderen Räumen, 2,75 Meter Höhe. Sie hat zwei mit hellen Gardinen versehene Fenster nach verschiedenen Seiten und ist mit hübschen, gut erhaltenen Möbeln ausgestattet. In der Mitte der Stube steht ein Sofa mit einem Tische, an der Seite ein Bett. Drei Schränke verteilen sich auf die Wände, eine Nähmaschine, einige Stühle und mancherlei Bilder und Nippsachen vervollständigen das Bild. Die gut gelüftete, aber etwas feuchte Schlafstube ist nur 3 mal 4,30 Meter und einfenstrig. Sie ist mit zwei großen Betten und einem Kinderbett, einem Kinderwagen und dem sonst höchst selten vorhandenen Waschtisch reichlich ausgefüllt. Hiernach ist in dieser Wohnung für jedes Familienmitglied ein besonderes Bett vorhanden, was hervorgehoben zu werden verdient. Der dritte Raum ist die Küche von 2,70 mal 3,25 Meter Größe. Hier nimmt die Familie auch ihre Mahlzeiten ein. Das ganze Hauswesen macht den Eindruck einer guten Führung und kleinbürgerlichen Behaglichkeit.‘“ [4]

Bürgerliche Familien verfügten über fünf bis acht Zimmer, die teilweise eher repräsentativen Charakter hatten. Ich las vor kurzem Gabriele Tergits Effingers auch im Hinblick auf derartige Schilderungen sehr fasziniert durch: Sie gibt gerade am Anfang des Buchs, das Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts stattfindet, Beschreibungen von Möbeln, Räumen, Kleidung und Salons viel Raum. Der Erste Weltkrieg zerstörte tradierte Gesellschaftsmodelle, auch durch die folgende Inflation. Ebenfalls bei den Effingers las ich, dass nun auch viele bürgerliche Familien Zimmer untervermieteten, um finanziell über die Runden zu kommen.

In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre entstanden vielerorts bezahlbare Wohnungen für Arbeiter, während gleichzeitig die vielzimmerigen Häuser des Bürgertums blieben oder wieder nur von einer Familie bewohnt wurden. Ebenso herrschte ein Nebeneinander von unterschiedlichem Design und Gestaltung, elitärer Ästhetik und Massenkultur. In der Alltagsgestaltung, also auch bei Geschirr, setzte sich eine moderne Formensprache durch, die auch unter den Nationalsozialisten nicht rückgängig gemacht wurde. Ich habe in den letzten Jahren diverse Bände an Kunstzeitschriften durchgeblättert und fand auch das Konsumgüterdesign stets spannend. Neben den ollen altdeutschen Schrankwänden gab es durchaus schlicht gestaltetes Geschirr, bei dem ich nicht hätte sagen können, dass es 1938 entworfen wurde, wenn ich es nicht gewusst hätte. Auch in den diversen Jahrgängen von technischen Zeitschriften, die ich für die Diss las, fielen mir oft modern gestaltete Anzeigen auf, aus denen ich leider keinen Twitter-Thread gemacht habe (1, 2, 3, 4).

Der Genuss von Kaffee war inzwischen auch nicht mehr den bürgerlichen Salons vorbehalten; in einer Schilderung aus der Zwischenkriegszeit, Anfang der 1930er-Jahre, findet sich die Erwähnung von Kaffee oder sogar Kuchen als etwas Besonderes, das neben der notwendigen Kalorienaufnahme zelebriert wurde. [5] Ob dafür auch besonderes Geschirr benutzt wurde, habe ich bei meinen, wie erwähnt, recht oberflächlichen Recherchen nicht herausfinden können, aber ich fand es spannend zu lesen, dass selbst in Notzeiten die knappen Finanzmittel auch für etwas nicht Überlebenswichtiges genutzt wurden. Dabei wandelten sich die Einkäufer: Vor dem Ersten Weltkrieg gaben Arbeiterhaushalte für Genussmittel wie Alkohol, Kaffee, Tee, Tabak und Süßwaren mehr aus als die bürgerlichen; nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich dieses Verhalten um. [6]

Der Zweite Weltkrieg sowie die Erfahrungen des Nationalsozialismus veränderten die Gesellschaft erneut, der Wunsch, zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückzukehren, sorgte vermutlich auch dafür, dass die 1950er-Jahre im Rückblick wie eine Rückkehr zum Puppenstubenwohnen wirken. Wenn ich die Forschung halbwegs richtig im Blick habe, geht man heute davon aus, dass das sogenannte Wirtschaftswunder erst am Ende des Jahrzehnts spürbar war, davor herrschten die Erfahrungen von Mangel, Hunger und Einschränkungen vor.

Im eben schon zitierten Buch Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre werden Haushaltsbücher seit Ende der 1940er-Jahre ausgewertet. Im Juli 1949 kam die vierköpfige Familie Z. auf 500 DM Monatsverdienst, in den 200 DM Weihnachsgeld einflossen; in normalen Monaten reichte das Geld anscheinend kaum aus, es wurde Geld von Eltern und Schwiegereltern geborgt. Im Haushaltsbuch wurden die üblichen Ausgaben notiert. Zum Tanz in den Mai 1950 gönnte man sich drei Glas Bier, zehn Zigaretten, Bonbons, Eintritt und Garderobe für insgesamt 5,30 DM. Im September 1949 erhielt Herr Z. zum 25. Geburtstag „zwanzig Zigaretten und zwei Paar Socken, Frau Z. vierzehn Tage später eine Sammeltasse, der Sohn zum vierten Geburtstag 1950 ein selbstgebautes Dreirad und zwei Paar Kniestrümpfe.“ [7] Eine Dissertation, die ich sehr gerne gelesen habe, beschreibt das Alltags- und das Sonntagsgeschirr, das im Laufe der 1950er-Jahre in vielen Haushalten angeschafft wurde. Dort wird der Preis einer Sammeltasse zweiter Wahl – also Tasse, Untertasse und nun auch Kuchenteller – mit 1,50 DM angegeben, beim Kaufhaus Hertie, „um 1955“. [8]

Hier trifft der Begriff der Sammeltasse, also eines zu sammelnden Sets, wieder zu: Wo im 19. Jahrhundert Erinnerungsstücke gesammelt wurden, dienen die günstigen Tassen nun schlicht dazu, ein Service zu vervollständigen. In der eben zitierten Diss berichten viele Frauen davon, ihr Geschirr stückweise eingekauft zu haben; gerade Mädchen wurde spätestens ab der Konfirmation Hausrat für die Aussteuer geschenkt. Das kenne ich auch noch von mir: Meine Schwester und ich durften uns ein Muster für Silberbesteck aussuchen, das wir nach und nach von allen Verwandten geschenkt bekamen. Ich erzählte das schon einmal im Blog: Wir konnten uns auf kein Muster einigen und entschieden uns für das, das bereits unsere Mutter besaß. Was sie und ihre Mutter sehr freute, denn letztere besaß dasselbe.

Ein Telefonat mit einer Zeitzeugin – aka dem Mütterchen – später kann ich diese Zeilen tippen: Meine Omi, also die Mutter meiner Mutter, kam mit ihrer Schwester und den ingesamt drei Kindern als Flüchtling aus dem ehemaligen Ostpreußen über die DDR in die Bundesrepublik. Ab 1951 arbeitete Omi als Haushälterin bei einer etwas begüterten Familie; meine Mutter erinnerte sich daran, dass sie neben dem Gehalt auch des Öfteren praktische Gegenstände geschenkt bekam, „denn wir hatten ja nur die Dinge, die wir am Leib trugen, als wir ankamen.“ Ab und zu erhielt Omi auch Geschenke, die „nur für sie“ bestimmt waren – schöne Dinge, die nicht alltags benutzt wurden. Das Silber, dessen Muster anscheinend drei Generationen gefällt, war ein Geschenk der Arbeitgeberin, die Omi davon sechs Gabeln und sechs Löffel schenkte, meine Mutter tippte auf 1956. Sie selbst begann 1958, das Silber zu sammeln; sie war 18 und brauchte eine Aussteuer. Weil sie immer noch sehr beengt lebten, riet meine Omi ihr dazu, eher Besteck als Tischwäsche zu sammeln, schlicht aus dem Grund, weil es weniger Platz wegnahm. Meine Mutter war damals schon berufstätig und investierte nun also in Besteck. Von wem welche Sammeltasse war, die nun bei mir ist, wusste sie allerdings nicht mehr. Sie beschrieb es genau so, wie ich es auch in den Büchern gelesen hatte: Die Tassen waren ein beliebtes Mitbringsel, solange man noch kein vollständiges, zueinander passendes Service hatte, denn durch ihre Einzigartigkeit konnte man sie wild durcheinander aufdecken.

Unser Silber wird übrigens weiter lustig ergänzt, meine Fischbestecke sind aus dem Interweb, die hatte niemand in der Familie im erbbaren Bestand. Im Zuge des Musteraussuchens lernte ich den Begriff der „Nachkaufgarantie“, der mich seitdem fasziniert, der für mein Silber aber leider nicht mehr gegeben ist, daher Ebay.

In einem weiteren Buch fand ich die Sammeltasse in einer Beschreibung zu Kaffeegenuss in den 1950er-Jahren, der noch nicht alltäglich war. Die Beschreibung des Mahlens, des Aufdeckens der guten Tischdecke und der Benutzung der Sammeltasse statt der alltäglichen zeigt hier, dass die Sammeltasse auch mehr sein konnte als das ständig genutzte Geschirr. So kenne ich es auch von zuhause: Die Sammeltassen standen im Esszimmer- und nicht im Küchenschrank und wurden, wenn überhaupt, nur Sonntags oder mit Gästen genutzt.

„In der so genannten ‚schlechten Zeit‘, als es fast überall nur Ersatzkaffee gab, Muckefuck genannt, hat meine Tante Lene arg gelitten. Sie trank leidenschaftlich gern Kaffee – echten Bohnenkaffee –, doch der war nach dem Krieg nur sehr schwer zu bekommen. Tante Lene tauschte daher so manches gute Stück aus ihrem Wäscheschrank gegen eine kleine Tüte ‚richtigen‘ Kaffee ein. Wenn sie diesen Kaffee dann aufbrühte, war es wie ein Ritual. Immer wieder roch sie kurz mal in die Tüte. Sie glich in dem Moment einem leidenschaftlichen Raucher beim Inhalieren. Vorsichtig nahm sie dann eine ganze Bohne in den Mund und zerkaute sie […]. Dann holte sie die hölzerne Kaffeemühle aus dem Regal und schüttete so viel Kaffee hinein, dass dieser für zwei Tassen reichte. Noch immer auf der Bohne kauend, klemmte sie die Mühle, auf einem Stuhle sitzend, zwischen ihre Beine und fing langsam an zu mahlen. Während dieser Zeit summte auf dem Herd schon der Wasserkessel. Das Kaffeemehl kam nun in eine kleine Kanne, und aus der Mühle wurde mit einem Pinsel jedes verborgene Stäubchen herausgeholt. Das sprudelnd kochende Wasser goss Tante Lene schließlich über den gemahlenen Kaffee. Der Duft, der daraufhin durch den Raum zog, machte sie fast – heute würde man sagen: high. Wie immer, hatte sie eine schöne Tischdecke aufgelegt. Nun holte sie eine ihrer Sammeltassen aus dem Schrank. Dann endlich wurde der gebrühte Kaffee durch ein Sieb gegossen, und nun hatte sie ‚Genuss pur‘ – zwei Tassen voll! Am Tag darauf wurde das Kaffeemehl von ihr noch einmal aufgebrüht. Ein drittes und schließlich ein viertes Mal kochte sie den Kaffeesatz in einem kleinen Topf auf. Dann kam keine Decke mehr auf den Tisch, und das nun nur noch leicht gefärbte Wasser wurde aus einer einfachen Tasse getrunken.“ [9]

In anderen Zeitzeugen-Interviews werden die Muster der Tassen beschrieben, weswegen ich oben die Blumen und den Goldrand erwähnte. Alltagsgeschirr war meist schlicht, sowohl in Form als auch in Farbigkeit oder Verzierungen. Beim Sonntagsgeschirr wurde allerdings Wert auf Dekor gelegt, das nicht als modisch angesehen wurde, sondern allein durch das Material der Goldauflage einen „beständigen und dauerhaften Wert“ symbolisierte. Im eben zitierten Text wird gerade das Gold bei Sammeltassen erwähnt, das diesem eher preiswerten Stück einen imaginierten Wert einschrieb. [10]

Seit den 1970er-Jahren ist der Kaffee in Westdeutschland ein Alltagsgetränk, Jugendliche und junge Erwachsene konnten dem Getränk allerdings lange Zeit nichts abgewinnen, erst Ende der 1980er-Jahre wandte sich die Werbung dieser Zielgruppe zu. Ich erinnere mich vage an Werbespots für irgendeinen schwarz verpackten Kaffee, dessen Name mir nicht mehr einfällt. Twitter sei Dank, Jacobs Swing hieß das Zeug, hier ein schlimmer Artikel von 1987 dazu. Da Kaffee keine Besonderheit mehr war, war auch kein besonderes Geschirr mehr nötig. Über den Niedergang der Sammeltasse konnte ich nicht wirklich etwas finden, obwohl mir Google Scholar einen kleinen Snippet anzeigt, laut dem angeblich schon in den 1970er-Jahren Jugendliche den Kram ihrer Eltern schnafte fanden und ironisch benutzten. Hm. Spannender fand ich den Hinweis auf die neuen Sammeltassen, die keine sind: Gerade in den 80er-Jahren begannen Jugendliche und junge Erwachsene, auch hier eher wieder Mädchen, Gläserserien von Leonardo oder Ritzenhoff zu sammeln. Auch die Swatch wurde von vornherein als Sammelobjekt aufgelegt, das durch seinen eher günstigen Preis dazu verführt, mehrere Modelle zu besitzen. [11] Und moderne Espresso-Marken bieten ganz selbstverständlich auch Geschirr an: Das hat dann zwar keine Blumen mehr oder Goldrand, wird aber vermutlich auch nur zum Zweck des Kaffeetrinkens benutzt.

Auch beim Googeln entdeckt: ein Buch über Altenpflege, in dem Techniken beschrieben werden, wie man ältere Menschen geistig aktivieren kann. Darin findet sich eine stichwortartige Liste von Fragen, mit denen das Gedächtnis angestupst werden soll: Wann haben Sie Sammeltassen bekommen? Wie sahen sie aus? Welche Muster waren abgebildet? Kennen Sie noch den Hersteller? Und abschließend soll eine Kaffeetafel gedeckt werden, um auch andere Sinne anzusprechen.

Ich persönlich fand die Sammeltassen jahrelang albern, aber jetzt gerade mag ich sie gern. Im Gegensatz zu meinen Eltern stehen sie bei mir wild gemischt: ein Teil liegt in den Ikea-Körben, in denen der Großteil meines Sonntagsgeschirr liegt – das von Oma mit dem Goldrand –, ein Teil steht in der Küche und wird täglich benutzt, übrigens genau wie mein Silber („Für gut“). Nur für die Saucieren und riesigen Platten habe ich alltags eher wenig Verwendung, die kommen aber in der Spargelzeit auf den Alltagstisch. Momentan wechsele ich beim täglichen Teetrinken zwischen einer blau- und einer gelbgeblümten Sammeltasse hin und her, Kaffee habe ich allerdings noch nicht aus ihnen getrunken. Aber vielleicht mache ich das mal, wenn wir uns alle wieder besuchen können: Ich backe wild Kuchen und lade so viele Menschen ein, wie ich unterschiedliche Tassen habe. Auf Spotify wird die Playlist „Wirtschaftswunder“ gebastelt und dann lassen wir es uns gut gehen. Mit Goldrand.

Nachtrag: Die Kunsthistorikerin und Kunstsachverständige Diana Lamprecht bloggte vor Kurzem über bayerisches Nachkriegsporzellan, danke für den Hinweis per Twitter.

[1] Himmelheber, Georg: „Kunst des Biedermeier“, in: Kat. Ausst. Kunst des Biedermeier 1815–1835, Bayerisches Nationalmuseum 1988/89, München 1988, S. 20–52, hier S. 46.
[2] Ebd., S. 46/47.
[3] Ebd., S. 49.
[4] Saul, Klaus u. a. (Hrsg.): Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 1982, S. 88/89, zitiert bei Von Saldern, Adelheid: „Schlafgänger, gute Stube und Frankfurter Küche. Wohnkulturen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik“, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 9 (2020), S. 27–38, hier S. 31.
[5] Wildt, Michael: Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt am Main 1996, S. 19.
[6] Ebd., S. 22.
[7] Ebd., S. 42/43.
[8] Günter, Bettina: Blumenbank und Sammeltassen. Wohnalltag im Wirtschaftswunder zwischen Sparsamkeit und ungeahnten Konsummöglichkeiten, Berlin 2002, S. 283.
[9] Sigmund, Monika: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten, Berlin/München/Boston 2015, S. 31.
[10] Günter 2002, S. 297/298.
[11] Mohr, Ernst: Die Produktion der Konsumgesellschaft. Eine kulturökonomische Grundlegung der feinen Unterschiede, Bielefeld 2020, S. 277/278.

Dienstag, 23. März 2021 – Grünes Curry

Gefühlt war gestern einer der „Getting things done“-Tage, das tat zur Abwechslung ganz gut. Damit meine ich nicht die Dokumente auf meinem Laptop, bei denen man nie sieht, dass man etwas geschafft hat, man weiß es nur, weil man acht Stunden an ihnen rumgepuschelt hat. Ich meine Dinge wie Altglas wegzubringen oder ähnliches.

Ich koche im Moment meist nichts bloggenswertes, weil es grundsätzliche Dinge sind, mal ein Sandwich, die übliche Gemüse-mit-irgendwas-Pfanne, der Kram halt, den ich koche, wenn was weg muss, was dauernd ist. Auch aus Infektionsschutzgründen versage ich mir den Asialaden recht oft, weil ich mich in ihm immer noch nicht gut genug auskenne, um blind mein Körbchen zu befüllen, wie ich das im Edeka nebenan mache, um so schnell wie möglich wieder draußen zu sein. Aber gestern wollte ich dann doch mal wieder hin. Ich redete mir ein, dass ich dringend das grüne Curry aus dem wunderbaren Hot Thai Kitchen von Pailin Chongchitnant nachkochen müsse, wo ich das rote und das schlammfarbene schon bewältigt hatte (und nicht verbloggt habe, wie ich gerade irritiert feststelle). Ich notierte alles, was ich nicht im Haus hatte – Zitronengras, Galangal, Thai-Basilikum und vor allem grüne Chilies. Korianderwurzeln waren noch vom letzten Besuch im Kühlschrank, Shrimp Paste, Palmzucker, Fischsauce, Schalotten und Knoblauch sind immer da, wobei die Fischsauce zur Neige ging.

Aber zunächst sortierte ich das Altglas und bekam sieben grüne Flaschen in den Rucksack, wie praktisch, dass die meisten Weinflaschen grün sind. Dann verpackte ich endlich ein paar Klamotten für den Altkleidercontainer. Mehrere Blusen, zwei Röcke und ein Pulli waren schon in einem Extrakarton vor zweieinhalb Jahren mit mir umgezogen, vor zwei Wochen hatte ich alles nochmal gewaschen und gebügelt und jetzt wollte ich sie endlich wegbringen. Was sind schon 30 Monate unter Freunden. Ich legte die Kleidung in eine Mülltüte, verpackte diese in meine übliche Einkaufstasche, setzte die FFP2-Maske für den Gang durch das Treppenhaus auf und schlenderte zum Altglascontainer. Danach ging’s zum Kleidungscontainer, und der liegt quasi auf direktem Wege zum Asialaden, weswegen ich überhaupt auf die Idee kam, noch einen Abstecher dorthin zu machen.

Alle Zutaten bis auf Thai-Limettenblätter bekommen, schade, aber dann reibe ich eben die Schale einer Bio-Limette ins Curry. Außerdem musste ich dringend Majo nachkaufen und wenn ich schon mal da bin, gibt es auch immer eine Tüte indischen Knabberkram.

Ich war eine gute Stunde damit beschäftigt, die ganzen Zutaten kleinzuschneiden und schließlich zu zermörsern, wobei mir wieder auffiel, was ein echt gutes Geburtstagsgeschenk gewesen wäre: endlich einen größeren Mörser. Meiner hat lausige 11 Zentimeter Durchmesser, ich könnte aber mindestens das anderthalbfache vertragen (siehe die Curryvideos von Chongchitnant). Ich mag den kleinen Racker trotzdem sehr gerne, denn ich kaufte ihn im Zuge des Foodcoachings 2009, das heißt, er war so ziemlich eines der ersten Küchengeräte, mit denen ich meine Ernährung umgestellt habe – von Fertigkram und Nudeln zu ALLEM, WAS DIE WELT HERGIBT. Hach! Ich habe mein erstes Pesto in ihm hingematscht, für diverse Ottolenghi-Gerichte kiloweise Gewürze zermörsert und neuerdings ist dauernd Fischsauce und Palmzucker in ihm, aber: Er ist für Currypasten wirklich zu klein. Seufz. Wenn ich alles halbwegs zu einer Paste bekommen habe, hebe ich die Hälfte davon raus und mache aus dem Rest eine richtige Paste, wonach die zweite Hälfte drankommt, und zum Schluss werfe ich wieder alles zusammen. Auf die Yogamatte musste ich gestern nicht, der längere Spaziergang und vor allem das Arm-Workout am Mörser haben gereicht.

15 Chilis, die aber gut von der ungewohnt süßen Kokosmmilch eingefangen wurden. Ja, das war scharf, aber gleichzeitig ziemlich okay, wie ich überrascht feststellte. Ich trinke trotzdem immer Milch zum Curry, sonst halte ich das nicht aus.

In der Washington Post war am Wochenende mal wieder ein Rezept, das mit einem ewig langen Text eingeleitet wurde (möglicherweise hinter der Paywall). Das mag ich in Kochblogs genauso wenig: zeilenweise Geschwafel und 15 Fotos vom fertigen Rezept aus drei Perspektiven, wo ich doch nur wissen will, ob ich alles für dieses Rezept im Haus habe und wie lange es dauert.

Der Text gefiel mir aber ausnahmsweise, denn er war lustig und erwischte mich bei einer Fähigkeit, die ich gerne vergesse, wenn ich koche: Intuition durch Erfahrung. Der Text beginnt so:

„One of the greatest things about having children is that they come out of the womb knowing literally nothing, which means, for a little while at least, they believe you’re the world’s foremost expert on literally everything.

Though I’m perpetually screaming internally over the fact that I have no idea what I’m doing when it comes to parenting, it feels good to be heralded as a genius in the sciences (gravity is magic), the arts (da Vinci was a time traveler), and 18th-century German philosophy (God is a 100-foot tall-robot).

But, eventually, the children get older. They learn to read, they learn to reason, they learn to Google. The cracks in the literacy long con begin to show, and by the time middle school rolls around, those cracks have become craters your kids will gladly lob grenades made of logic and algebra into. While I may no longer be their go-to when it comes to chemistry or Kierkegaard, I have realized there are areas where I am not merely proficient but masterful. For example, I can fold fitted bedsheets. I can fix a leaky faucet. Last year, I kept a basil plant alive for 10 whole months. And, I can cook. Damn well, I may add.“

Es geht im Text um Key Lime Pie, für den man unter anderem Cracker zermahlen und mit Butter wieder zu einem Teig verbindet, um ihn in eine Form zu pressen.

„Though I’ve had plenty of experiences in the kitchen, this existential epiphany was recently cemented when my 13-year-old son asked me to teach him to make key lime pie. Now as far as pies go, key lime is quite possibly the easiest one to execute in the whole dang taxonomy: You make a graham cracker crust, you do a little stirring, you toss it in the oven, bada bing bada boom you got pie. It’s so simple that I didn’t think there was anything about key lime pie that could qualify as a teachable moment. Then, I let a middle-schooler loose in the kitchen. I will never underestimate key lime pie, and its ability to break a person, ever again.“

Die Autorin beschreibt, wie ihr Kind damit Schwierigkeiten hatte, die richtige Teigkonsistenz zu finden oder mit einem Schneebesen eine Masse zu vermischen. Sie erinnert sich daran, wie es ihr als Anfängerin ähnlich erging: Wie muss sich der Teig anfühlen, um richtig zu sein, wie presse ich ihn in die Form – eher locker, eher Beton? – und wie bewege ich mein Handgelenk, um dieses komische Silberding in meiner Hand zu einer vernünftigen Bewegung zu kriegen?

Ich mochte den Text sehr, das Rezept war mir schon egal, weil es mich daran erinnerte, dass auch ich inzwischen diese Erfahrung habe, ohne es wirklich mitzukriegen. Das merke ich am meisten, wenn ich einen Hefeteig zubereite. Bei anderen Kuchenteigen verlasse ich mich meist auf die Rezepte und gucke, was dabei rauskommt. Bei Hefe weiß ich aber genau, wie er sich anfühlen muss (beim Hefezopf arbeite ich immer nach Gefühl), wie er aussehen muss (beim Pizzateig will ich eine ganz bestimmte Konsistenz, die anders ist als beim Zopf), wie er sich ausrollen lassen muss (bei Croissants eh das Wichtigste). Auch bei Saucen gucke ich inzwischen eher, bevor ich koste, ich weiß durch einen Blick und nicht durch das, was auf dem Löffel ist, ob sie noch einkochen müssen oder nicht (meistens). Ich weiß halbwegs, wie man ein Messer hält und damit umgeht, ich weiß, wie man Kräuter hackt und Zwiebeln schneidet, ich kann einen Kuchen im Ofen anschauen und weiß, dass er noch nicht durch ist (ebenfalls meistens). Und wenn ich mir Videos anschaue, in denen Köchinnen Thai-Currys zubereiten, weiß ich auch, was ich alles noch nicht kann, weswegen Videos super sind. Und Kochbücher, die mir sagen, wie Dinge aussehen oder sich anfühlen müssen, damit ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Oder Kochblogs, die nicht nur Fotos vom fertigen Produkt zeigen, sondern auch den Zwischenschritten – wie sieht ein Teig aus, wenn er vom Löffel fließt? Wie stückig ist stückig? Diese Fotos spare ich mir immer, weil ich alleine vor mich hinkoche und niemanden habe, der meine Hand beim Rühren aufnimmt, und ich außerdem alle Konzentration für den Koch- oder Backvorgang brauche, gerade jetzt im Corona-Matschbirnen-Zustand. Aber ich bin dankbar für alle, die mir das anbieten können, damit ich hier locker vor mich hinplaudern kann, Kirschkuchen, kein Ding, hier Teig, da Streusel, zack, fertig. Bis ich das hingekriegt habe, musste ich auch erstmal zehn halbgare Kuchen produzieren und ich koche immer noch Rezepte nach, die so gar nicht klappen, oder lasse Milchreis anbrennen (das war eine Lektion in Demut) und werfe Pfannkuchen aus der Pfanne (okay, das war Übermut).

Ich merke beim Kochen, genau wie in so ziemlich allen anderen Lebensbereichen auch, was ich mir beim Weintrinken irgendwann mal gemerkt habe: If you want to develop a palate, develop a palate. Wenn du irgendwas können möchtest, dann mach’s einfach dauernd. Trink mehr Wein, guck mehr Kunst, schlag mehr Mayonnaise auf, und irgendwann wendest du Pfannkuchen in der Luft, ohne dir vorher selbst Mut zusprechen zu müssen. Bada bing bada boom.