Montag, 15. Januar 2024 – Feedback und Freude

In der letzten Sitzung meines Kurses hole ich mir gerne Feedback von den Studis, wie auch in Kurzfassung am Ende jeder Stunde.

Die Kurzfassung ist meine sogenannte Emo-Folie, auf der zwei Fragen stehen. Erstens: „Wie geht es Ihnen gerade?“ Müde, motiviert, hungrig …? Meist kommt da nur „gut“, aber das ist ja auch schon was. Und zweitens: „Was haben Sie heute gelernt? IN ZWEI SÄTZEN!“ Das klappt nie, Studis können sich nie kurz fassen, aber ich versuche es immer wieder, denn genau das will ich ihnen ja unter anderem beibringen: sich kurz zu fassen. Die Forschungsfrage in einen Satz zu kriegen anstatt in einen Absatz. Die Forschung möglichst knapp und präzise auf den Punkt zu bringen anstatt zwei Seiten dafür zu verschwenden. Generell: weniger Schwafel, mehr Substanz. Aber ich glaube, die Uni bringt den Schwafel erst so richtig hervor; alle wollen auf einmal irre klug klingen und blubbern nur rum. Damit meine ich nicht meine Studis, sondern alle, mich eingeschlossen. Man gerät halt gerne ins Plaudern, das auf Konferenzen im Klassiker gipfelt: „This is more a comment than a question“, wo man geistig entspannt abschalten kann, denn nach sowas kommt Schwafel, hundertpro.

Die gestrige Kritik fand ich sehr gut und für mich äußerst angenehm, denn ich bekam mehrfach zu hören, dass gewisse Unterrichtsinhalte schon gewirkt hätten. Man liest anders, man schreibt anders, man geht anders an Texte heran, sowohl eigene als auch fremde. Das ist genau das, was ich erreichen wollte und das hat mich sehr gefreut.

14. Januar 2024 – MUCDUS

Ereignislos von München nach Düsseldorf gekommen für die letzte Unterrichtseinheit in diesem Semester. Per Flugzeug, weil ich der Bahn nicht mehr getraut habe seit der Streikankündigung. Hätte vermutlich auch funktioniert und sehr wahrscheinlich wäre ich ähnlich schnell am Ziel gewesen, weil am Flughafen München gerade an der S-Bahn gewerkelt wird, weswegen es einen kleinen Schienenersatzverkehr gab und ich deswegen viel zu früh aus dem Haus gegangen bin. Aber das wusste ich vorher nicht. Auf den letzten Bahnfahrten hatte ich gerne immer eine Stunde Verspätung; ich habe selten so oft Fahrgastformulare auf der App ausgefüllt wie im letzten halben Jahr und darauf hatte ich einfach keine Lust mehr. Wenn ich privat unterwegs bin, ist es mir eher egal, wenn ich nicht pünktlich ankomme oder länger im Zug sitze, aber wenn ich beruflich reise, will ich es exakt und genau und very German haben, weil ich dann halt im Profimodus unterwegs bin. Und wenn ich pünktlich und gut vorbereitet vor einer Klasse stehe, will ich, dass auch alle anderen pünktlich und gut vorbereitet sind. Da bin ich doch leider sehr Wirtschaftsboss der 1950er Jahre. Nur ohne Zigarre.

13. Januar 2024 – Au … to … bahn

Gestern lief im Werkstattkino der Film Reichsautobahn von Hartmut Bitomsky, der netterweise auch vor Ort war und ein bisschen erzählte. Vielen Dank an alle, die mich per Mail darauf aufmerksam gemacht haben, das wäre mir sonst entgangen.

Ich hatte von dem Film natürlich während der Diss gehört, fand ihn aber nirgends online oder als DVD. Er wurde allerdings auch erst 2020 digitalisiert und hat vermutlich kein irre großes Publikum mehr, aber gestern war der Laden immerhin fast voll. Okay, das Kino hat ungefähr 50 Plätze, aber trotzdem! Ich hatte mit drei Leuten plus mir gerechnet.

Viel Neues, was die Geschichte der Autobahn und ihre Propagandawirkung anging, konnte mir der Film nicht erzählen, aber ich fand die Aufnahmen vom Bauen an sich spannend, da kannte ich bisher nur Fotos. Und: Ich sah endlich mal immerhin in Ausschnitten ein paar der Filme, bei denen die neuen Straßen Kulisse oder Teil der Handlung waren. Die Titel waren mir manchmal bekannt, nicht immer, aber ich hatte noch nie auch nur Schnipsel aus ihnen gesehen. Alleine dafür hat sich der Abend schon gelohnt.

Man sieht Bitomsky in Fotobänden oder Büchern blättern, da nickte ich oft: „Steht in der Stabi … steht im ZI … hatte ich im Archiv in der Hand …“ Und: Sobald irgendeine Bücke im Bild war, murmelte ich innerlich: „Ah, Limburg … ah, Köln … Saalebrücke … Werra … hat Mercker gemalt … hat Protzen gemalt … hat Heise gemalt (MANGFALLBRÜCKEN ULTRAS!) … hat Vollbehr gemalt.“ Der Herr Vollbehr durfte auch was sagen, das war auch spannend, über den Mann habe ich ein 800-Seiten-Buch zuhause, aber ich kannte seine Stimme noch nicht. Dass Herr Todt lispelt, war mir auch neu. Ah, die Herrenmenschen.

Mein kleiner innerer Reichsparteitag war die Szene am Irschenberg. Wir erinnern uns: Ich liebe die Auffahrt zum Irschenberg, weil sie wunderschön ist, alle anderen hassen sie, weil man da angeblich immer im Stau steht. Als F. mich das erste Mal rüberfuhr, war kein Stau. Als ich im Januar mit den Kolleginnen des Lenbachhauses zu einer Klausur drüberfuhr, war kein Stau. In den Filmbildern, die einen ganzen Tag umfassen – laut Bitomsky der staureichste Tag, vermutlich Ende Sommerferien – WAR KEIN STAU. Ihr wollt mich doch alle veralbern. Irschenberg rules!

12. Januar 2024 – Schaubuden-Ausrufer und Taschenspieler

„Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts wurde ein großes und begabtes Volk das Opfer eines bedauernswerten Irrtums. Ein Mann aus dem Nachbarland, ein Abenteurer, ein Habenichts, der sich an der Menschheit für sein verpfuschtes Leben rächen wollte, hatte aus bestimmten, bisher noch nicht ganz geklärten Gründen eine bis an die Zähne bewaffnete Anhängerschaft um sich zu versammeln gewußt, die entschlossen war, den Kampf um die Macht mit der Rücksichtslosigkeit einer einfallenden Armee durchzuführen. Unterstützt durch Verbündete in allen Lagern, die in ihm das Werkzeug ihrer eigenen, oft einander widersprechenden und bekämpfenden Ansprüche und Interessen sahen, war es ihm gelungen, sich das Vertrauen der Masse unter falschen Versprechungen zu erschleichen und das Land, das noch unter den Nachwirkungen eines verlorenen Krieges litt, durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich einzunehmen. Ihr habt Hunger, sagte er. Gut, ich werde euch zu essen geben. Ihr seid machtlos, sagte er. Gut, ich werde euch Macht geben. Ihr seid arm, sagte er. Gut, ich werde euch Reichtum bringen. Er versprach jedem das Seine: dem Bauern die Kuh, dem Winzer den Weinberg, dem Soldaten das Gewehr. Er versprach auch die Kühe und Weinberge und Gewehre aller andern Länder der Welt.

»Heil!« rief die Menge. »Heil!« riefen die Hungrigen und die Satten im Chor, die Reichen und die Habenichtse, die Mächtigen und die Machtlosen. Der Mann reiste durch das Land, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. Er sprach eine Sprache, die man bisher noch nicht auf öffentlichen Plätzen gehört hatte, die Sprache all derer, die zu kurz gekommen waren und die nun ihren Selbsthaß, ihren Zorn auf das Bestehende, ihre Lust an der Zerstörung zur Würde einer Religion erhoben sahen. Er trug keinen Zylinderhut und keine weißen Handschuhe. Er stand im Regenmantel auf Fabrikhöfen und in Bierkellern, sein Gesicht war rot vor Zorn, seine Stimme überschlug sich, und sein rollendes Auge begegnete Blicken, die in ihm ein Spiegelbild ihrer eigenen Erniedrigung, aber auch ihrer Sehnsucht nach Größe und Auferstehung sahen. »Erlöse uns!« schrien sie ihm entgegen. »Erlöse uns von uns selbst!« – »Ja, ich werde euch erlösen!« sagte der Mann. »Von nun an wird sich niemand mehr seiner Schlechtigkeit zu schämen brauchen.

Es gab aber viele im Lande, die nicht an den Erfolg des Mannes im Regenmantel glaubten. Ihre Vorstellungen von Macht und geschichtlicher Größe waren den Lesebüchern eines Jahrhunderts entnommen, das die Helden vergangener Epochen im Licht magischer Verklärung zu sehen gewohnt war. Sie hatten verlernt, noch an jene Magie zu glauben, die den Betrogenen an den Betrüger, den Unterdrückten an seinen Unterdrücker fesselt, die Magie der Zirkusdompteure, der Schaubuden-Ausrufer und Taschenspieler. Sie lachten über den Regenmantel und verstanden nicht, daß es die Uniform einer neuen Klasse von Enterbten geworden war, die sich anschickte, die Welt nach ihrem Ebenbild umzuformen. »Laßt sie nur lachen!« schrie der kleine Mann im Dialekt des Nachbarlandes. »Ich werde ihnen die Maske vom Gesicht reißen. Ich werde eine Religion des Bösen verkünden wie Christus eine Religion des Guten. Ich werde zeigen, daß die Schlechten schlecht und die Korrupten korrupt sind, und die Guten und Gerechten werde ich erschlagen. Ich werde euch alle zu Mitwissern meines Anschlages machen, und selbst wenn mein Plan scheitern sollte, wird niemand mehr da sein, der sich rühmen könnte, besser zu sein als ich …« »Heil!« riefen die Regenmäntel. »Wir wollen sein wie du. Segne uns, erlöse uns. Wir warten. Unsere Zeit wird kommen! UnsereZeit wird kommen!«“

Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit, Frankfurt am Main 1959, S. 69/70.

– – –

„Sinnvoll wäre ein Verbot, weil die AfD politisch nicht zu schlagen ist. All die öffentlichen Versuche der Entzauberung in Talkshows haben nur ihre Sichtbarkeit erhöht. Die AfD ist nur in der Struktur anzugreifen, sie muss zerschlagen werden. Ist sie doch vor allem Plattform und Netzwerk: Hier versammeln sich unterschiedlichste rechtsradikale Milieus, von Waffennarren und Männerrechtlern über alte Nationale bis zu jungen Marktradikalen und identitären Instagram-Kaspern. Die AfD ist eine Ansammlung von Sektierern und Selbstdarstellern, die, auf sich allein gestellt, schnell ins rechte Paralleluniversum auf Social Media verschwinden würden. Die Partei gibt ihnen Legitimität, Ressourcen, Kontakte. Diese zu erhalten und zu mehren, darauf können sich die rechten Milieus, untereinander oft spinnefeind, immer einigen. Die AfD als Partei hat fast nichts zu sagen, sie interessiert nur als Label, als Marke.“

Leo Fischer: „AfD-Verbot: Fulminante Scheindebatte“, in: Neues Deutschland, 5.1.2024.

– – –

„Aber nur, weil wir im Prinzip von staatlicher Willkür frei sind, steht es uns noch lange nicht frei, alles zu tun, wonach uns gerade ist. Der soziale Aufstieg bleibt vielen verwehrt, weil die ökonomische Macht nach wie vor höchst ungleich verteilt ist (manche, wir etwa, sprechen deshalb von einer Klassengesellschaft). Wir müssen bei Rot an der Ampel halten, Steuern zahlen und als Kinder zur Schule gehen. Es gibt also in jeder Gesellschaft Regeln, die die Freiheit einschränken. Regeln, die einen offiziellen und formellen Charakter haben und vom Staat durchgesetzt werden, beispielsweise die Straßenverkehrsordnung. Es gibt auch Normen, die eher informeller Natur sind: Wenn eine ältere Person Sie bittet, ihr beim Überqueren der Straße zu helfen, müssen Sie das nicht tun und können weiter Ihres Weges ziehen. Sie können auch einen Döner im vollbesetzten Zugabteil verspeisen, wenn Ihnen die entgeisterten Blicke der Mitreisenden nichts ausmachen.

In der Gegenwart wird oftmals ein libertäres Freiheitsverständnis sichtbar, das gewandelte gesellschaftliche Übereinkünfte als äußere Beschränkungen betrachtet, die die eigene Selbstverwirklichung auf illegitime Weise eingrenzen. Die Anhänger*innen eines solchen Verständnisses empfinden das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder gendersensible Sprachkonventionen als Blockade, die sie in ihrer Entfaltung hemmt. Manche gehen sogar noch weiter und richten sich auch gegen die Voraussetzungen, die Freiheit ermöglichen. Sie wollen keine (oder nur sehr niedrige) Steuern bezahlen, fahren aber selbstverständlich auf den Straßen, die aus Steuermitteln finanziert werden. Sie ignorieren, dass medizinische Spitzenforschung ohne staatliche Gelder nicht denkbar wäre und dass Bildung in öffentlichen Schulen die Grundlage individueller Selbstentfaltung ist.

In heutigen Freiheitskonflikten kulminiert eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten angedeutet hat. Sichtbar wird sie mit der Rückkehr des intervenierenden Staates, der das individuelle Handeln einschneidend limitiert. Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat. Ihre zuweilen frivole Subversion und die rabiate Ablehnung anderer Ansichten zeugen jedoch zugleich von autoritären Einstellungen. Sie verneinen die Solidarität mit vulnerablen Gruppen, sind verbal martialisch und hoch aggressiv gegen jene, die sie als die Verursacher von Einschränkungen ihrer Freiheit identifizieren. Sie tragen rechte Verschwörungstheorien vor, aber den Vorwurf, rechts zu sein, weisen sie entschieden von sich. Dieser Autoritarismus, der auf der unbedingten Autonomie des Individuums beharrt, ist ein Symptom dafür, dass die etablierten politischen Koordinaten in Unordnung geraten sind.“

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2023, S. 12/13.

11. Januar 2024 – Wiki und Würzburg

In der SZ stand vor kurzem ein Artikel über die sogenannten menschlichen Überreste in deutschen Museen; speziell ging es um das Grassi-Museum in Leipzig. (Paywall, Archive.is)

„Die deutschen Museen haben viele Leichen im Keller: Nazi-Raubkunst, Plündergut aus den Kolonien. Und dann sind da noch die buchstäblichen Leichen: In Pappschachteln, ganz unten, ganz hinten in den Depots gestapelt, liegen die Überreste von mindestens 17 000 Menschen aus “kolonialen Kontexten”. Das ist das Ergebnis eines Berichts, der im Auftrag von Bund, Ländern und Kommunen erstellt und am Freitag veröffentlicht wurde. Es ist der erste Versuch, einen Überblick über diese verdrängte Hinterlassenschaft von Kolonialismus und Rassenlehre zu bekommen.

“Menschliche Überreste”: Schon dieser spitzfingrige Begriff sagt viel über die albtraumhafte Last aus der Vergangenheit und wie sie aus dem Bewusstsein geschoben wurde. Er suggeriert, sie seien ohne irgendjemandes Zutun in den Depots gelandet. Er trennt die Menschen von ihren Resten und macht sie zu Dingen. Und er verschleiert, worum es sich konkret handelt: Skelette, Schädel, sogar Gewebe und Organe – Teile toter Menschen, deren Nachfahren oft bis heute unter dem Verlust leiden. Spätestens jetzt, da erstmals über die deutsche Kolonialvergangenheit diskutiert wird, können die Museen und ihre Träger diese unbestatteten Toten in ihren Sammlungen nicht länger verdrängen. Eine neue Ethik für den Umgang mit ihnen ist überfällig. Am weitesten ist man im Leipziger Grassi-Museum, in dessen Sammlung sich 3000 Skelette aus Kolonialkontexten befinden.“

Der Artikel beschreibt die Anthropologie sowie die unseligen Theorien zu angeblich unterschiedlichen menschlichen „Rassen“, denen man durch Skelettvermessungen auf die Spur kommen wollte, wozu man erst einmal viele Skelette brauchte, um vergleichen zu können.

„Ihre Forschung sollte die Legitimation für den Kolonialismus liefern, aber sie speiste sich auch aus diesem. Außer Masken, Waffen und Kultobjekten schafften die Kolonialsoldaten Tausende Skelette nach Hause. Sie produzierten ja reichlich Tote. Sie raubten Gräber aus; nahmen Leichen nach Überfällen und Hinrichtungen mit; im berüchtigten Lager auf der Haifischinsel in Namibia mussten die lebenden Häftlinge die Schädel der toten auskochen. So füllten sich Museen und anthropologische Institute mit Knochen.“

Ein Bericht, den auch der SZ-Artikel verlinkt, gibt Hinweise für einen respektvollen Umgang mit den vielen Toten, die in deutschen Depots liegen.

Bei der Fortbildung zur Provenienzforschung, die ich im vergangenen Vierteljahr absolvierte, ging es in einem Block auch um die kolonialen Kontexte. Eine Dozentin erzählte von ihrer Arbeit, Skelette wieder ihren Ursprungsorten zuzuordnen, denn meist waren die Objekte – über dieses Wort darf man hier gerne stolpern – nicht gut beschriftet, beschrieben, katalogisiert oder inventarisiert, wenn überhaupt. Ein Skelett konnte sie nicht weiter zuordnen als „Südamerika“. Ein anderes konnte sie immerhin annähernd datieren: Es stammte aus Indonesien und war in eine niederländische Zeitung eingewickelt – seit 100 Jahren. Bisher hatte sich anscheinend noch niemand im Museum für diese Knochen interessiert.

Eine der Dozentinnen des Einführungsblocks war Bénédicte Savoy, die einen sehr begeisternden Vortrag hielt. Sie erwähnte ein Forschungsprojekt, an dem sie in den letzten Jahren beteiligt gewesen war und aus dem die Veröffentlichung „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“ entstanden ist. Die Publikation ist Open Access verfügbar und ich kann sie euch sehr empfehlen.

Eine Rechtfertigung für das museale Sammeln war stets die Wissenschaft, der Erkenntnisgewinn. Savoy beschreibt in einem Kapitel, wie wenig allerdings wirklich geforscht wurde. Sie bezieht sich auf die ethnografischen Sammlungen in Berlin.

„Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass deutsche Museen seit etwa 1920 den größten Bestand an kamerunischen Kulturgütern in öffentlicher Hand weltweit aufbewahren, drängt sich die Frage auf, welchen wissenschaftlichen Ertrag die Zehntausende von Statuen, Thronen, Masken, Trommeln, Glocken, Reliquiaren, Bauelementen, Betten, Gefäßen, Speeren, Schildern, Gewändern, Puppen und Textilien überhaupt generiert haben, die von ca. 1884 bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit 1919 aus dem heutigen Kamerun nach Berlin, Stuttgart, Leipzig, Hamburg usw. verbracht wurden. Welche Rolle spielten deutsche Museen in der internationalen Rezeption der spätestens ab Mitte der 1950er-Jahre in Kamerun selbst, in den USA und in Frankreich unter dem Oberbegriff »Arts from Cameroon« immer intensiver erforschten Kunst-, Kult- und Kulturgüter? Oder zugespitzt gefragt: Hat die materielle Anhäufung von Objekten aus Kamerun in deutschen öffentlichen Museen in den vergangenen 100 Jahren der Wissenschaft genutzt, und welcher Wissenschaft?“

Sie kommt zu einem sehr ernüchternden Ergebnis:

„Auf den Punkt brachte dies Christine Stelzig in ihrer bahnbrechenden Studie „Afrika am Museum für Völkerkunde zu Berlin 1873–1919“ bereits 2004, als sie nach akribischer Auswertung aller Fachzeitschriften des Museums konstatierte: »Das Anwachsen der Afrikabestände […] hatte keinen Einfluß auf die Anzahl der Veröffentlichungen in den Museumsperiodika«. Die Museumsethnologen nutzten kaum das Potential der Sammlung für Publikationen und diese »in weit geringerem Maße als Mitteilungsforum, als eigentlich angestrebt worden war.«

Sucht man nun gezielt nach Studien, die sich mit Objekten aus Kamerun befassen, fallen die Ergebnisse noch dünner aus. Insgesamt wurden bis einschließlich 1939 weniger als 25 Objekte aus Kamerun – von den 6044, die sich 1919 im Museum befanden – von Mitarbeitern des Berliner Museums präzise besprochen bzw. abgebildet. […]

Doch auch außerhalb der Institution publizierten die Berliner Museumswissenschaftler kaum eine objektbezogene Studie zu Kamerun. Eine einzige, von der Forschung bislang kaum wahrgenommene Ausnahme bildet ein fünfseitiger Beitrag mit Abbildungen aus dem Jahr 1903 in der „Zeitschrift für Ethnologie“. […]

Nach 1929 gab das Berliner Völkerkundemuseum kein allgemeines Museumsverzeichnis mehr heraus. Bis heute warten die scientific community und Interessierte auf die Veröffentlichung eines verlässlichen Bestandskatalogs der Afrika-Abteilung. Eine wissenschaftliche Übersicht des Kamerun-Sammlung ist ebenso überfällig wie die Einrichtung einer online zugänglichen Datenbank.“

Savoy erwähnt auch den Kunsthistoriker Eckart von Sydow, der sich immerhin mit der Kunst aus Kamerun bzw. wenigen Objekten aus dem Land auseinandersetzte und auch darüber publizierte. Bis heute sind seine nicht veröffentlichten Notizen und Unterlagen eine wichtige Quelle zu den Beständen im Haus. In seinem 1921 erschienenen Bändchen „Exotische Kunst. Afrika und Ozeanien“ heißt es allerdings:

„‚Das Schöpfertum ist hier noch unmittelbare Angelegenheit: nahe dem Blut, eindringend in das Blut, aufquellend aus dem Blut und mit dem Blut […]. Ahnungsvoll regt sich das schöpferische Blut der Ahnen.‘

Afrikanische Kunst und die frühe deutsche Blut-und-Boden-Rhetorik gingen in dieser Studie eine unheilige Allianz ein. Sie stand für Sydow am Anfang einer sich über zwei Jahrzehnte hin präzisierenden, an fachlicher Expertise gewinnenden Beschäftigung mit den Afrika-Bestände deutscher Museen, insbesondere mit denen aus Kamerun in Berlin. Zwei monumentale Publikationen von Sydow werden bis heute in diesem Zusammenhang zitiert: „Die Kunst der Naturvölker und der Vorzeit“ von 1923 sowie das 1930 im Reimer Verlag publizierte „Handbuch der afrikanischen Plastik: Erster Band: Die westafrikanische Plastik“. Davor und danach publizierte Sydow eine lange Reihe von Aufsätzen in internationalen Zeitschriften sowie Monografien, in denen auch kamerunische Gegenstände sporadisch Erwähnung finden.“

Sydow war frühes NSDAP-Mitglied und konnte auf Kameraden in den Museen zurückgreifen:

„Dass „Die Kunst der Naturvölker“ und das „Handbuch der afrikanischen Plastik“, diese bis heute immer wieder zitierte Studien, aus der Feder eines Wissenschaftlers stammen, dessen Forschungen durch nationalsozialistische Netzwerke erleichtert, wenn nicht sogar ermöglicht wurden, mindert deren wissenschaftliche Qualität gewiss nicht. Doch ist gerade im Zusammenhang mit der Aufarbeitung afrikanischer Werke die Affinität eines Wissenschaftlers zur auf rassistische Diskriminierung und Vernichtung von »Anderen« ausgerichteten NS-Ideologie ein besonderer Umstand.“

Ich konnte anhand von Savoys Aufsatz mal wieder eine Mitgliedsnummer in der Wikipedia eintragen.

Wo wir gerade bei Savoy und der Wikipedia sind: Von heute bis Sonntag findet in Berlin ein Barcamp „Provenance loves Wiki“ statt. Die Eröffnungsdiskussion, an der unter anderem Savoy und die von mir sehr geschätzte Meike Hopp teilnehmen, kann ab 18.15 Uhr per Zoom verfolgt werden.

Und in Würzburg findet nächste Woche am Freitag und Samstag eine Ringvorlesung zum Thema Provenienzforschung statt. Auch dort ist einiges online mitzuverfolgen.

10. Januar 2024 – Dank und Verachtung

Kurz vor Silvester erreichte mich eine Mail einer Verlagsmitarbeiterin, die mich fragte, ob ich das Buch mit dem etwas umständlichen Titel „Der Gauleiter. Das Amt ‚Willkür‘. Adolf Wagner (1890–1944). Eine Biografie“ haben wolle, eine Dissertation von Brigitte Zuber. Ich freute mich sehr und bejahte, denn das Buch liegt seit einigen Wochen als Leihgabe meines ehemaligen Doktorvaters bei mir, was einerseits nett ist, weil es ich lesen kann, andererseits aber doof, weil ich nichts im Buch anstreichen kann. Gestern kam das Werk bei mir an – vielen Dank, ich habe mich sehr über die Nicht-Überraschung gefreut! Und gleich in ihr rumgemalt.

Mitarbeitende aller wissenschaftlichen Verlage – falls bei Ihnen noch ein Buch über München zur NS-Zeit rumliegt, dürfen Sie mir das gerne schicken. Echt! Überhaupt kein Problem!

Besprechung bei der SZ.

Durch mein gestriges Netz ging die Correctiv-Recherche zu einem Treffen der rechtextremen Szene, darunter auch Mitglieder der AfD. Selbst meine sonst unpolitische Insta-Timeline war voll mit Screenshots aus dem Artikel.

Sellner ergreift das Wort. Er erklärt das Konzept im Verlauf des Vortrages so: Es gebe drei Zielgruppen der Migration, die Deutschland verlassen sollten. Oder, wie er sagt, „um die Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln“. Er zählt auf, wen er meint: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und „nicht assimilierte Staatsbürger“. Letztere seien aus seiner Sicht das größte „Problem“. Anders gesagt: Sellner spaltet das Volk auf in diejenigen, die unbehelligt in Deutschland leben sollen und diejenigen, für die dieses Grundrecht nicht gelten soll.

Im Grunde laufen die Gedankenspiele an diesem Tag alle auf eines hinaus: Menschen sollen aus Deutschland verdrängt werden können, wenn sie die vermeintlich falsche Hautfarbe oder Herkunft haben – und aus Sicht von Menschen wie Sellner nicht ausreichend „assimiliert“ sind. Auch wenn sie deutsche Staatsbürger sind. Es ist gegen die Existenz von Menschen in diesem Land gerichtet.

Das wäre ein Angriff auf das Grundgesetz – auf das Staatsbürgerrecht und auf den Gleichheitsgrundsatz.“

Oder anders: Die AfD hat sich die nächste Seite aus dem NS-Playbook durchgelesen. „Deutschland den Deutschen, und wer deutsch ist, bestimmen wir“ hat seit den Nürnberger Gesetzen Tradition.

Gegen ein Verbot dieser Partei gibt es ja gerne das Nicht-Argument „Wir lassen die mal regieren, dann entzaubern sie sich schon selbst.“ Jedem, der diesen Quatsch von sich gibt, möchte ich 33 bis 45 Kilo Geschichtsbücher an den Kopf werfen.

9. Januar 2024 – Milch und Brot

Schreibtischtag, Eichhörnchenhirn. Meh.

Ich lerne seit wenigen Wochen mit Duolingo Hebräisch. Dort gibt es einen Reiter für die üblichen Lektionen, aber auch einen, mit dem man nur die Buchstaben üben kann, die dann für größtenteils komplett sinnfreie Übungsworte zusammengestellt werden. Am Anfang haben mich die ganzen Punkte, Striche und Dinge, die wie Ts aussehen, wahnsinnig gemacht, weil sie manchmal einen Vokal darstellen (aber nicht immer denselben) und manchmal genau das Gegenteil (nach diesem Konsonant bitte keinen Vokal dazudenken). Aber man gewöhnt sich dann doch an diese lustigen Nupsis.

In den Lektionen stehen die Worte nun aber ohne diese Auszeichnungen, denn die werden nicht mitgeschrieben – nur in Kinderbüchern, wie mir jemand auf Masto erzählte. (Ich brauche Kinderbücher.) Man muss sich einfach merken, dass dieses Wort nach A klingt und dieses nach E. Die meiste Zeit liest Duolingo einem die Worte ja auch vor, sonst wäre ich völlig verloren. Aber im Übungsreiter, wo man alle Vokabeln nochmal auffrischen kann, die einem bisher in den Lektionen untergekommen sind, gibt es nur bei wenigen die Option, sie sich noch einmal anzuhören. Was mich jetzt genauso wahnsinnig macht wie vorher die Nupsis, weil ich mir nicht sofort alles merken kann bzw. gerne mal wieder vergesse.

Also bin ich inzwischen dazu übergegangen, neben dem trendy Handy noch meine guten alten Vokabelkarten zu nutzen, auf deren Vorderseite ich jetzt sehr krakelig hebräische Buchstaben male (Bambi learning to walk) und wo auf den Rückseiten nicht nur die hoffentlich korrekte Übersetzung steht, sondern auch lautmalerisch Dinge wie „chalav“ für „חלב“ (Milch). Das klingt so. Oder „lechem“ für „לחם“, was Brot bedeutet, das ich mir immer damit merke, dass es nicht Milch heißt, was für mich vom Klang her viel logischer wäre.

Die FAZ über die erste Gesamtausgabe von Marlen Haushofer, hier ohne Paywall: „Schrei nur, meine Tochter.“

„Es beginnt mit „Eine Handvoll Leben“ (1955), ihrem Debütroman, auf den „Die Tapetentür“ (1957) folgt, in welchem die Erzählerin zwischen Verdrängen und Erinnern oszilliert und auf die verschütteten Traumata der Nachkriegsgeneration anspielt. Dann schreibt sie „Die Wand“ und schließlich, dem Spätwerk zuzuordnen, ihren Kindheitsroman „Himmel, der nirgendwo endet“ (1966), der lähmende weibliche Sozialisation, Domestikation und letztlich Mortifikation durch die Erziehungsinstanz Mutter erzählt. Haushofers letzter Roman heißt „Die Mansarde“ (1969): Eine überangepasste Ich-Erzählerin akzeptiert darin die Vergeblichkeit aller Ausbruchbewegungen.

Wie bei Adorno gibt es auch bei Haushofer kein richtiges Leben im falschen. Die Ausbruchsversuche ihrer Protagonistinnen werden nie zu Erfolgsgeschichten. Im Gegenteil: Der Aktionsradius ihrer Figuren vom ersten bis zum letzten Roman nimmt kontinuierlich ab. Am Ende bleibt nur „Die Mansarde“, direkt über der Küche, um persönliche Bedürfnisse und Eigenheiten auszuleben. […]

Die Werkausgabe ist die zweite Wiederentdeckung der Autorin. In den Achtzigerjahren wurden ihre Romane von der Frauenbewegung entdeckt und darüber hinaus mit Blick auf atomare Aufrüstung und Weltuntergangsszenarien gelesen. Selten wies man darauf hin, dass sie, insbesondere in „Die Tapetentür“, auch über die unbewältigte NS-Vergangenheit schrieb, über eine Nachkriegsgeneration, die unter den Dogmen des Schweigens und Vergessens zu innerer Leblosigkeit erstarrt.“

8. Januar 2024 – Meal Prep und Architektur

Steuer vom vierten Quartal 2023 vorbereitet und für die Steuerberaterin eingetütet. Hausaufgaben meiner Studierenden korrigiert. Das war’s. Mehr habe ich nicht geschafft. Der Unijob ist so dermaßen zeitaufwendig und unterbezahlt, aber wem sag ich das.

Dafür war der Late Lunch wieder ganz hervorragend. Ich habe mir zu Jahresbeginn einen veganen Meal Plan gegönnt, den meine Lieblings-Vegan-Bloggerin für recht wenig Geld anbietet. Bisher habe ich von ihrem Blog noch kein Rezept nachgekocht, das mir nicht geschmeckt hat, daher vertraue ich dem Angebot mal.

Generell mag ich Essenspläne überhaupt nicht, ich koche gerne nach Lust und Laune. In den letzten Monaten war ich aber im Kopf so müde, dass es kaum noch zu Neuem gereicht hat und das hat mich selbst genervt und frustriert und ich kann ja nicht ewig Käsebrot essen, wenn ich partout keine Lust auf gar nichts habe. Daher hoffe ich auf Inspiration und bessere Laune.

Die drei Gerichte des ersten Wochenplans haben schon mal voll ins Schwarze getroffen. Zuerst gab es einen Linseneintopf mit Pilzen und Palmkohl, vorgestern erfreute ich mich an cremiger Pasta mit Brokkoli und dazu einem Salat aus Fenchel, Rucola und Äpfeln, und gestern gab es eine Bowl mit Quinoa, den restlichen Linsen, dem restlichen Tofu-Ricotta, aus dem schon die Pastasauce geworden war, getoppt mit einer wilden Mischung aus Kürbiskernen, Koriandersamen, Panko und Chili, dazu eingelegte Jalapenos und Schalotten. Klingt vielleicht alles eher unspektakulär, hat mir aber sehr gut geschmeckt. Vermutlich weil in allem Miso und Knoblauch und Chili drin ist, was ja bekanntlich alles immer besser macht.

Mit den Rezepten bekommt man noch eine Einkaufsliste, entweder nach Supermarktkategorien oder nach Rezept geordnet. Die Rezepte in einer Woche sind so aufgebaut, dass mehrere Komponenten überlappen, man aber trotzdem nicht fünfmal Nudeln hintereinander hat because blergh and boring. Außerdem kann man einen großen Teil der Zutaten schon preppen, wie wir cool people sagen, zum Beispiel am Wochenende, und muss dann wochentags nur noch 30 Minuten am Herd stehen statt 60. Ich mag ja meal prep, ich werfe gern Dinge in Gastro-Container. Mein Schatz sind die Plastikboxen, die ich aus dem Sparkling Bistro habe, das zu Corona-Zeiten mal ein einziges Außer-Haus-Menü angeboten hat.

Die Rezepte sind mit wenigen Ausnahmen nicht auf dem Blog oder YouTube, aber selbst wenn: Dass mir jemand Rezepte raussucht und einen Einkaufszettel schreibt, ist Gold wert. Vor allem, weil ich gemerkt habe, dass ich so ziemlich alles eh im Haus habe. Palmkohl musste ich kaufen, Jalapenos, Fenchel und Kapern, Rest war da.

Nicht ganz so optimal für mich ist, dass die Rezepte immer für vier Personen sind. Ich könnte alles halbieren und hätte dann sechs Mahlzeiten, aber mich langweilt es, mehrfach in der Woche haargenau dasselbe zu essen. Also viertele ich, was geht (den Tofu-Ricotta zum Beispiel konnte ich nur halbieren) und nutze die wenigen Reste für neue Gerichte oder greife an den Tagen, für die ich kein Rezept habe, auf meine Klassiker zurück. Frühlingszwiebel-Pfannkuchen oder scharfen Tofu kann ich nämlich doch dauernd essen.

Andrea Diener schreibt einen Newsletter zu Street Photography.

Mike Novotny über politisch motiviertes Architekturgemecker: „Warum sich rechte Gruppen plötzlich mit Architektur beschäftigen“.

„Ganz weit vorn: @culture_crit, eine Million Follower. Barocke Skulpturen, Opernhäuser, Kathedralen, dazu Bibelverse und Sprüche wie “Architektur und Kunst sollen Ehrfurcht erzeugen”. Bauten der Moderne fehlen ebenso wie die gesamte arabisch-islamische Kultur. Der Gipfel menschlichen Schaffens, wird deutlich suggeriert, sei ausschließlich der westlichen Kultur zu verdanken, insbesondere gottesfürchtigen Männern, deren Hände heroisch Stein auf Stein schichteten. […]

Was ist das Problem daran? Zum einen, dass es so etwas wie “klassische” und “traditionelle” Architektur nicht gibt. Unterschiedlichen Baustilen liegen unterschiedliche Haltungen zugrunde. Gotik, Barock und Historismus durchliefen Phasen, in denen sie als hässlich galten, und die anonyme Alltagsarchitektur ist ein ganz eigenes Kapitel. Die Boulevards von Paris und das Wien der Gründerzeit zerstörten die Stadt des Mittelalters und Biedermeiers, waren also im Grunde antitraditionell. Der sich als modern verstehende Otto Wagner hätte sich gegen eine Einordnung als Traditionalist mit Händen und Füßen gewehrt.

Auch die Moderne lässt sich nicht in einen Topf werfen: Die Massenproduktion des Bauwirtschaftsfunktionalismus, der bildhauerische Brutalismus, die bunt-verspielte Postmoderne, der wilde Dekonstruktivismus, das regionale Bauen oder der Holzbau haben nur wenig gemeinsam. Auch die Kritik an der Moderne und dem städtebaulichen Kahlschlag der Nachkriegszeit ist bereits 50 Jahre alt.

Sich im Jahr 2024 an Le Corbusier, Mies van der Rohe und dem Bauhaus abzuarbeiten und Barrikaden an Frontlinien aufzustellen, die längst obsolet sind, ist, als würde man heute noch Beethoven gegen “langhaarige Beatmusiker mit Stromgitarren” ausspielen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich manche Rebellen gar nicht wirklich für Architektur interessieren.“

Sondermention für diese zwei schönen Sätze:

„Doch die Kritik an der Banalität des gebauten Alltags beschränkt sich meist auf das Einsortieren der gesamten Baugeschichte in zwei Töpfe: traditionell und modern. Befeuert von einem Grundton aggressiver Dauererregung: Menschen schreien Fotos im Internet an.“

7. Januar 2024

Nach Anne Rabe las ich gestern in einem Zug die nächste Familiengeschichte durch, die ähnlich wenig gute Laune mitbringt, aber mir dafür ebenfalls sehr gut gefallen hat: Bov BjergsSerpentinen“ (2020, hier Kritiken beim Perlentaucher). Ich hatte 2018 beim Bachmann-Wettbewerb schon einen ersten Eindruck erhalten, aber damals war ich nicht in Stimmung für dieses Buch. Jetzt anscheinend schon. Eigentlich hatte es nach Seite 14 schon gewonnen:

„In der Ferne hörten wir die Autobahn. Ich wusste, wo sie verlief, doch wir konnten sie kaum erkennen. Tausende von Autowanderern in blitzeblanken Volkskraftwagen, die stolz vorüberrollten und hinaufblickten zur schönen, schönen Alb.

Ich sah eine Autobahn und dachte: Nazis.
Ich sah Gleise und dachte: Deportationen.“

Außerdem abends im Bett im Dos Passos weitergelesen. Mir war schon aufgefallen, dass das Buch nicht neu war und auch einige Unterstreichungen aufwies, aber dass das meine waren und ich das ganze Buch anscheinend bereits gelesen hatte, verstand ich erst, als ich Notizen am Seitenrand fand, die eindeutig meine Handschrift waren. Und die gingen bis zum Schluss.

Ich bin mir unschlüssig, ob ich das Buch ins Altpapier werfen sollte (Bücher mit meinen Anmerkungen und meinem Namen vorne drin lege ich nicht in den Hausflohmarkt) oder als Klassiker wieder ins Regal stellen sollte. Ein Klassiker, an den ich absolut null Erinnerung habe.

Ich habe nichts dagegen, Bücher aufzubewahren, obwohl ich sie nie (wieder) anfassen werde, ich wohne sehr gerne mit und zwischen ihnen, sie sind meine allerliebste Tapete. Aber ein Buch, das mir anscheinend total egal war? Hm.

6. Januar 2024

Feiertag, Lesetag. Das hatte ich natürlich mal wieder verschwitzt, dass in Bayern an diesem Samstag auch der Lieblingsbäcker nicht geöffnet hat, aber wenn ich mir meine Vorräte so anschaue, müsste ich davon drei Monate leben können.

Das nächste Buch nach „Die Möglichkeit von Glück“, das ich in einem Zug durchlas: Friedrich Anis „Letzte Ehre“. Von Ani stehen bei mir über zehn Bücher im Schrank, alle mit Kommissar Tabor Süden. Irgendwann hatte ich dann genug von deprimierten Kriminalern und vergaß Ani, aber seit einiger Zeit schreibt er anscheinend über eine weibliche Beamtin. „Letzte Ehre“ ist nicht das erste Buch in der Reihe mit Fariza Nasri, aber halt das erste, das mir in der Stadtbibliothek unterkam.

Ich haderte erneut mit Gewaltdarstellungen gegenüber weiblichen Körpern und Seelen, da half auch die weibliche Hauptfigur nicht und dass so ziemlich alle Männer im Buch Unsympathen bis armselige Deppen sind. Aber wie immer bei Ani unwiderstehlich geschrieben, las sich in wenigen Stunden runter. Muss meinem Körper nach der Urlaubswoche nun wieder antrainieren, nicht mehr einfach weiterzulesen, auch wenn es weit nach Mitternacht ist.

Dass Rebekka Habermas im Dezember verstorben ist, erfuhr ich erst heute durch den wie immer empfehlenswerten Newsletter von Nils Minkmar. Ich lege euch ihr Buch „Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850)“ ans Herz, aus dem ich viel über das 19. Jahrhunderts gelernt habe, das uns auch heute noch in unseren Geschlechtervorstellungen im Hinterkopf sitzt. (Scan, Perlentaucher)

Minkmar schrieb den Nachruf in der SZ, aus dem ich den Kampfruf „Ab ins Archiv“ mitnehme. Wobei ich mir den auch schon vorher aufs Kissen hätte sticken können. Das ist vermutlich für mich das größte Geschenk, das ich aus dem Studium mitgenommen habe: wie spannend und aufschlussreich Archivarbeit ist und dass man mit immer neuen Fragen in den Kisten wühlen darf und sollte.

5. Januar 2024

Das erste Mal die neue Jahreszahl geschrieben, muss die 4 noch üben, vorne im ersten ausgelesenen Buch des Jahres, „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe. Große Empfehlung; hat mir in seiner Mischung aus Roman, Essay und Dokumentation sehr gefallen.

Im Buch geht es zunächst um die eigene (fiktive?) Familiengeschichte, dann weitet sich der Blick aber auf die NS-Zeit, die der DDR und die der Wiedervereinigung, welche Wunden und Narben ein bis drei Generationen mit sich herumtragen und wie sie damit umgehen.

Dazu passt der Text von Max Czollek gut, der sich mit dem „Versöhnungstheater“ von Bundesrepublik und DDR beschäftigt: „Deutsche Erinnerungskultur. Vom Ausbleiben der Selbstkritik“. (Via @teresabuecker@social.dev-wiki.de)

„Die zweite Einsicht über die Grenzen der Erinnerungskultur wuchs über den Sommer 2023, als die Alternative für Deutschland (AfD), die ein völkisches Weltbild vertritt und vom Verfassungsschutz in mehreren Bundesländern als gesichert Rechtsextrem eingestuft wird, sich bei deutschlandweiten Wahlumfragen bei über zwanzig Prozent Zustimmung festsetzte. Es wäre zu erwarten gewesen, dass diese Situation zu einer Infragestellung der deutschen Erzählung von der eigenen Aufarbeitung geführt hätte – ob nun der westdeutschen Vorstellung von einer bürgerlichen Mitte als Garant für die plurale Demokratie oder der ostdeutschen Erzählung vom Antifaschismus als ideologische Verkörperung eines Nie Wieder. Diese Krise des durch der erinnerungskulturellen Selbstbilder blieb weitgehend aus. Auf die Spitze brachte es Markus Söder, der gerade noch seinen Vizechef Hubert Aiwanger für sein antisemitischen Flugblatt entschuldigt hatte und wenige Wochen darauf der jüdischen Gemeinschaft in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung mit großer Anzeige zum Neujahrsfest Rosh Hashana gratulierte. Dieses Fehlen jeglicher Selbstkritik verweist auf die Grenzen der deutschen Erinnerungskultur. Es unterstreicht auch eine ihrer zentralen Funktionsweisen: dass sie aktuell weitgehend unabhängig von der Realität stattfindet, die sie umgibt.

Und das ist keine neue Entwicklung, sondern war eigentlich schon immer so.“

In diesem Zusammenhang ein Beitrag von Thomas Stadler, der das Nicht-Verbot der NPD mit der heutigen Situation vergleicht: „AFD-Verbotsantrag jetzt?

„Für die Frage, wann eine Partei die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 GG erfüllt, muss man sich zunächst damit beschäftigen, was das BVerfG überhaupt unter dem Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung versteht. Das Bundesverfassungsgericht meint damit nicht das gesamte Grundgesetz, sondern vielmehr nur zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind.

Das ist in erster Linie die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.

Außerdem betrachtet das Gericht das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip als elementar. Die Menschenwürde als zentraler und elementarer Wert unserer Verfassung, weist auch den Weg zur verfassungsrechtlichen Bewertung der AfD. […]

Ob die Stellung eines Verbotsantrags politisch klug ist, kann man sicherlich diskutieren. Denn das Verfahren wird Jahre dauern und die AfD wird diese Phase nutzen, um sich noch stärker als Opfer eines Systems der „Altparteien“ zu inszenieren, die nur einen unliebsamen Kontrahenten loswerden wollen. Der Ansatz, man müsste die AfD ausschließlich politisch bekämpfen, hat daher sicherlich seine Berechtigung.

Andererseits stellt sich die Frage, ob uns die Verfassung nicht sogar den Auftrag erteilt, ihre Feinde mit denjenigen juristischen Mitteln zu bekämpfen, die sie selbst bereitstellt.“

4. Januar 2024

Den Weihnachtsbaum abgeschmückt, drei Lichterketten und (geschätzt) fünfzig Kugeln wieder in ihre jeweiligen Behältnisse und diese dann in inzwischen zwei Umzugskisten gepackt, das ist über die letzten Jahre auch irgendwie eskaliert. Ich kann den Baum in so ziemlich jeder Farbkombination schmücken – in diesem Jahr war es rot, pink, violett –, aber immer wenn ich dann in der alten Heimat den Baum mit Dingen behänge, denke ich, ach, so rot-gold isses doch am schönsten. Werde mir das für das nächste Jahr vormerken.

Anschließend den Baum an die nächstgelegene Ablagestelle geschleppt, an der man eigentlich erst ab dem 6. Januar Bäume hinterlassen soll, aber mein Baum war der ungefähr dreißigste, weswegen mein schlechtes Untertanengewissen beruhigt war.

Lecker Reste-Süppchen mit Gelbe-Bete-Chips gekocht und einen langen Mittagsschlaf gemacht. Diese Woche ist noch selbstverordneter Urlaub angesagt, weil ich gerade im letzten Viertel von 2023, das bis auf wenige lange Wochenenden quasi urlaubsfrei und außerdem unerwartet anstrengend gewesen war, gemerkt habe, dass es nicht mehr viel braucht, um mich zum Weinen oder Schreien zu bringen. Daher jetzt: nicht am Schreibtisch sitzen, nicht nachdenken, nur Romane lesen und Zeitung und Netflix gucken und Reste wegkochen.

Durch ein 25-Euro-Lockangebot auf Insta bin ich wieder für ein halbes Jahr FAZ-Abonnentin, dieses Mal aber nur digital. Wenn in der FAZ das Wort „gendern“ in der Überschrift auftaucht, weiß man eigentlich, dass man den Text nicht lesen sollte. Diesen Artikel (Bezahlschranke, auf archive ohne) fand ich dann aber doch bis auf kleine Ausreißer recht ausgewogen. Es geht darum, dass auch das mächtige Bayern das böse Gendern nicht verbieten kann. Es kann höchstens, wie schon Sachsen, Sachsen-Anhalt und demnächst Hessen, darauf hinweisen, dass die Sternchen, Unterstriche und ähnliches nicht in der Rechtschreibordnung stehen und an die habe man sich zu halten.

„Angesprochen auf ein „Gender-Verbot“ kommt aus dem sachsen-anhaltischen Bildungs­ministerium jedoch eine einigermaßen schmallippige Antwort: „Das in der medialen Berichterstattung immer wieder erwähnte ,Gender-Verbot‘ an Sachsen-Anhalts Schulen trifft so nicht zu.“

Es sei im Schulleiterbrief zum Schuljahresbeginn lediglich „ein klarstellender Hinweis“ ergangen, „dass Sonder­zeichen wie Asterisk, Gender-Gap oder Doppelpunkt nicht Teil des amtlichen Re­gelwerks der deutschen Rechtschreibung (Duden) sind, und dass sich das Ministerium für Bildung Sachsen-Anhalt an die Empfehlungen des Deutschen Rechtschreibrates vom 14. Juli 2023 hält“, teilt der Sprecher des Ministeriums mit. Man komme damit dem „vielfachen Wunsch aus Schulen und Lehrkräfte-Kollegien nach, für Klarheit zu sorgen“.

Der Rechtschreibrat hatte zuletzt eine „geschlechtergerechte“ Sprache befürwortet, Gender-Zeichen im Wortinneren aber nicht „empfohlen“; eine abschließende Entscheidung darüber wurde vertagt, da man die Entwicklung weiter beobachten wolle.

Auch in Sachsen weiß man nichts von einem Gender-Verbot. „In Sachsen gibt es kein ‚Gender-Verbot‘, sondern Rechtschreibregelungen“, heißt es ebenfalls auf F.A.Z.-Anfrage aus dem dortigen Kultusministerium. Eine gendergerechte Sprache werde vom Ministerium aber ausdrücklich befürwortet. Genannt werden dafür Paarbildungen wie Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer oder auch geschlechtsunabhängige Formulierungen wie „Lehrkräfte“. […]

Was heißt das nun für das von Söder geplante „Gender-Verbot“ in Bayern? Und kann man das Gendern überhaupt noch verbieten? „Es ist de facto schon verboten, denn das amtliche Regelwerk der deutschen Sprache ist für uns verbindlich“, sagte dazu der Sprecher des bayerischen Kultusministeriums der F.A.Z. In dem von den Freien Wählern geführten Ressort stieß Söders Ankün­digung auf Befremden. Kultusministerin Anna Stolz teilte mit, man habe erst im Sommer die Schulaufsichten abermals darauf aufmerksam gemacht, dass nach den Regeln der Amtlichen Rechtschreibung zu unterrichten sei; das gelte auch für das Unterrichtsgespräch.

Lehrpläne und Lehrmittel seien „eindeutig auf das Amtliche Regelwerk ausgerichtet“, hieß es in einem Schreiben des Ministeriums an die Schulaufsichten im vergangenen Juli. Lehrer sollten demnach nicht gendern, und Schüler dürften nicht dazu gedrängt werden. Das Ministerium sehe darum derzeit keinen Handlungsbedarf, werde aber prüfen, ob weiterer Änderungsbedarf bestehe. […]

Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) und stellvertretende dbb-Bundesvorsitzende, Simone Fleischmann, hingegen ist überzeugt, dass die Diskussion nicht mehr zurückzudrehen ist: „Was hier diskutiert wird, ist Spiegel einer gesamt­gesellschaftlichen Entwicklung. Die jungen Leute wollen, dass Diversität abgebildet wird“, sagte sie der F.A.Z. Jedes Kollegium denke zurzeit darüber nach, wie Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern angesprochen werden sollten; „Angesagte“ Lehrkräfte seien in den Augen der Kinder und Jugendlichen oft gerade diejenigen, die gendern.

Für bestimmte Personen, beispielsweise ältere Menschen, sei das Gendern natürlich schwierig und gewöhnungsbedürftig, gibt Fleischmann zu. Ein Verbot werde aber ihrer Meinung nach vor allem bei den Lehrkräften auf Unverständnis und Widerstände stoßen. „Lehrkräfte haben und beanspruchen für sich die pädagogische Kompetenz, mit den Themen und den Fragen der Schülerinnen und Schüler angemessen umgehen zu können und diese im Rahmen angemessener Freiräume zu moderieren. Diese Freiheit ist enorm wichtig, und das wollen sie sich auch nicht verbieten lassen.““

Kleine Anmerkung: In Nordrhein-Westfalen, wo ich derzeit an der Uni unterrichte, gab es Rundmails, in denen Gendern als zeitgemäß erwähnt wurde; man möge auf geschlechtergerechte Sprache achten. Wie man das mache, also zum Beispiel durch „Schülerinnen und Schüler“ oder „Schüler*innen“, sei den Lehrenden überlassen.

Noch eine Anmerkung: Die Stadt München nutzt die Sternchen ganz offiziell in ihrer Kommunikation im Internet, so zum Beispiel das Lenbachhaus als Städtische Galerie auf seiner Website. Da bin ich jetzt doch gespannt, ob die Kommune sich das verbieten lassen wird.

3. Januar 2024

Es mussten ein paar Bücher in die Unibib zurück. Und weil ich schon mal dort war, schaute ich mir gleich noch interessiert die Ausstellung „Ingolstadt Landshut München. Stationen einer 550-jährigen Bibliotheksgeschichte: Die UB der LMU München 1473–2023“ an.

Zwei der drei zurückgegebenen Bücher lieh ich mir zuhause sofort wieder aus, die brauche ich derzeit dauernd, will sie aber nicht kaufen (beide jeweils knapp 40 Euro, verdammte Wissenschaft).

Danach marschierte ich zur Packstation, wo ein freundliches Geschenk auf mich wartete. Vielen Dank an Christin für Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“. Das versuche ich seit Monaten aus der Stadtbibliothek zu leihen, es ist aber nie da. Vor wenigen Tagen konnte ich es immerhin als E-Book für März vormerken. Das kann ich nun schön wieder löschen, denn nun habe ich es sogar auf Papier. Vielen Dank für die Überraschung, ich habe mich sehr gefreut! Und etwas ungeplant bis halb zwei Uhr nachts gleich mal die ersten 165 Seiten gelesen.

Direkt nach der Packstation schaltete ich mein Hirn ab und ging bei der Stadtbücherei vorbei, nur mal gucken, ich habe ja gerade nichts zu lesen. Dass ich das doch hatte, merkte ich erst, als ich drei neue Bücher zum gerade abgeholten Bücherpäckchen im Rucksack steckte.

Abends erreichte mich eine Reply auf Mastodon, die mich für eine Stunde in ein Kaninchenloch schickte. Mercedes-Benz macht seit Jahrzehnten Werbung damit, dass sie das Auto erfunden haben. Anscheinend gab es aber einen jüdischen Ingenieur, der zumindest Komponenten eines Fahrzeugs schon vor ihnen … genutzt? patentiert? hat. Und ebenfalls anscheinend gab es eine Anweisung aus dem Reichsministerium für Propaganda, dass dieser Herr, Siegfried Marcus, ab 1940 nicht mehr im Brockhaus oder in Meyers Konversationslexikon als Erfinder des Autos geführt werden solle, sondern die Herren Daimler und Benz.

In einer Stunde Googeln und Suchen beim Bundesarchiv konnte ich das Schreiben aus dem Ministerium nicht verifizieren; es wird überall im Kaninchenloch online zitiert, auch in der Wikipedia, aber niemand gibt eine Archivsignatur an, was mich etwas misstrauisch macht. Das Technische Museum in Wien bewahrt den sogenannten Marcus-Wagen auf und setzt sich im kurzen Text zum Objekt mit vielen der Fragen auseinander. Im Eintrag zum Benz’schen Motorwagen „Modell I“ wird die Kontroverse auch erwähnt; anscheinend hatte das Technische Museum den Marcus-Wagen als „erstes Automobil der Welt“ ausgestellt.

Die Lexika sind leider in den Ausgaben aus den 1930er Jahre nicht online, soweit ich das gesehen habe, was mich etwas irritiert hat, da war ich mir eigentlich sicher, dass ich sie als Scan irgendwo finde. Da muss ich wohl doch mal in die Bibliothek gehen, das interessiert mich jetzt doch, wie Marcus in den Lexika geführt wurde.

2. Januar 2024

Im NS-Dokuzentrum die Ausstellung „Wichtiger als unser Leben. Das Untergrund-Archiv des Warschauer Ghettos“ angeschaut bzw. eher durchgelesen. Sie läuft nur noch bis zum 7. Januar, also bitte noch schnell vorbeischauen. Oder das Storytelling online anschauen.

Am längsten habe ich vor diesen fünf Seiten gestanden.

Von der Yad-Vashem-Website:

„Dieses Dokument wurde von Oneg Schabbat erstellt. Es basiert auf dem Bericht von Szlama (Szlamek) Ber Winer (Pseudonym: Jakub Grojanowski), den die Nazis in Chełmno gezwungen hatten, Totengräberdienste zu verrichten. Es gelang ihm, aus dem Lager zu entkommen und das Warschauer Ghetto zu erreichen, wo Hersz Wasser und seine Frau Bluma, Mitarbeiter des Oneg Schabbat, Szlamas detailliertes Zeugnis über die Massenvernichtung von Menschen in Gaswagen in Chełmno niederschrieben.

Szlamek wurde im April 1942 in Zamość gefasst und in Bełżec ermordet. Dies war der erste Bericht über die Massenvergasung von Juden. Von diesem Zeitpunkt an änderte sich die Arbeit des Archivs: man begann jetzt auch, alle Informationen über den Massenmord zu sammeln, u.a. mit der Absicht, Beweismaterial für eine eventuelle Strafverfolgung der Täter nach dem Krieg zur Verfügung stellen zu können.“

Es waren schlichte Sätze im Dokument, die mich beschäftigten:

„Um die Lebensbedingungen in Kulmhof genau kennenzulernen, entsendeten sämtliche Gemeinden deutsche und polnische Boten. Diese sollten konkrete Nachrichten über Kulmhof bringen. Die erhaltenen Nachrichten hatten gleichen Wortlaut: die Juden werden im kulmhofer Schloss untergebracht, von wo sie nicht mehr herauskommen. Ins Schloss werden keine Lebensmittel gebracht. Die dortigen Bauern beobachten oft ein graues Lastauto, das mehrmals am Tag ins Schloss fährt und es verlässt und dann in die Lubrodzer Wälder fährt. Sie äusserten die Meinung, dass die Juden vergast werden. Man glaubte dem nicht und behandelte diese Nachrichten als ein Produkt bäuerlicher Phantasie.“

(1. Seite unten.)

1. Januar 2024

Ich lese gerade „Manhattan Transfer“ (1925) von Jon Dos Passos. Über ihn bin ich in Uwe Neumahrs „Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund“ gestolpert und mir fiel auf, dass ich noch nie etwas von ihm gelesen habe, „Transfer“ aber seit Ewigkeiten bei mir im Regal steht.

Ich bin erst zu einem Drittel durch, aber mir fallen des Öfteren Worte auf, die ich nicht kenne, oder Begrifflichkeiten, die sich verschoben haben. So nutzt eine Figur mal ein „cab“, und es hat ein paar Zeilen gedauert, bis ich gemerkt habe, dass damit kein Auto, sondern eine Pferdekutsche gemeint war. Was ein „cuspidor“ ist, konnte ich anhand des Kontextes erraten, habe es aber trotzdem einmal nachgeschlagen. Ebenfalls nachgeschlagen: „surface car“, eine Tram, im Gegensatz zu einer U-Bahn, die halt nicht auf der Oberfläche fährt. „Streetcar“ kannte ich, „surface car“ noch nicht.