Tagebuch, Freitag, 18. Mai 2018 – Lesen und Schreiben

Vormittags ein Kundentelefonat gehabt, dann an mehreren Jobs gearbeitet.

Ein Geschenk für meinen Papa eingepackt, der heute Geburtstag hat.

Ein Leserinnengeschenk ausgelesen; das Büchlein hat genau für zwei Zugfahrten und ein halbes Stündchen auf der Couch gereicht und ich kann es sehr empfehlen. Ich zitiere nochmal die Rezension in der FAZ, denn sie bringt es auf den Punkt: „Terhoeven erzählt nicht zum wiederholten Male die Geschichte der Attentate und der entsprechenden staatlichen Reaktionen nach, sondern bietet eine systematische Einordnung von Vorgeschichte und Entwicklung der RAF.“ Und das alles sehr gut lesbar.

Has Wine Gone Bad?

Eine längere Abhandlung über natural wine und wie viel toller er ist als die olle Industrieplörre. So liest sich der Artikel jedenfalls über weite Strecken hinweg. Ich muss gestehen, ich habe noch keinen natural wine im Glas gehabt, bei dem ich nach diesem einen Glas dachte, ich hätte gerne noch ein zweites oder eine Kiste davon, ganz im Gegenteil. Vielleicht hatte ich bisher einfach Pech, aber ehe ich mich weiter durch literweise Pseudo-Cidre oder schwefeligen Apfelmost trinke, bleibe ich doch lieber beim total unbiologischen Massenwein. Der schmeckt mir nämlich schlicht besser.

Aber den Artikel fand ich trotzdem sehr lesenswert.

„The rise of natural wine has seen these unusual bottles become a staple at many of the world’s most acclaimed restaurants – Noma, Mugaritz in San Sebastian, Hibiscus in London – championed by sommeliers who believe that traditional wines have become too processed, and out of step with a food culture that prizes all things local. A recent study showed that 38% of wine lists in London now feature at least one organic, biodynamic or natural wine (the categories can overlap) – more than three times as many as in 2016. “Natural wines are in vogue,” reported the Times last year. “The weird and wonderful flavours will assault your senses with all sorts of wacky scents and quirky flavours.”

As natural wine has grown, it has made enemies. To its many detractors, it is a form of luddism, a sort of viticultural anti-vax movement that lauds the cidery, vinegary faults that science has spent the past century painstakingly eradicating. According to this view, natural wine is a cult intent on rolling back progress in favour of wine best suited to the tastes of Roman peasants. The Spectator has likened it to “flawed cider or rotten sherry” and the Observer to “an acrid, grim burst of acid that makes you want to cry”.“

(via Kaltmamsell)

Was schön war, Mittwoch/Donnerstag, 16./17. Mai 2018 – Eichhörnchenvorlesung und Kunstarchiv

Mittwoch ist Eichhörnchenvorlesungstag! So nenne ich bekanntlich die Vorlesung, die sich mit den Werkzeugen der modernen Malerei befasst. In der dieswöchigen Sitzung ging es um Farben, also nicht um ein Werkzeug, sondern um ein Material, aber auch hier lernte ich wieder tausend Kleinigkeiten, die mein Bild der Malerei um wichtige Bruchstücke ergänzten.

Wir begannen mit einer kleinen Einführung in die Geschichte der Farbherstellung, also wie aus Pigmenten und Bindemitteln die Farbe wird, die auf der Holztafel oder der Leinwand landet. Schon die Namen der alten Farben lassen erkennen, wie weit der Weg der Pigmente war, bis sie im zentralen Europa benutzt wurden. Das ist leider auch wieder so ein westlich-europäisches Denken – die Farben wurden natürlich auch in Asien und Afrika benutzt, wo diese Namen weitaus weniger Sinn ergaben. In Indigo steckt Indien (Bengalen) drin, und ich lernte die Indigo-Unruhen kennen, der mir bis dahin unbekannt war. Ultramarin („über das Meer“) wurde aus Lapizlazuli gewonnen, das hauptsächlich in Afghanistan abgebaut wurde (seitdem denke ich über die Farbe der afghanischen Burkas nach, bei denen ich mich schon länger gefragt habe: wieso sind die blau und nicht schwarz wie in arabischen Ländern die Frauengewänder?). Ich lernte, dass in der Renaissance die beauftragten Maler ihre Materialien genauso wie ihre Arbeitszeit abrechneten und dass Gold und Ultramarin extrem teuer waren, weswegen mit diesen Farbtönen nur die wichtigsten Bilddetails gemalt wurden (der Himmel als Goldgrund, das dunkelblaue Gewand der Maria). In Türkis steckt die Türkei, in Orange die exotische Frucht, in Indisch-Gelb … okay, das ist selbsterklärend. Was ich aber noch nicht wusste: Diese Farbe entstand aus dem Urin von Kühen, die mit Mangos gefüttert worden waren.

In diesem Zusammenhang lernte ich auch, dass Pigmente mit zu den ersten Dingen gehörten, die global gehandelt wurden. Einen wirtschaftlichen Buchtipp des Dozenten dazu lieh ich mir gleich aus. Und dazu noch ein Buch, das er empfahl, in dem es unter anderem um die schon angesprochenen Künstlerrechnungen geht und was sie uns über die Malerei der Renaissance verraten.

Wir kamen noch einmal auf den intellektuellen Kampf zwischen Linie und Farbe, disegno/colore, zu sprechen, der in der Renaissance begann, sich aber bis ins 19. Jahrhundert fortsetzte. Die beiden Spielarten der Malerei wurden gerne als männlich/weiblich positioniert, siehe das Bild von Il Guercino im Wikipedia-Link zu disegno. Das ging so weit, dass Charles Blanc in seinem Buch Grammaire des arts du dessin (1867) davon sprach, dass die Farbe nie die Macht über die Linie gewinnen dürfe, sonst würde sie die Malerei ruinieren so wie Eva die Welt ruiniert hätte. (Hier bitte das übliche Augenrollen meinerseits dazu denken.) Wir sahen auch wieder ein Bild von Gérôme, Der Farbenhändler (1890), in dem man, wenn man will, die Farbtöpfe mit den Pigmenten und den Stößel als weiblich/männlich interpretieren kann.

Wir sprachen dann über den Übergang von Tempera- zu Ölfarben, mit denen sich die Möglichkeiten der Darstellung deutlich veränderten. Weil Ölfarbe länger braucht, bis sie trocknet, kann man sie dementsprechend länger verarbeiten, verändern, mischen, während Tempera kaum noch nachträgliche Änderungen möglich macht. Vor allem für die Darstellung von menschlicher Haut und ihrer sinnlichen Qualitäten wurde Ölfarbe geschätzt, bis im 19. Jahrhundert der Historismus eine Zäsur schuf. Die Präraffaeliten in England sowie die Nazarener im deutschsprachigen Raum orientierten sich eher an alten Bildmotiven bzw. Malstil, während in Frankreich viele Künstler bewusst wieder zur Temperafarbe griffen, um der akademischen Ölmalerei etwas entgegenzusetzen.

Im 20. Jahrhundert bewarb Magna Paint ihre Acrylfarbe mit dem (sinngemäßgen) Slogan: „Die erste neue Farbe seit 500 Jahren.“ Ob das völlig stimmt, ließ der Dozent mal dahingestellt, aber: Die Acrylfarbe veränderte die Malerei erneut, ähnlich wie die industrielle Herstellung von Farben Ende des 19. Jahrhunderts den Welthandel mit Pigmenten veränderte bzw. zum Erliegen brachte. Anfang des 20. Jahrhunderts war übrigens das Deutsche Reich führend in der Herstellung; 90 Prozent aller Industriefarben stammten daher. Die zwei Weltkriege veränderten aber auch diese Industrie bzw. den Welthandel damit. (Ich wundere mich ja immer noch, was wir alles verkackt haben in unserer Geschichte. Es kommen immer wieder Details dazu, die ich noch nicht kannte.)

Zurück zur Acrylfarbe. Wir sahen unter anderem ein Bild von Thomas Hart Benton, dem Lehrer von Jackson Pollock, der mit der Moderne haderte. Sein Wandgemälde Instruments of Power from America Today (1930/31) besteht zum Teil aus Tempera, ein bewusst gewähltes Material. Pollock hingegen verwendete bewusst Acrylfarbe bzw. Autolack, der nicht nur andere Farbtöne aufwies, sondern sich auch anders auf seinem Malgrund verteilen ließ. Autolack kam im Eimer und musste nicht mehr auf Paletten angemischt werden; seine Drip Paintings wären mit althergebrachten Materialien gar nicht möglich gewesen. Er sagte 1951 in einem Interview: „Each age finds its own technique.“ Ich musste sofort an die Videokunst der 70er und 80er Jahre denken, die heute nicht mehr von anfälligen Bändern und Videorekordern abgespielt wird, sondern schon auf DVD existiert (noch). Oder die ersten Kunstwerke, die sich mit Computern und dem Internet auseinandersetzten und schon heute total veraltet aussehen, obwohl sie gerade mal 20 bis 30 Jahre alt sind. Gleichzeitig denke ich aber über die Renaissance der Malerei nach wie sie zum Beispiel Neo Rauch betreibt, der für meinen Geschmack immer barocker wird.

Gestern saß ich dann wieder im Kunstarchiv in Nürnberg und wühlte den Nachlass von Protzen ein zweites Mal durch. Seit dem ersten Durchgang hatte ich viel gelesen und mich weiter in dieser Zeit umgeschaut, aber vor allem hatte mein Kopf die Gelegenheit, alles sacken zu lassen. So sah ich gestern Dinge, die mir beim ersten Anschauen nicht aufgefallen waren. Zum Beispiel hatte ich seine vielen privaten Fotoalben nur flüchtig durchgeblättert, sah nun aber, dass viele Motive aus Urlauben oder von Wochenendausfahren sich in seinen Gemälden wiederfanden. Ich sah Ölbilder, die eindeutig auf die Grafikmappe von 1920 rekurrierten, ich konnte Namen und Daten besser einordnen, die mir jetzt in der Korrespondenz unterkamen (die leider nicht sehr reichhaltig vorhanden ist), und ich konnte generell sein Werkverzeichnis etwas aufmerksamer anschauen als beim ersten Mal, weil ich inzwischen ein bisschen besser weiß, wo ich hinmöchte.

Außerdem durfte ich gestern die 15 Kisten des noch unverzeichneten Nachlasses nummerieren und habe mir brav notiert, was ich in welcher Kiste oder Mappe finde; das wird mir bei den nächsten Durchgängen sehr helfen. Dass es noch weitere Durchgänge geben wird, ist klar, aber jetzt warte ich erstmal auf ein paar Antworten per Mail bzw. schreibe noch an weitere Menschen, Firmen und Institutionen, von denen ich mir Auskünfte erhoffe. Das wird! (Hoffe ich.)

Tagebuch, Dienstag, 15. Mai 2018 – Hilfestellung

Förderpreise 2018 der Landeshauptstadt München

Wir sprachen im letzten Podcast über die Ausstellung der Preisanwärter*innen. Gestern wurden die Gewinner verkündet. Ich freue mich sehr über die Auszeichnung im Bereich Schmuck für Annamaria Leiste, die mir persönlich in dieser Kategorie auch am besten gefallen hat. Auch die Siegerin im Bereich Fotografie, Mara Pollak, war eine meiner Favoritinnen; hier der Link zum ausgestellten Projekt „Zurückgebaut“, das ich sehr mochte und Florian eher doof fand. Einen Instagram-Stream hat die gute Frau auch, sehr schön, gleich mal folgen.

Beim Design von Christian Zanzotti waren wir uns halbwegs einig: die Whiskyflasche ist furchtbar, das Motorrad aber schon sehr geil. Auch die Arbeiten der Architektin Sofia Dona (Winterschlaf bzw. Herbarium) gefielen uns allen. Bei Philipp Gufflers Arbeit waren wir uns nicht einig, und das Werk von Babylonia Constantinides habe ich peinlicherweise übersehen, obwohl ich es aus dem Nebenraum schon gehört habe. Ich mochte ihre Installation Radiation Room bei Neue Favoriten III im Lenbachhaus allerdings sehr gern.

Tom Wolfe, Author of ‘The Right Stuff’ and ‘Bonfire of the Vanities,’ Dies

Den Mann habe ich größtenteils sehr gerne gelesen, Bonfire mehrmals. Charlotte Simmons fand ich allerdings sehr grützig. Die NYT versammelt noch mal ihre Rezensionen.

„Once asked to describe his get-up, Mr. Wolfe replied brightly, “Neo-pretentious.”

It was a typically wry response from a writer who found delight in lacerating the pretentiousness of others. He had a pitiless eye and a penchant for spotting trends and then giving them names, some of which — like “Radical Chic” and “the Me Decade” — became American idioms.

His talent as a writer and caricaturist was evident from the start in his verbal pyrotechnics and perfect mimicry of speech patterns, his meticulous reporting, and his creative use of pop language and explosive punctuation.

“As a titlist of flamboyance he is without peer in the Western world,” Joseph Epstein wrote in the The New Republic. “His prose style is normally shotgun baroque, sometimes edging over into machine-gun rococo, as in his article on Las Vegas which begins by repeating the word ‘hernia’ 57 times.”“

Ansonsten war gestern ein Tag, an dem ich nur Hilfestellung leisten konnte. Ein mir nahestehender Mensch kämpft gerade mit alten Dämonen, und ich konnte immerhin da sein. Ich hoffe, es hat gut getan.

Tagebuch, Montag, 14. Mai 2018 – Dinge geregelt kriegen

TOP 1: zum Prüfungsamt radeln und endlich mein Masterzeugnis im Original vorlegen. Für meine Immatrikulation als Doktorandin reichte das vorläufige Zeugnis und ich musste versprechen, das Original nochmal vorzulegen, sobald es mir ausgehändigt wurde. Das habe ich natürlich total vergessen (ich war ja immatrikuliert, nach mir die Sintflut), bis letzte Woche eine freundliche Mail kam, die mich darauf hinwies, dass ich dem Amt noch was schuldig wäre (es muss was Lebendiges in den Deich). Also hingeradelt, ohne Wartezeit eingetreten, Original vorgelegt, drei mitgebrachte Kopien abgestempelt bekommen, alles da. Neben der Prüfungsamtsdame saß übrigens eine Auszubildende (?), der erklärt wurde, was hier gerade passiert. Jetzt weiß ich, dass es anscheinend Leute gibt, die per Farbkopierer Masterzeugnisse fälschen. Ich gucke ja lieber Serien, aber das klingt auch wie ein interessanter Zeitvertreib.

TOP 2: dem Lieblingshörsaal Hallo sagen. Wenn ich im Hauptgebäude in der Nähe bin, gucke ich da immer sehnsuchtsvoll rein. Ich vermisse dich, klimatisierte und optimal verdunkelbare Holzkiste mit guter Akustik und bequemen Sitzen! Team B 201 forever! Let’s get tattoos together!

TOP 3: zur Stabi radeln und ein Buch abgeben. Eigentlich kein Ding, aber wenn vor einem in der Schlange ein Mädel mit zwei Büchertaschen steht, dauert es eben doch ein bisschen. Vor allem, wenn die Hälfte der Bücher auf die Karte ihrer Schwester ausgeliehen war und sie ein paar davon jetzt auf ihre eigene und überhaupt. Ging aber alles, ich gab mein lausiges Einzelbuch ab und radelte wieder nach Hause.

TOP 4: Wäsche waschen, Teil 2. Meine Samstagswäsche war trocken, nun kam das ganze Bettzeug dran.

TOP 5: Erdbeeren mit Vanillejogurt essen. Bester Tagesordnungspunkt ever!

TOP 6: Masterchef Australia gucken. Zweitbester Tagesordnungspunkt ever! Und dank der Zeitverschiebung nach Australien schon ab ungefähr 14 Uhr in diesem Interweb möglich!

TOP 7: Mails schreiben.

– an die Unibibliothek Münster, die die gleiche Grafikmappe von Protzen im Bestand hat, die ich mir Freitag im ZI angeschaut hatte. Bei uns fehlt allerdings ein nummeriertes Blatt – nach der 2 kommt die 4 –, aber die Gesamtzahl von 20 Blättern ist korrekt, denn nach der 20 kommt noch eine unnummerierte Seite. Da es diese Mappe anscheinend nur in diesen zwei Bibliotheken gibt und die Uni Münster das Ding als RaRa-Bestand nicht als Fernleihe rausrückt, fragte ich per Mail nach, ob ihre Mappe genauso aufgebaut ist wie unsere und wenn nicht, ob ich Blatt 3 bitte als Digitalisat oder Kopie kriegen könnte. Die Bibliothek antwortete nur kurze Zeit später, dass sie die Mail an die Abteilung Historische Bestände weitergeleitet habe, und von dort meldete sich ebenfalls nur kurze Zeit später jemand, der mir sagte, dass die dortige Mappe ein Blatt 3 habe. Da Protzen aber erst 1956 verstorben und sein Werk damit noch nicht gemeinfrei ist, darf das Digitalisat nicht ins Netz gestellt werden, sondern ich muss gegen eine kleine Gebühr einen Scan bestellen, den ich dann per Mail kriege. Hin- und hergerissen gewesen zwischen Freude über die schnelle Erledigung und die tollen Möglichkeiten der Digitalisierung und Ärger über das beknackte Urheberrecht und seine bescheuerten 70 Jahre Schutzfrist.

– an das Kunstarchiv Nürnberg, wo ich Donnerstag wieder sitzen und im Nachlass von Herrn Protzen rumwühlen werde. Dafür müsste mir der Nachlass aber ausgehoben werden und darum bat ich in der Mail.

– an das Lenbachhaus, in dessen nicht-öffentlicher Bibliothek sich anscheinend das letzte Exemplar eines Katalogs zu einer Ausstellung von Protzen und seiner Frau Henny Protzen-Kundmüller von 1976 befindet. Der Nachlass der beiden, den ich gerade in Nürnberg bearbeite, wurde von Protzen-Kundmüller sowohl dem Lenbachhaus als auch der Bayerischen Staatsgemäldesammlung überlassen mit der Auflage, eine Gedächtnisausstellung auszurichten. Die haben beide nicht mehr miterlebt – Protzen starb 1956, Protzen-Kundmüller 1967 – und sie war vermutlich nicht exorbitant groß, denn der Katalog umfasst gerade 16 Seiten. Aber auch die will ich natürlich sehen. Und ich hoffe insgeheim, dass vielleicht doch ein paar Unterlagen noch im Lenbachhaus oder bei der Staatsgemäldesammlung rumliegen, die ich in Nürnberg schmerzlich vermisse.

– nochmal an das Lenbachhaus, aber an eine andere Ansprechpartnerin. Dieses Mal geht es mir um die Bestände von Protzen im Haus, von denen ich gerne eine Liste hätte. Ein Anfang war natürlich die Datenbank Gemälde in Museen – Deutschland, Österreich, Schweiz Online, bei der ich generell nachschauen kann, welches Bild sich wo befindet, aber die einzelnen Häuser verzeichnen gerne noch für mich relevante Infos wie Zugangsdatum, Ankaufspreis oder ähnliches.

– nochmal die gleiche Mail, aber dieses Mal an die Pinakotheken, die über 100 Bilder von Protzen im Depot haben. Und eins in der Ausstellung. (Theoretisch. Ich weiß gerade selbst nicht, ob es derzeit im Saal 13 hängt oder für die Klee-Ausstellung weichen musste. Oh, die könnte ich mir auch allmählich mal anschauen. TOP für heute!) Die Liste hätte ich gerne, weil mir die Online-Sammlung, so praktisch sie für den ersten Eindruck ist, nicht weiterhilft wegen der bereits bemängelten Bildrechte. Ich brauche Abbildungen!

– ans Bundesarchiv in Berlin, um die Unterlagen der Reichskammer der bildenden Künste einzusehen und zu überprüfen, ob Protzen wirklich kein Mitglied der NSDAP war, wie er es im Spruchkammerbogen angegeben hatte, der netterweise im Nachlass liegt. Ich frage nicht nach, warum er da liegt und nicht in einem Archiv, sondern freue mich über einen Weg weniger.

(Ach, wo ich gerade nach „Spruchkammerbogen“ gegoogelt habe, weil ich mir plötzlich bei der Bezeichnung unsicher war: hier ist der Bogen von Oskar Schindler aus Regensburg.)

TOP 8: Zeitung lesen, Ulysses lesen.

TOP 9: Käsebrot, Gin Tonic.

TOP 10: den Abend mit F. verbringen. Gemeinsam einschlafen.

Alles abgearbeitet!

Was schön war, Sonntag, 13. Mai 2018 – Schlafen

Einen 50-minütigen Film über James Joyce geguckt (danke an @komplizin für den Hinweis). Weiter Ulysses gelesen.

Aber ansonsten:

Tagebuch, Samstag, 12. Mai 2018 – Ürovisiong

Ausgeschlafen, einkaufen gegangen, Leergut weggebracht, Wohnung zu gefühlt 70 Prozent geputzt, den Rest ignoriert (für sowas wird man erwachsen), Betten bezogen, Wäsche gewaschen. Den Newsletter der New York Times abonniert (nur für Abonnent*innen), der mir helfen soll, die Küche vernünftig zu organisieren. Kann ich eigentlich auch alleine, aber ich mag das Konzept Newsletter inzwischen recht gerne.

Mal wieder Cold Brew genossen, seit letztem Jahr mein Lieblingsgetränk im Sommer. Ich nutze dazu immer noch diese Flasche, die ich gerne weiterempfehle: gut zu reinigen, passt in die Kühlschranktür und man erspart sich das Umfüllen, wenn der Brew durchgezogen ist. Bisher habe ich, shame on me, bereits gemahlenen Kaffee dafür benutzt, aber seit einiger Zeit achte ich ja brav darauf, was mir so in die Kaffeetasse kommt. Daher habe ich meinen Vorrat an herrlichen Kaffeebohnen durchwühlt und trinke gerade diesen Kaffee von Kolla Kaffee in Rosenheim. Damit habe ich zum ersten Mal geschmeckt, dass Kaffee eine Frucht ist. Ich schmeckte kein anderes Obst heraus oder Nüsse oder Schokolade, sondern anscheinend das Kaffeearoma. Ich würde vielleicht ein winziges bisschen auf Birne gehen, aber das kann Einbildung sein. Der Cold Brew war keine Spur säuerlich, sondern frisch und fruchtig, aber eben keine Frucht, die ich kannte. Da ersparte ich mir sogar den kleinen Schwups Milch, den ich sonst gerne in die Cold Brew kippe.

Ich trinke schwarzen, kalten Kaffee. Das hätte mir mal jemand vor ein paar Jahren prophezeien sollen.

Nachmittags natürlich den letzten Bundesliga-Spieltag in der Konferenz verfolgt. Das Augsburg-Spiel war egal, auch wenn ich ehrlich gesagt auf eine Freiburger Niederlage oder wenigstens ein Unentschieden gehofft hatte, weil ich dem Laden das 3:3 im Hinspiel immer noch übelnehme. Hat nicht funktioniert, aber war wie gesagt egal. Der Verein beendet die Saison auf dem 12. Platz, was weder Fisch noch Fleisch ist, aber eben auch nicht die Abstiegsecke, in die der FCA vor Saisonbeginn von so ziemlich allen reingeschrieben wurde. Genau wie Hannover, die hinter dem FCA auf Rang 13 ins Ziel gekommen sind.

Die ganze Saison fluchte ich wie immer über Hamburg und nölte, dass sie doch bitte endlich absteigen sollten, aber je näher das Szenario rückte, desto wimmeriger wurde ich dann doch. Der Schlussspurt im Daumendrücken war vergebens: Der letzte Verein, der seit Gründung der Bundesliga im Oberhaus dabei ist, ist seit gestern nicht mehr dort.

Keine vernünftige Tageszeitung und jetzt auch keinen Erstligaverein mehr – rechtzeitig aus der Stadt weggezogen, würde ich sagen.

(Too soon?)

Abends den Grand Prix geguckt, wie er bei mir immer noch heißt und mich sinnloserweise über die gute Platzierung des deutschen Beitrags gefreut, der mir aber dann doch eher egal war. Noch egaler war mir allerdings der Siegertitel, den ich eigentlich toll finden müsste: eine nicht-normschöne Frau singt über die #metoo-Sache, aber mir ging das Lied total auf den Zeiger.

Was aber schön war: Twitter war mal wieder Twitter, wie ich es mag: eine launige Eckkneipe, in der nicht über Politik geredet wird, sondern wo alle Drinks mit Schirmchen haben und zu schlechter Musik mitgrölen.

Einen Kakao zur guten Nacht. Auch dafür wird man erwachsen.

Was schön war, Freitag, 11. Mai 2018 – ZI und gutes Essen

Morgens mit der U-Bahn in Richtung ZI gefahren, weil ich danach noch ein Paket abholen musste, von dem ich ahnte, dass es nicht auf meinen Gepäcktrager passen und ich es daher lieber zu Fuß transportieren würde.

Über den Königsplatz gegangen.

Das ZI liegt quasi rechts vom NS-Dokumentationszentrum im oberen Bild.

Konzentriert ein paar Stündchen an der Diss gearbeitet. Ich hatte mir eine Grafikmappe von Protzen aus dem Magazin bestellt, die aus 20 Blättern besteht und von 1920 stammt, also ganz vom Anfang seiner künstlerischen Entwicklung (er begann sein Studium 1919 in München, war aber bereits ausgebildeter Grafiker). In den Grafiken setzt er sich mit seiner eigenen Internierung auf Korsika auseinander; er lebte zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Paris und wurde als feindlicher Deutscher auf der Insel festgesetzt. Die Bilder haben mich insofern überrascht, als dass sie völlig im Stil des Futurismus gestaltet waren, ich musste sofort an Boccioni denken. Mir sind noch keine bildlichen Auseinandersetzungen mit dem Weltkrieg in diesem Stil bekannt (der ja Krieg super fand, jedenfalls bis es zum Krieg kam), aber das liegt an mir, weil mir der Futurismus auf den Zeiger geht und ich mich nur im Vorübergehen bei meiner Arbeit zu Archipenkos Schreitender Frau (1912) mal mit ihm beschäftigt habe. Weltkriegsdarstellungen verbinde ich im Kopf immer sofort mit dem Expressionismus oder der Neuen Sachlichkeit, daher waren das gestern zwei spannende Stunden für mich, die ich mit Bildbeschreibungen verbracht habe.

Danach erledigte ich Fleißarbeit. In Protzens Nachlass befinden sich bergeweise Kataloge von Ausstellungen, an denen er teilgenommen hatte. Gestern griff ich im ZI zum unerlässlichen Nachschlagewerk zu diesem Thema, nämlich Ausstellungen von deutscher Gegenwartskunst in der NS-Zeit, für die Martin Papenbrock und Gabriele Saure die Mitteilungsblätter der Reichskammer der bildenden Künste ausgewertet und ein schnell durchsuchbares Kompendium gestaltet haben, in dem man nach Künstler*innennamen, aber auch nach Ort nach Ausstellungen suchen kann. Aufgeführt sind die jeweiligen Namen der Ausstellung, wann sie wo stattfanden, wieviele Exponate gezeigt wurden und wie der Katalog aussah (Seitenanzahl, Abbildungen, im besten Fall auch, wo der Katalog noch zu finden ist – meistens bei uns im ZI, yay). Ich hatte im Nürnberger Kunstarchiv, wo Protzens Nachlass liegt, bereits eine Liste begonnen mit allen Ausstellungen, die ich dort zu ihm finden konnte, inklusive Anmerkungen, ob Bilder von ihm im Katalog abgebildet waren, die ich noch mit seinem selbst angelegten Verzeichnis seiner Ölgemälde vergleichen will. Gestern ergänzte ich diese Liste, denn einige Ausstellungen fehlten – von denen hat er sich vielleicht keinen Katalog aufgehoben oder ihn bewusst nicht in den Nachlass überführt.

Was mir blöderweise auch auffiel: Das Buch listet nur Städte auf, die heute noch zu Deutschland gehören. Ich wusste aus dem Nachlass von Ausstellungen wie „Süddeutsche Maler sehen das Ordensland“ (Danzig 1942), wo Protzen laut annotiertem Katalog 16 Bilder ausstellte und sie teilweise zu Preisen von bis zu 7000 RM verkaufte. Zur Erinnerung: Ein Facharbeiter verdiente zu dieser Zeit ungefähr 2400 RM im Jahr. 7000 ist schon eine anständige Hausnummer. Diese Ausstellung fand ich nicht bei Papenbrock/Saure, genauso wenig wie „Deutsche Künstler und die SS“ (Breslau 1944) oder „Deutsche Künstler sehen das Generalgouvernement“ (Krakau 1943), die Protzen sogar in seinem Spruchkammerbogen angab – im Sinne von „wurde vom Reich bezahlt, musste ich quasi machen, obwohl ich selbstverständlich strammer Antifaschist war“ (ich paraphrasiere hier gerade wild, ich hoffe, das ist klar).

Zur ergänzenden Fleißarbeit nahm ich mir auch die üblichen Nachschlagewerke noch einmal vor, in denen gerne Literatur auftaucht, die mir unsere Suchmaschine nicht ausspuckt. So war es auch dieses Mal, sowohl bei Ludwig als auch bei Vollmer fand ich noch Stellen, an denen ich rumwühlen kann. Außerdem vervollständigte ich meine Liste zu Protzens Ausstellungstätigkeit im Glaspalast.

Mit wieder fünfhundert neuen Geistesblitzen und Baustellen im Kopf beendete ich meine Arbeit, holte mein Paket ab, verspeiste Jogurt mit Obst und wartete darauf, dass es Abend würde, damit ich mit F. essen gehen konnte.

Wir entschieden uns wie schon oft für den Georgenhof und ich aß erstmals Kartoffelbaumkuchen, der mir etwas zu kuchig und zu wenig kartoffelig war. Aber der Teller war ausnehmend hübsch und der Rest darauf auch genau nach meinem Geschmack.

Was schön war, Donnerstag, 10. Mai 2018 – Freizeit

Gemeinsam sehr lange und entspannt in den Feiertag reingedöst.

Ebenso entspannt einen Blogeintrag verfasst und so nochmal das Theaterstück vom Dienstag und die Vorlesung von Mittwoch rekapituliert. Vielleicht sollte ich mich spaßeshalber in die Klausur reinsetzen; ich bin mir relativ sicher, die bei der ganzen Nachbereitung auch ohne Lernen bestehen zu können.

Reste der Nudeln von vorgestern abend verspeist. Gemerkt: einfach mal an alles Zitrone und Knoblauch hauen.

Wieder ein Kapitel im Ulysses in Angriff genommen. Nicht ganz fertig geworden, mich aber wieder gefreut, Ulysses zu lesen. Ich wusste, dass sich in diesem Kapitel der Sprachstil ändert und hatte mir vorgenommen, darauf zu achten, wann und wie er das tut, also ob sich das am Inhalt direkt festmachen lässt, wann das Englische vom Altenglisch zu einem etwas moderneren wird. Trotzdem habe ich diesen einen Satz, diesen einen Zeitpunkt nie mitbekommen, weil ich so mit dem Inhalt beschäftigt war. Mir ist nur irgendwann mittendrin aufgefallen, dass es sich auf einmal anders liest. Joyce, der alte DJ! Schön übergeblendet! (Oder wie immer das bei DJs heißt, wenn ein Stück ins nächste übergeht, ohne dass man es mitbekommt.)

Durch Facebook in ein 80er-Jahre-Loch auf YouTube mit Howard Jones und Nik Kershaw gefallen, jedes Wort mitgesungen und bei Rock in Rio entdeckt, dass ich eine Coverversion lieber mag als das Original, das eh nicht mein Liebling von Tears for Fears ist. (Das ist ist mein Liebling. Oder der hier. Ach, Pubertätsanke.)

Ein günstiges E-Book aufs iPad gezogen, um mehr von Michel Decar zu lesen. War aber zu sehr mit 80er-Jahre-Musik auf YouTube beschäftigt, um es anzufangen.

Gemeinsam eingeschlafen.

Was schön war, Dienstag/Mittwoch, 8./9. Mai 2018 – „Philipp Lahm“, Palettmesser, Zitronenbutter

Meine Eindrücke zum Stück Philipp Lahm von Michel Decar, das F. und ich am Dienstag abend im Marstall sahen, wollte ich eigentlich schon gestern aufschreiben, aber eine fast schlaflose Nacht mit anschließender fieser Müdigkeit tagsüber kam mir dazwischen. Außerdem hadere ich seit dem Stück mit meiner fast täglichen Überschrift „Was schön war“.

Philipp Lahm hat mir sehr gut gefallen, mich aber gleichzeitig auf vielen Ebenen angefressen. Und gerade als ich mich ärgern wollte, weil mich ein Theatersatz anfrisst, dachte ich, nee, das ist ja nur Theater, du bist ja gar nicht gemeint. Aber klar bin ich als Publikum gemeint und war wieder angefressen. Dann habe ich mich brav zusammengerissen und gedacht, du bist schon richtig so in deiner gelackten Mittelmäßigkeit, auch wenn die dir gerade fies vor Augen geführt wird in der Person eines fiktiven Fußballers, und das ist auch völlig okay, sich dauernd über sein eigenes Leben zu freuen und Dinge aufzuschreiben, die schön sind.

„Fernsehen und früh ins Bett gehen, das ist eine Haltung.“
(Zitat aus dem Stück.)

Philipp Lahm arbeitet sich an der Oberfläche ab, die wir alle herumtragen und weigert sich, in die Tiefe zu gehen, genau wie sich ganz vielleicht auch der echte Philipp Lahm dafür entschieden hat, öffentlich nur Oberfläche zu sein, unangreifbar, immer diplomatisch, immer beherrscht. Vielleicht hat der Mann keine Abgründe, vielleicht ist der ja wirklich so. Und so einer Figur, die sich mit Sätzen über die Mittelmäßigkeit und den Mainstream über 90 Minuten Spielzeit (Fußball/Theater, die Wortgleichheit fällt mir erst gerade beim Schreiben auf) rettet, sehen wir halt zu. In seinem Ikea-Wohnzimmer, in dem ich natürlich sofort eine Vase wiederentdeckt habe, die gerade bei mir auf dem Küchentisch steht. Vor einer Green Screen, einer Videoleinwand und vor einer dieser klappbaren Plastiktafeln mit Sponsorenaufklebern, vor denen im Stadion die armen Fußballer schlaue Antworten auf die immer gleichen doofen Fragen geben müssen. Auch damit spielt das Stück (ich zitiere aus dem Kopf und daher vermutlich falsch:)

(Off-Stimme:) „Philipp Lahm trifft sich mit einem Reporter von The Sun bei Burger King am Münchner Hauptbahnhof. „Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie den Weltmeister-Pokal in den Händen …“ [usw.]“

Das wird im letzten Interview sehr schön karikiert, als sich Philipp Lahm mit der Schülerzeitung Stachelbeere (eine große Verneigung für diese Namensgebung) irgendwo trifft und gefragt wird, wie er sich fühlte, als er zum ersten Mal hörte, dass die Dinosaurier ausgestorben sind.

Sonst erfahren wir noch Lieblingsbuch und Lieblingsfilm dieses mittelmäßigen Mannes („Mein Lieblingsbuch ist Die Unendliche Geschichte und mein Lieblingsfilm ist die Verfilmung von der Unendlichen Geschichte.“) Aber ab und zu setzt sich die Figur auch damit auseinander, dass ihm eben diese Mittelmäßigkeit immer vorgeworfen wird. Er behauptet, dass eigentlich L’Avventure von Antonioni sein Lieblingsfilm ist, weist aber weitere Theorien zurück, dass sein Leben eigentlich falsch sei. Manche Leute sagten, dass er sein Lieblingsbuch gar nicht kenne, denn das sei in den 1920er Jahren in einer Sprache geschrieben, die er nicht verstehe, und auch seine Frau sei nicht die richtige – vielleicht sitzt die Frau seines Lebens auf Korsika und trinkt Kirschsaft? Aber dann vergewissert er sich schnell selbst: Nein, die Frau seines Lebens sitzt da hinten im Wintergarten.

Wintergarten ist ein schönes Stichwort. Es fallen ständig Stichworte, die assoziativ sind und bei denen man sich an die eigene Nase fassen kann. Katar – dabei denken Bayern-Fans auch an die blöden Trainingslager vor Ort und die Partnerschaft mit dem Flughafen, der per Bandenwerbung zu sehen ist. Das wird aber alles nicht angesprochen, nur das Wort fällt und wer damit etwas assoziiert, ist halt selber schuld. Deswegen bin ich selber schuld, wenn ich mich angefressen fühle, weil mir jemand durch ein Stück zu verstehen gibt, dass es vielleicht nicht mein Job ist, nur schöne Dinge aufzuschreiben, sondern stattdessen heute auf die Demo gegen das Polizeiaufgabengesetz um 13 Uhr auf dem Marienplatz zu gehen, was ich nicht tun werde, weil ich lieber Blogeinträge schreibe und über deren Titel nachdenke und außerdem ist es zu warm.

Im Stück kommt nur eine Person vor, nämlich der fiktive Lahm, aber das wird kurz gebrochen, als der ebenso fiktive Autor eines Films über Lahm darüber sinniert, worüber man eigentlich schreiben soll, wenn man sich an einem derart unfassbaren Menschen abarbeitet. Autor Decar beschreibt das selbst so:

„Was soll denn passieren in so einem Stück? Auf den ersten Blick denkt man sich: ist doch eine völlig reibungslose Biographie, die der Lahm hat. Also dramaturgisch beschrieben: Es wird besser, dann wird’s noch ein bisschen besser, dann wird’s noch ein bisschen besser und dann hört es auf. Die Dramaturgie geht steil nach oben und man wartet vergeblich auf den FALL. Man sieht den RISE, den RISE, den RISE, den RISE und wartet: Wo kommt denn jetzt der große Skandal? Wann gibt’s die große Enthüllung? Wann kommt der Knall? Aber stattdessen hört der einfach auf zu spielen und zwar ein Jahr vor Vertragsende und sagt: Ich hab keine Lust mehr. Ich verzichte auf ein paar Millionen und bin jetzt raus. Ciao.“

Genauso fühlt sich das Stück auch an. Zwischendurch könnte es eventuell zum Fall kommen, darüber denkt auch Lahm nach und erzählt von einer Spritztour an den Tegernsee, die eventuell an einen Abgrund führt, aber vielleicht auch nicht. Der Mann macht eben alles richtig – und will uns davon überzeugen. Er singt ein Lied für die EU, er macht Werbung fürs Wählen, und er gibt gute Tipps für den Alltag: „Sagt Nein zu 19-jährigen Prostituierten, denn sie sind nie wirklich so alt, sagt Nein, wenn ihr eine Lufthansa-Maschine entführen sollt, sagt Ja zu Fahrradhelmen.“

Ich persönlich habe den Abend nicht nur wegen der Performance von Gunther Eckes sehr genossen, sondern auch, weil der Text schlicht gut ist. Der funktioniert vermutlich auch in Leseform, aber alleine für den Monolog darüber, wie Philipp Lahm sich etwas bei Foodora bestellt, sollte man sich das Stück anschauen. Ich werde das vermutlich noch mal tun.

„Manche sagen, dass das Glück nur existieren kann, wenn es auch das Unglück gibt. Aber das glaube ich nicht.“

F. und ich sprachen über das Stück bei Pfälzer Wein und Wurst- bzw. Käsebrot, was meiner Meinung nach ein sehr passendes Ende des Theaterabends war. Dann übernachteten wir bei mir. Oder zumindest F. übernachtete. Ich döste kurz weg, wachte dann wieder auf – und blieb die ganze Nacht lang wach. Irgendwas saß ich lesend am Küchentisch, dann spielte ich Candy Crush auf dem Sofa, dann versuchte ich diverse Dinge, die bei mir sonst eigentlich dazu führen, dass ich schlafen kann, aber dieses Mal ging gar nichts. Erst gegen 5 schlief ich ein und war dementsprechend gerädert, als der Wecker klingelte. Theoretisch hätte ich einfach im Bett bleiben können, aber die Eichhörnchenvorlesung lockte. (Ich nenne die Vorlesung über Materialien der modernen Malerei inzwischen Einhörnchenvorlesung.) Also quälte ich mich aus dem Bett und radelte katzengewaschen und ohne Kaffee, weil keine Zeit mehr, in die Uni, wo ich spannende Dinge über das Palettmesser erfuhr.

In der vierten Sitzung verstand ich endlich den Impetus für diese Vorlesungsreihe: Es geht dem Dozenten darum klarzumachen, dass die Wahl von Material und Farbe nicht nur eine künstlerische Funktion hat, sondern manchmal auch eine politische. So wie die Dachshaarpinsel alles schön zupuschelten und die Realität vor der Tür ließen, sorgte das Palettmesser für eben diese Realität auf der Leinwand.

„Ich denke, die BRD ist als Staat ganz okay.“

Ich dachte bisher, Courbet wäre der erste gewesen, der das Palettmesser zum Farbauftrag genutzt hatte, anstatt nur damit Farbe auf der Palette anzumischen, wie der Name des Werkzeugs schon sagt, aber laut Dozent hatte sogar Rembrandt das schon gemacht. Courbet war allerdings der erste, bei dem die Benutzung einen programmatischen Hintergrund hatte. Courbet gilt heute als Begründer des Realismus, also der Malerei, die sich nicht mehr damit begnügt, anämische Adlige oder biblische Sagen zu pinseln, sondern Menschen, denen wir täglich begegnen. Sein vermutlich bekanntestes Werk sind die Steinklopfer, die wir gestern auch zu sehen bekamen. Gerade für Stein und Felsen nutzte Courbet den flächigen Farbauftrag, der durch das Messer möglich war. Dass er nicht nur Menschen malte, die hart arbeiteten, sondern dazu auch noch ein Werkzeug – und eben nicht das feine Instrument eines Pinsels – benutzte, war mehr als eine künstlerische Absicht.

Für sein Bild Die Quelle malte Courbet die Haut der abgebildeten Frau brav und schön mit dem Pinsel, für Wasser, Felsen und Blätter nutzte er hingegen das Messer. Das sieht man gut am rechten Arm der Frau, die teilweise von Blättern verdeckt wird. (Danke an das Met, dass man die Bilder schön ranzoomen kann.) Die zeitgenössische Kritik warf ihm vor, eher ein Arbeiter als ein Künstler zu sein, und in Karikaturen wurde er gerne mit Maurerkelle an der Leinwand gezeigt. Sein Kollege Millet, dessen Sämann auch nicht gut ankam, wurde mit Harke statt Pinsel dargestellt.

Mein Lieblingsbild aus der Vorlesung war Vollons Butterklumpen, den ich noch nicht kannte, und der diesen Klumpen eben nicht nur mit dem Messer malte, sondern auch noch eins abbildete. Außerdem sah ich ein Bild von Cézanne wieder, das mich schon in der Vorlesung zu diesem Maler faszinieren konnte: sein Stillleben mit Brot und Lammkeule, das auf der Website vom Kunsthaus Zürich leider nicht zu finden ist, daher hier ein Werbelink. Angeblich ist sich die Forschung immer noch nicht ganz sicher, womit Cézanne den Fleischbrocken gemalt hat; ein Palettmesser würde härtere Kanten erzeugen. Momentan denkt man laut Dozent über Löffel oder sogar nur die behandschuhten Finger nach.

Was ich noch nicht kannte: Cézanne malte auch Menschen in dieser fleischigen, flächigen, fast schon skulpturalen Malweise, hier seinen Onkel als Anwalt. Das Bild L’Oncle Dominique en avocat hängt im Musée d’Orsay, das leider nur winzige Abbildungen hat, daher kopiere ich jetzt mal aus der Datenbank Prometheus ein Detail raus, damit ihr die Malweise vernünftig sehen könnt.

Paul Cézanne: L’Oncle Dominique en avocat (1866), Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm, Musée d’Orsay, Paris (Detail).

Der Dozent meinte, dieses Bild sei im Pariser Salon vermutlich nur als Provokation eingereicht worden; Cézanne musste klargewesen sein, dass er damit keine Chance gegen die braven Akademiemaler hatte.

Nach der Uni schaffte ich es noch, mir Bücher aus der Bibliothek zu holen und zu Packstation und Supermarkt zu radeln, ohne einen Unfall zu bauen. Zuhause fiel ich dann aber doch ins Bett.

Abends in netter Gesellschaft Pasta mit Bohnen, Brokkoli und Erbsen und einer Kracherzitronenbutter mit Knoblauch.

„Das kann man nicht performen. Das muss man leben.“

(Ja, danke auch, Decar. Ich les jetzt alles von dir nach.)

Was schön war, Montag, 7. Mai 2018 – I don’t mind Mondays

Letzte Woche alles abgearbeitet, fast alle Rechnungen verschickt. Jetzt warte ich noch auf ein Feedback und ein neues Briefing, aber gestern hatte ich überhaupt nichts zu tun. Also nichts, wofür ich Geld bekomme. Meine Bestellung im ZI würde erst nachmittags eintreffen, weil sie vormittags für mich aus dem Magazin gesucht wird, daher verschob ich den Besuch im Happy Place gleich auf heute. Ich arbeite lieber morgens bzw. vormittags als später, dann ist alles weg und fertig und der Rest vom Tag gehört mir. Deswegen mag ich Vorlesungen oder Seminare auch überhaupt nicht, die um 16 Uhr oder sowas anfangen und habe nach dem zweiten Semester aufgehört, sie zu belegen, weil ich mich eh nie zu ihnen aufgerafft habe.

Gelernt: Der Myers-Briggs-Persönlichkeitstest ist Humburg. Dass er nicht perfekt ist und Menschen nicht völlig klassifizierbar sind, war mir klar, aber dass er so unwissenschaftlich ist, war mir neu. (Via Vorspeisenplatte.)

„Although popular in the business sector, the MBTI exhibits significant psychometric deficiencies, notably including poor validity (i.e. not measuring what it purports to measure, not having predictive power or not having items that can be generalized), poor reliability (giving different results for the same person on different occasions), measuring categories that are not independent (some dichotomous traits have been noted to correlate with each other), and not being comprehensive (due to missing neuroticism).“

Natürlich werde ich trotzdem weiterhin jedes Buzzfeed-Listicle anklicken, einfach weil es mir Spaß macht. Und Fische sind das coolste Sternzeichen!

(Okay, schon gut.)

Der seelische Klotz von letzter Woche ist zu 90 Prozent ausgeräumt. Reden hilft. Wer hätte es gedacht.

Liebster Satz: „Ich weiß, du hast schon acht Sorten Kaffee, aber den hier musste ich dir mitbringen, weil …“ [langatmige Erklärung, warum ich noch eine neunte Sorte brauche inklusive Mahlgradanweisung und Zubereitungstipps vom Barista, während ich eh schon mit Herzchenaugenemojigesicht vor F. rumstehe]

Masterchef Australia hat wieder angefangen, MASTERCHEF AUSTRALIA HAT WIEDER ANGEFANGEN, DAS IST KEINE ÜBUNG! Die nächsten drei Monate Abendprogramm sind gesichert.

Gestern war die übliche Audition-Folge, in der die letzten, keine Ahnung, 50 Leute vor den drei Judges kochen müssen, um eine der 24 Schürzen zu bekommen, mit der sie dann an der eigentlichen Sendung teilnehmen. Dabei war auch eine dicke Frau, über die im Off zu hören war, dass sie die Sendung seit Beginn, also seit neun Jahren, schaut, sich aber nie getraut hat, sich zu bewerben. Im Studio selbst sagte sie dann den Satz, den ich so gut nachvollziehen konnte: „I didn’t have the confidence. I am overweight and you are supposed to look a certain way.“ Erst in der letzten Zeit sei ihr klar geworden, dass das eigene Leben zu wichtig ist, um sich von dämlichen Schönheitsstandards daran hindern zu lassen, die Dinge zu tun, die einem Freude machen. Sie bekam eine Schürze und sie ist natürlich jetzt schon mein Favorit. Leider haben es meine Favoriten selten bis ganz zum Schluss geschafft, aber ich freute mich gestern sehr darüber, dass eine dicke Frau im Fernsehen zu sehen ist, die offensichtlich was kann.

Ein Lesezeichen passend zum Buchdeckel. Dieses Buch lese ich auch seit gefühlt einem Jahr; das Thema interessiert mich sehr, aber es ist doch zäher als ich dachte. Vielleicht hätte ich nicht auf Literaturempfehlungen eines Dozenten hören sollen, dessen eigene Texte auch zäh sind.

Tagebuch, Sonntag, 6. Mai 2018 – Lesetag (Bloms „Die zerrissenen Jahre“)

Keine Lust auf Sport gehabt, keine Lust auf Kochen gehabt. Ausgeschlafen, über den Tag Reste der Bohnensuppe vom Samstag verspeist (saure Sahne rules!), zwischendurch Schokolade. Einen Liter Cold Brew weggeext. Ansonsten gelesen: das Internet, die Reste der wöchentlichen FAZ (Wirtschaft, Sport) und endlich Philipp Bloms Die zerrissenen Jahre: 1918–1938 beendet. „Endlich“ nicht, weil das Buch so doof ist, ganz im Gegenteil, sondern weil es so lang und spannend ist und ich mir endlich mal die Zeit genommen habe, es konzentriert zu lesen und nicht nur in Bussen und Zügen oder zehn Minuten vor dem Einschlafen. (Ich werde neuerdings sehr schnell beim Lesen im Bett müde und schaffe gar nichts mehr.)

Beim Perlentaucher stehen vier Rezensionsnotizen, auf die verweise ich euch mal schnell, die fassen nämlich alles prima zusammen. Ich zitiere aus der FAZ, denn dieser Ausschnitt macht schnell klar, warum ich das Buch so mochte, das sich chronologisch von 1918 bis 1938 vorarbeitet, sich aber trotzdem nie wie ein nacherzählter Zeitstrahl anfühlt:

„Blom beschreibt die Diktatur des Dichters und Abenteurers Gabriele D’Annunzio in der Stadt Fiume im Jahr 1919, die blutige Niederschlagung des Matrosenaufstandes in Kronstadt im Jahr 1921 und die kommunistischen Arbeiterrevolten in Deutschland, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linken Kampfbünden und der Polizei im Wien des Jahres 1927 und die Aktionen des amerikanischen Ku-Klux-Klan. Die Rassisten konnten nicht verwinden, dass Zehntausende schwarze Soldaten in Europa gewesen und den Ideen der Gleichberechtigung begegnet waren. Im Schützengraben hatte es keine Klassen- und keine Rassenunterschiede gegeben. Im Angesicht des Todes waren alle gleich. Und nun warf man den schwarzen Soldaten vor, Träger bolschewistischer Ideen und eine Gefahr für die amerikanische Demokratie zu sein.

In Deutschland erschien Oswald Spenglers “Der Untergang des Abendlandes”, dessen kulturpessimistische Sicht auf die Welt weite Verbreitung fand. In der Kunst setzten sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges neue Formen des Ausdrucks durch, die das Sehen und Lesen revolutionierten und die Welt auf den Kopf stellten. Der Kubismus und der Dadaismus wurden in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges geboren, die Dadaisten fassten die Sinnlosigkeit des Daseins in sinnlose Worte. Und auch das Kino beschritt nun neue Wege. Fritz Langs Kinofilm “Metropolis” war ein Versuch, den Menschen als Gefangenen von Technik und Material zu verstehen, die Linien der Bauhausarchitekten waren Repräsentationen einer Moderne, die mit sich versöhnt war.

In der Wissenschaft kamen Ideen ins Spiel, die für gewiss gehaltene Wahrheiten in Frage stellten: Charles Darwin und Friedrich Nietzsche wurden zu Idolen, die Eugenik, Werner Heisenbergs neue Physik revolutionierten die Sicht auf die Welt. […] Überall, wo scheinbar gesicherte Erkenntnisse in Frage gestellt wurden, formierte sich Widerstand: die “deutsche Physik”, die den Relativismus als Werk jüdischer Zersetzung diskreditierte, und bibeltreue Christen in den Vereinigten Staaten, die gegen Darwins Evolutionstheorie Einspruch erhoben.“

Jedem Jahr wird ein Ereignis zugeordnet, an das sich andere anschließen, manche ort- oder zeitgebunden, andere eher assoziativ. Es fühlte sich nicht wie eine der üblichen Nacherzählungen von Geschichte an, sondern wie viele Schlaglichter, die zusammen ein großes, widersprüchliches Bild ergeben. Und das in einer lesbaren Sprache ohne viel Fachchinesisch. Nicht dass ich damit nicht inzwischen auch klarkomme, aber man merkt dem Buch schon an, dass es für den Markt geschrieben wurde und nicht für die Historikerkolleg*innen, was nicht das Schlechteste ist.

In einigen der Perlentaucher-Rezensionen wird erwähnt, dass das Buch nichts Neues erzählt, sondern Altbekanntes neu verbindet. Das mag für die Rezensierenden gelten – ich habe durchaus viel Neues mitbekommen. Das fing schon im ersten Kapitel zum Jahr 1918 an. Natürlich waren mir die Soldaten mit shell-shock bekannt oder das Aufeinandertreffen von Menschen, die im 19. Jahrhundert aufgewachsen waren und einen dementsprechendne Krieg führen wollten (mit traditionellen Ehrvorstellungen und der Idee des direkten Kampfes Mann gegen Mann usw.), aber nun mit modernster Maschinerie des 20. konfrontiert waren. Ich hatte aber noch nie so plastische Schilderungen davon gelesen, wie sich ein Schlachfeld in Frankreich angefühlt haben muss.

„Der technologische Fortschritt brachte es mit sich, dass Artilleriegeschütze ihre Geschosse, von denen einige mehr als hundert Kilo wogen, über viele Kilometer zielgenau feuern konnten und so Tod und Verstümmelung in Form von Bomben, Schrapnellen und Gas anonym und gesichtslos in die Schützengräben trugen. Für die Soldaten wurde jede Minute ein zermürbend monotones Warten auf den ferngesteuerten Tod. Auf deutscher Seite, in Schützengräben, die immer wieder den Neid der Soldaten auf der anderen Seite hervorriefen, starben zwei Drittel aller Soldaten durch Bombardierung und nicht bei Angriffen. Bei den britischen und französischen Einheiten waren es sogar drei Viertel.

Im Gegensatz dazu starben nur ein Prozent der Soldaten im Nahkampf mit Handfeuerwaffen und Bajonetten […] Die meisten Soldaten starben, ohne je einen Feind auch nur gesehen zu haben. […]

Die Soldaten auf beiden Seiten erfuhren diese mechanische Apokalypse als einen tiefen Verrat an ihrem Mut und ihrem Opferwillen. Ihr Einsatz, ihr Mut, war nichts im Vergleich zu dem industrialisierten Schlachten im Schlamm, in dem ihre Körper zum Rohstoff des Todes wurden, fast nicht zu unterscheiden von dem allgegenwärtigen graubraunen Dreck, der von Granaten und Bomben so oft aufgerührt und beschossen worden war, dass er sich in Schleim verwandelt hatte, der nach Verwesung und Exkrementen roch und Stiefel und sogar ganze Körper wie ein gärender Sumpf einfach verschluckte.“

(Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938, München 2016, S. 42/43.)

In diesem Zusammenhang: Es gibt mehrere Fotoprojekte, die sich der noch heute als unbewohnbar geltenden roten Zone in Frankreich widmen, via Vorspeisenplatte.

Ganz anderes Thema: die Wissenschaft. Auch hier sah ich Zusammenhänge, die ich vorher nicht auf dem Schirm hatte. In einem Kapitel beschäftigt sich Blom gleichzeitig mit dem unendlich großen Weltall – Hubbles Entdeckung von 1923, dass unsere Milchstraße nicht das ganze Universum ist – und den winzigen Teilchen von Atomen: Heisenbergs Unschärferelation, die gleichzeitig jahrhundertealte Gewissheiten ankratzte, nämlich dass alles festleg- und beschreibbar ist. Die Unschärferelation besagt, dass „das Herz der Natur […] radikale Unsicherheit“ sei, „Massepartikel könnten gleichzeitig zwei einander widersprechende Eigenschaften haben, sie hätten keine feste Identität, und ihr Verhalten richte sich nicht nach strikten Gesetzen, sondern nach Wahrscheinlichkeiten. Die neue Physik lehrte, dass es keine absoluten Gesetze gab, sondern lediglich statistische Erwartungen, die nur oberflächlich wie Gesetze wirkten.“ (S. 156) Dass Blom diese Erkentnisse mit der nervösen Zeit verknüpft, in der sie stattgefunden haben, kam mir zwar ein bisschen an den Haaren herbeigezogen vor, passt aber natürlich schön ins Buchkonzept. Nebenbei las ich wieder etwas von der „deutschen Physik“, von der mir F., der Physiker, schon mal berichtet hatte.

Natürlich kam auch die Kunst vor, Dada, Metropolis, die Surrealisten, Jazz, Der blaue Engel. Kannte ich alles, wurde mir hier aber im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen clever präsentiert.

Für mich spannend waren vor allem die Kapitel, die sich nicht oder nicht ausschließlich mit Deutschland beschäftigten. So hatte ich noch nie ernsthaft über Österreich nachgedacht außer bei Sissi-Filmen (sorry, Österreich) und bekam hier ein kurzes Psychogramm, bei dem Blom den Justizpalastbrand in Wien 1927 als Aufhänger nutzte:

„Die Ursprünge des Konflikts lagen im Zusammenbruch des Habsburgerreichs nach der Niederlage der Mittelmächte zehn Jahre zuvor. Bis 1918 hatte Österreich-Ungarn etwa zwanzig Prozent des europäischen Territoriums umfasst, von den tiefen Wäldern Transsylvaniens bis zur Schweizer Grenze, vom nördlichen Böhmen, unweit von Dresden, bis zur Adriaküste und nach Montenegro. Der größte Teil dieses Reiches war ländlich geprägt und stand wirtschaftlich noch mitten im 19. Jahrhundert. […]

Die Kultur des Habsburgerreichs war so facettenreich wie die unterschiedlichen Gruppen, die zu ihr beitrugen, und in jedem der kulturellen Zentren koexistierten eine Vielzahl von Sprachen, Religionen und kulturellen Praktiken, die einander durchdrangen, lebten Menschen unterschiedlicher geographischer Herkunft, historischer Identität und politischer Zugehörigkeit, die miteinander einen enormen kulturellen Reichtum schufen. […]

Als das Habsburgerreich nach Kriegsende aufgelöst wurde, standen die neuen Länder nicht nur wirtschaftlich vor enormen Herausforderungen. Besonders für Österreich war dieser Neuanfang ein Alptraum, denn es hatte im engeren Sinne noch nie ein Land namens Österreich gegeben. Der Staat erstreckte sich über die mehrheitlich deutsch sprechenden Fürstentümer und Provinzen im Westen des ehemaligen Reiches und umfasste nur zwölf Prozent von dessen früherer Landmasse. Den Zugang zu den reichen Kohle- und Stahlvorkommen Schlesiens hatte er an die ebenfalls neu geschaffene Tschechoslowakei verloren, der Brotkorb des Reiches lag jetzt in Ungarn, die Häfen am Mittelmeer in Italien und Kroatien. Übrig geblieben war die „Erste Republik“, war ein dünnbesiedeltes Land zwischen Alpen und der beginnenden Puszta mit wenig Industrie und ohne historische Identität, ein Land, dessen Hauptstadt, Wien, für ein europäisches Reich gebaut worden war, aber über kein Reich mehr herrschte.“ (S. 245–247)

Am letzten Satz wird auch das einzige Manko des Buchs klar: Ab und zu ein strengeres Korrektorat und 1000 Kommata weniger hätten dem Ding ganz gut getan.

Weitere Kapitel, die für mich aufschlussreich waren, behandelten die Wanderungsbewegung der Okies aus der amerikanischen dust bowl, die Hungersnot in der Ukraine oder den Spanischen Bürgerkrieg, in dessen Zeitraum die Bombardierung von Guernica fiel. Nebenbei lernte ich viel über das Verschwinden des britischen Klassensystems durch die Romanfigur des Reginald Jeeves (den kannte ich wirklich noch nicht) und dass Ivrit, das moderne Hebräisch, eine geplante Sprache war als Weiterentwicklung der Sakralsprache.

Wie gesagt, viel wusste ich schon, einiges aber noch nicht, und hier bekam ich alles als großes weltpolitisches Panorama aufgeschlüsselt und in neue Zusammenhänge gesetzt auf dem Silbertablett serviert. Clevere Themenwahl, lesbar geschrieben, viele Bilder. Das Buch lege ich euch gerne ans Herz.

Tagebuch, Samstag, 5. Mai 2018 – Alleine sein

Immer noch schlechte Laune. Bzw. immer noch wütend und traurig gleichzeitig. Ich weiß, wo die Wut und die Traurigkeit hinmüssen, aber ich kriege sie noch nicht an ihr Ziel. Aber: Mal wieder die Erkenntnis gehabt, dass ich inzwischen alt genug bin, um zu wissen, was mit mir los ist. Ich bin allerdings anscheinend immer noch nicht alt genug, um damit zielgerichtet umzugehen. Oder noch nicht alt genug, um es einfach auszusitzen, denn irgendwann ist es auch wurscht.

Wenn ich so drauf bin, muss ich alleine sein. Daher fuhr ich nicht nach Augsburg zum letzten Heimspiel der Saison. Stattdessen habe ich mich über nette und aufmunternde Mails gefreut, vor allem über eine, die mit diesem Comic versehen war, der mich sehr zum Lachen bringen konnte. Well played und Dankeschön.


Tom Gauld für den Guardian.

Tagebuch, Freitag, 4. Mai 2018 – Schlechte Laune

Seit Tagen trage ich so einen blöden seelischen Klotz mit mir rum und bis jetzt hat noch keine Strategie funktioniert, um ihn loszuwerden. Gut, dass mir noch das Allheilmittel Bibliothek eingefallen ist. Bonus: mit dem Fahrrad in die Bibliothek kommen.

Ich musste eh ein paar Bücher zurückbringen, die ich auf diverse Eckchen meiner Wohnung verteilt hatte. Nun auf einem Haufen merkte ich erst, wie irre schwer sie waren. Kunstkataloge! Ich werde nie aufhören, mich über euch Gewicht zu beschweren! Ich glaube, mit meinem eigenen Körpergewicht und dem wirklich fies bepackten Gepäckträger dürfte ich an die in der Bedienungsanleitung erwähnte Belastungsgrenze meines Fahrrads gekommen sein.

Ich eierte also zur Uni-Bib, zerrte dort die gefühlt 20 Kilo Bücher zum Rückgabeschalter und ging dann in den Lesesaal, wo eine Fernleihe auf mich wartete: „Dich ruft dein Volk. Gedichte für die Klassen 3 bis 6“ von 1941, ein Lesebuch für Mittelschulen. Im KVK war ich mal wieder auf der Suche nach Werken von oder über Carl Theodor Protzen gewesen und stieß auf dieses Werk, bei dem ich Illustrationen von ihm erwartete. Oder erhoffte. Leider Fehlanzeige; das Ding war einer der vielen Treffer, die ich inzwischen kenne, wo irgendein Carl und irgendein Theodor vorkommen und irgendwo das Verb „protzen“. Durch die Suche im Bundesarchiv weiß ich inzwischen auch, dass eine Protze ein militärisches Ausrüstungsstück ist, die im Plural irrsinnig gerne in Archivmaterial auftaucht und mich verwirrt, wenn ich die Bestände bis 1945 durchwühle.

Pflichtschuldig blätterte ich das Ding trotzdem mal durch, denn Quellen sind ja immer spannend. Nicht spannend genug, um mir etwas zu notieren, daher zitiere ich jetzt aus dem Gedächtnis. Es gab Abschnitte über das Deutschsein an sich, über den Dienst am Volk (dort mischten sich lustig alte Gedichte mit Sprüchlein von Baldur von Schirach), es gab einen Abschnitt zum Handwerk, was mich interessierte, weil die Bilder, mit denen ich mich gerade beschäftige, auch aus dieser Ecke kommen (Handwerk, Arbeit, Industrie, das ist für mich erstmal alles ein großes Thema). Ich stellte fest, dass auch hier, noch 1941, eher das klassische Handwerk (Tischler, Schmied) sowie das Bauerntum vertreten waren, während die Schwerindustrie oder moderne Fertigkeiten nicht vorkamen. Der übliche Kontrast des NS-Staats zwischen hochmodernem Industriestaat, der er war, und der Ideologie der kleinen Scholle, die es längst nicht mehr in der Anzahl gab, wie es zum Beispiel die vielen Bauernbilder auf der Großen Deutschen Kunstausstellung vermuten lassen.

Nebenbei entdeckte ich die einzige Ballade, die ich in der Schule auswendig gelernt hatte: Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer. „Wild zuckt der Blitz. Im fahlen Lichte steht ein Turm.“ Mehr weiß ich nicht mehr. (Mal nachschlagen.)

Mit dem Büchlein war ich in 20 Minuten fertig. Das reichte nicht, um meine Laune wesentlich zu bessern, also radelte ich ins Zentralinstitut für Kunstgeschichte, wo immer alles gut wird. Dafür musste ich auf die Barer Straße einbiegen, auf der ich ungern Rad fahre, denn dort fährt auch die Tram, was bedeutet, dass dort Schienen liegen, vor denen ich großen Respekt habe. Die Straße ist außerdem recht schmal; rechts und links parken natürlich (natürlich) Autos, und gestern parkte dazu noch jemand so dusselig rechts, aber hey, mit Warnblinker, dass man als Radler*in nicht vorbeikam, ohne einen Schlenker über die Schienen zu machen, um in deren Mitte zu fahren, um am Auto vorbeizukommen. Vor mir versuchte das ein junger Mann auf einem Rennrad, und es passierte das, wovor ich immer Angst habe: Er fuhr einen zu kleinen Bogen, sein Radreifen blieb in der Schiene hängen und er machte einen halben Salto über den Lenker. Ich hielt sofort an, fragte, ob er okay sei; er suchte seine Brille, die ihm von der Nase gefallen war und meinte, es ginge ihm gut. Wir schoben sein Rad an die Seite; inzwischen hatte noch eine andere Radfahrerin angehalten. Der Mann blutete ein bisschen am Kinn und hatte aufgeschürfte Hände, aber ansonsten schien es ihm gut zu gehen. Die Dame bot an, ihm schnell beim Rossmann gegenüber – vermutlich das Ziel des dusselig geparkten Autos – ein Pflaster zu besorgen, aber er lehnte ab, bedankte sich, dass wir angehalten hätten, und dann radelten wir Frauen weiter.

Im ZI angekommen, holte ich mir einen Berg an Büchern und vertiefte mich in mein übliches Thema. Gestern wollte ich mich mehr über die Neue Sachlichkeit schlau machen, über die ich zwar schon viel weiß, aber im ZI stehen noch ungefähr 1000 Bücher dazu, in die ich noch nicht reingeguckt habe. Ich suchte nach einem bestimmten Verfasser, den ich für eine Koryphäe auf diesem Gebiet halte und las ein paar Aufsätze von ihm. Über ihn gelangte ich zu einem anderen Aufsatz, der sich mit der Aktion „Entartete Kunst“ von 1937 befasste. Dort fand ich einen Gedanken, der für mich neu war – und irgendwie unangenehm.

„The „Entartete Kunst“ action created a canon, so to speak, that had not existed previously. For modernism had by no means gained complete acceptance in the Weimar Republic. Rather, this period between World War I and the National Socialist takeover of power war marked by numerous struggles over avantgarde currents. Adolf Behne and Günter Busch drew attention to the rifts in the reception of German modernism. For example, Expressionism was declared dead for the first time as early als 1919. But it experienced a stigmatization from the condemnation in 1937 that ultimately became a precondition for its postwar success. The „Entartete Kunst“ action made German modernism so prominent that its reactivation after the war was all but inevitable.“

(Heftrig, Ruth: „Narrowed Modernism. On the Rehabilitation of ‚Degenerate Art‘ in Postwar Germany“, in: Peters, Olaf (Hrsg.): Degenerate Art. The Attack on Modern Art in Nazi Germany, 1937, München/London/New York 2014, S. 258–281, hier S. 258. Die im Aufsatz erwähnten Titel sind Busch, Günter: Entartete Kunst. Geschichte und Moral, Frankfurt am Main 1969 und Behne, Adolf: Entartete Kunst, Berlin 1947.)

Die Idee, dass die klassische Moderne heute auch deshalb einen Platz im Kanon der deutschen Kunstgeschichte gefunden hat, weil die Nazis sie verdammte, hatte ich so unverblümt ausgesprochen noch nie gelesen. Es passt aber auch zum genauen Gegenteil: Jede Kunst, die zwischen 1933 und 1945 als systemkonform galt, hatte es nach 1945 schwer, als Kunst ernstgenommen zu werden und nicht nur als Ideologie, Propaganda oder Auftragskunst zu gelten. Genau das versuchen wir ja gerade: diese Kunst wieder als Kunst zu sehen. Oder zumindest zu überprüfen, ob sie eben mehr ist als Ideologie. Ist sie meistens nicht, keine Angst, wir müssen jetzt nicht alle Herrenmenschen von Thorak toll finden, aber, und auch das las ich gestern des Öfteren, der Blick auf einzelne Künstler*innen lohnt sich eben doch. Deswegen ärgere ich mich auch schon länger über einen Satz in der Wikipedia über Protzen: „Protzen gilt als zurecht vergessener Künstler.“ Das sehe ich etwas anders. Ein Bild von ihm hängt im Saal 13 der Pinakothek der Moderne, insofern finde ich dieses Urteil vorschnell.

Nach fünf Stunden Lektüre war die Laune deutlich besser, ich hatte ein paar schöne Dinge gefunden und notiert, legte mir wieder einen Handapparat an und bestellte noch ein Buch aus dem Magazin, das nicht im Freihandbestand vorhanden war. Dann setzte ich mich wieder auf mein Fahrrad und radelte nach Hause – was leider nicht ohne Hindernisse ging.

Schon 300 Meter vom ZI weg nahm mir ein Transporter die Vorfahrt, als er rechts abbog und mich auf dem Radweg übersah. Ich konnte aber noch bremsen, brüllte wie immer irgendwas Unflätiges und radelte weiter. Laune war schon schlechter. Dann bog ich in die Fahrradstraße in der Nähe meiner Wohnung ein, über die ich mich immer freue, denn hier habe ich Vorfahrt und bin die Königin der Straße und alle Autos müssen hinter mir fahren. Die Straße ist gerade 200 Meter lang, aber immerhin. Rechts und links parken natürlich (natürlich) Autos, weswegen die Straße eine Einbahnstraße ist, die von Radler*innen aber in beide Richtungen befahrbar ist. Ich bog also ein und sah, dass mir ein Auto entgegenkam. Ich sah allerdings auch eine fette Lücke auf der vom Auto aus rechten Seite, wo der Herr entspannt hätte kurz reinfahren können, um mich vorbeizulassen. Tat er aber nicht. Ich war davon so überrascht, dass ich die Lücke auf meiner Seite übersah und so landeten wir bei der unerquicklichen Situation, dass er anhalten und ich mein Rad an seinem Außenspiegel vorbeischieben musste. Das nervte mich schon kolossal, aber der Herr meinte, er müsse sein Fenster noch runterkurbeln und mich anbrüllen: „WO SOLL ICH DENN HIN? WO SOLL ICH DENN HIN?“ Woraufhin ich leider nicht die Ruhe und Souveränität hatte zu sagen: „Guter Mann. Direkt hinter Ihnen ist eine Lücke, in die Sie nur einen halben Meter hätten reinfahren müssen, dann wäre ich an Ihnen vorbeikommen und Sie hätten nicht mal anhalten müssen.“ Stattdessen brüllte ich sofort zurück: „DAS IST NE FAHRRADSTRASSE! DA IST NE LÜCKE!“ Ich glaube, wir brüllten beide solange, bis ich an ihm vorbeigeschoben war und warfen uns auch noch unfreundliche Schimpfworte an den Kopf.

Den kurzen Restweg nach Hause war ich damit beschäftigt, sehr tief zu atmen, um nicht Tauben anzubrüllen oder die Luft oder die Kirche oder irgendwas, was auf dem Nachhauseweg liegt und nicht zurückbrüllen kann. Im Fahrradkeller fing ich dann an, aus Wut zu heulen, aber das hielt nicht lange an. Den Rest des Nachmittags hatte ich noch schlechtere Laune als vor meinen Bibliotheksbesuchen, weil ich mich mehr über mich selbst ärgerte als über den Blödmann im immerhin pollenverklebten Kleinwagen. Die Grundidee „ICH HAB ABER RECHT!“ ist im Straßenverkehr so dämlich, dass man sie einfach nicht denken darf. Gleichzeitig ärgert es mich aber, dass ich als Radlerin grundsätzlich die Arschkarte gezogen habe, weil ich eben schwächer bin als die Autos, mit denen ich mir die Straßen teile. Ich habe nämlich nicht das Gefühl, dass dieses Teilen irgendwo angekommen ist. Ich fühle mich als Radlerin fast immer als Störenfried, was ich nicht sein sollte. Aber darüber nachzudenken ist genauso sinnlos wie andere Leute anzubrüllen.

Immerhin Erdbeeren gehabt, die nach was geschmeckt haben. Hirntot Serien geguckt, keine Lust auf einen Job gehabt, den ich jetzt am Wochenende erledigen muss. Weiterhin schlechte Laune.

Links von Freitag, 4. Mai 2018

Paris von oben bis unten

Simple Idee schön aufgeschrieben: einfach mal die besten Empfehlungen sowie die größten Warnungen auf Tripadvisor ausprobieren. Und den Rest dazwischen.

„Man sollte meinen, dass monumentale Bauwerke über jeden Zweifel erhaben sind. Dass sie einen kulturellen Rang innehaben, der sie profanen Geschmacksurteilen entzieht. Doch da hat zumindest der Eiffelturm (Rang 5 von 1284 »Aktivitäten« bei Tripadvisor) die Rechnung ohne die Userin Sarah F. gemacht. »Er war viel kleiner und nicht so schön wie erwartet«, moniert sie pampig. »Sieht aus wie eine verrostetes Baugerüst. Verdient auf keinen Fall den Ruf als Wahrzeichen.« Eine Alternative schlägt sie nicht vor, sondern sie vergibt nur gnadenlos die Note Ungenügend. Es bleibt nun abzuwarten, wie der Eiffelturm auf die Vorwürfe reagiert. […]

Die Bereitschaft zu Demut ist offenbar nicht allen Tripadvisor-Usern zu eigen. »Na ja, ist halt eine Kirche«, schreibt Klaus M. über die Basilika Sacré-Cœur (Rang 13 von 1284 Aktivitäten auf Tripadvisor): »Kennste eine, kennste alle.« Warum er eigens nach Paris gereist ist, um sich das bestätigen zu lassen, und nicht gleich im heimischen Steinfurt blieb, verschweigt er geflissentlich. Ich stellte mir vor, wie Klaus M., von seiner Frau gefragt, ob er sie eigentlich noch attraktiv finde, konstatiert: »Bist halt ein Mensch. Kennste einen, kennste alle.«

Selbst das Musée d’Orsay (Rang 1 von 1284 Aktivitäten auf Tripadvisor), ehrwürdiger Ausstellungsort von Werken Vincent van Goghs und Auguste Rodins, stellt nicht alle Besucher zufrieden. Die Userin Superschnitte bellt nur: »Frechheit!« Marco F. wird präziser: »War dort und musste feststellen, dass viele andere die gleiche Idee hatten. Zu voll!« Nun spricht es nicht gegen das Museum, dass es so viele Besucher anzieht, Marco F. gibt ihm dennoch die Note Mangelhaft.“

Neue Medien, neues Publikum?

Die deutsche Bühne über @IngoSawilla, der jahrelang die Social-Media-Kanäle des Residenztheaters betreut hat und nun leider in Berlin ist. Ich prangere das an und folge dem Resi auch nicht mehr auf Twitter, weil’s langweilig geworden ist. Mich persönlich hat der Mann ganz einfach ins Theater gekriegt: indem er die leeren, aber fast immer äußerst eindrucksvollen Bühnenbilder twitterte. Das lockte mich des Öfteren ins Publikum, weil ich wissen wollte, wie diese schönen Tableaus bespielt aussehen. Vor allem bei Die bitteren Tränen der Petra von Kant war das sehr beeindruckend.

„In der Theaterszene gilt der 36-jährige Bayer als Vorreiter in der Social-Media-Kommunikation. Als Martin Kušej 2011 das Residenztheat”r übernahm, stellte er Sawilla als einen der ersten Online-Pressereferenten der Branche ein. Vorher hat Sawilla, den man phänotypisch eher bei den Hells Angels als in der darstellenden Kunst verorten würde, Literatur- und Theaterwissenschaft studiert und in seiner Ausbildung bei Goldmann PR diverse Kulturprojekte betreut: das Theaterfestival Impulse, die Kunstfestspiele Herrenhausen, das Nachwuchs-Regiefestival radikal jung. Ursprünglich wollte Sawilla Politikmanagement studieren – bis er 2003 all seine Kraft in den SPD-Landtagswahlkampf in Bayern steckte und die Partei eine krachende Niederlage einfuhr. Damals schaffte es Sawilla eher unfreiwillig in die Zeitungen: ein Foto mit ihm in Lederhosen, weinend, am Wahlabend. Ein Jahr Arbeit umsonst. Mit Herzblut war der Pressemann schon immer bei der Arbeit.

2011 dann also ans Resi, damals noch Bayerisches Staatsschauspiel. Mit Online-PR ging es gerade richtig los, Sawilla startete bei Null mit neuer Marketingstrategie, neuer Webpage, neuem Facebook-Auftritt: das Haus sollte „aufgerissen“ werden, „durchgelüftet“. So wie am Berliner Ensemble, an das er 2017 von Reese als Leiter der Presseabteilung engagiert wurde. Nach der Ära von Claus Peymann, der bekanntlich mit sozialen Medien so viel zu schaffen hatte wie ein Blauwal mit dem Vogelflug, eröffnete Sawilla auch für dieses Haus einen Facebook-, Twitter- und Instagram-Account.“

Im Artikel wird auch ein Theater- und Fußballfan erwähnt. Ich möchte anmerken, dass ich diesen Mann sehr gut kenne. Ähem. Der Schal steht ihm ausgezeichnet und ist bis heute die tollste Social-Media-Aktion.

Advocate Personality

Frau Nessy hatte vor einigen Tagen einen Link zu einem Persönlichkeitstest. Und weil ich ja nichts lieber mache als Tests, klickte ich den natürlich durch. Ich bin angeblich ein Advokat. Mit dem „Learning of the day“ von gestern (heute ist es ein anderer) hatten sie jedenfalls schon mal gewonnen: „Advocates are the most likely personality type to proof-read their writing 3 times or more.“

Ansonsten:

„Advocates have an inborn sense of idealism and morality, but what sets them apart is that they are not idle dreamers, but people capable of taking concrete steps to realize their goals and make a lasting positive impact.“

Das würde ich mir ja gerne auf die Fahnen schreiben, aber meist gewinnt mein gemütlichen Sofa gegen den Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit. Ich habe allerdings ein schönes Buch geschrieben, das für mehr „Seid nett zueinander und vor allem zu euch selbst“ plädiert. Und ich glaube, auch dieses Blog tut das. (Hoffe ich wenigstens.)

„Advocates are likely to find that most corporate career paths are not designed for them, but for those focused on status and material gain. This doesn’t mean that people with the Advocate personality type struggle to see viable options though. In fact, they are likely to face the opposite problem – many Advocates struggle to begin a career early on because they see ten wildly different paths forward, each with its own intrinsic rewards, alluring but also heartbreaking, because each means abandoning so much else.“

True. Meinen Job in der Werbung habe ich erst mit Anfang 30 gefunden. Aber: Status und Geld sind mir wichtiger als ich dachte. Bis zum Masterabschluss habe ich Geld immer als „wird schon irgendwo herkommen und reichen“ angesehen. Als ich dann aber wirklich vor der Entscheidung stand, mich ernsthaft um einen Einstieg in die Kulturarbeit zu bemühen, wurde mir recht schnell klar, dass mir die üppige Werbekohle lieber ist als die Brosamen der Museumswelt. Das mag an München und seinen Preisen liegen, aber das musste ich mir doch etwas schlecht gelaunt selbst bescheinigen: Gutes Geld zu verdienen ist mir wichtiger als selbsterfüllt und idealistisch schlecht bezahlt zu werden.

„[P]eople with the Advocate personality type are more likely to, despite their aversion to controlling others, establish their independence by either finding a leadership position, or simply starting their own practice. As independents, sole proprietors in the parlance of business, Advocates are free to follow their hearts, applying their personal touch, creativity and altruism to everything they do.

This is the most rewarding option for Advocates, as they will step out of the overly humble supporting and noncompetitive roles they are often drawn to, and into positions where they can grow and make a difference. Advocates often pursue expressive careers such as writing, elegant communicators that they are, and author many popular blogs, stories and screenplays. Music, photography, design and art are viable options too, and they all can focus on deeper themes of personal growth, morality and spirituality.“

Ich war mal Chefin und ich fand es grauenhaft. Ich schiebe das im Nachhinein auf meine jugendliche Unerfahrenheit Anfang 20, aber ich mochte es überhaupt nicht. Deswegen wollte ich als Texterin auch nicht den letzten Karriereschritt zum Creative Director machen bzw. mich darum bemühen. Ich will gar nicht die Chefin in irgendwelchen Meetings sein, mich um Junioretten kümmern und zum Kunden fahren und wichtig sein, ich will nur irgendwo sitzen und schreiben. Und das kann ich gerade als freie Texterin ganz hervorragend. Und weil ich eben frei bin und mich nicht um den agenturinternen Hickhack kümmern oder auf Weihnachtsfeiern und lustige Teambuilding-Exercises gehen muss, kann ich mich privat um meine persönliche Entwicklung kümmern. Das Studium war genau das richtige für mich, und deswegen hänge ich die Dissertation noch ran. Sie schafft einen Ausgleich zum banalen Verkaufsschreiben. (Mit dem ich gerade nicht ganz so hadere, weil ich gerade keine moralisch bedenklichen Kunden habe.)

„Advocates are likely to prioritize harmony and cooperation over ruthless efficiency, encouraging a good, hardworking atmosphere and helping others when needed. While this is usually a strength, there is a risk that others will take advantage of Advocates’ commitment to their responsibilities by simply shifting their burdens onto their more dedicated Advocate colleagues’ desks.

It should also be remembered that at the end of the day, Advocates are still Introverts (I), and their popularity isn’t always welcome – they will need to step back and act the lone wolf from time to time, pursuing their own goals in their own ways. An unhealthy version of this tendency may pop up if Advocates sense that their values are being compromised by a more ethically relaxed colleague.“

Das hatte ich in fast jedem Job, dass mir plötzlich Leute ihr Zeug gegeben haben, obwohl es ihr Job gewesen wäre, es zu erledigen. Das war mir lustigerweise meistens egal, denn so hatte ich erstens immer was zu tun und musste mich nicht langweilen und wusste zweitens, dass die Dinge erledigt werden und zwar nach meinem Standard. Die meisten Kolleg*innen haben das immerhin hübsch verpackt, wenn sie mich baten. Die wenigen Male, wo sie dreist wurden, habe ich recht deutlich gemacht, wohin sie sich ihre Extraarbeit stecken können.

Introvert, ja. Alleine sein ist super. Alles meins, alles ich.

„There is a running theme with Advocates, and that is a yearning for authenticity and sincerity – in their activities, their romantic relationships, and their friendships. People with the Advocate personality type are unlikely to go for friendships of circumstance, like workplace social circles or chatting up their local baristas, where the only thing they really have in common is a day-to-day familiarity. Rather, Advocates seek out people who share their passions, interests and ideologies, people with whom they can explore philosophies and subjects that they believe are truly meaningful.“

Ja. Das dickste Ja bei der Auswertung waren bei mir die Abschnitte zu Beziehungen und Freundschaften, da habe ich mich sehr wiedererkannt. Gerade bei Freundschaften. Ich habe sehr wenige Menschen in meinem Leben, die ich als Freund*in bezeichnen würde und gefühlt zehn, die ich als Bekanntschaften ablege. Alle anderen tausend, mit denen ich im Leben jemals was zu tun hatte, sind egal. Meistens vergesse ich ihre Namen nach fünf Minuten. Nächstes Jahr jährt sich mein Abitur zum 30. Mal und in meiner Mailbox landen dauernd Einladungen zur gemeinsamen Feier, immer mit offenem E-Mail-Verteiler. Von den vielen Menschen, mit denen ich jahrelang zu tun hatte, kann ich mir nur noch an fünf oder so erinnern. Und auch die will ich nicht wiedersehen, weil ich schlicht nicht weiß, warum ich mich für Menschen interessieren sollte, mit denen ich vor 30 Jahren mal für Bio gelernt habe.

Nochmal zum ersten Punkt, den vielen Möglichkeiten, die das Leben so bietet. Ich führte vor wenigen Tagen ein kurzes Interview, in dem es um mein Buch und auch mein Blog ging. Die Interviewerin liest laut Eigenaussage mein Blog und fragte mich, ob ich mich als rastlos empfände, weil ich dauernd was Neues machen müsste. Die Frage überraschte mich sehr, denn wenn ich mich als irgendwas nicht empfinde, dann als rastlos. In meiner Eigenwahrnehmung bin ich der faulste Mensch der Welt, weil ich wirklich gerne nach Feierabend einfach nur rumliege und lese anstatt wie andere dauernd ins Theater oder zu Vorträgen zu gehen, Sport zu machen oder Freunde zu treffen. Ich treibe gefühlt auf meinem langsamen Fluss herum, und wenn es mir zu langweilig wird, dann mache ich halt irgendwas anders als vorher. Dass das als rastlos gelesen werden kann, hat mich überrascht. Lustig. Innensicht und Außensicht mal wieder.

Was schön war, Mittwoch, 2. Mai 2018 – Noch mehr Eichhörnchenpinsel!

In der ersten Sitzung der Vorlesung über Materialien der modernen Kunst erwähnte der Dozent die Eichhörnchenpinsel bereits, ich schrieb darüber. Gestern gab es nun eine ganze Sitzung nur zum Werkzeug Pinsel, worüber ich immer noch grinse. Universitäten. So much fun!

Wir stiegen wieder mit den Eichhörnchenpinseln ein, die mit ihrer Weichheit einen Gegensatz zum Borstenpinsel bildeten. Dieses Mal habe ich mir auch endlich die schöne Quelle gemerkt, aus der die Info stammte, dass man für einen Pinsel acht Eichhörnchenschwänze brauchte. Das Büchlein Trattato della pittura von Cennino Cennini wurde um 1400 veröffentlicht; hier gibt es eine deutsche Übersetzung von 1871, die ihr online bei meiner geliebten Stabi lesen könnt. Auf Seite 41 beginnt der kurze Abschnitt zu den Puschelpinseln und wie man sie herstellt (bis zu Abschnitt 66 springen und dann eine Seite zurückblättern). Die Überschrift sagt schon alles: „Auf welche Art man Pinsel vom Eichhörnchenhaar macht.“ Und so geht’s weiter:

„In der Kunst bedarf man zweier Gattungen Pinsel: nämlich von Eichhörnchenhaar und solche von Schweinsborsten. Jene vom Eichhörnchen macht man folgender Art: nimm die Schwänzchen vorn Eichhörnchen (denn keine andern taugen dazu) und diese Schwänzchen müssen gekocht, nicht roh, sein. Die Kürschner werden dir davon sagen. Nimm ein solches Schwänzchen, ziehe vorerst die Spitze heraus, weil deren Haare lang sind und vereinige die Spitzen mehrerer Schwänze, so dass sechs oder acht Spitzen dir einen weichen Pinsel liefern, tauglich zum Aufsetzen des Goldes auf die Tafel […].“

Falls ihr von Craft Beer und Palettenmöbeln gelangweilt seid, aber gerne bastelt – wie wär’s damit?

Der Dozent erwähnte eine Anekdote, die von Giotto überliefert ist. Der gute Mann wurde eines schönen Tages von einem Wildschwein umgerannt, und als er sich wieder aufgerappelt hatte, hätte er gesagt, passt schon, mit den Borsten dieser Tiere habe ich viel Geld verdient und ihnen nicht mal zwischendurch eine Kelle Brühe gespendet als Dankeschön.

Generell ging es in der Sitzung um den Unterschied des Farbauftrags von Haar- und Borstenpinseln. Auch noch nie darüber nachgedacht: Einige Maltechniken wurden erst durch bestimmtes Werkzeug möglich. Der sehr pastose Farbauftrag von Goghs zum Beispiel war erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts möglich, weil es zu dieser Zeit bereits flache Borstenpinsel gab statt der bisher rundlichen Spitze. Wenn ihr hier mal den oberen Teil der Vase der guten alten Sonnenblumen vergrößert, seht ihr sehr deutlich die flachen Borstenstriche, die ein Haarpinsel oder auch ein abgerundeter Borstenpinsel nicht hätten erzeugen können. So dient diese Materialkunde auch der Datierung von Kunstwerken.

Gerade die französischen Realisten des 19. Jahrhunderts nutzten Tierhaarpinsel, um Fellstrukturen darzustellen; der Dozent verwies auf Courbets Durchgehendes Pferd. Ich mag es, wenn Dozierende sich auf Kunstwerke beziehen, die vor Ort hängen, denn dann kann man dank des schönen Studiausweises nach der Vorlesung mal kurz umsonst ins Museum hüpfen und sich die Bilder im Original anschauen. Wobei ich über das olle Pferd immer eher grinse als bewundernd davorzustehen.

Dann ging es um den Dachshaarpinsel, der im Französischen mit der gleichen Vokabel bezeichnet wird wie ein Rasierpinsel (und der Dachs selbst): blaireau. Der Dachshaarpinsel sieht dem Rasierpinsel sehr ähnlich, und mit seinen dicken, runden, weichen Haaren glätteten gerade die Salon- oder Akademiemaler ihre Bildoberflächen, bis kaum noch Arbeitsspuren vorhanden waren (also genau das Gegenteil von Courbets Pferd). Diesen Vorgang nennt man dementsprechend blaireautage oder poli bzw. fini – der letzte Schliff, die Politur. Oder wie wir heute sagen wird: Photoshop. Ingres, den ich bisher sehr mochte, der mir aber durch diese Vorlesung immer unsympathischer wird, meinte, dass dieses Glätten absolut notwendig sei, denn die Oberfläche zeige sonst die Hand des Künstlers und nicht seinen Geist.

Von Jean-Léon Gérôme, einem typischen Akademiemaler, erzählte der Dozent die Anekdote, dass er seinen Schülern verboten habe, ihre Studien zu glätten, denn sonst sei die wichtige Kopfarbeit nicht mehr zu sehen. Die fertigen Werke seien aber ungeglättet bloß nicht der Öffentlichkeit zuzumuten. Das Glätten von Studien verglich Gérôme, und hier erwähnte der Dozent das wichtiges Stichwort „Gender-Aspekt“, mit Nähen, Sticken, überflüssiger Frauenarbeit eben. Er sprach außerdem über einen Vergleich, der die Kunstwelt etwas verlässt: In privaten Räumen kann man rumlaufen wie man möchte, aber wenn man vor die Tür geht, wenden die meisten von uns dann doch ein wenig oder auch irrwitzig viel Energie darauf auf, wie man sich anderen Menschen präsentiert. Das Stichwort the finished gentleman entspringt diesem Gedanken und verweist wieder auf das finish an Bildern.

Von Gérôme sahen wir übrigens dieses Bild in der Vorlesung. Ich kannte von ihm bereits den Klassiker Phryne vor den Richtern, bei dem ich jedesmal von der Dramatik und Dynamik und dem Zusammenspiel von Rot und Blau begeistert bin, bis ich mit den Augen rolle, weil halt nackte junge Frau vor vielen Kerlen schnarch ich kann es einfach nicht mehr sehen. Ich hatte von ihm auch schon den Schlangenbeschwörer gesehen, bei dem es uns in der Seminar-Diskussion um die Darstellung des Orients durch westliche Augen ging. Und wir haben uns lange an der ausgeprägt detailliert dargestellten Architektur ergötzt, die eine wilde Mischung aus realen Orten und künstlerischer Fantasie ist.

Nach Gérôme sahen wir einige Werke von Alexandre Cabanel, dessen Geburt der Venus eins meiner persönlichen Hassbilder ist, weil siehe oben (AUGENROLLEN). Auch Cabanel glättete wie bescheuert, und van Gogh soll gesagt haben, je mehr Bilder er von Cabanel sehe, desto mehr dränge es ihn zum pastosen Farbauftrag. Ich musste allerdings feststellen, dass ich einige Bilder von Cabanel doch mochte, zum Beispiel das Porträt der Duchesse von Vallombrosa, wo ich die verkünstelte Handhaltung spannend fand. Ich habe leider keine große Abbildung gefunden, aber die rechte Hand mit ihren Adern hätte ich stundenlang anschauen können. Oder das Porträt der Comtesse de Koller. Beiden Bildern wurde von der Kritik das Glätten, die blaireautage, vorgeworfen, während Liebhaber dieses Stils meinten, die Zartheit oder Unversehrtheit der adligen Haut käme so noch besser zur Geltung. Anders ausgedrückt: Man sieht ihnen an, dass sie den ganzen Tag rumsitzen können und nie irgendein Werkzeug in die Hand nehmen müssten, was womöglich Muskeln oder Blasen erzeugen könnte. Gerade bei Damen ja ganz schlimm.

Die Kritik erfand auch ein Schimpfwort für diese zugepuschelten Bilder bzw. ihre Schöpfer: blaireauteur! Das übernehme ich sofort in meinen Wortschatz. Wann immer mir demnächst blutleere, totgepostete, langweilige Kunst über den Weg läuft, werde ich innerlich „Alles Dachshaarpinselmaler!“ denken. Denn nicht für die Uni, sondern fürs Leben lernen wir.