Am Freitag lag ein Brief in meinem Briefkasten. (Ach was.) Kann sein, dass der schon ein paar Tage dort lag, ich gehe, wenn es sich einrichten lässt, nur einmal die Woche raus und gucke dementsprechend selten im Kästchen nach. Also: Am Freitag öffnete ich einen Brief, der von einem Button-Hersteller kam und musste sehr lachen:
Ich schrieb vor ein paar Tagen über die Frage, ob wir uns, wenn wir alle geimpft sind, in Cliquen zusammen tun, die unseren Impfstoff verdeutlichen, Selbstzitat: „The AZ Team, Comirnaty Ultras, Depeche Moderna? Und irgendwann Sigue Sigue Sputnik?“
Ich postete den Button auf Twitter und Insta. Auf Insta meinte jemand, sowas sollte man den Impfstofflieferungen beilegen und dann könnte man sich als frischer Impfling sowas anstecken, wie in den USA die „I voted“-Sticker. Auf Twitter wurde der Beitrag recht oft geherzt, es kam aber auch eine kleine Gegenrede von Herrn nobilor: „Ist zwar nur ein Button, aber ehrlich gesagt triggert mich das gerade etwas. Ich und viele andere müssen noch (vielleicht etliche) Monate warten. Pandemie geht nur mit Solidarität und Geduld. Das öffentliche Herausstellen des Impfstatus finde ich da nicht so passend.“
Ich antwortete: „Entschuldige bitte. Ich hatte nicht vor, den Button zu tragen, bevor wir alle halbwegs geschützt sind, aber ich habe nicht daran gedacht, dass alleine das Herzeigen hier auch schon nerven könnte. (Ich vergesse gerne, dass ich hier nicht nur mit drei Leuten rede.)“
nobilor: „Nein, ist alles gut. Ich rege mich darüber nicht ernsthaft auf. Es geht mir eher so um den allgemeinen Umgang miteinander, solange wir eine teilgeimpfte Bevölkerung sind. Darüber mache ich mir schon Gedanken.“
Icke: „Ich mir auch. Die Hälfte meiner Umgebung ist alt und Risikogruppe und damit immerhin teilgeimpft, die andere, wie du, weiß überhaupt nicht, wann sie dran ist. Die sind auch mürbe und schwanken zwischen Mitfreuen und Mutlosigkeit.“
Gerade in den letzten Tagen kamen in meiner Timeline mehrere Tweets mit Freude über das Geimpftsein oder einen Termin, gleichzeitig aber in fast derselben Frequenz Nachrichten von Menschen, die langsam verzweifeln, die weinen, die ängstlich sind. Und ich weiß, dass es mir vor zwei Wochen ähnlich ging; diese Perspektivlosigkeit auszuhalten ist schwierig. Wenn ich gewusst hätte, so, Gröner, im Mai bist du dran, dann wäre das zwar immer noch wahnsinnig weit in der Zukunft (gefühlt), aber ich hätte eine Zielmarke, auf die ich zulaufen könnte. Dieses unbestimmte „irgendwann im dritten Quartal, möglicherweise“ ist fürchterlich. Falls ich noch jemand anders mit dem Button getriggert haben sollte, bitte ich um Entschuldigung.
Der freundliche Schenker hat sich übrigens per DM zu erkennen gegeben, da hätte ich auch von selbst draufkommen können, von wem der war. Dankeschön!
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Den halben Freitag verbrachte ich damit, Gemüse in sehr feine Streifen zu schneiden oder es zumindest zu versuchen. Ein Gemüse, das eigentlich ein Obst ist, war eine grüne Papaya, die ich freudig im Asiashop entdeckt hatte. Ich liebe diesen Laden so sehr und hoffe, sehr bald etwas entspannter in ihm wühlen zu können. Ich fand eher nebenbei die Silver-Swan-Sojasauce, die laut meines philippinischen Kochbuchs die haushaltsübliche ist, und besitze nun fünf Sojasaucen: aus Japan, China, Thailand (da auch noch die Variante mit Pilzen), Indonesien und eben von den Philippinen.
Eigentlich wollte ich mal keinen Kuchen backen, aber da war noch Ricotta, der wegmusste, und so bastelte ich einen Kuchen aus Ricotta, Olivenöl und Zitrone. Ich mag Kochen und Backen derzeit noch mehr als sonst, weil es so herrlich ablenkt. Gerade beim Juliennieren (gibt es das Wort?) kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren als mein Messer und meine Finger. Ich glaube, ich schneide heute noch ein paar Knollen in Stifte.
Gestern und vorgestern bekam ich Nachrichten nur so halb mit, Kanzlerkandidaten, eine Kandidatin, Augsburg-Spiel, Super League, whatever, ich habe keine geistige Kapazität mehr für irgendwas. Es nordet gerade auch schön ein, was wirklich wichtig ist bzw. was nach der Pandemie (TM) noch meine Aufmerksamkeit verdient hat.
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Samstag und Sonntag waren Lesetage. Und kaum lässt man sein Buch alleine, um sich Kaffee nachzuschenken, pfaut es rum.
Ich las Helga Schuberts Vom Aufstehen: Ein Leben in Geschichten durch. Mit dem Buch hatte ich anfangs etwas gefremdelt; zwischen Geschichten, die mir viel über die Nachkriegszeit und/oder die DDR erzählten, mischten sich Vignetten über den Wald und den Altweibersommer, die mir herzlich egal waren. Die letzte Story im Buch ist der Text, für den Schubert den Bachmannpreis gewann, und aus ihr ergaben sich quasi alle anderen im Buch. Böse gesagt: Wenn man den Text kennt, muss man das Buch nicht mehr lesen. Freundlicher ausgedrückt: Viele Details aus dem Text haben wirklich eine eigene Geschichte verdient und sie nun bekommen.
Seit gestern, genauer gesagt, seit dem Frühstück mit Filterkaffee aus der Sammeltasse, lese ich Ilko-Sascha Kowalczuks Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass die Wiedervereinigung schon 30 Jahre her ist, mir sind die Umbruchmonate immer noch so präsent vor Augen. Andererseits hatte ich viele der Diskussionen schon wieder vergessen, die die Einheit begleiteten, und sie werden sehr gut les- und nachvollziehbar im Buch erläutert. Einiges wusste ich auch nicht oder nicht mehr, zum Beispiel wie heruntergewirtschaftet die DDR gewesen war.
„Heute neigen Wirtschaftshistoriker dazu, die DDR als Schwellenland einzustufen. Die Arbeitsproduktivität erreichte gegen Ende der achtziger Jahre nur noch rund ein Drittel von derjenigen der Bundesrepublik. Die internationale Verschuldung wuchs und führte die DDR an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. […] Wichtige Säulen wie Kommunikationsnetze, Verkehrswege oder Agrarwirtschaft wurden sträflich vernachlässigt. 18 Prozent des Straßennetzes galten als unbefahrbar, die Autobahnen waren in einem maroden Zustand. Das Eisenbahnnetz war veraltet, die Elektrifizierung kam kaum voran, und 17 Prozent des Streckennetzes konnten nur mit geringen Geschwindigkeiten befahren werden. Ein Fünftel des Gesamtnetzes galt als nicht befahrbar. Nur 16 Prozent aller privaten DDR-Haushalte verfügten 1988 über einen Telefonanschluss. […] Die Mikroelektronik erwies sich in der Rückschau geradezu als die größte Pleite. Die DDR hinkte dem internationalen Entwicklungsstand acht bis zehn Jahre hinterher, ihre Produktionseffizienz betrug zehn Prozent von der westlicher Firmen. Auch die Landwirtschaft war ein Sorgenkind der SED. Die Menschen wurden zwar satt, aber die Kosten dafür waren extrem. […] Mangel war ein Kennzeichen der Gesellschaft, eine alltägliche Erfahrung der Menschen.“ (S. 27)
Das Buch beschreibt ebenso gnadenlos, dass auch in der alten Bundesrepublik nicht alles funktionierte und wie der Einigungsprozess eher einer Übernahme glich. Die allerdings von einer großen Mehrheit der DDR-Bürger und -Bürgerinnen gewünscht war.
„Der Wahlkampf [zur Wahl im März 1990] war allein geprägt von der Frage, wie die deutsche Einheit gestaltet werden könnte [im Gegensatz zu Überlegungen, die DDR zu reformieren]. Die ‚Allianz für Deutschland‘ (CDU, Deutsche Soziale Union/DSU, Demokratischer Aufbruch/DA) stand für den schnellsten Weg zur Einheit. Ihre Formel lautete: ‚Sofortige Einführung der DM.‘ Mehr konnte niemand bieten. Damit waren Wahlversprechen verbunden wie die Umstellung der Löhne, Renten und vor allem Sparkonten im Verhältnis 1 DDR-Mark:1 DM, die unhaltbar waren. Heute nennt man sowas Populismus. […] Die ‚Allianz‘ erhielt 48% der Stimmen (CDU 40,8%, DUS 6,3%, DA 0,9%). Der prognostizierte Wahlsieger SPD lag bei knapp 22%. Die SED/PDS folgte mit 16,4%, fast 1,9 Millionen Erwachsene hatten sich für die Kommunisten und Postkommunisten entschieden. […] Die britische Premierministerin Margaret Thatcher gratulierte Kanzler Kohl zum Wahlsieg, was den Nagel auf den Kopf traf. Wolf Biermann schrieb 1991 nicht weniger treffend: ‚Ein Bundeskanzler der Westdeutschen, wie ihn die Ostdeutschen verdient haben.‘“ (S. 46/47)
Spannender noch als die Nacherzählung der damaligen Ereignisse ist das, was danach kam: die lange Übergangsphase zu den sprichwörtlichen „blühenden Landschaften“, die teilweise bis heute andauert. Das Buch beschäftigt sich nicht nur mit den wirtschaftlichen Ergebnissen bzw. den Folgen für kleine und große Betriebe sowie jede/n einzelne/n, wobei das der Teil ist, den ich teilweise fasziniert und gleichzeitig etwas verzweifelt las. „[…]Ostdeutschland [hat sich] in fast dreißig Jahren deutscher Einheit […] der westdeutschen Wirtschaftsleistung nur um ganze 22 Prozent angenähert.“ (S. 117) Was auch damit zu tun hat, dass kaum große Firmen sich dort ansiedelten und halbe Jahrgänge vor allem gut ausgebildeter Menschen, darunter mehrheitlich Frauen, in den Westen gingen. „2006 hattten unter den 500 größten deutschen Unternehmen nur sieben ihren Firmensitz im Osten.“ (S. 119) Beim Abschnitt „Demokratie ohne Demokraten“ bin ich noch nicht, genau wie bei den Teilen , die sich mit der „Entwertung ostdeutscher Kultur“ sowie der Vergangenheitsaufarbeitung befassen. Aber bisher ist das Werk eine klare Leseempfehlung.
Auf das Buch wurde ich übrigens durch eine alte Wrint-Folge (November 2019) aufmerksam, die auch sehr hörenswert ist.