Tagebuch Samstag/Sonntag, 29./30. August 2020 – Jeder Name zählt

Im Kunstfoyer der Versicherungskammer läuft gerade eine Retrospektive mit Fotos von Toni Schneiders, die bis Ende September verlängert wurde, und die ich euch hiermit sehr ans Herz lege. Kostet wie immer dort nichts und ist jeden Tag zu sehen.

Ich mochte vor allem die Fotografien aus den 1950er-Jahren, weil sie ein bisschen an mein Forschungsgebiet anknüpfen. Es waren an ihnen gleichzeitig der Rückgriff auf die reduzierte, neusachliche Bildgestaltung der 1920er-Jahre zu sehen sowie die Weiterentwicklung und damit die Abgrenzung zur Zeit von vor 1945. Wobei auch zur NS-Zeit die Fotosprache, im Gegensatz zur Malerei, durchaus schlicht abbildend, reportagehaft sein konnte, während in der Malerei gerne überdeutlich verherrlicht wurde. Nicht jedes Fotos, das zwischen 1933 und 1945 in offiziellen Publikationen auftauchte, wird heute als eben das erkannt; das fiel mir vor allem bei Architekturabbildungen auf, die ich im Zuge der Diss hundertfach angeschaut habe. Wenn ich nicht gewusst hätte, was ich sehe und wann es aufgenommen wurde, hätte ich die Bilder auch in die Zwanziger datieren können.

Apropos: Im Bundesarchiv finden sich Fotos von Schneiders, die er als Kriegsberichterstatter gemacht hat. Dort ist, gerade in seinen Aufnahmen von Menschen, doch ein deutlicher Unterschied zu den Bildern nach 1945 zu sehen. Nur wenige Fotos lassen schon seine Handschrift erahnen. Hier wurde noch Wert auf die Abbildung von Gemeinschaft und Gruppe gelegt, während sich Schneiders nach 1945 deutlich mehr auf die Einzelperson konzentriert; in wenigen Bildern klingt das hier schon an, zum Beispiel im Bild 101I-567-1503D-32, Seite 5 von 7, wo man zwei Männer auf einem Lastwagen sieht, beide scharf im Profil. Es ist kein Horizont zu erkennen, die Männer überragen alles, aber sie wirken nicht übermächtig wie in der zu erwartenden heldischen Inszenierung, sondern trotz ihrer eindeutig modernen Umgebung fast wie antike Büsten oder italienische Porträts des ausgehenden 15. Jahrhunderts, klassisch, still und schlicht.

Genau diese Stimmung mochte ich an Schneiders Arbeiten in den 1950er-Jahren. Dort konzentriert er sich auf ebensolche Details oder wenige Figuren, die er in kontrastreichem Schwarzweiß abbildet.


(Anstreicher, 1967; „Zwei, die auf Draht sind“, 1954.)

Auch toll: die Hängung, die teilweise aus seinen Büchern übernommen wurde, so wie hier das Flugzeug, das an einen „Rosinenbomber“ erinnert direkt neben dem Denkmal für eben diese Flugzeuge.


(„Tag und Nacht brummten die Transportflugzeuge“, 1959; „Das Luftbrückendenkmal, 1959.)

Oder einfach die Konstraste zwischen viel und wenig, hell und dunkel.


(Signalpfahl, 1954; Schneefangzaun, 1956.)


(„Weiß auf Schwarz“, 1965; „Ein Mann allein“, 1951.)

Dass der winzige Fleck links ein Segelboot auf dem bewegten Bleder See ist, habe ich erst zehn Zentimeter vor dem Bild erkennen können. Ich hing eh die meiste Zeit mit der Nase an den Rahmen, um nichts zu verpassen an Linien, Formen, Anschnitten und Ausschnitten.

Schneiders begann recht früh mit Reisereportagen. Vor diesen Bildern hatte ich ein wenig Angst, ich erwartete exotisierende Abbildungen aus zum Beispiel Äthopien, konnte aber aufatmen. F. nannte es sehr richtig „Begegnungen auf Augenhöhe“ von Fotograf und Subjekten.

Nochmal: Anschauempfehlung. (Und ich muss mich endlich mal um größere Bilder im Blog kümmern. Will ich schließlich erst seit acht Jahren machen. Man kommt zu nix.)

F. und ich waren nicht alleine in der Ausstellung, sondern wurden von Ben und Sven begleitet, mit denen wir danach noch auf ein bis drei Bierchen einkehrten. Das hat sich mal wieder so schön normal angefühlt, Kunst gucken, quatschen, zusammensitzen. Zwar bei Regen und 15 Grad draußen unter einer Augustiner-Markise, aber das war auch okay. Besser so als gar nicht. Wenn ich richtig gezählt habe, war das das vierte Mal seit März, dass ich andere Leute als F. oder Familie für längere Zeit um mich herum hatte, von den ICEs mal abgesehen sowie den Bibliotheken, wo man aber prima Abstand halten kann.

Gestern hatte ich viel Spaß mit dem Kreuzworträtsel der NYT, das sogar visuelle Hinweise bereithielt. Verlinken bringt vermutlich nur für Abonnent:innen was, aber falls ihr noch zögert, die Times zu abonnieren – hier wäre noch ein toller Grund.

Nachmittags hatte ich weitaus weniger Spaß, weil ich mich in den Arolsen Archives rumtrieb, aber das muss halt gemacht werden. Ich arbeitete erneut bei #JederNamezählt mit, bei dem jede:r, hey, ihr auch, ja du! mitmachen kann. Es geht um die Erfassung von gescannten Dokumenten, genauer gesagt, um Häftlingsakten aus Konzentrationslagern, deren Daten nun von Freiwilligen vom Scan in eine Datenbank übertragen werden. Man muss sich nicht mal anmelden. Nachdem ich aber die Daten eines vierzehnjährigen griechischen Schülers übertragen hatte, der 1944 verhaftet worden war, machte ich erstmal wieder Pause.

Abends Käse und Wein mit F. Meine Tage schwanken immer noch zwischen Nazischeiß und dem Rest der Welt, der einem immer surrealer vorkommt.

Tagebuch Freitag, 28. August 2020 – Wurstauflauf Royal

Eigentlich wollte ich in die Uni-Bib radeln, um drei schöne Bücher abzuholen, aber es war erst eins da und für ein Buch verlasse ich das Haus nicht. Also Schreibtisch daheim. Ich las diverse Texte, die ich mir als pdf runtergeladen hatte und bastelte weiter an meinem Abstract.

Das Fernsehprogramm des Tages waren ein paar alte Folgen Scrubs. Immer noch lustig, und der Hausmeister ist eine großartige Figur.

Zum Abendessen löste ich ein leichtsinnig gegebenes Versprechen ein:


(Klicken Sie ruhig das Bild an, darunter ist ein Thread mit weiteren nahrhaften Rezepten.)

Das Rezept, das SCHICHT FÜR SCHICHT EIN WURSTGENUSS sein sollte (nein danke), verlangte Bandnudeln, von denen ich dachte, dass ich noch welche hätte; wir sagen heute Tagliatelle dazu, hatte ich aber auch nicht. Champignons wollte ich nicht, und ich wollte auch meine geliebten Mohrrüben nicht mit Zwiebeln anbraten. Also kochte ich Spaghetti (halb durchgebrochen), erwarb Geflügelmortadella (hätte ich dünner schneiden lassen sollen) und kleidete mit letzter eine kleine Kinderbackform aus, denn ich wollte wirklich, wirklich keine ganze Kuchenform mit Wurstscheiben auslegen.

Ich verrührte ein Ei mit ordentlich Parmesan und Basilikum vom Balkon, würzte mit Salz und Pfeffer, mischte alles mit den halb gekochten Spaghetti und wurschtelte (haha) alles in die Form, die mit Alufolie und Wurst ausgekleidet war. Oben drauf noch eine Schicht Wurst, alles schön mit noch mehr Alufolie umhüllen und bei 180 Grad für 45 Minuten in den Ofen.

Die Deko-Zucchini schenkte ich mir und deshalb sah zum Schluss alles so aus:

Und es schmeckte gar nicht mal so ganz übel. Nicht so gut, dass ich es dringend nochmal machen muss, aber nicht so schlimm wie erwartet.

Und jetzt möchte ich bitte wieder mal was mit Chilis kochen.

Heute sehr spät aufgewacht und unter anderem von Papa geträumt. Ich träumte, dass mich meine Eltern am Flughafen verabschiedeten, ich umarmte beide und Papa meinte, gut, dass Germanwings mich nach Wien bringe, woraufhin ich dachte, ich flieg doch nach Madrid, egal, das hat Papa wohl wieder vergessen. Erst beim Aufwachen fiel mir auf, dass ich ihn im Stehen umarmt hatte wie Mama. Aber stehen kann Papa ja nicht mehr, ich umarme ihn jetzt im Rollstuhl oder im Bett. Das fand ich bemerkenswert, dass mein Kopf einen Teil von Papa an die neue Situation anpasst und einen anderen nicht.

Was schön war, Donnerstag, 27. August 2020 – Es wird gelesen

Schlechte-Laune-Bekämpfen durch Radfahren in Richtung ZI und dort in der Bibliothek sitzen. Hat wie immer funktioniert. Ich hatte vorgestern abend beim Reservierungs-Tool des ZI gesehen, dass von den fünf reservierbaren Plätzen (von 31) noch vier verfügbar waren und mir daher gedacht, das wird wohl nicht voll werden, die Hausarbeiten scheinen alle abgegeben zu sein. Außerdem ist München im August sowieso ähnlich leer wie zur Weihnachtszeit, was mich immer noch irritiert, weil das in Hamburg nicht so war.

Ich zog relativ willkürlich Bücher zu zwei Fotograf:innen aus dem Regal, dazu ein bisschen Sekundärliteratur und blätterte mehr als das ich las. Dabei stieß ich aber durchaus auf spannende Quellen, und ehe ich mir die in die Stabi bestellte, wo ich erst in knapp zwei Wochen einen Sitzplatz ergattern konnte, fiel mir tollerweise die Bibliothek des Deutschen Museums wieder ein, die ich, warum auch immer, stets wieder vergesse. An meiner Wohnungstür hängt ein Post-it, auf dem „Schließfachmünzen?“ steht, damit ich die nicht vergesse. F. meinte, ich sollte noch ein Post-it mit der Aufschrift „DAS DEUTSCHE MUSEUM HAT EINE TOLLE BIBLIOTHEK“ daneben hängen. Gerade für mich, deren Forschungsgebiet an ein technisches Thema angedockt ist, ist diese Bib eine Goldgrube. So fand ich denn auch alles (und noch viel meeeeehr, dumdida), was ich mir in den letzten Tagen in die Stabi bestellt hatte, dort und bestellte es einfach nochmal. Montag werde ich da genüsslich sitzen und lesen und kostenlos scannen.

Gegen Ende meines Zeitslots stellte ich meine Bücher wieder in die Rückgabefächer und entdeckte dort zum ersten Mal eins der Bücher, an denen ich mitgearbeitet hatte. Aww! Es wird gelesen! Das war schön.

Nachmittags traf ich mich mit meiner Nachbarin auf einen Flat White im Freien, wir klönten und ich stellte interessiert fest, dass die kleine Kaffeebar gerade Barista…s? …i? suchte. Hm. Kaffee machen kann ich.

Abends schaute F. vorbei, ich kochte ein bisschen, wir tranken einen herrlichen Orange Wine (2017), bei dem ich beim ersten Schluck das Gesicht verzog, weil er mir irre sauer vorkam, der sich aber dann als sehr erfrischend herausstellte. Wir unterhielten uns über Lösungsworte des NYT-Kreuzworträtsels, wir Irren. Statt zu lesen, im Bett nur noch Candy Crush gedaddelt und zufrieden gemeinsam eingeschlafen.

Tagebuch Mittwoch, 26. August 2020 – Call for papers

Die Nach-Abgabe-Depri, die mich seit acht Jahren bzw. zehn Semestern verlässlich ereilt, dauert dieses Mal besonders lange, vermutlich weil die letzte abgegebene Arbeit eine so umfangreiche war. Gestern stolperte ich aber über einen Call for papers, der mich motivieren konnte, wieder am Schreibtisch zu sitzen und zu wissenschafteln. Ich ließ mir Bücher in den Lesesaal der Stabi legen, die nicht im ZI stehen (was mich schon bei der Diss irre gemacht hat), freute mich darüber, dass sie am 1. September für mich da sind – und ergatterte einen Sitzplatz am 8. Mpf. Außerdem lieh ich für den Aufsatz, den ich aus Spaß an der Freude schreibe, noch ein paar Bücher aus der UB, die eventuell schon am Freitag für mich bereit liegen. Dazu lud ich diverse Bücher als pdf runter, danke Uni-Bib, und musste wie schon vorgestern in Papiertüten atmen, weil ich das bald nicht mehr darf. Glaube ich. Ich werde mit jemandem an der Stabi sprechen müssen, wie ich weiter an meine ganzen herrlichen Quellen komme. Oder ich immatrikuliere mich für irgendein Fach ohne Zulassungsbeschränkungen, damit ich weiter in alle Fachbereichsbibliotheken darf. Bis man 56 ist, darf man sich an der LMU als reguläre Studentin einschreiben, jedenfalls war das vor acht Jahren so. Ich gucke das jetzt nicht nach, sonst mache ich noch einen Bachelor in Soziologie.

Hat latent was mit meinem Aufsatz zu tun: Alex Ross über Richard Wagner als Filmmusik.

How Wagner Shaped Hollywood

(Unter dem Link auch als Audiodatei zu finden, aber dann entgehen euch die schönen Filmschnipsel.)

„More than a thousand movies and TV shows feature the composer on their soundtracks, yoking him to all manner of rampaging hordes, marching armies, swashbuckling heroes, and scheming evildoers. The “Ride” turns up in a particularly dizzying variety of scenarios. In “What’s Opera, Doc?,” Elmer Fudd chants “Kill da wabbit” while pursuing Bugs Bunny. In John Landis’s “The Blues Brothers” (1980), the “Ride” plays while buffoonish neo-Nazis chase the heroes down a highway and fly off an overpass. Most indelibly, Francis Ford Coppola’s “Apocalypse Now” (1979) upends Griffith’s racial duality, making white Americans the heralds of destruction: a helicopter squadron blares the “Ride” as it lays waste to a Vietnamese village. […]

When the lights went down at the Bayreuth Festspielhaus in 1876, for the première of the “Ring of the Nibelung” cycle, a kind of cinema came into being. The Viennese critic Eduard Hanslick, no friend of Wagner’s, felt that he was looking at a “bright-colored picture in a dark frame,” as in a diorama display. The composer had intended as much, saying that the stage picture should have the “unapproachability of a dream vision.” The orchestra was hidden in a sunken pit known as the “mystic abyss”; its sound wafted through the room as if it were transmitted by a speaker system. The inaugural performances took place in a near-blackout. From the Festspielhaus, according to the media theorist Friedrich Kittler, “the darkness of all our cinemas derives.”

Bayreuth’s technical achievements predicted cinematic sleights of hand. In the “Ring,” magic-lantern projections evoked the Valkyries on their flying steeds; in “Parsifal,” the Grail glowed with electric light. Clouds of steam generated by two locomotive boilers smoothed over changes of scene, in anticipation of the techniques of dissolve and fade-out. Wagner’s music itself provides hypnotic continuity. When the action of “Das Rheingold” shifts from the Rhine to the area around Valhalla, the stage directions say, “Gradually the waves turn into clouds, which resolve into a fine mist.” In the score, rushing river patterns give way to shimmering tremolos and then to a more rarefied texture of flutes and violins—what the scholar Peter Franklin describes as an “elaborate upward panning shot.” In the descent into Nibelheim, the realm of the dwarves, the sound of hammering anvils swells in a long crescendo before fading away. This is like a dolly shot: a camera moves in on the Nibelungs at work, then draws back.

The convocation of the nine Valkyries in Act III of “Walküre” is Wagner’s finest action sequence—a virtuoso exercise in the massing of forces and the accumulation of energy. At the beginning, winds trill against quick upward swoops in the strings; horns, bassoons, and cellos establish a galloping rhythm, at medium volume; then comes a trickier wind-and-string texture, with staggered entries and downward-swooping patterns; and, finally, horns and bass trumpet lay out the main theme. Successive iterations of the material are bolstered with trumpets, more horns, and four stentorian trombones, but the players are initially held at a dynamic marking of forte, allowing for a further crescendo to fortissimo. When two tarrying Valkyries, Rossweisse and Grimgerde, finally join the group, the contrabass tuba enters fortissimo beneath the trombones, giving a sense of powerful reinforcements arriving.

Jaja, hier noch der Coppola.

Tagebuch Dienstag, 25. August 2020 – Schreiben, lesen, Geschenke kriegen

An einem Aufsatz weitergepuschelt, an dem ich gefühlt seit fünf Jahren sitze; der war mal eine Hausarbeit, dann Teil der Masterarbeit und irgendwie ist das Thema für mich immer noch nicht abgefrühstückt. Mal sehen, was dieses Mal daraus wird. Vielleicht nur ein langer Blogeintrag. Nach ein paar Wochen Pause wieder in universitäten Datenbanken gewühlt und mich gefragt, was ich bloß mache, wenn meine ganzen Zugänge Ende September einfach im Nichts verschwinden. Gleich mal in eine Papiertüte geatmet und Schokolade gegessen.

Das Hamilton-Buch durchgelesen (tolles Ding) und erstmals länger HipHop auf Spotify gehört. Quellenstudium per Ohr, auch neu.

Stellenanzeigen durchwühlt und gedacht, ach, ich geh wieder kellnern. Anscheinend reicht ein fast-Doktortitel immer noch nicht für die Jobs, die ich haben möchte.

Auf Netflix die Umbrella Academy beendet. Die erste Staffel kannte ich als Comicvorlage und sie kam mir ewig ausgewalzt vor, die zweite kannte ich nicht und die fand ich deutlich zügiger. Schöner Cliffhanger, bitte schnell weiterdrehen.

Viel Spaß mit dem Kreuzworträtsel der New York Times gehabt, in dem vier Shakespeare-Zitate versteckt waren, die aber sehr unterhaltsam angeteasert wurden: 16-ounce sirloin that Shylock brought to the cookout? – The Pound of Flesh / Mark Antony’s request to the farmer when he realized he didn’t have enough corn for the cookout? – Lend me your ears / Cry from Hamlet when he spotted his favorite spice mix at the cookout? – Ay there’s the rub / und mein Liebling: Lady Macbeth’s declaration upon checking the steaks at the cookout? – What’s done is done.

Abends kam F. vorbei und überreichte mir ein sehr unerwartetes nachträgliches Geburstagsgeschenk. Eigentlich hatten wir Karten für die sieben Tode der Maria Callas von Marina Abramovich im April aber DIE SITUATION. Dass es in Kürze für 200 Leute doch noch live aufgeführt wurde, hatte ich schon gar nicht mehr mitbekommen, aber dafür konnte F. leider keine Karten ergattern. Deshalb bekam ich ein Buch I love Women in Art, ein Crowdfunding-Projekt, bei dem Kuratorinnen, Galeristinnen und Kunsthistorikerinnen ein bisschen was zu ihren Lieblingskünstlerinnen erzählen. Habe meine Zweitprüferin unter den Autorinnen entdeckt und mich über Anita Rée und Eva Hesse gefreut sowie über 50 Frauen, deren Arbeiten ich noch nicht kannte.

(Gerade beim Verlinken irritiert gedacht: Wieso heißt das Ding nicht „I heart Women in Art“, wo doch ein Herz auf dem Titel abgebildet ist und es sich so schön reimt, aber nun gut.)

Tagebuch letzte Woche und Sonntag, 23. August 2020 – Bauernskat und Fußnoten

Schwester, Schwager, F. und ich hatten uns fürs Mütterlein eine kleine Überraschung überlegt, von der ich im Nachhinein nicht mehr weiß, ob sie eine gute Idee gewesen ist. Ich wusste von zwei Terminen, die sie letzte Woche hatte, für die sie außer Haus sein wollte, weswegen ich eben in dieser Woche in den Norden fuhr. Es stellte sich heraus, dass sie an vier Tagen unterwegs war, zudem war es gerade Donnerstag und Freitag fürchterlich heiß und dazu noch sehr schwül, so dass wir alle ein bisschen matter und gereizter waren als gewöhnlich und am Freitag dann auch alle ein bisschen erschöpft von der ganzen Woche.

Ausgerechnet für diesen Tag hatten wir vier uns ein winziges kleines Familienfest überlegt. Vaddern ist jetzt seit einem Jahr wieder zuhause, und eigentlich wollte das emsige Mütterlein das mit einem Sommerfest feiern, zu dem auch Verwandte und Nachbarn eingeladen werden sollten. Dank Corona mussten wir ihr das gar nicht erst ausreden, das hatte sich von alleine erledigt. Trotzdem dachten wir, dass es sie freuen würde, wenn wenigstens die engste Familie da sei und mit ihr ein Sektchen köpfen würde.

Das sollte eigentlich eine Überraschung bis Donnerstag nachmittag bleiben, wenn ich mir das Auto ausgeborgt hätte, um F. vom Bahnhof abzuholen, aber das darf ich ja versicherungstechnisch (noch) nicht fahren. Außerdem wollte das Mütterlein gerne den Speiseplan für die ganze Woche planen, und nach zwei Tagen Rumlavieren musste ich ihr dann doch sagen, dass sie sich um Freitag bitte keinen Kopf machen müsse, da kämen zwei Leute mit Grill, mobilem Gartenpavillon und einem Arm voller Bratwürste vorbei. Sie schien sich über den Gedanken zu freuen, aber der Tag selbst wurde dann doch ein bisschen unentspannt, leider.

Zwischen 15 und 19 Uhr sitzt Papa im Rollstuhl, in den ihn die Pflegekräfte setzen, die dann abends wieder vorbeikommen und ihn ins Bett bringen. Mit Hilfe des Lifters vor der Tür kriegen wir ihn also immerhin in den Garten, wenn auch nicht auf die Terrasse, aber der Schwager baute eben auf dem Rasen einen Pavillon auf, damit wir nicht so fies in der Sonne sitzen mussten, und brachte auch ein Gestell mit, das sie für ihn zu Silvester gebaut hatten: zwei Böcke, auf die eine Tischplatte passt, die höher ist als normale Tischplatten, denn durch die Armlehnen kommt er mit dem Rollstuhl nicht unter eben diese. Er sitzt sonst immer seitwärts beim Essen am Tisch, denn mit dem mobilen Tisch, den man theoretisch auf die Armlehnen anbringen kann, kommt er überhaupt nicht klar, das haben wir recht schnell aufgegeben. Zunächst hatten wir vermutet, dass es ihn irritiert, dass die Platte vor ihm transparent ist, aber auch eine kleine Decke darauf hat nicht geholfen. Er hat seinen Teller einfach immer davon heruntergenommen und ihn seitlich von sich auf den Küchentisch gestellt, an dem er seit 40 Jahren sitzt und isst. Daher haben wir das beibehalten.

Nun schoben wir ihn gegen 17 Uhr durch den Garten (neu verlegter fester Weg statt rollstuhlunfreundlichem Trampelpfad) auf den Rasen und gruppierten uns um seinen Tisch. Ich war wie immer auf Wespenwatch, aber auch Mama übernahm das Aufpassen und kam so ebenso wenig wie ich zum entspannten frühen Abendessen. (Scheißviecher.) Auch das gemütliche Beisammensein danach verlief nicht so, wie ich mir das gedacht hatte, nämlich alle gemeinsam (mit Maske) in Papas Zimmer, so wie immerhin F. und ich dort Weihnachten verbracht hatten, als Schwester und Schwager erkältet im Bett lagen. Stattdessen hatte Papa einen normalen Abend mit Fernsehen im Bett, das Mütterlein räumte irgendwas auf, und der Rest saß noch draußen. Ich pendelte zwischen allem hin und her, wollte wenigstens kurz mal ein Glas trinken, konnte mich aber auch nicht entspannen, und irgendwie war das alles halbgar. Sehr schade. Wir merken uns: keine Überraschungen mehr, immer alles absprechen. Hätten wir auch von selbst drauf kommen können bei einem so durchgetakteten Tag, wie ihn Papa nun einmal hat und an dem sich Mamas Arbeitslast (sehr viel waschen, kochen, tausend Telefonate mit Krankenkassen führen) bzw. in dieser Woche meine orientiert.

Die Woche war für mich okay, nicht ganz so entspannt wie der letzte Besuch, auch wegen der verdammten Hitze, aber immer noch weniger stressig als alle im letzten Jahr bzw. bis Februar oder wann immer ich das letzte Mal vor Corona da war. Ich habe mir inzwischen eine lange Liste angelegt: wann aufstehen, was zum Frühstück, welche Medikamente wann, wie geht die Geschirrspülmaschine, wo steht das Waschmittel. Das hilft, und ich muss nicht alle 20 Minuten was fragen.

Was schön war: Nach einem Jahr konnte ich Papa zu immerhin einer Partie Bauernskat überreden. Er hat jahrzehntelang Skat gespielt, meine Schwester und ich haben das von ihm gelernt und in den Ferien immer mit ihm und Opa gespielt, Schwester und er sind auch jahrelang regelmäßig zum Preisskat im Nachbardorf gefahren. Seit dem Schlaganfall interessiert ihn aber gar nichts mehr, es macht ihm scheinbar auch nichts aus, einfach so stundenlang in die Gegend zu gucken. Wir versuchen trotzdem, ihn zu irgendwas zu animieren, er hat zum Beispiel Duplo-Steine am Bett oder Bilderbücher zum Blättern (er liest nicht mehr, er kann es aber noch, wie ich an Einkaufsprospekten merke). Und jeden Nachmittag, wenn wir nach dem Kaffeetrinken noch am Küchentisch sitzen, versuche ich ihn zum Kartenspielen zu kriegen. Meist hat er keine Lust, und wenn er mal Lust hat, reicht es für einen Stich und dann mag er nicht mehr. Dieses Mal nicht: Er wusste noch, was gemeint war, als ich sagte: „Und was ist Trumpf?“, er kann die Karten noch korrekt identifizieren, aber er wusste nicht mehr, wie man spielt. Also habe ich souffliert: „Hier, die Karte, was ist da? Herz-Dame, genau. Ich habe eine … genau, Herz 9. Wenn du die Karte ausspielst, muss ich dir meine 9 geben. Heb die Karte mal hoch … leg sie hier in die Mitte … so dass man das Bild erkennt …“ – „Da ist kein Bild.“ – „Hast recht. So dass nicht die blaue Rückseite oben liegt … genau … jetzt muss ich bedienen, ich geb dir zu deiner Herz-Dame meine 9. Das ist jetzt dein Stich. Den kannst du jetzt nehmen … nimm mal beide Karten … und leg sie auf deine anderen Stiche … ja, da hin. Du bist weiter dran. Ich hab hier eine … genau, Kreuz 8.“ Und so weiter. Wir bekamen alle Karten leergespielt und dann zählten wir zusammen. Rechnen kann er auch noch. „Der König hier zählt 4, die … genau, Dame, zählt 3, 4 plus 3 ist …? Genau, 7. 7 plus 10 ist …?“ Das war die erste Partie Skat, wenn auch nur Bauernskat, die er seit Mai 2019 gespielt hat, und das hat mich gefreut.

Am nächsten Tag wollte ich das wiederholen, aber ich stellte irritiert fest, dass eine Karte fehlte, die Kreuz-Dame. Als ich ein neues Blatt holen wollte, hatte er schon wieder keine Lust mehr. Ich suchte die Küche nach der Karte ab, fand sie aber nicht. Dafür am nächsten Morgen. Schon nach dem gelungenen Spiel hatte ich zwei Karten auf dem Küchenfußboden gefunden, mir nichts dabei gedacht und sie weggeräumt. Nun lernte ich, dass Papa anscheinend drei Karten runtergefallen waren, was ich nicht gemerkt hatte. Eine davon hatte die Pflegerin abends im Rollstuhl oder in seinen Klamotten gefunden und sie auf den Schrank hinter seinem Bett gelegt, wo ich sie erst einen Tag später fand.

Die Rückfahrt am Samstag war ereignislos, ein recht leerer ICE und es gibt wieder Goodies für die 1. Klasse. Stupid Kekse, will Schokolade. Ich vergaß mir eine Zeitung zu kaufen, daddelte am Handy und hörte weiter den Beethoven-Podcast, den ich vermutlich erst im nächsten Jahr komplett durch haben werde, denn ich höre immer eine Folge, dann das dazugehörige Klavierkonzert und mehr als zwei bis drei hintereinander schaffe ich nie.

Gestern war ich den ganzen Tag mit dem tollen Geschenk beschäftigt, das ein paar Tage in der Packstation auf mich hatte warten müssen. Ich las fast das ganze Buch durch, aber eben nur fast, Rest kommt heute, ha! Auf Twitter zeigte ich ein paar schöne Fußnoten zu den Songtexten rum und freute mich darüber, genau die Songs toll zu finden, die auch Herrn Miranda viel bedeuten.

Abends gewann Bayern München nicht nur die Champions League, sondern damit auch das Triple, über das ich mich 2013 irre gefreut hatte. Gestern war es eine Geisterfeier und es war mir deutlich egaler. Trotzdem gerne gesehen, und ja, ich gucke auch die nächste Saison wieder. Hilft ja nix.

Ein sieben- oder achtfaches Dankeschön …

… an Franziska, die mich mit wertvoller Sekundärliteratur beschenkte: Lin-Manuel Mirandas und Jeremy McCarters Hamilton: The Revolution, ein dickes Begleitbuch zu diesem Musical da auf Disney, das ich höchstens sieben- oder achtmal gesehen habe. Ähem.

Im Moment ist Hamilton ein verbindendes Glied zu vielen Dingen, die ich lese oder sehe; so erinnerte mich das Buch, wie hier im Blog bereits erwähnt, bei der arte-Serie über die Städte Amsterdam, Neu-Amsterdam/New York und London, daran, dass New York kurz Hauptstadt der Vereinigten Staaten gewesen war. Im Musical kommt die schöne Zeile von Aaron Burr vor: „What did they say to you to get you to sell New York down the river? […] Or did you know, even then, it doesn’t matter where you put the U.S. capital?“, was nebenbei noch ein schöner lautmalerischer Gag mit capital/capitol ist. Der Song heißt The Room Where It Happens, und fast diesen Titel (The Room Where It Happened) trägt auch das vor Kurzem erschienene Buch von John Bolton. Als ich den Titel hörte, überlegte ich, ob das eine feststehende Redewendung sei, bis ich in einem der Trillionen Hamilton-Videos auf YouTube Herrn Miranda hörte, der darob ziemlich entgeistert war. Überhaupt spannend: wie anders sich die Texte lesen nach fast vier Jahren Trump-Administration. Auf den Gedanken ist auch die NYT gekommen:

„“Hamilton” is motivated, above all, by a faith in the self-correcting potential of the American experiment, by the old and noble idea that a usable past — and therefore a more perfect future — can be fashioned from a record that bristles with violence, injustice and contradiction. The optimism of this vision, filtered through a sensibility as generous as Miranda’s, is inspiring.

It’s also heartbreaking. One lesson that the past few years should have taught — or reconfirmed — is that there aren’t any good old days. We can’t go back to 1789 or 2016 or any other year to escape from the failures that plague us now. This four-year-old performance of “Hamilton,” viewed without nostalgia, feels more vital, more challenging than ever.“

Was mir auch erst durch das Musical aufgefallen ist: wie seltsam Wahlen sind, wenn man sie vom Standpunkt einer nicht-wählenden Gesellschaft aus sieht. So singt der stets indignierte König George III, als Washington sich nicht mehr zur Präsidentschaftswahl aufstellen lässt:

„They say
George Washington’s yielding his power and stepping away
Is that true?
I wasn’t aware that was something a person could do
I’m perplexed
Are they going to keep on replacing whoever’s in charge?
If so, who’s next?
There’s nobody else in their country who looms quite as large.“

Auch hier wieder so eine kleine Idee, die fast untergeht: dass Abtreten nicht zu einem königlichen oder kaiserlichen Selbstverständnis gehört. Und eben die Tatsache, dass wir unsere Staatsführungen ständig neu aufstellen anstatt Leute, die es können, einfach weitermachen lassen.

Was hier im Video untergeht, weil es keine bewegten Bilder hat: die air quotes, also die Anführungszeichen, die der König beim Wort „country“ macht. Die USA waren noch nicht lange eine Gemeinschaft, ein Land oder sogar eine Weltmacht wie das Vereinigte Königreich. Daran musste ich denken, als ich einen Absatz in der Hamilton-Biografie von Chernow las. Wir befinden uns im Jahr 1787, und die Gründungsstaaten sind damit beschäftigt, die neu geschriebene Verfassung zu ratifizieren: Sie tritt in Kraft, wenn neun der dreizehn Staaten sie abnicken. Zu ihrer Verteidigung und Erläuterung hatte unter anderem und größtenteils Hamilton die Federalist Papers geschrieben, die auch im Musical erwähnt werden. Auch dazu hat Chernow eine Information, die ich spannend fand: Mit dem 85. Essay „ended the most persuasive defense of the Constitution ever written. By the year 2000, it had been quoted no fewer than 291 times in Supreme Court opinions, with the frequency of citations rising with the years.“ (S. 260)

Zurück zu den Conventions der einzelnen Staaten, welche die Verfassung nun beschließen müssen. Hamilton war Abgeordneter des Staates New York und verteidigte sie dort in den Versammlungen. Sein Gegenspieler war Gouverneur George Clinton, der nicht mit einer starken Staatsregierung einverstanden war und lieber den Einzelstaaten mehr Macht zusprechen wollte. Chernow:

„Governor Clinton argued that the United States covered so vast a territory and possessed such a variety of peoples ‚that no general free government can suit‘ all the states. In rebuttal, Hamilton outlined his visions of American nationalism, showing that a true nation, with a unified culture, had been fused from the diverse groups and regions of the original colonies. In all essential matters, ‚from New Hampshire to Georgia, the people of America are as uniform in their interests and manners as those of any established in Europe.‘ A national interest and a national culture now existed beyond state concerns. This was an assertion pregnant with significance, for if America already constituted a new political culture, they needed a new order to certify that reality. And the Constitution bodied forth that order.“ (S. 265)

Dass bei diesen Interessen sämtliche Anliegen der Ureinwohner ignoriert wurden, erwähnt Chernow nicht, wobei ich ahne, dass diese gar nicht als „amerikanisch“ wahrgenommen wurden. Ich fand es spannend zu lesen, dass ein so junges Staatengefüge angeblich schon eine gemeinschaftliche Kultur bzw. eine gemeinsame politische Grundhaltung verspürte oder sie sich zumindest auf die Fahnen schrieb. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, dass man Ende des 18. Jahrhunderts die Einflüsse vieler unterschiedlicher Menschen anscheinend zu würdigen wusste, während in den heutigen USA der weiße Mensch des Mittleren Westens die Messlatte ist, an der sich bitte alle orientieren sollen.

An die Conventions musste ich erneut denken, seit die US-Post in den Schlagzeilen ist; ihre Mittel sollen gekürzt werden, damit Briefwahl schwieriger wird. (Mir fällt derzeit nur das Wort „absurd“ zu so ziemlich allem ein, was da drüben passiert.) Der New Yorker hat einen schönen historischen Überblick über die Post, nur so als Einschub. Worauf ich hinauswollte: Auch in Virginia tagte eine Convention, und Hamilton ahnte, dass New York vermutlich gegen die Verfassung stimmen würde. Seine Taktik: alle möglichst lange bis zur finalen Abstimmung hinhalten, bis Virginia ja gesagt hatte, denn dann würde sich New York vielleicht verpflichtet fühlen, ebenfalls zuzustimmen. Und wie wurde er darüber informiert, wie’s Virginia so ging? Durch Postreiter.

In der letzten Woche hielten die Demokraten ihre Convention ab, um Joe Biden offiziell zum Präsidentschaftskandidaten zu küren. Durch meine Woche in der alten Heimat bekam ich weniger mit als sonst, weil’s da halt vor Ort Wichtigeres gibt, aber die Rede von Michelle Obama las ich durch und sah auch das erste Video der Veranstaltung: The Rising von Bruce Springsteen. Die NYT kommentierte zum ersten Tag der Convention:

„The opening video was beautifully done: unifying, patriotic, diverse. Democrats offered the nation less identity politics than an American identity. It was an effort to make former Republicans like me feel emotionally comfortable with Joe Biden’s Democratic Party. No real hectoring, lecturing or cultural condescension. Oh, and the Springsteen music video, “The Rising,” was great. The people who produced the opening night are not only talented; they have the right theory of the case. Or at least they did on the first night.“

Auch hier wieder: American Identity. Ich ahne nach vier Jahren Trump, dass es eben diese Identität nicht gibt oder sie jede:r anders auslegt, womit es einfach ist, andere als „nicht-amerikanisch“ zu bezeichnen. Ich finde es spannend, wie oft ich inzwischen Dinge anders sehe, weil mir Musical und Buch einen großen historischen Bogen geöffnet haben.

Um an den ersten Absatz anzuschließen: Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Tagebuch Dienstag/Mittwoch, 18./19. August 2020 – Hefeteig, Wespenwatch und Apfelklößchen

Der Nachbar brachte vorgestern einen Eimer Falläpfel rüber, und das Mütterlein schlug Apfelklößchen als gestriges Mittagsmahl vor. Die hatte ich seit Kindertagen nicht mehr gegessen, dieses Essen war überhaupt nicht mehr auf meinem Radar, aber den Geschmack hatte ich sofort wieder auf der Zunge. So verbrachte ich eine Stunde damit, teilweise angematschte Äpfel zu schälen und in kleine Stückchen zu schneiden, nachdem Mama die ganzen Wespen verscheucht hatte, vor denen ich immer noch vermutlich zu viel Respekt habe. Scheißviecher.

Zwei Drittel des Apfelstückchenbergs wurde zu Apfelmus, das andere Drittel mischte ich mit drei Eiern (eins pro Esser:in laut dem Mütterchen, wobei ich das beim nächsten Mal vielleicht etwas reduzieren würde) und „so viel Mehl, bis der Teig gut aussieht“. Ich kippte Mehl in die Masse, rührte, befand den Teig für zu flüssig, kippte, rührte, befand, kippte usw. Irgendwann war der Teig ein zäher Brocken, aus dem ich mit zwei Esslöffeln eine Art Nocke abstechen konnte, die dann in kochendes Wasser umgesiedelt wurde. Nach wenigen Minuten erschien mir der Kloß fertig. Als alle Klöße gekocht waren, wurden sie in Butter gebräunt, und zum Servieren gab es haufenweise Zimt und Zucker drüber. Ganz hervorragend.

Vorgestern wühlte ich wieder in altem Kram und stieß auf einen Karton mit Omas Handarbeitsunterlagen. Ihr Nähkästchen schleppe ich seit Jahrzehnten von Wohnung zu Wohnung und habe es in diesem Jahr erstmals vernünftig benutzt, nämlich zum Mundschutznähen, was dazu geführt hat, dass ich inzwischen eine Nähmaschine besitze. In diesem Karton lagen ein paar alte Handarbeitszeitschriften, in denen ich mich durchaus an Kleidungsstücken begeistern konnte. Leider sind die Schnittmuster nicht mehr im Heft, danach wurde auf Twitter schon gefragt, als ich die Bilder dort postete.


Beyers Handarbeit und Wäsche – Strickmoden 6 (1956).


Burda Moden Dezember 1968.

Gestern kauften das Mütterlein und ich gemeinsam ein. Ich darf das neue Auto nicht fahren, wegen der Versicherung und so, Mist, darauf hatte mich schon gefreut, aber jetzt war ich halt nölige Beifahrerin. Wir brachten unter anderem Zwetschgen mit (Sonderangebot!), die aber nicht auf einen Kuchen sollen – ich bemerkte vorsichtig, dass Kuchenbacken bei 30 Grad vielleicht nicht so der Bringer sei. Wir sprachen dann kurz über das ewige Streitthema „Zwetschgenkuchen als Hefe- oder als Rührteig“ und Mama erwähnte, dass es das Backwerk – natürlich mit Hefe – früher für die Helfer:innen bei der Kartoffelernte gegeben habe. Mit Hefe, denn: „Hefeteig ist ein armer Teig“, da kommen deutlich weniger Eier und Fett hinein. Auch noch nie drüber nachgedacht. Ich überlege seitdem, ob man die Vorliebe für den einen oder den anderen Teig lokalisieren kann: Landbevölkerung eher Hefe, Städter:innen eher Rührteig?

Vom Einkaufen brachten wir daher fertigen Kuchen vom Bäcker mit, weswegen mich die Wespen derzeit auch nerven: Ich weiß nicht, ob Papa es mitkriegt, wenn eine von den Viechern auf seinem Kuchen sitzt bzw. in seiner Teetasse hängt. Falls er gestochen wird und er möglicherweise ärztliche Hilfe braucht, wird das schwierig: Wir kriegen ihn nicht ohne Hilfe vom Bett in den Rollstuhl und von da sowieso nirgends anders mehr hin, erst recht nicht ins Auto, das wegen seines hohen Einstiegs überhaupt erst angeschafft wurde, aber das war wohl eher Wunschdenken. Falls ihm etwas passiert, brauchen wir einen Rettungswagen. Deswegen sind Mahlzeiten momentan etwas unentspannt für mich, weil ich dauernd auf Insektenwatch bin. Vermutlich übertrieben, aber ich bin halt ein Schisser.

Gestern abend wollte ich eigentlich gerne mit dem Väterchen Fußball gucken, wie ich das aus Kindheitstagen kenne. Bayern gegen Lyon lief nicht im Free-TV, und da meine Eltern immer noch kein Internet haben, suchte ich einen total legalen Stream per Handy-Hotspot. Der Empfang ist leider ausgerechnet im Zimmer von Vaddern eher unterirdisch – Edge kenne ich sonst nur aus Zügen. So guckte er wie gewohnt Naturdokus im Fernsehen, ich saß in der Küche bei LTE und berichtete die Spielstände. Beim 3:0 schlief er allerdings schon.

Tagebuch Sonntag/Montag, 16./17. August 2020 – Zeitung, Duschen, Wurstauflauf

Sonntag saß ich im ICE in Richtung Norden, um mal wieder mein Mütterlein zu unterstützen. Direkt neben mir, über den Gang rüber, saß ein Ehepaar, das von seiner Tochter zum Zug gebracht worden war. Die beiden plapperten auf die Tochter ein, immerhin alle mit Maske, und vom Gehalt des Gesprächs war klar: Alle alten Eltern sind gleich. Die beiden guckten neidisch auf meine FAS, denn ich wusste ja seit der letzten Fahrt, dass es in der 1. Klasse keine Zeitungen mehr gab (totale Unverschämtheit, logisch) und hatte mich daher bevorratet. Das wurde auch verbalisiert, dass es keine Zeitungen mehr gab.

Ich griff anstatt zur Zeitung erstmal zu den Noise-Cancelling-Kopfhörern und wartete ein halbes Stündchen, bis das Paar vor sich hinschwieg. Dann las ich Zeitung. Der Schaffner kam, das Paar erzählte, dass es bis Würzburg führe und dann in die Rhön, der Schaffner stieg offensichtlich gerne in die Unterhaltung ein, man einigte sich, dass Bücher nur in Papierform super sind und ab da hörte ich nicht mehr zu. Auch der Schaffner wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es keine Zeitungen mehr gebe, was er bedauerte, aber Corona, Sie wissen ja, schlimm alles.

Dann wurde wieder geschwiegen, ich las Zeitung, und als ich das erste Buch durchgelesen hatte, fragte ich über den Gang, ob sie vielleicht wenigstens einen Teil Zeitung haben wollten. Selten haben sich Menschen so über Lesestoff gefreut wie da. Meine gute Tat des Tages.

Beim Aussteigen in Hannover dann noch einer Dame mit Kinderwagen und zwei Kindern beim Aussteigen geholfen, alle Karmapunkte an mich, zack-zack. Das hat das Universum aber nicht mitgekriegt, denn es ließ meine S-Bahn ausfallen und ich musste drei Telefonate mit zwei Teilnehmenden führen, damit mich irgendwer von irgendwo mit dem Koffer einsammelt. Nebenbei war es irre schwül anstatt einfach nur knochentrocken heiß wie in München und ich wollte ab 16 Uhr nur noch duschen. Von mir aus auch gleich mit Klamotten.

Eigentlich hatte ich mir diverse Rezepte mitgenommen, um die Tiefkühltruhe des Mütterleins aufzufüllen (danke an die Leserinnen für die Tipps!), aber anscheinend ist der Plan diese Woche, die Truhe eher leerzukochen. Gestern verarbeitete ich eine kleinkindgroße Zucchini aus dem Garten und füllte sie launig mit Hack und Käse und Zucchini, was auch hervorragend schmeckte. Ein Teil davon landete allerding wieder in der Truhe, wo ich gerade das Hackfleisch hergenommen hatte, aber gut, so bleibt alles im Gleichgewicht.

Einen großen Teil des Tages war ich damit beschäftigt, die Rezeptbox meiner Mutter aufzuräumen, die ihr runtergefallen war, und nun lagen eine Million Rezepte, die geschätzt in den 1980er Jahren begonnen wurden, ungeordnet rum. Ich durfte wegschmeißen und tat das auch (siebenmal Grüne Soße, achtmal Zwiebelkuchen, Pfannkuchen? Frikadellen? Das macht sie doch aus dem Handgelenk, weg damit). Bitte lesen Sie diesen Thread für weitere Einblicke und ein schlimmes Rezept, von dem ich leichtsinnigerweise meinte, es nachkochen zu müssen. Ich überlege noch, wie ich da wieder rauskomme.

Danach durchsuchte ich auf Wunsch das halbe Haus nach einem Gegenstand, leider erfolglos, und wollte ab 16 Uhr erneut duschen. Aber immerhin hatte ich einen Ventilator, denn auf dem Dachboden meiner Eltern liegen noch 20 Kisten, die ich vom Wegzug aus Hamburg nicht nach München hatte mitnehmen können. Und in einer dieser Kisten wusste ich einen Ventilator, der netterweise auch gleich in der zweiten, selbstverständlich hervorragend beschrifteten Umzugskiste lag.

Abends eine Spinne neben dem Kopfende meines Bettes weggesaugt, verdammtes Landleben.

Die Rede von Michelle Obama auf dem Zoom-Parteitag der Demokraten.

Tagebuch Freitag, 14. August 2020 – Zeit, Radio, Zeitenwende

Dinge, die ich gelernt habe: Es gibt erst seit 1893 eine einheitliche Zeit in Deutschland. Erst mit dem regelmäßigen Eisenbahnverkehr war es wichtig, dass es in Karlsruhe nicht zwölf Minuten früher war als in Berlin. Mehr bei Frau Nessy.

Auch gelernt: Die Rundfunkgebühren gab es von Anfang an, was Menschen mit geringerem Einkommen die Teilhabe an diesem Medium zunächst erschwerte – auch weil die Geräte vorerst recht teuer waren. Trotzdem gab es Ende 1925 eine Million registrierte Hörer:innen. Siehe die Ausstellungstexte im Lenbachhaus dazu. 1923/24 wurden neun Stationen des deutschen Rundfunks in Großstädten gegründet, für deren Empfang man monatlich 2 Reichsmark zahlen musste. Im Zuge der Diss bin ich auf Löhne von Arbeitern in den 1930er-Jahren gestoßen: Tiefbauarbeiter und Bauhilfsarbeiter an der Autobahnstrecke Hamburg–Bremen erhielten 1935 einen Stundenlohn von 50 Rpf. Wie immer: Vorsicht mit Vergleichen, Löhne von 1924 kenne ich nicht, aber vielleicht hilft das bei der Orientierung. 1928 hatten das Radio bereits schätzungsweise 10 Millionen Hörer:innen, was einem Fünftel der Gesamtbevölkerung entsprach. Vgl. zur Frühzeit des Radios Andreas Zeising: Radiokunstgeschichte. Bildende Kunst und Kunstvermittlung im frühen Rundfunk der 1920er bis 1940er Jahre, Köln/Weimar 2018, S. 40 (Gebühren, Rundfunkgründung) und S. 44 (Teilnehmende 1928).

Schon von 2017, aber für mich neu: How to make a blockbuster movie trailer.

Fand ich sehr clever, wie man sofort Bilder im Kopf hat und es erinnerte mich an eine meiner liebsten Werbekampagnen, die ich leider nicht ergoogelt bekomme. Eine uralte Nikon-Anzeige, die nur aus weißer Schrift auf schwarzem Grund bestand. Die Lines gingen in die Richtung von „If in your mind you now see a boy saluting a coffin, it was probably shot with a Nikon.“ Die Anzeige funktionert genau wie der Trailer: Man hat sofort Bilder im Kopf, und die sind vermutlich stärker als wenn man das Foto vom jungen John-John erneut abdrucken würde.

Der FC Bayern spielte gestern im Viertelfinale der Champions League ein KO-Spiel gegen Barcelona und gewann unglaublicherweise mit 8:2. Die NYT wird dramatisch: Bayern 8, Barcelona 2. The End.

„Rome was bad, in 2018. Barcelona had won the first leg of that quarterfinal easily, by 4-1 at Camp Nou. Few gave Roma much of a chance in the return: a chance to restore a bit of pride, maybe. But Barcelona collapsed, losing by 3-0. Messi and his teammates brooded on it for months. At the start of the next season, he gave a speech outlining his determination to put it right.

Anfield was worse, in 2019. Messi had been as good as his word. Barcelona had cruised to the semifinals this time, and had dismantled Liverpool on Catalan soil. Arturo Vidal, the grizzled Chilean midfielder, had promised to make a particularly personal donation to science if Barcelona did not make the final. Trent Alexander-Arnold took a corner quickly, and Barcelona buckled and broke.

But this? This was something else entirely. “The bottom,” was how Gerard Piqué, almost teary, put it. This was not a momentary lapse in concentration, a few minutes of madness. This was not hubris or overconfidence or some character flaw, unearthed in the white heat of the Stadio Olimpico or Anfield.

This was a brutal, ruthless, surgical exposure of all that is wrong with Barcelona. There is no need to reel through that long list — the dreadful recruitment, the total absence of planning, the boardroom infighting, the negligent squandering of a legacy — but, in the space of 90 minutes on Friday, Bayern Munich laid it all bare.“

Ich sah das Spiel als Stream von BT Sports, aber ohne Ton, weil der Sender Publikumsgeräusche aus der Dose über das Geisterspiel legt, was mich wahnsinnig macht. Der Ton kam von Sky, allerdings zwei Minuten zu spät, was aber egal war, ich wusste eh immer früher, wie’s steht, weil die Jubelschreie der Nachbarn noch vor BT Sports bei mir ankamen. Schönster Tweet dazu:

Tagebuch Donnerstag, 13. August 2020 – Negativ

Gemeinsam aufgewacht, immer schön. Wobei ich gefühlt fünfmal gemeinsam aufgewacht bin, weil das viele Bier vom Mittwochabend nicht bis morgens in mir bleiben wollte. Nach dem Aufstehen viel Wasser getrunken. (Das sind schöne Abende immer wert.)

Beim Doc angerufen, bei dem ich Montag den Corona-Test habe machen lassen. Das stundenlange Übergeben sowie einige weitere Dinge, die mein Körper sonst nicht macht, hatten mich etwas stutzig werden lassen. Oder ich habe mich von der NYT irre machen lassen, die eine Grafik über unterschiedliche Symptome hatten, die ich gerade dooferweise nicht wiederfinde. Daher der Test, und gestern war das Ergebnis da, und es ist, wie erhofft, ein negatives. Das hatte ich zwar erwartet, aber man weiß ja nie, wer neben einem an der Supermarktkasse stand, und daher war ich doch erleichtert.

Diverse Rezepte notiert, die ich mit in den Norden nehme, um sie dem Mütterlein vorzuschlagen. Auf was immer sie Lust hat, wird gekocht und in Mengen eingefroren. Memo to me: die guten Messer mitnehmen und meine Microplane und die grobe Küchenreibe, damit ich nicht wahnsinnig werde.

Beim Kreuzworträtsel der NYT fast wahnsinnig geworden, weil ich nicht kapiert hatte, dass überall da, wo vom Wortsinn her „one“ stehen müsste, stattdessen „all“ steht, weil der Lösungsansatz „three musketeers“ auf den Spruch der Herren „One for all and all for one“ hinwies, weswegen die Lösungsworte teilweise bewusst falsch waren. Eine Weinregion in Frankreich war dementsprechend das „Rhall Voneey“ und nicht das „Rhone Valley“, und ich zweifelte sehr an meinen Englischkenntnissen, bis ich den dazugehörigen Artikel las, den ich immer erst nach dem Lösen lese, weil dort schon einige Lösungswörter vorkommen. Was ich auch interessiert feststellte: Man kann zu einem Artikel über ein Kreuzworträtsel über 500 Kommentare kriegen, darunter Newbies wie ich, die ihr Entsetzen äußern und Profis, die darauf hinweisen, dass die Donnerstagsrätsel halt immer arschig sind, deal with it oder spiel weiter Spelling Bee.

Sehr gelacht habe ich allerdings über „6D. Wow, that’s a tough clue. The winner of the 1966 World Cup (abbr.) was ENGland“, was so ziemlich das erste Lösungswort war, das ich wusste, wie vermutlich alle lösenden fußballinteressierten Deutschen weil WEMBLEY.

Den Abend mit F. auf dem Balkon verbracht und Spezi getrunken. Gemeinsam eingeschlafen, immer schön.

Tagebuch Mittwoch, 12. August 2020 – Französisches Landbrot und Schanigarten

Der Tag fing nicht ganz so gut an und ging auch nicht ganz so gut weiter, aber da ich nicht frustfutternd auf dem Sofa enden wollte, überlegte ich mir Gegenstrategien. Erste Idee: Bibliothek des ZI, auch weil Klimaanlage. Dann entschloss ich mich aber doch todesmutig zu einem Spaziergang, weil bei mir Couchkartoffel schon Spazierengehen für die Endorphinproduktion reicht, das muss gar kein zweistündiges Workout sein.

Ich ging zum nächsten stummen Verkäufer und erwarb die FAZ, schlenderte über den fast kühlen Friedhof in meiner Nähe (Bäume! So toll!) und bummelte dann zum Lieblingsbäcker fast an der Uni, wo ich ein französisches Landbrot erstand, das die Damen und Herren nur mittwochs anbieten. Es ist ein Weißbrot, aber mit fester Kruste und einem weichen Innenleben, die so gut miteinander funktionieren, dass es einem nicht auseinanderbröselt, wenn man es frisch anschneidet. Es ist kaum süß, schmeckt mit allem und ist dabei kein Riesenlaib, so dass man ihn gut über zwei, drei Tage verspeisen kann. Außerdem nahm ich mir ein 25er mit, das ist quasi das Standardbrot, das es in zwei Größen gibt. Ich nahm das große und fror es zuhause ein, denn die Backstube macht ab nächste Woche zwei Wochen Urlaub.

Auf dem Rückweg holte ich mein Buch aus der Packstation, das ich mit dem Geschenkgutschein der letzten Tage erworben hatte, und kam deutlich sichtbar angeschwitzt wieder zu Hause an. Das hatte gut getan, trotz der für mich eher unangenehmen Temperaturen. An der Packstation musste ich mein Handy für den Code aus der Hosentasche ziehen und steckte es danach anscheinend etwas nachlässig wieder zurück, jedenfalls produzierte der kleine Computer ein bisschen Kunst, ohne dass ich es darauf angelegt hatte.

Zum Abendessen gab’s mal wieder die Frühlingszwiebelfladen. Projekt „Kühlschrank und Vorräte leeressen, bevor ich in den Norden fahre“ läuft gut.

Abends war ich dann schon fast am Wegnicken, alle Fenster der Wohnung waren wieder geöffnet, nachdem sie tagsüber hinter herabgelassenen Rolläden fest verschlossen sind, als eine DM von F. kam. Er war mit einem gemeinsamen Freund auf einem Konzert im Olympiastadion gewesen und nun in unserer Stammkneipe eingekehrt, die draußen, wie in diesem Sommer so viele Lokale, einen Schanigarten hat. Da war noch Platz für mich, und so kam ich noch zu zwei Bierchen. Aus denen dann irgendwie nach 23 Uhr, als wir reinmussten, ich weiß nicht, wie das immer passiert in diesem Laden, insgesamt vier wurden. Das hat sich fast wie ein normaler Abend angefühlt, wenn man die Plastikscheiben zwischen den Tischen ignoriert.

Ich freue mich außerdem über die Bezeichnung „Schanigarten“, die sich irgendwie durchgesetzt hat. Ich hätte eher was wie „ausnahmsweise genehmigte Parkraumbewirtschaftung“ erwartet. Wir sprachen über das Sitzkonzert, das beide besucht hatten und ich erwähnte einen Tweet, den ich vorher in der Timeline gehabt hatte (finde ich gerade nicht wieder): Dort war ein Bild aus England, wenn ich mich richtig erinnere, abgebildet, wo vor einer Bühne lauter kleine Plattformen mit genügend Abstand zueinander errichtet waren, auf denen jeweils vier Stühle standen. Der Tweet-Schreiber wies auf „our new times“ hin und wollte vermutlich sagen, wie schlimm das alles ist, aber der Großteil der Replys lag ganz auf meiner Linie: Wie toll, endlich Platz, keiner kommt dir zu nahe, du kannst sitzen, jetzt noch einen mobilen Getränkeservice und dann zahle ich dafür gerne Geld.

Tagebuch Dienstag, 11. August 2020 – Autos und Käse

Beim Aktualisieren des Lebenslaufs fiel mir auf, dass ich mich mit der Diss über die Malerei zur Reichsautobahn gar nicht so weit wegbewegt habe von dem, was ich vorher gemacht habe: werbetexten für diverse Autokonzerne.

Vorgestern retweetete ich den Prado mit einem kleinen Clip, den das Museum zur Neuhängung ihrer Meisterwerke produziert hatte. Ich mochte schon den Anfang, als man vor allem Hände sah, die mich daran erinnerten, dass wir uns alle gerade nicht berühren können. Danach kamen Ausschnitte, in denen wir von Bildern angeschaut werden, die uns gleichzeitig auf Distanz halten. Sehr clever gemacht und ein bisschen schmerzhaft. (Hier gibt’s noch einen Clip mit ein bisschen Beethoven dazu.)

Meinen Blogeintrag von vor vier Jahren (ist das schon wieder so lange her?) zum Prado-Besuch verlinkte ich ebenfalls. In diesem Beitrag versteckt sich ein Link zum Eintrag über meinen Besuch in der Reina Sofia, wo Picassos Guernica hängt. Und erst jetzt fiel mir eine Gleichzeitigkeit auf, die mich seitdem wahnsinnig macht: 1937 hing Guernica im spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung. Und ein paar Meter weiter im deutschen Pavillon hingen mindestens zwei Autobahngemälde. Ganz toll, deutsches Reich, du ewige Nervensäge.

Tagesablauf derzeit: vor dem Wecker wachwerden, Wohnung durchlüften, Wohnung verdunkeln, lesen.

Gestern abend gab’s immerhin etwas Abwechslung: F. kam von einem winzigen Winzurlaub wieder, brachte, natürlich, kiloweise Käse mit, den wir mit einem Fläschchen Champagner auf dem Balkon verzehrten. Und danach noch mit einer Flasche Wein. Wir hatten uns immerhin vier Tage nicht gesehen, es gab total viel zu erzählen. Also wie ich momentan meine Wohnung verdunkele und lese und so.

Die NYT hatte schon einen Abriss über Trumps Versagen während der Corona-Krise. Slate legt nach mit gefühlt hunderten von Links: „Trump didn’t just get in the way. He made things worse.“

The Trump Pandemic

„Trump collaborated with Xi, concealed the threat, impeded the U.S. government’s response, silenced those who sought to warn the public, and pushed states to take risks that escalated the tragedy. He’s personally responsible for tens of thousands of deaths.

This isn’t speculation. All the evidence is in the public record. But the truth, unlike Trump’s false narrative, is scattered in different places. It’s in emails, leaks, interviews, hearings, scientific reports, and the president’s stray remarks. This article puts those fragments together. It documents Trump’s interference or negligence in every stage of the government’s failure: preparation, mobilization, public communication, testing, mitigation, and reopening.

Trump has always been malignant and incompetent. As president, he has coasted on economic growth, narrowly averted crises of his own making, and corrupted the government in ways that many Americans could ignore. But in the pandemic, his vices—venality, dishonesty, self-absorption, dereliction, heedlessness—turned deadly. They produced lies, misjudgments, and destructive interventions that multiplied the carnage. The coronavirus debacle isn’t, as Trump protests, an “artificial problem” that spoiled his presidency. It’s the fulfillment of everything he is.“

Tagebuch Montag, 10. August 2020 – Corona-Test

Keine Panik, keine Symptome (wenn man das Übergeben von letzter Woche ignoriert), ich wollte es nur mal abklären lassen, bevor ich wieder in den Norden fahre, um für das Mütterlein kiloweise Rouladen, Saucen und Gemüsepäckchen anzufertigen und dafür zu sorgen, dass sie ausschlafen kann.

Der Arzt, bei dem ich einen Termin hatte, bietet die Tests nur am Ende der regulären Sprechstunde an. Ich betrat also um 17.45 Uhr die Praxis, sagte mein „Hello, my name is“-Sprüchlein auf – und wurde sofort wieder rausgeworfen: „Bitte draußen warten!“ Direkt hinter mir kam noch jemand für einen Test, der wurde auch ins Treppenhaus geschickt. Immerhin war hier ein leichter Luftzug vom Fahrstuhl oder vom Ventilator in der Praxis ein Stockwerk drüber zu spüren. Wir füllten unsere Aufnahmezettelchen aus und warteten. Und warteten.

Im Haus befinden sich Wohnungen und Praxen gemischt. Eigentlich sind Praxen ja super als Nachbar: immer jemand in der Nähe, falls man sich mal böse verschluckt oder die Kochmesser unerwartet scharf sind und nach 18 Uhr ist Ruhe. Dass man sich irgendwann an potenziell infektiösen Menschen, die im Treppenhaus rumlungern, vorbeiquetschen muss, hat vermutlich auch niemand vorausgesehen.

Gegen 18.30 Uhr kam ich dran, ich hatte gerade eine Leseprobe von Amazon auf dem iPhone durchgelesen, perfekt. Der Arzt entschuldigte sich für die Wartezeit, fragte nach Symptomen – nö –, nach möglichen Kontakten – Corona-App says no – und steckte mir dann vorsichtig ein Wattestäbchen in die Nase. Ich konnte gerade noch sagen, dass das andere Nasenloch vielleicht besser wär, da ist kein Piercing im Weg, dann ging das Stäbchen durchs ungepiercte Nasenloch, ich dachte noch, das fühlt sich an, als ob das Stäbchen im Nichts verschwindet, als es plötzlich hinten am Rachen kurz kratzte, und dann war schon alles vorbei. Das Gefühl konnte ich auch nach längerem Überlegen nicht in Worte fassen, das war ganz neu. (Kommt direkt auf den Jahresendfragebogen.) Es tat nicht weh, es war nicht mal wirklich unangenehm, nur sehr seltsam. Ich musste sinnloserweise an einen Dialog aus Broadcast News denken, wo Holly Hunter die Stimme im Ohr vom Anchorman William Hurt ist, die wiederholt, was Albert Brooks ihr sagt, der wiederum vor dem Fernseher steht, alles mit ansieht und vor sich hinmurmelt: „I say it here – it comes out there.“ So ein ähnliches, fast körperloses Gefühl war das, weil, soweit ich weiß, mir noch nie jemand da hinten im Rachen rumgekitzelt hat.

Der Rest vom Tag war Orgakram und Bürozeug und Dings. Und zu warm zum Kochen war’s auch. Aber für einen Salat und mal wieder die FAZ hat’s gereicht.

Das Tellerchen mit den Steinen darin ist die Wasserquelle für Insekten, wenn ich dieses Jahr schon keine Blümchen auf dem Balkon habe, um Bienen und Hummeln zu beglücken (kein Auto, Corona, alles doof). Ich sehe blöderweise immer nur Wespen am Wasser anstatt der flauschigen Viecher, aber man will ja nicht diskriminieren.

Links von Montag, 10. August 2020

Auf arte concert kann man gerade Igor Levits Beethovenzyklus aus Salzburg nachhören, soweit ich das verstanden habe, jeden Abend live und dann 30 Tage zum Abruf. Ein paar andere Aufführungen aus Salzburg stehen auch online, bitte mal selbst wühlen.

„Was hat Tourismus mit gutem Leben zu tun?“

Ein Gespräch zwischen Nils Markwardt und Valentin Groebner, der gerade ein kleines Buch zum Thema herausgebracht hat.

„M: Schon während der „Grand Tour“ im 18. Jahrhundert führten die jungen Adligen Zeichenblöcke bei sich, um besonders schöne Orte festhalten zu können. Später hatten manche Urlauber dann Fotoapparate dabei und verschickten Postkarten. Heute jedoch hat jeder ein Smartphone in der Tasche und kann seine Eindrücke sofort via Social Media teilen. Hat sich die touristische Erfahrung dadurch noch einmal grundsätzlich gewandelt?

G: Ich werde den Verdacht nicht los, dass sich viel weniger verändert hat, als man auf den ersten Blick hätte erwarten können. Denn auch schon vor dem 18. Jahrhundert gab es Reisende, die sich an ihren Besuchsorten verewigten. In der Grabeskirche in Jerusalem finden sich etwa eingekratzte Namen und Wappen von Pilgern aus dem 14. und 15. Jahrhundert – so viele, dass Reiseberichte aus dieser Zeit sich über diese eitlen Kerle beklagen. Adlige ließen ihr Wappen auch an die Fensterläden jener Wirtshäuser malen, in denen sie übernachtet hatten. Es ging also, ein bisschen wie bei Trip Advisor, darum, zu zeigen, wer hier schon abgestiegen ist. Und Fotografie entsteht dann ja auch nicht zufällig zur selben Zeit wie die Eisenbahn, das Dampfschiff und das Grand Hotel. In den frühen Touristenzielen waren überall Fotoateliers. Die wohlhabenden Besucher von Luzern, Paris oder Florenz wollten vor Ort sofort Fotos von sich – vor standardisierten Hintergründen, aber auch als Joke-Bilder, so wie etwa das berühmte Foto von Friedrich Nietzsche, Lou Andreas-Salomé und Paul Rée, in Luzern in einem Fotostudio geknipst. Das flüchtige Medium Reisen verlangt nach einem stillgestellten Bildbeweis. Zumal noch etwas Zweites dazukommt: Bei Vergnügungsreisen verwandelt man sich, wenn auch nur im eigenen Kopf, in eine reiche Person. Denn man ist ja nicht zum Arbeiten gekommen, sondern um Spaß zu haben. Und den will man anderen zeigen. Das heißt, man schlüpft in eine möglichst amüsante Pose, so wie Nietzsche, Andreas-Salomé und Rée. Wir führen unser eigenes Urlaubstheater auf. Sehr viel anders funktionieren die Selfies, die wir heute verschicken, auch nicht. Nur haben wir das Fotostudio eben in der eigenen Hosentasche.

M: Oft bedeutet Urlaub auch eine Reise in die Vergangenheit. Wir pilgern zu Denkmälern, Museen und historischen Sehenswürdigkeiten. Woher kommt es, dass wir in den Ferien die Geschichte aufsuchen?

G: Unsere Vorstellung vom sehenswerten „Echten“ ist gewöhnlich vorindustriell. Das 19. Jahrhundert machte die Erfahrung, dass sich die eigene Umwelt durch das beschleunigte Wachstum des Industrie- und Fabriksystems rasant veränderte. Die mittelalterlichen Stadtmauern verschwanden fast überall in Europa innerhalb derselben zehn Jahre. Die standen fünf, sechs Jahrhunderte – und wurden dann zwischen 1840 und 1850 abgerissen. Industriestädte dagegen wuchsen innerhalb von 20 Jahren auf die doppelte Einwohnerzahl an. Menschen des 19. Jahrhunderts erlebten Veränderungen in einem Ausmaß, das wir uns kaum vorstellen können. Im 18. Jahrhundert stand noch so viel Altes herum, dass es als nichts Besonderes galt, wenn es nicht antik war. Im 19. Jahrhundert wurden mittelalterliche Überreste dann zur Sehenswürdigkeit, weil sie so rasch knapp wurden. Deswegen musste man sie im Zweifelsfall auch neu bauen. Wenn heute etwas sehr mittelalterlich aussieht, stammt es im Zweifelsfall aus dem 19. Jahrhundert.“

Neuerdings ist die Spelling Bee bei der NYT fies schwer, weswegen ich jetzt kreuzworträtselsüchtig bin. Als Abonnentin kann ich auch das ganze Archiv leerlösen. Ha!

Zwei lange Stücke über die USA und ihren zumindest derzeit so wahrgenommenen Niedergang, einmal aus dem Atlantic, einmal aus dem Rolling Stone.

How the Pandemic Defeated America

In diesem Artikel geht es hauptsächlich um das Gesundheitssystem der USA, das durch COVID-19 übermäßig in Anspruch genommen wird. (Der Artikel ist nicht hinter einer Paywall wie alle zu Corona bei unter anderem dem Atlantic, der NYT, der Washington Post oder dem New Yorker. Ich runzele die Stirn zum Beispiel in Richtung Süddeutsche, bei der ich erst durch den Uni-Zugang einen Artikel über die (eher geringe) Ansteckungsgefahr in Zügen lesen konnte, danke auch. Hmpf.)

„But the COVID‑19 debacle has also touched—and implicated—nearly every other facet of American society: its shortsighted leadership, its disregard for expertise, its racial inequities, its social-media culture, and its fealty to a dangerous strain of individualism. […] Despite its epochal effects, COVID‑19 is merely a harbinger of worse plagues to come. The U.S. cannot prepare for these inevitable crises if it returns to normal, as many of its people ache to do. Normal led to this. Normal was a world ever more prone to a pandemic but ever less ready for one. To avert another catastrophe, the U.S. needs to grapple with all the ways normal failed us. It needs a full accounting of every recent misstep and foundational sin, every unattended weakness and unheeded warning, every festering wound and reopened scar. […]

At the end of the 20th century, public-health improvements meant that Americans were living an average of 30 years longer than they were at the start of it. Maternal mortality had fallen by 99 percent; infant mortality by 90 percent. Fortified foods all but eliminated rickets and goiters. Vaccines eradicated smallpox and polio, and brought measles, diphtheria, and rubella to heel. These measures, coupled with antibiotics and better sanitation, curbed infectious diseases to such a degree that some scientists predicted they would soon pass into history. But instead, these achievements brought complacency. “As public health did its job, it became a target” of budget cuts, says Lori Freeman, the CEO of the National Association of County and City Health Officials.

Today, the U.S. spends just 2.5 percent of its gigantic health-care budget on public health. Underfunded health departments were already struggling to deal with opioid addiction, climbing obesity rates, contaminated water, and easily preventable diseases. Last year saw the most measles cases since 1992. In 2018, the U.S. had 115,000 cases of syphilis and 580,000 cases of gonorrhea—numbers not seen in almost three decades. It has 1.7 million cases of chlamydia, the highest number ever recorded.“

Der Rolling Stone schreibt über die Rolle der USA als Weltmacht, die keine mehr ist.

The Unraveling of America

„In a dark season of pestilence, COVID has reduced to tatters the illusion of American exceptionalism. At the height of the crisis, with more than 2,000 dying each day, Americans found themselves members of a failed state, ruled by a dysfunctional and incompetent government largely responsible for death rates that added a tragic coda to America’s claim to supremacy in the world. […]

In the wake of the war, with Europe and Japan in ashes, the United States with but 6 percent of the world’s population accounted for half of the global economy, including the production of 93 percent of all automobiles. Such economic dominance birthed a vibrant middle class, a trade union movement that allowed a single breadwinner with limited education to own a home and a car, support a family, and send his kids to good schools. It was not by any means a perfect world but affluence allowed for a truce between capital and labor, a reciprocity of opportunity in a time of rapid growth and declining income inequality, marked by high tax rates for the wealthy, who were by no means the only beneficiaries of a golden age of American capitalism.

But freedom and affluence came with a price. The United States, virtually a demilitarized nation on the eve of the Second World War, never stood down in the wake of victory. To this day, American troops are deployed in 150 countries. Since the 1970s, China has not once gone to war; the U.S. has not spent a day at peace. President Jimmy Carter recently noted that in its 242-year history, America has enjoyed only 16 years of peace, making it, as he wrote, “the most warlike nation in the history of the world.” Since 2001, the U.S. has spent over $6 trillion on military operations and war, money that might have been invested in the infrastructure of home. China, meanwhile, built its nation, pouring more cement every three years than America did in the entire 20th century.

As America policed the world, the violence came home. On D-Day, June 6th, 1944, the Allied death toll was 4,414; in 2019, domestic gun violence had killed that many American men and women by the end of April. By June of that year, guns in the hands of ordinary Americans had caused more casualties than the Allies suffered in Normandy in the first month of a campaign that consumed the military strength of five nations.“

Für den Satz, dass heutige Jugendliche bis zu ihrem 18. Lebensjahr zwei Jahre vor Bildschirmen verbringen und damit zur sogenannten obesity epidemic beitragen – ein extradoofes Wort inmitten einer echten Pandemie – möchte ich dem Autor allerdings kurz was hinter die Ohren geben.