Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 3./4. November 2021 – Schreibarbeit

Vorgestern nur für die Werbung, gestern dann auch in der Mittagspause und nach Feierabend für die hehre Kunst, denn: Der erste Umbruch für mein Buch ist da. Das heißt, ich sehe meinen Text zum ersten Mal im Satz, mit der richtigen Typo, mit den Abbildungen und vor allem mit den richtigen Seitenzahlen. 436 Stück, um genau zu sein. Ähem. Ich hatte anscheinend sehr viel zu sagen.

Beim ersten Drüberschauen stellte ich fest, dass ein lustiger Automatismus aus aufeinanderfolgenden Zahlen ein f. oder ff. gemacht hat. Das ist im Register sehr sinnvoll, überall sonst im Text aber Quatsch. Ich möchte zum Beispiel auf die Abbildungen 16 und 17 hinten im Tafelteil hinweisen und nicht auf die Abbildung 16f., du honkiges Makro. Ich stolperte auch ein bisschen über die Ansage der Produktion, jetzt bitte keine Textänderungen mehr vorzunehmen. Äh … wann denn sonst? Jetzt sehe ich doch zum ersten Mal, ob alles passt oder irgendwo ein halbes Wort in einer neuen Zeile hängt, was fürchterlich ist und mich nicht schlafen lassen wird, bis ich weiter oben irgendwo was gekürzt habe, damit alles ordentlich aussieht. Diese Ansage wird brav im Hinterkopf behalten, aber im Prinzip ignoriert.

Beim vorletzten Korrekturgang merkte ich an, dass einige Bildtitel in Überschriften nicht kursiv waren, das wurde geändert, aber die Kommata zwischen den Bildtitel wurden ebenfalls so gesetzt. Das merkte ich an – bitte die nicht kursiv – und sehe nun, dass sie weiterhin kursiv sind. Dieses Mal googelte ich aber brav und stellte fest, dass sich das anscheinend so gehört (und nebenbei auch gut aussieht). Das kann man mir natürlich auch sagen, anstatt das im Hinterkopf zu behalten, aber zu ignorieren. Oh wait.

Außerdem sind mir unfassbarerweise natürlich immer noch Fehler aufgefallen, eine Werknummer ohne Nummer, also ein armes WV im Text ohne Zahl dahinter, und ja, natürlich habe ich in meinem finalen Dokument nachgeguckt, das an den Verlag ging, und an die zwei Korrekturdokumente, die ich seitdem hatte, und ja, natürlich ist auch da schon überall der Fehler drin und ich werde wahnsinnig.

Aber ansonsten ist alles super. Bisschen stressig grad vielleicht. Und in der Ökokiste war Rosenkohl, den ich vergessen habe, gegen Grünkohl einzutauschen, wegen Stress und so.

Weiter im Text.

Tagebuch Dienstag, 2. November 2021 – Autostudie

Ich las gestern aus Gründen mehrere Studien zur Autonutzung bzw. zum Kauf eines Neu- oder Gebrauchtfahrzeugs durch. Da waren durchaus spannende Einsichten für mich dabei, die jahrelang gern* Broschüren für die Autoindustrie verfasste, damit der Endkunde, wie es so schön heißt, was Hübsches zum Blättern auf dem Sofa hat. Viele Hersteller verzichten inzwischen auf dieses Werbemittel, weil die ganze Welt nur noch im Internet rumhängt. Das habe ich stets bedauert und immer wie eine Monstranz den Satz vor mir hergetragen: Aber wenn Leute 80.000 Euro für ein Auto ausgeben, dann wollen sie doch nicht nur einen Konfigurator im Internet angucken, dann wollen sie doch was Hübsches auf dem Sofa durchblättern. Wie mir mehrere Studien aus dem Jahr 2021 verraten, ist das leider falsch: Gerade Premiumkäufer und -käuferinnen recherchieren sogar länger und gründlicher im Internet als die Käufer und Käuferinnen im Großseriensegment.

(* Die Lektorin für den Job, auf dem ich gerade texte, streicht mir dauernd „gerne“ und macht „gern“ daraus. Noch nie darüber nachgedacht, dass eins ungebräuchlicher als das andere sein könnte. Duden.de ist gerade down, daher verlinke ich zum Deutschlernerblog.)

Zurück zum Autokauf. In dieser Aral-Studie von 2021 fand ich ebenfalls für mich spannende Fakten, die dieses Mal immerhin eine andere Monstranz von mir bestätigen konnten. Auf Seite 7 geht es um die Frage, ob sich die Befragten eher einen Neu- oder einen Gebrauchtwagen zulegen möchten. Dabei spielt der Wohnort eine große Rolle, ich zitiere: „22% der Autofahrenden aus dem städtischen Umfeld wollen sich einen Neuwagen zulegen. Bei Befragten mit Wohnsitz am Stadtrand sinkt dieser Anteil auf 16% und bei der Landbevölkerung sind es nur noch 8%. In ländlich geprägten Gebieten steht ein Gebrauchter mit einem Anteil von 10% sogar am häufigsten auf der Einkaufsliste.“ Und auf Seite 8, wo es um die Wunschmarke geht, hier im Zusammenhang mit Premium- oder Massensegment: „Die Wohnsituation als demografischer Unterscheidungsfaktor zeigt vor allem bei BMW und Ford große Unterschiede. Der typische BMW-Kaufende wohnt in der Stadt oder am Stadtrand (jeweils 13% Kaufinteresse), während bei der Landbevölkerung nur 5% diese Marke in Betracht ziehen. Dort hat Ford hingegen eine treue Klientel mit 11%.“

Beide Funde bestätigen meine Meinung, dass ein Autokauf in der Stadt oder am Stadtrand eine reine Luxus- und Bauchentscheidung ist, während man auf dem Land ein Auto schlicht braucht. Man braucht keins für 80.000, es muss auch nicht neu sein und es sollte vermutlich einen größeren Kofferraum haben als ein Roadster, aber man braucht es halt, weil man bei dem kaputtgesparten oder gar nicht erst existenten öffentlichen Nahverkehr schlicht sonst nirgends hinkommt, ich sehe es ja dauernd an meiner Mutter und Schwester. In der Stadt, wo man sich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit in einen Bus oder eine U-Bahn setzen oder ein Taxi bezahlen kann, ohne im Schuldturm zu landen, ist ein Auto schlicht ein Lustkauf, der eher nicht aus Vernunftgründen gefällt wird. Wieder was gelernt. Zurück in die Funkhäuser (bzw. an den Schreibtisch).

Fehlfarben 28 – Heidi Bucher, „Metamorphosen“ / Tue Greenfort, „ALGA“

Unser letzter Podcast fand im Oktober 2020 statt, als wir alle dachten, so, jetzt noch durch den Winter und 2021 wird dann alles gut. Knurr. Inzidenzen und persönliche Umstände führten dazu, dass wir erst jetzt zur nächsten Aufnahme kamen: Wir schauten uns Heidi BuchersMetamorphosen“ im Haus der Kunst an sowie „ALGA“ von Tue Greenfort in der Eres-Stiftung. Dazu tranken wir Weine aus dem Burgund.

Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 81 MB, 101 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.

00.00:00. Begrüßung und Vorstellung.

00.01:00. Blindverkostung Wein 1. Ich vergaß natürlich wieder das Foto zu Anfang, deswegen sind unsere liebevoll verklebten Weinetiketten hier schon sichtbar, weil ich das Foto erst nach der Aufnahme gemacht habe.

00.03:40. Unsere erste Ausstellung: „Metamorphosen“ von Heidi Bucher. Zur Einstimmung empfehlen ich diesen Sechsminüter mit der Kuratorin Jana Baumann (und nicht Hoffmann, wie ich im Podcast behaupte), der ziemlich gut beschreibt, worum es in der Ausstellung geht. Vor allem beginnt er mit einem Blick in den großen Saal des Hauses der Kunst, der gerne durch Stellwände unterteilt wird, um ihm genau diese Größe und Übermächtigkeit zu nehmen (wir erinnern uns: Das Ding wurde 1937 eröffnet). Nun liegen und hängen Latexhäute von Bucher in all ihrer Üppigkeit, unbegrenzt von Deckenhöhen und kleinen Räumen, in diesem Saal und man hat erstmal etwas zum Staunen.

Ich mag es sehr gern, wenn mich eine Ausstellung gleich zu Beginn hat. Im Haus der Kunst habe ich es mir im Erdgeschoss inzwischen angewöhnt, den ersten, kleinen Raum direkt hinter dem Mensch an der Tür, der die Eintrittskarte sehen will, nur flüchtig anzuschauen und stattdessen in den großen Saal dahinter zu gehen; den kleinen Raum nehme ich mir lieber am Schluss vor. Das passt hier ganz hervorragend, weil man eben erstmal Latexhäute in meterlang anstarren und sich dann in den Seitenräumen verlieren kann.

Die Ausstellung arbeitet nicht chronologisch, Buchers älteste Werke sind an der Kopfseite des großen Saals zu sehen. Ich habe mich vom großen Saal nach rechts gewandt und dort die Haut des „Herrenzimmers“ bewundert, dem Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters. Neben dem Ausstellungsstück, in das man hineingehen kann, ist ein Video zu sehen, das Bucher bei der Arbeit zeigt. Man sieht hier nicht, wie Bucher ihr Material auf die Wände, Türen und Fenster aufträgt, aber was dann mit ihr passiert, mit dieser Masse aus Textilien, Leim und Latex, die dann zu einer festen Haut wird, die Bucher mit großer Kraftanstrengung in einem Stück abzieht oder eher abreißt, abschlägt. Das ist kein einfaches Abziehen wie ein Stück Plastik von einem neuen Display, sondern ein Zerren, ein Drängen, fast ein Akt der Gewalt, der dort zu sehen ist. Bucher reißt manchmal an zwei Stellen gleichzeitig, diese Häutung ist kein linearer Akt, sondern ein Prozess, der mal hier, mal dort voranschreitet. Die Idee hinter den Häutungen: Haut als Barriere zwischen dem Innen und dem Außen, in der alles eingeschrieben ist. Wenn man sie entfernt, erfährt man mehr über das Darunter und auch über diesen Ideenträger. Florian brachte im Podcast die Idee an, dass es an Totenmasken erinnert, das Festhalten eines Zustands, der inzwischen vermutlich längst vergangen ist, aber noch als Geisterhaut existiert.

Ich mochte den Kontrast zwischen der filmischen Haut, die trotz fieser 80er-Jahre-Videoqualität frisch aussah, und dem braun-gelb-bernsteinfarben-schwarzen Fetzen in Architekturform, der neben mir im Museum hing. Es erinnerte mich – natürlich – an Eva Hesse, deren Latexarbeiten ich sehr mag und an denen mir immer der Prozess des Alters und Zerbrechens bewusst wird. Ihre Arbeiten sind gerade 50 Jahre alt und sehen älter aus als Pyramiden und Dome, weil sie aus blödem Plastik sind, das nun einmal nicht für die Ewigkeit gemacht ist.

In einem anderen Saal ist zu lesen, dass es nur noch zwei vollständige Räume aus Latexhaut von Bucher gibt und beide sind gerade im Haus der Kunst zu sehen. Im großen Saal liegen und hängen nur Fußböden, dieses Mal aus dem Haus ihrer Großeltern. Ich fand es faszinierend, Parkettholz und Fliesen (Keramik? Linoleum? Stein?) in Latex eingefasst zu sehen. Die Bernsteinfarbe bietet hier noch eine zweite Ebene: Genau wie Bernstein Leben in sich eingeschlossen und konserviert hat, konservieren Buchers Latexhäute das auch. Keine Fliegen und Muscheln, aber Zeitungsfetzen, die sich im alten Fußboden befanden, Farbreste von Türen, altmodische Formen von Türklinken und Ornamenten. Gleichzeitig erzeugen diese „Floor Skins“ einen seltsamen Gegensatz, der vermutlich erst Betrachter:innen aus unserer Zeit auffallen wird: Man wartet wie bei einem 3D-Architektur-Programm oder bei Minecraft die ganze Zeit darauf, dass die Häute sich wieder zu seinem Ganzen zusammensetzen.

Eine weitere Werkgruppe zeigt Häutungen von Holztüren auf Lanzarote, wo Bucher ihrer letzten Lebensjahre verbrachte. Türen erinnern an Louise Borgeoise, die mit diesem Material neue Räume schuf. Bucher nahm nicht die Tür mit, sondern nur ihren Abdruck, ihre Essenz? Ein bisschen Farbigkeit, viel Oberfläche. Der Wandtext nennt die Tür als eine Ahnung der nächsten Welt, die auf Bucher wartet, aber das war mir einen Hauch zu dick aufgetragen und eher retrospektiv gedacht. Die Türenhäute hatten eine andere stoffliche Qualität, sie sind auf Leinwand aufgespannt und wirken daher nicht so leblos und geisterhaft wie die anderen Häute, die keinen festen Untergrund haben.

Es gibt mehrere Videos von Bucher bei ihrer Arbeit; die Kuratorin erzählt, dass Buchers Idee gewesen war, die Filme neben ihren Werken zu zeigen, was ihr zur Lebzeiten nie vergönnt gewesen war. Das ärgert mich im Nachhinein sehr, denn gerade im Zusammenspiel mit den Videos bzw. deren Ton wirken die Werke noch stärker. Wie das „Audienzzimmer des Dr. Binswanger“ (1988), das zart und fein vor einem im Luftzug weht, während das Video das brutale Herunterreißen der Haut fast unangenehm laut wiedergibt. Der Prozess gehört meiner Meinung nach zum Werk, die Tätigkeit des Häutens gehört zur Haut.

Weitere Werke befassen sich mit einer Außenhaut von einem Portal und schließlich Häutungen von Menschen; netterweise trugen diese Shirts und Hosen, bevor sie mit Latexleim bestrichen wurden; nur eine Häutung von einem Mann ist zu sehen, dessen Brusthaare der Preis für die Kunst waren. Das fand ich fast ein bisschen aufdringlich, dass hier das banale Leben in so einem kleinen Detail sichtbar ist, während der Rest des Werks eben nur ahnen lässt, andeutet, sichtbar macht, aber eher auf Umwegen.

00.35:00. Zwischendurch mal der zweite Wein.

00.53:00. Unser Fazit: alle möglichen Daumen nach oben. Die Ausstellung läft noch bis zum 13. Februar und ihr solltet sie euch nicht entgehen lassen.

00.57:45. Der dritte Wein.

01.01:00. Die zweite Austellung: Tue Greenfort in der Eres-Stiftung, die noch bis zum 29. Januar 2022 läuft. ALGA befasst sich, der Titel lässt es erahnen, mit Algen. ALGA ist, laut Ausstellungstext, die erste größere Einzelausstellung Greenforts, der sich schon öfter mit dem Zusammenhang zwischen Kunst und Naturwissenschaft beschäftigte und den Blick auf die vertraute Natur durch seine Werke verändern will. „Größere Einzelausstellung“ ist dabei ein vorsichtiger Euphemismus, denn die Räume der Eres-Stiftung sind äußerst übersichtlich, so irre viel gab es nicht zu sehen.

Das war ein deutlicher Unterschied zu den vielen anderen Ausstellungen, die wir hier schon gerne angeschaut hatten, auch weil sie immer eine Wundertüte waren. Über ALGA waren wir auch alles andere als einer Meinung, aber, und auch deshalb mag ich den Podcast so gern, ich habe meine Meinung über die Ausstellung während der Diskussion geändert. Wir schweifen ein bisschen ab und sprechen generell darüber, ob Kunst nur in einem gewissen Kontext als Kunst zu erkennen ist, und ich konnte mal wieder meine geliebte Story über Joshua Bell anbringen, den Weltklassegeiger, den die Washington Post mit seiner Stradivari in eine U-Bahn-Station stellte, um herauszufinden, ob die Leute diese Kunst erkennen oder denken, och nee, schon wieder ein nerviger Musikant. (Spoiler: letzteres.) Hier die mit einem Pulitzer ausgezeichnete Story in der WaPo, hier eine etwas faule Zusammenfassung in der SZ.

01.33:00. Fazit: zwei halbherzige Daumen hoch, einer ganzherzig. Endlich mal ein bisschen Differenz am Tisch.

01.35:00. Wir lösen die Weine auf; die waren alle gut, aber die 1 wurde von uns allen auf den dritten Platz gesetzt, ich mochte die 2 am liebsten, Felix und Florian die 3.

Wein 1: Couvent des Jacobins, Weingut Louis Jadot, Pinot Noir, 2019, 13%, bei Belvini.de für 20 Euro.

Wein 2: Irancy Village, Weingut Maison de la Chapelle, Pinot Noir, 2019, 13,5%, bei Lobenbergs gute Weine für 20 Euro.

Wein 3: Irancy Les Beaux Monts, Weingut Maison de la Chapelle, Pinot Noir, 2018, 14%, bei Lobenbergs gute Weine für 29 Euro.

Tagebuch Sonntag, 31. Oktober 2021 – Mal wieder podcasten

Unsere freitägliche Date Night war in dieser Woche am Samstag, weswegen wir gemeinsam in den Tag dösten (immer schön). Dann lungerte ich rum, wie sich das am Sonntag gehört, und spazierte gegen halb fünf zu F., der uns zum Podcasten eingeladen hatte. Die beiden Ausstellungen hatte ich Samstag gesehen, damit alles noch ein bisschen sacken konnte.

Unsere letzte Aufnahme war im Oktober 2020, danach hatten Inzidenzen und der ganze Rattenschwanz uns daran gehindert, entspannt durch Museen zu schlendern oder zu dritt in einem Kämmerchen bei geschlossenem Fenster zwei Stunden darüber zu sprechen. Inzwischen sind wir geimpft und anscheinend ändern sich die Inzidenzen nicht mehr zum Besseren, weil viele eben nicht geimpft sind, aber mehr können wir drei halt nicht machen, weswegen wir vor zwei Wochen unser Google Doodle und -Doc entstaubten, uns auf zwei Ausstellungen einigten und unabhängig voneinander kleinere Burgunder-Bestellungen aufgaben.

Das hat sehr viel Spaß gemacht, wieder launig über Kunst zu plaudern. Die beiden Herren haben heute Feiertag wie der Rest von Bayern und vermutlich noch irgendwelche anderen Bundesländer auch, aber ich bin immer noch in der Hamburger Lieblingsagentur gebucht und sitze daher brav seit 9 am Schreibtisch. Möglicherweise trudelt die Datei noch im Laufe des Tages ein, ansonsten erfahrt ihr morgen, wie uns Heidi Bucher und Tue Greenfort gefallen haben.

Bücher September/Oktober 2021

Das ist eine eher magere Ausbeute, aber das Buch von Ross – oder die „Wagnerschwarte“, wie eine Hamburger Dame es kürzlich nannte – nahm wirklich sehr viel Zeit in Anspruch. Ähnlich wie „High on the Hog“, das um Klassen interessanter und dichter ist als die gleichnamige Netflix-Serie. Die beiden Bücher haben mich recht lange begleitet, während ich „The Mothers“ und „What are you going through“ von Sigrid Nunez (letzteres auf dem iPad) innerhalb von jeweils zwei Tagen runtergerockte. Bei Romanen muss ich mir nichts merken, die lenken kurz ab, aber von denen nehme ich weitaus weniger mit in den Rest des Lebens als von Sachbüchern. Aber das ist sehr schön, so abgelenkt zu werden.

Tagebuch Freitag, 29. Oktober 2021 – Laugencroissants und Bücherbiotop

Morgens am Briefkasten festgestellt, dass die FAZ mal wieder nicht da war; den Weg zum stummen Verkäufer mit einem Besuch bei der Bäckerei verbunden und Laugencroissants erstanden, die ich sonst meist am Wochenende hole. Aber gestern fühlte es sich nach dem meh-igen Donnerstag so an, als könnten Laugencroissants gut tun, und das taten sie auch.

Gearbeitet, nicht zum Zeitunglesen gekommen (war ja klar), lange mit Hamburch telefoniert, viel nachgedacht.

Abends auf dem Sofa eingeschlafen und daher früh ins Bett gegangen, weil ich offensichtlich schon zu müde für eine lausige Serienfolge war.

Eigentlich sollte die hohe, schmale Kommode in den Keller, jetzt, wo ich einen Kleiderschrank habe, in den ihr Inhalt passen würde, aber als ich sie zur Zeit des Schrankaufbaus mal neben die flacheren Kommoden im Schlafzimmer stellte, siedelten sich dort wie von selbst Bücher an, die sich sonst auf meinem Nachttisch stapeln. Und wer wäre ich, ein Bücherbiotop zu vernichten. Kommode bleibt, Book Nook bleibt, alles super. (Hier den üblichen Rant zu Ikea-Spaltmaßen trotz penibel-genauem Aufbau einfügen.)

„I don’t know who it was, but someone, maybe or maybe not Henry James, said that there are two kinds of people in the world: those who upon seeing someone else suffering think, That could happen to me, and those who think, That will never happen to me. The first kind of people help us to endure, the second kind make life hell.“

Sigrid Nunez: What are you going through, New York 2020, eBook, S. 137/138 von 213.

Tagebuch Donnerstag, 28. Oktober 2021 – Meh

Der ganze Tag war eher so meh. Gefühlt nichts Spannendes gelesen, gefühlt nur Buchstaben von einer Seite des Texterflözes auf die andere geschaufelt. Immerhin was halbwegs Neues zum Abendbrot zubereitet: das sichere Paprikagemüse (Paprika musste weg), aber nicht einfach aufs Brot gelegt, sondern Kichererbsenpfannkuchen dazugemacht. Die sollte ich öfter machen. Kichererbsenmehl, Wasser, ordentlich Chilipulver, fertig.

Über die Außenwirkung als Texterin und Kunsthistorikerin nachgedacht, wie so oft in den letzten Jahren. Was wollen Besucher auf meiner Website, wie kann ich ihnen sagen, was ich alles kann? Wie ebenfalls so oft in den letzten Jahren nicht wirklich weitergekommen. Meh halt. Immerhin die Veröffentlichungen aktualisiert, obwohl da nicht so irrsinnig viel Neues dazugekommen ist, aber jetzt halt das Opus Magnum.

Nicht mal Martinů hat geholfen.

Gerösteter Brokkoli mit Mandeln und Kardamom

Mal wieder ein Rezept aus der NYT, deren Cooking-Account auf Insta dafür sorgt, dass ich nie von dieser App loskomme. Sehr einfach zu machen, geht schnell, schmeckt großartig. Als Beilage zu allem; ich habe den Teller einfach so leergeputzt. Sieht unspektakulärer aus als es schmeckt.

Den Ofen auf 200° Ober- und Unterhitze vorheizen, ein oder zwei Bleche mit Backpapier auslegen.

Ca. 800 g Brokkoli (zwei kleinere Köpfe) in mundgerechte Stückchen brechen.

In einer Schüssel
230 g Frischkäse glattrühren.
4 EL griechischen Jogurt dazugeben sowie
1 TL Salz,
1 TL schwarzen Pfeffer,
1/2 TL gemahlenen Kardamom,
1/4 TL frisch geriebene Muskatnuss,
90 g (3/4 cup) gemahlene Mandeln sowie
3 EL Zitronensaft.

Alles gut miteinander vermischen, dann den Brokkoli in die Schüssel geben und am besten mit den Händen dafür sorgen, dass jedes Eckchen Grünzeug was von der Mandelsauce abbekommt. Alles aufs Blech geben, für zehn Minuten backen, dann die Brokkoliröschen wenden und weitere zehn Minuten backen. Das darf alles ruhig etwas angesengt aussehen, ich habe es fünf Minuten länger drin gelassen. Das war’s. Zitronensaft drüber, herrlich.

Tagebuch Dienstag, 26. Oktober 2021 – Everything, Gotham, Going Through

Vor einigen Tagen vertwitterte ich schon einen Link zum Atlantic, wo ein Buch von David Graeber und David Wengrow sehr gut besprochen wurde. „Human History Gets a Rewrite“ rezensiert das Werk The Dawn of Everything: A New History of Humanity.

Der Artikel fasst gut zusammen, was ein anderer Blick auf die Menschheitsgeschichte bieten könnte:

The Dawn of Everything is written against the conventional account of human social history as first developed by Hobbes and Rousseau; elaborated by subsequent thinkers; popularized today by the likes of Jared Diamond, Yuval Noah Harari, and Steven Pinker; and accepted more or less universally. The story goes like this. Once upon a time, human beings lived in small, egalitarian bands of hunter-gatherers (the so-called state of nature). Then came the invention of agriculture, which led to surplus production and thus to population growth as well as private property. Bands swelled to tribes, and increasing scale required increasing organization: stratification, specialization; chiefs, warriors, holy men.

Eventually, cities emerged, and with them, civilization—literacy, philosophy, astronomy; hierarchies of wealth, status, and power; the first kingdoms and empires. Flash forward a few thousand years, and with science, capitalism, and the Industrial Revolution, we witness the creation of the modern bureaucratic state. The story is linear (the stages are followed in order, with no going back), uniform (they are followed the same way everywhere), progressive (the stages are “stages” in the first place, leading from lower to higher, more primitive to more sophisticated), deterministic (development is driven by technology, not human choice), and teleological (the process culminates in us).

It is also, according to Graeber and Wengrow, completely wrong. Drawing on a wealth of recent archaeological discoveries that span the globe, as well as deep reading in often neglected historical sources (their bibliography runs to 63 pages), the two dismantle not only every element of the received account but also the assumptions that it rests on. Yes, we’ve had bands, tribes, cities, and states; agriculture, inequality, and bureaucracy, but what each of these were, how they developed, and how we got from one to the next—all this and more, the authors comprehensively rewrite. More important, they demolish the idea that human beings are passive objects of material forces, moving helplessly along a technological conveyor belt that takes us from the Serengeti to the DMV. We’ve had choices, they show, and we’ve made them. Graeber and Wengrow offer a history of the past 30,000 years that is not only wildly different from anything we’re used to, but also far more interesting: textured, surprising, paradoxical, inspiring.“

Bitte lest einfach den Rest der Rezension, das klang nämlich alles spannend. Eine Frage, die bei mir allerdings sofort im Hinterkopf aufpoppte, war: Wird auch die Neuerzählung eine Geschichte von großen Männern, die große Taten vollbringen? Oder anders: Wie sieht es mit der Betrachung von weiblicher Geschichte aus? Davon steht in der Besprechnung leider nichts.

Ich musste an ein anderes Buch denken, das ich seit gefühlt zehn Jahren mit mir herumtrage und nie durchlesen werde, weil es irre dick ist. Ich habe es auf Papier und ernsthaft irgendwann als eBook gekauft, damit ich es unterwegs lesen kann, denn es wiegt geschätzt drei Kilo (eat this, Infinite Jest). Daher las ich, gerade in der Zeit, als man noch in Fußballstadien konnte, gerne in diesem Werk über die Geschichte der Stadt New York bis 1898. Dort stieß ich erstmals bewusst auf andere, funktionierende Gesellschaftsordnungen als die, in der ich groß geworden war.

Das Buch erwähnt die Überraschung der ersten niederländischen Kolonialisten (Frauen kamen erst später), als sie auf die Ureinwohner trafen, die sich so ganz anders organisiert hatten als die Europäer. Seit mindestens 6500 Jahren lebten Menschen in der Gegend des heutigen New York („second generation of human residents“). Ungefähr 500 v. Chr. lernten sie den Umgang mit Pfeil und Bogen, begannen zu töpfern und bauten Kürbisse, Sonnenblumen und vermutlich Tabak an. Als die Europäer in Nordamerika ankamen, lebten ungefähr 15.000 Lenape im heutigen Stadtgebiet und vermutlich bis zu 30.000 weitere Menschen im Großraum des heutigen New York.

„These weren’t the well-defined, organized ‚tribes‘ or ‚nations‘ that populated the imaginations of European colonizers. Except under very unusual circumstances, the Lenapes identified themselves primarily with autonomous subgroups or bands consisting of anywhere from a few dozen to several hundred people. Nor did they reside in ‚villages‘ as that word was understood by Europeans, but rather in a succession of seasonal campsites. In the spring or early summer, a band could be found near the shore, fishing and clamming; as autumn approached, it moved inland to harvest crops and hunt deer; when winter set it, it might move again to be nearer reliable sources of firewood and sources of smaller game.“

Weil die Ureinwohner:innen keine festen Wohnsitze hatten, waren ihre Unterkünfte schnell aufzubauende Langhäuser, in denen mehrere Dutzend Familien miteinander lebten. Häusliche Gerätschaften, Werkzeuge und Waffen waren einfach konstruiert und gering im Gewicht, um besser transportiert werden zu können. Die niederländischen Kolonialisten stellten erstaunt fest, dass die Natives ihre Eisentöpfe verschmähten – sie waren zu schwer. Die Nicht-Sesshaftigkeit sorgte auch dafür, dass sich kein Besitz entwickelte und weniger Müll produziert wurde, weil sich keiner ansammeln konnte – jedenfalls theoretisch: „Pearl Street in lower Manhattan would get its name from the mounds of oyster shells left by Lenape bands along the East River shore.“ Weil man sich ständig neu niederließ, wurden Wälder und Böden nicht bis zur Besinnungslosigkeit ausgenutzt, sondern hatten Zeit, sich zu erholen, bis sie für die Menschen wieder reich genug waren, um sich dort erneut niederzulassen.

„Lenape bands prepared and maintained their woodland planting fields by the slash-and-burn method, clearing out but the largest trees and bushes, then burning off the rubbish and underground every spring. This brought fallow land into cultivation quickly and returned essential nutrients to the soil, extending its productive life well beying the two or three years possible with the European system of crop rotation. […] The abundance that so amazed early Europeans was thus no mere accident of nature, for ‚nature‘ was an artifact of culture as well as geology.“

Was die Kolonialisten am wenigsten verstanden, war die Abwesenheit von Klasse und Besitz.

„By custom and negotiation with its neighbor, each Lenape band had a ‚right‘ to hunt, fish, and plant within certain territorrial limits. It might, in exchange for gifts, allow other groups or individuals to share these territories, but this did not imply the ‚sale‘ or permanent alienation known to European law. In the absence of states, moreover, warfare among the Lenapes was much less systematic and brutal than among Europeans.“

Dazu kam noch, dass die Gesellschaft der Lenapes matrilinear organisiert war.

„Families at each location were grouped into clans that traced their descent from a single female ancestor; phratries, or combinations of two or more clans, were identified by animal signs, usually ‚wolf‘, ‚turtle‘ or ‚turkey‘. Children belonged by definition to their mothers’s phratry: if she was a turtle, they were turtles. Land was assigned to clans, and the family units that comprised them, for their use only: they did not ‚own‘ it as Europeans understood the word and had no authority to dispose of it by sale, gift, or bequest. If the land ‚belonged‘ to anyone, it belonged to the inhabitants collectively.“

Worin sich Europa und die Neue Welt nicht unterschieden, war die Aufteilung der Arbeit entlang von Geschlechterlinien. Frauen übernahmen dabei den Großteil, sie waren für die Kinderaufzucht zuständig, das Kochen sowie die Arbeit auf dem Feld, womit 90 Prozent der Nahrung abgedeckt wurde. Zusätzlich waren sie für die Errichtung und den Abbau der bereits erwähnten Langhäuser zuständig und trugen das Gemeinschaftseigentum von einem Ort zum anderen.

Lenape-Männer hielten diese Arbeiten für unmännlich und konzentrierten sich aufs Jagen und Fischen.

„European observers were often appalled to find them relaxing after their return while the women toiled away in the fields, though this reaction had less to do with sympathy for the women than with ideas about ‚laziness‘. Europeans believed that agriculture was a respectable occupation for men, while hunting and fishing were chiefly recreational: one was work, the other mere sport.“

Die unterschiedlichen Ansichten darüber, was ein gutes, sinnvolles Leben ausmacht, waren offensichtlich sehr unterschiedlich.

„[T]hat the Lenapes lived so contentedly in what looked to Europeans like a setting of wonderful ‚natural‘ abundance made them all the more contemptible. How could people living in such a place fail so utterly to take advantage of the opportunities that lay all around them? They ought to have been civilized and rich, but they weren’t. It was only a short step to the conclusion that they didn’t deserve to be there at all.“

(Zitate aus: Edwin G. Burrows/Mike Wallace: Gotham: A History of New York City to 1898, Oxford 1999, S. 5–11.)

Ich lese außerdem gerade einen Roman – wobei ich nicht weiß, ob es wirklich einer ist oder ein fiktives Essay, es mäandert jedenfalls sehr: What Are You Going Through von Sigrid Nunez, auf Deutsch „Was fehlt dir“, hier eine schöne Rezension von Johanna Adorjan, leider hinter der Paywall. Dieses Zitat sprang mich gestern an:

„George Balanchine said, If you put a group of men on the stage, you have a group of men, but if you put a group of women on the stage, you have the whole world.

If you put a group of women in a book, you have ‚women’s fiction‘.“

Moussaka

Mit schlimmen Fotos, denn es ist Winter und ich habe keine vernünftiges Licht mehr abends in der Küche, aber das hat mir gestern so gut geschmeckt, dass ich es notieren möchte.

Mein charmanter Biokistenversender kündigt immer schon eine Woche vorher an, was in der nächsten Kiste drin ist. Daher wusste ich, dass eine Aubergine auf mich wartet. Zusätzlich gucke ich immer auf der Website, was so gerade im Angebot ist, und wie es der Zufall will, gab es veganes Hack. Das ist doch ein perfider Plan gewesen! Gleich mitbestellt und die Auflaufform aus dem Schrank geholt.

Das Rezept aus der „essen & trinken“ reicht für eine riesige Form, ich habe es grob halbiert und werde drei Tage davon essen. Drüben gibt’s noch einen Gurkensalat dazu, bei mir war es schlichter Blattsalat.

Erstmal lauter Einzelteile vorbereiten: Kartoffeln, die Auberginen, wir brauchen eine kleine Bechamel und braten lustig Hack mit Tomatensauce an.

500 g vorwiegend festkochende Kartoffeln ungeschält kochen, danach pellen und in Scheiben schneiden.

2 Auberginen, je ca. 250 g, waschen und in 1 cm dicke Scheiben schneiden. Auf einer Platte ausbreiten, ordentlich salzen, 15 Minuten rumstehen lassen. Danach das Salz abwaschen und die Scheiben sehr gut trocken tupfen. In
Pflanzenöl goldbraun frittieren und auf Küchenpapier abtropfen lassen.

Für die Bechamel-Sauce
1 kleine Zwiebel mit
1 kleinen Lorbeerblatt und
1 Gewürznelke spicken.
250 ml Milch mit der gespickten Zwiebel aufkochen und 10 Minuten ziehen lassen. Zwiebel aus der Milch nehmen.
1 guten EL Butter bei mittlerer Hitze zerlassen.
1 gehäuften EL Mehl zugeben und unter Rühren mit einem Schneebesen kurz anschwitzen. Milch unter ständigem Rühren nach und nach zugießen, aufkochen und bei milder Hitze 10 bis 15 Min. kochen. Mit Salz, Pfeffer und frisch geriebener Muskatnuss würzen. Notfalls nochmal durchpürieren, wenn die Sauce klumpig wird.

Die Sauce mit
2 Eiern mischen, hab ich vergessen, hat auch so geschmeckt.

100 g Gouda grob reiben. In meinem war noch schwarzer Knoblauch (danke, Biokiste), daher sieht die Oberfläche etwas wild aus.

1 Knoblauchzehe hacken.
1 Zwiebel würfeln.
1–2 Tomaten grob hacken.

In einer Pfanne
500 g gemischtes Hackfleisch in
Öl krümelig anbraten. Zwiebel und Knoblauch dazugeben, sowie
3 TL Tomatenmark. Kurz mitbraten, dann die Tomaten dazugeben und alles mit
200 ml Wasser ablöschen.

Das Ablöschen habe ich mir gespart, ich wollte gar nicht so viel Sauce. Mein Veggie-Hack kam schon in einer Tomatensauce, daher habe ich das Gemüse kurz angebraten, das fertige Hack dazugegeben, alles einmal ordentlich durchgemischt und gut war’s. Da war auch kein Tomatenmark mehr nötig. (Aber ordentlich Salz und Pfeffer.)

Jetzt kann endlich zusammengebaut werden. Eine Auflaufform mit den Kartoffelscheiben auslegen, darüber nun abwechselnd Auberginenscheiben und Hack schichten. Alles mit der Bechamelsauce abdecken und den Käse darüberstreuen. Im auf 200° Ober- und Unterhitze vorgeheizten Ofen für 30 Minuten backen. Mit einem Salat und einer Pfefferminzoblate servieren.

Tagebuch Sonntag, 24. Oktober 2021 – Eis, Sep Ruf und Hermann Levi

F. und ich machten uns am späten Nachmittag noch einmal zur Lieblingseisdiele Ballabeni auf, bevor diese irgendwann im November ihre Türen für dieses Jahr schließt; für mich gab es griechischen Jogurt mit Orange sowie Zabaione, wie immer auf der Bank an den Pinakotheken genossen.

Das Ballabeni befindet sich im Sep-Ruf-Haus gegenüber vom Museum Brandhorst. Das Haus wurde Anfang der 1950er-Jahre erbaut und feiert gerade seinen 70. Geburtstag. Die Sep-Ruf-Gesellschaft hat deswegen einen kleinen Schaukasten direkt an der Eisdiele bestückt, um darauf hinzuweisen. Dort ist die hübsch-verklärende Formulierung zu lesen, dass Ruf zu den bedeutendsten Architekten nach 1945 gehört, was natürlich elegant ignoriert, dass der Herr auch schon vor 1945 entworfen hat. In meinen Recherchen zur Diss habe ich seinen Namen unter anderem bei der Mustersiedlung Ramersdorf gefunden.

Ich liebe das Ruf-Haus an der Theresienstraße allerdings sehr und las den Schaukasten interessiert durch. Dort ist unter anderem eine Kopie eines Artikels aus der „Revue“ zu lesen, in dem ein junges Ehepaar beschrieben wird, dass sich eine der neuen Wohnungen kauft. Der Artikel nennt es eine „sogenannte Eigentumswohnung“, was wohl heißt, dass das Konzept des Wohnungserwerbs noch recht neu war. Hatte ich auch noch nie drüber nachgedacht. Beim Eisessen Dinge lernen ist mein Jam.

Danach schlenderten wir zum Künstlerhaus, in dem wir uns eine Soirée zu Hermann Levi anschauen wollten, die im Rahmen des Projekts „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ stattfand. Im Künstlerhaus überlegte ich auf der Treppe zum Festsaal natürlich, wie oft wohl Herr Protzen hier hochgestiegen war, aber laut der Wikipedia wurde das Haus 1944 großflächig zerstört.

Der Artikel macht mich irre, wie so viele Artikel über die NS-Zeit. Solche Sätze, Alter: „Das Münchner Künstlerhaus blieb bis auf weiteres verwaist. Die Zeit der unbeschwerten Feste war mit Aufkommen des Nationalsozialismus beendet. Ein Ball im Februar 1933, initiiert von dem Maler Anton Leidl, war die letzte selbständige Veranstaltung des Künstlerhaus-Vereins.“

Ich zitiere aus meiner Diss:

„Walter von Ruckteschell wurde im November 1933 zum Präsidenten der Münchner Künstlergenossenschaft, nachdem Eugen Hönig diesen Posten verlassen und den des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste übernommen hatte. Das sorgte für eine enge Zusammenarbeit der beiden Organisationen; im Juni 1934 tagte die Reichskammer im Münchner Künstlerhaus, das von Mitgliedern der MKG festlich ausgeschmückt wurde. […]

Am 24. Juli 1938 ging die MKG mit anderen Münchner Künstlervereinigungen in der neu gegründeten Kameradschaft der Künstler auf. Gauleiter Adolf Wagner machte den Reichsminister der Finanzen per Brief darauf aufmerksam:

„Das Vermögen der Künstlervereinigungen, besonders das des Münchner Künstlerhausvereins e. V. und der Münchner Künstlergenossenschaft soll auf die Kameradschaft der Künstler München e. V. übertragen werden. Die Kameradschaft der Künstler soll alle künstlerischen schöpferischen Menschen auf Grund des Leistungsgrundsatzes zu einer kameradschaftlichen Gemeinschaft vereinigen, deren bestimmende Grundlage die nationalsozialistische Weltanschauung ist. Sie dient demnach ausschließlich gemeinnützigen Zwecken.“[1]

Dieser Zusammenschluss folgte angeblich „einem Wunsche nach Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte“.[2] Paul Rosner „übergab Vermögen und Kunstbesitz dem Sektor Bildende Kunst in der Kameradschaft der Künstler, der auch die Geschäftsräume der MKG und die ständige Ausstellung im Maximilianeum“ übernahm.[3] Rosner wurde Erster Vorsitzender bzw. Leiter des Sektors Bildende Kunst der neuen Kameradschaft.

Hitler förderte die Kameradschaft der Künstler indirekt, indem er ab Juli 1938 monatlich 10.000 RM auf deren Konto überweisen ließ. Offiziell war diese Summe für die Förderung des Künstlernachwuchses in München bzw. den „Wirtschaftsbetrieb des Künstlerhauses“ vorgesehen.[4] Die Kameradschaft verfügte so über außerordentlich große finanzielle Mittel, die ihr regelmäßig zukamen. Eine größere Hypothek wurde ihr 1942 erlassen mit der Begründung, „dass es sich beim Künstlerhaus um ein Unternehmen handelt, das sich des besonderen Interesses des Führers erfreut.“[5]“

[1] BayHStA, MK 51588: Adolf Wagner an den Reichsminister für Finanzen, 27.7.1938.
[2] StdA München, ZA-9129: Möhl, Friedrich: „Unsere Künstler als Kameraden“, in: Neues Münchener Tagblatt, 26.1.1939.
[3] BayHStA, HdDK 132: Einladung zur konstituierenden Hauptversammlung des Sektors „Bildende Kunst“ in der Kameradschaft der Künstler München am 25.1.1939. Laut Tagesordnung wurde zu diesem Zeitpunkt das Vermögen der MKG an die Kameradschaft übergeben. Vgl. auch StdA München, ZA-9129: N. N.: „Münchens Künstler erhalten ein eigenes Ausstellungsgebäude“, in: Völkischer Beobachter, 26.1.1939.
[4] BArch R/43 II/1646b: Hans Heinrich Lammers an den bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert, 14.8.1938. Siebert hatte im Juli 1938 um eine „Spende des Führers“ gebeten, und zeitgleich das Haushaltsbudget für den Künstlerhausverein von jährlich 5000 RM auf 50.000 RM erhöht, vgl. BArch R/43 II/1646b: Ludwig Siebert an Gauleiter Adolf Wagner, 20.7.1938, sowie BArch R/43 II/1646b: Ludwig Siebert an Adolf Wagner, 29.6.1938. Eine Auszahlungsordnung der Reichskanzlei weist die Auszahlung von monatlich 10.000 RM „bis auf weiteres“ aus, vgl. BArch R/43 II/1646b: Auszahlungsanordnung der Reichskanzlei, 10.4.1939.
[5] BayHStA, MK 51588: Bayerisches Staatsministerium für Finanzen an das Staatsministerium des Inneren, 31.10.1942.

Zurück zu Herrn Levi. Von der Veranstaltung hatte ich durch den Newsletter des Stadtarchivs München erfahren, das auch die Organisation übernommen hatte. Das klang nach: Wir hören ein bisschen Musik von Levi, sehen einen kurzen Dokumentarfilm und bekommen ein paar Briefe vorgelesen. Im Prinzip war’s das auch, aber zusätzlich stellte der Musikwissenschaftler Martin Wettges Ausschnitte aus seiner Dissertation zu Levi vor, die leider noch nicht geschrieben ist. Er wies auf die Zeitschrift „Kneipzeitung“ der Künstlergesellschaft Allotria hin, die Levi 1884 eine Ausgabe ihrer Zeitung widmeten, und erwähnte die rassistische Zeichnung auf dem Titelblatt. Wir hörten ihn am Flügel zusammen mit einem Tenor der Wiener Staatsoper, die unter anderem das Lied „Der letzte Gruß“ aufführten. Ohne Wettges Hinweis hätte ich das Lied vermutlich nicht auf YouTube gesucht, danke!

Der kurze Dokumentarfilm erwähnte die Kontroverse um Levis Grab in Garmisch-Partenkirchen, dessen Entwurf die Künstlerin Franka Kaßner klugerweise ebenfalls mit „Der letzte Gruß“ betitelte. Der größte Teil des Films befasste sich aber mit Levis Dirigententätigkeit in Bayreuth, vor allem der von ihm geleiteten Uraufführung des Parsifal. Ich zitiere etwas länger Alex Ross und sein „Die Welt nach Wagner“, S. 297–300:

„Bei der Premiere von Parsifal stand der Dirigent Hermann Levi im ‚mystischen Abgrund‘ [das mit einem Deckel unsichtbar gemachte Orchester, A. G.]. Er war Kapellmeister der Hofoper in München und Nachfahre vieler Generationen deutscher Rabbiner. Wie ein jüdischer Musiker dazu kam, Wagners ‚Bühnenweihfestspiel‘ zu dirigieren, ist eine kuriose Geschichte. Ludwig II. hatte das Ensemble der Hofoper für den Parsifal nach Bayreuth ausgeliehen, und Levi war dabei. Wagner hatte damit seine Schwierigkeiten. Er schätzte Levis musikalische Arbeit, nannte ihn sein ‚Alter Ego‘, fand es aber sonderbar, dass ausgerechnet das ‚christlichste aller Kunstwerke‘ von einem Juden dirigiert werden sollte. Er schlug vor, Levi taufen zu lassen – ein respektloser Vorschlag, den dieser ablehnte. Levi dirigierte Parsifal als Jude. In den folgenden Jahren ließ er koscheres Essen nach Bayreuth bringen, wenn sein Vater ihn besuchte.

Der Schriftsteller und Dramatiker Paul Heyse warf Levi, vor, sich einem Mann verpflichtet zu haben, der ‚jede Gelegenheit wahrnimmt, seinem fanatischen Hass gegen Deine Stammesgenossen Luft zu machen.‘ Levi musste in Wagners Diensten tatsächlich Demütigungen hinnehmen, verlor aber nie den Glauben an den Menschen Wagner und seine Musik. ‚Er ist der beste und edelste Mensch‘, sagte Levi zu seinem Vater. ‚Auch sein Kampf gegen das, was er Judentum in der Musik und in der modernen Literatur nennt, entspricht den edelsten Motiven, und daß er kein kleinliches Risches [ein jiddisches Wort für ‚Bosheit‘ im Zusammenhang mit Antisemitismus] hegt, (…) beweist sein Verhältnis zu mir, zu Joseph Rubinstein, und seine frühere intime Beziehung zu Tausig, den er zärtlich geliebt hat.‘ Levi spricht hier von den Pianisten Rubinstein und Carl Tausig, die ebenfalls ein schwieriges Verhältnis zu Wagner hatten. Rubinstein, der an einer psychischen Erkrankung litt, hatte sich Wagner als einen Juden vorgestellt, der ‚nach Erlösung durch Mittätigkeit an der Aufführung der Nibelungen‘ trachtete, wie Cosima in ihrem Tagebuch schrieb. […]

Die Juden in der Umgebung Wagners werden seit langem als Paradebeispiel für den Selbsthass dargestellt. Der Philosoph Theodor Lessing behauptet in Der jüdische Selbsthass von 1930, Levi und andere hätten Wagners antisemitische Tiraden im Grunde bestätigt, weil sie ihm nicht widersprachen. Der Historiker Peter Gay charakterisiert die Beziehung zischen Wagner und Levi als eine beinahe masochistische, bei der das Opfer sich einem Gebieter freiwillig ausliefert. Laurence Dreyfus dagegen ist überzeugt, dass diese Pathologisierung Levi nicht gerecht wird. Der Dirigent blieb unabhängig und unterhielt auch während seiner Zeit in Bayreuth Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft und zur Münchner Synagoge. Philipp Eulenberg, ein Vertrauter von Wilhelm II., berichtete dem Kaiser in einem Brief, wie Levi extremistische Äußerungen in den Unterhaltungen in Bayreuth unterdrückte, indem er Hustenanfälle vortäuschte, wenn Cosima gegen fremde Einflüsse in der deutschen Kultur wetterte. Alles in allem scheint Levis Verhalten weniger ein Beispiel für Erniedrigung zu sein, sondern eher ein Fall von doppeltem Bewusstsein. Howard Winant bezeichnet das als Internalisierung von Rassenunterschieden, ein Abwehrmechanismus gegen die Unterdrückung. Die Existenz jüdischer Wagnerianer wurde zum ersten Mal während der Kontroverse über die Neuauflage von Das Judenthum in der Musik diskutiert, da eine beträchtliche Anzahl von Juden dem Komponisten die Treue hielten. Tausig schickte 1869 ein Telegramm an Wagner, in dem er schrieb, dass eine Lohengrin-Aufführung in Berlin den Schaden wettgemacht habe, der durch den Aufsatz entstanden war: ‚Kolossaler Erfolg des Lohengrin, alle Juden versöhnt.‘ Als das Telegramm öffentlich wurd, entspann sich eine Diskussion, ob eine solche Versöhnung überhaupt möglich sei. […] Bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus diskutierten jüdische Opernbesucher. Einige plädierten für einen Boykott, andere argumentierten, dass ‚wir uns besser rächen können, wenn wir seine Musik hören.‘ […] Für einige deutsche Juden war die Verbundenheit mit Wagner eine Art Schutzschild, das ihre Andersartigkeit reduzierte und sie als gute Nationalisten auswies.“

Wettges erwähnte, dass Levi selbst die rassistischen Äußerungen von Houston Stewart Chamberlain „interessant“ nannte.

Der Abend im Künstlerhaus war unerwartet dicht und spannend, allerdings auch über zwei Stunden lang. Wie F. so schön meinte: „Wie am Freitag bei Levit – alles toll, aber man kann irgendwann nicht mehr sitzen.“ Entspannter Spaziergang nach Hause, erneut viel mitgenommen. Das war ein außergewöhnnlich schönes Wochenende, aber jetzt tun mir die Füße weh und mein Kopf ist erstmal voll.

Tagebuch Samstag, 23. Oktober 2021 – Restaurantbesuch

Ich hatte noch den ganzen Tag Schostakowitsch … nicht im Ohr, dafür waren die Fugen und Präludien zu kompliziert, die ich am Freitag hören durfte, aber im Kopf, im Hirn, im Bauch, irgendwie war ich die ganze Zeit damit beschäftigt, das Konzert zu verdauen. Das hat sich sehr gut angefühlt, mal wieder so herausgefordert geworden zu sein.

Erstmal Bach angeworfen, dessen „Wohltemperiertes Klavier“ ein Vorbild für die Fugen von Schostakowitsch waren. Ich wollte aber doch lieber die Goldberg-Variationen hören, die Levit ebenfalls eingespielt hat.

Und abends ging es dann ins Broeding, zum ersten Mal wieder seit Juli 2020. Den Herbst und Winter über hatte F. sehr oft das Menü außer Haus zu mir getragen, um mitzuhelfen, dass der Laden nicht pleite geht. Sein Name wurde auch vom Sommelier wiedererkannt, der sich zudem den ganzen Abend darüber freute, dass ich mich den ganzen Abend über jeden Wein freute. Nichts fotografiert, nichts gemerkt – außer den Vin d’Orange als Aperitif, sehr gut, hier die SZ darüber –, nur genossen und geredet und gefreut. Übermütig wieder zu Fuß den Heimweg angetreten, aber was mir Freitag so gut getan hat, war auf vollen Magen nicht ganz so die schnafte Idee. Ich merke mir: Nach gutem Essen ruhig in die Bahn setzen.

Seit Langem konnte ich mal wieder die Rechnung übernehmen. Corona und Diss in ungünstiger Kombi hatten für einen grauenhaften Kontostand in den letzten 12, 16 Monaten gesorgt. Seit Kurzem sieht es dort aber wieder besser aus, und so konnte ich mich für die vielen Einladungen durch F. mal mit immerhin einer revanchieren.

Darüber nachgedacht, wofür ich Geld ausgegeben habe, bevor jetzt wieder brav gespart wird: Biokiste (weil Essen mich glücklich macht), endlich wieder ein Zeitungsabo (damit ich nicht verblöde und nur im Internet rumhänge) und ein Staubsaugerroboter (keine Begründung notwendig, beste Erfindung ever und ist lustig zum Zugucken). Sobald das neue Macbook Pro raus ist (also im Laden steht), wird das gute alte, Diss-gestählte und deswegen ewig in meinem Herzen seiende MacBook Air von 2012 dann auch endlich ersetzt, denn es läuft wirklich auf seinen letzten Platinen, und dann habe ich alles, was ich brauche.

Tagebuch Freitag, 22. Oktober 2021 – Konzertbesuch

Und zwar ein richtiger, nicht nur so vom Balkon runtergucken.

Der Tag und die Woche waren eher stressig gewesen, ich war latent genervt und überlegte ernsthaft, zu Fuß zur Location zu gehen, um den Kopf freizukriegen, aber dann hätten mich meine Nachbarn gehasst, weil ich vermutlich wie ein Fitnessstudio geduftet hätte. Das kam eh irgendwann nicht mehr in Frage, weil ich noch auf meine geliebte Biokiste wartete, die immer Freitags geliefert wird. Bisher kam sie immer um die Mittagszeit, einmal gegen 15 Uhr, aber gestern wurde es 18 Uhr, und sie war immer noch nicht da. Spätestens um 18.30 wollte ich aufbrechen, denn der Veranstalter hatte schon im Vorfeld kundgetan, dass die Impfausweise bzw. Testergebnisse geprüft würden, man solle etwas mehr Zeit für den Einlass einplanen. Um 18 Uhr 15 whatsappte ich meiner Nachbarin, ob sie meine Kiste entgegennehmen könnte – ich konnte nicht zu ihr hoch, weil natürlich genau dann die Isarländer Kistenjungs geklingelt hätten, ist klar –, also ob es okay wäre, wenn ich unten einen Zettel an die Haustür usw. Sie sagte natürlich ja, ich malte den Zettel, warf mich in die Konzertklamotte – und in dem Moment, wo ich aus der Tür wollte, kam die Kiste. 18.26 Uhr. Schnell noch den Salat in den Kühlschrank gelegt, aber dann hurtig los, denn Herrn Levit lässt man nicht warten.

Der Einlass war stressfrei, ich zeigte die Corona-App, es wurde genau aufs Datum geschaut und mit dem Perso verglichen, und dann durften F. und ich rein. Sein Mütterchen wartete schon drinnen auf uns, wo F. drei alkoholfreie Sekte anschleppte, denn bei über 1000 Leuten und nur 3G und nicht 3G+ darf angeblich kein Alkohol ausgeschenkt werden. Ich komme nicht mehr mit mit den Vorschriften, ich gehe einfach weiterhin so gut wie nirgends hin und trage FFP2-Masken, fertig.

Das Konzert sollte eigentlich schon im April stattfinden und eigentlich sollte es die Waldsteinsonate geben sowie „The people united will never be defeated“. Besonders darauf hatte ich mich schon sehr gefreut, denn das Stück hatte ich durch Levits Twitterkonzerte kennen- und schätzen gelernt. Stattdessen gab es 24 Fugen und Präludien von Schostakowitsch (1950/51), wofür ich im Nachhinein sehr dankbar war. Von Schostakowitsch kannte ich nur eine Oper und wusste daher gar nicht, was mich erwartet. Aber das ist ja eine Geisteshaltung, die einen seit Monaten durch die Pandemie begleitet. Und alle so yeah.

Sobald es losging, kamen wie erwartet die Tränen, war klar, damit hatte ich schon gerechnet. In solchen Momenten denke ich immer an meine Gesangslehrerin, die meinte, das sei so toll, dass ich so nah an meinen Emotionen wäre. Aber das nervt halt auch. Wo andere denken „Da sitzt ein Mann am Flügel und macht Musik“, ist es bei mit immer „Da VOR MEINER NASE sitzt ein Mann DEN ICH VON DUTZENDEN TWITTERKONZERTEN KENNE DIE ECHT OFT DEN TAG GERETTET HABEN und macht MÜSIQUE OMG SO SCHÖN ACH HERRLICH TASCHENTUCH ACH NEE MASKE“. Okay, Maske hat sich vielleicht bald erledigt, aber gestern wurde die im Saal von allen brav getragen. Auch Herr Levit kam mit schwarzer medizinischer auf die Bühne und legte sie lässig auf den Steinway, bevor er spielte.

Ich versuche hier gar keine Beschreibung. (Was hab ich eigentlich in zwei Semestern Musikwissenschaft gelernt?) Es gab Fugen und Präludien, bei denen ich den Atem anhielt, andere, bei denen ich dachte, gleich brechen Finger oder Tasten, wieder andere, bei denen ich doch etwas ratlos abschweifte, aber dann hatte mich Levit gleich wieder. Ich war völlig gebannt von seiner Spannung, die er selbst zwischen den Stücken irgendwie aufrecht erhielt. Erst Ende des zweiten Teils ging mir so langsam die Puste aus, auch das Publikum wurde leider immer unruhiger. Das Konzert begann um 8 und ging ernsthaft bis 23 Uhr. Ne Menge Musik auf harten Stühlen. Ich war recht dankbar, dass es keine Zugabe gab; erstens war das wirklich genug, und nach diesem dicht geschlossenen Zyklus hätte alles andere deplatziert gewirkt. So gab es Applaus, Blumen und dann gingen F. und ich zu Fuß ein Stündchen durch München.

Die Fuge 15 in Des-Dur war die, bei der ich Knochenbrüche erwartete. Ein völlig irrer Ritt, bei dem danach der halbe Saal hörbar ausatmetete und erleichtert war, dass wir da alle heil durchgekommen waren. Und direkt danach kam das Präludium in b-moll, bei dem dann nochmal die Tränen flossen. Warum auch immer fühlten sich diese beiden Stücke für mich wie ein Bild der Pandemie an: zunächst die Wut, das Unverständnis, das Zusammenreißen, das dann nicht mehr haltbar ist und irgendwann haut man auf den Tisch, an die Wand, brüllt vom Balkon, keine Ahnung. Bam. Huch? Was jetzt? Verdammt. Und nach einer kurzen Atempause guckt man um sich rum, wie es einem so geht, wie es den Lieben geht – und wagt sich vorsichtig wieder vor die Tür, zu Treffen mit mehreren Menschen. Und irgendwann in ein Klavierkonzert. Das Präludium hörte sich für mich so an, als wäre die Spannbreite der Oktaven nicht sehr weit, noch begrenzt, da sind noch eine Menge Tasten rechts und links der Hände, da ginge noch was. Aber noch nicht. Jetzt noch nicht. Noch reißen wir uns zusammen und nehmen mit, was geht, ohne es zu überreizen. Wie Abende mit einem Mann am Flügel, der Musik macht.

Tagebuch Mittwoch/Donnerstag, 20./21. Oktober 2021 – Tippeditipp und kochedikoch

Was man halt so macht. Außerdem hatte ich gestern mein vierzehnjähriges Twitter-Jubiläum. Wie jemand so schön unter den betreffenden Tweet kommentierte: „Man weiß nie, ob man gratulieren soll.“ True.

Beim Googeln nach „Mangold, Paprika, Zucchini“ auf einen Reisauflauf mit Feta gestoßen, was sehr praktisch war, denn davon musste auch noch ein Stück weg. Bisschen Eiersahne drüber, ab in den Ofen, lecker.

Spontan sehr verliebt in diesen Insta-Account. Schon die Überblicksseite hat mich total beruhigt, weil sie so wunderschön ist.

In der gestrigen Mittagspause lagen nach dem stürmischen Vormittag alle Fuß- und Radwege mit Laub voll. Durch diese Häufchen musste ich natürlich swoosh-swoosh durchgehen, die Füße dabei hochheben und Blätter aufwirbeln. Fast hätte ich den Radfahrer nicht gesehen, weil ich so auf meine Füße konzentriert war. Ist aber alles gut gegangen. Und ich habe mir ein kleines Sträußchen für den Schreibtisch mitgenommen.

Ein Hamburger Texter meinte neulich spontan im Google-Video, dass ich so eine schöne Wandfarbe hätte. Danke! (Sie sieht offensichtlich bei jedem Licht anders aus.) Neuerdings hängt Oma im originalen 1930er Jahre unentspiegeltem Bilderrahmen hinter mir, auf die ich auch angesprochen wurde, weil ich erst in diesem Call gemerkt habe, dass sie in meinem Bildausschnitt hängt.

Gestern im Deutschlandfunk kennengelernt: Malcolm Arnold. Hier sein „Grand Concerto Gastronomique for eater, waiter, food and orchestra Op. 76“ (1961).

Fremdgebloggt

Das Deutsche Historische Museum in Berlin bat mich um einen Blogbeitrag als Begleitung der Ausstellung zu den sogenannten „Gottbegnadeten“. Aber gerne doch. Nachdem ich gestern schon über die Autobahnen etwas ausgeplaudert habe, gibt es heute nebenan im DHM-Blog einen winzigen Ausschnitt aus der Zeit nach 1945. In der Diss hat diese Episode ungefähr 5 Seiten und noch mehr tolle Zitate, aber es wird auch mit weniger Zeichen klar, wie verhaftet im Gestern einige Künstler und Künstlerinnen nach der NS-Zeit noch waren.

Da drüben steht dann auch, wann die Diss veröffentlicht wird, aber ich verrate euch das gerne auch hier: Im Februar 2022 könnt ihr das Ding endlich erwerben. (Oder euch als Bibliotheksnutzerin das total aktuelle E-Book leihen. Dann müsst ihr die ganzen Links in den Fußnoten nicht abtippen. Team Bibliothek forever!)