Wie gestern im Blogeintrag prophezeit: Ich kann gar keine Blogpause machen, weil ich in Archiven immer was Tolles finde.
Gestern shuttelte ich zum Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dort war ich für die erste Hausarbeit zu Leo von Welden schon einmal gewesen und hatte mich durch die Einreichbücher zur GDK gewühlt, um zu prüfen, ob Leo neben den Werken, die im Ausstellungskatalog auftauchen, noch weitere eingereicht hatte. Damals musste man nur fünf Minuten warten und bekam dann alles in dem Raum vorgelegt, in dem man das Findmittelbuch durchgeblättert hatte.
Ich erwartete also dasselbe Prozedere, klopfte an irgendeine Tür, um mich anzumelden, da war niemand, aber jemand auf dem Gang fragte nach meinem Begehr und brachte mich nach meinem inzwischen achthundertmal an vielen Orten aufgesagten Sprüchlein „Ich bin Doktorandin der Kunstgeschichte und promoviere zum Maler Carl Theodor Protzen achtzehnsiebenundachtzig bis neunzehnsechsundfünfzig“ zum richtigen Ansprechpartner. Der freundliche Herr führte mich in eben den kleinen Lesesaal, den ich kannte, ich blätterte zum Spaß das Findmittelbuch durch, denn ich hatte online ja schon rausgesucht, was ich haben wollte, füllte nach seinen Anweisungen den Bestellschein aus, und er bat mich zu warten.
Wenige Minuten später kam er wieder und meinte: „Das können Sie dann in drei Wochen einsehen.“
Ich so:
Er so:
„Haha, nur Spaß. Legen wir gleich drüben für Sie im Lesesaal raus. Haha.“
Ich musste mitlachen, weil er sich so freute, mich fies drangekriegt zu haben, diese leichtgläubigen Archivbesucherinnen, haha.
Aber: Ich musste aus der Abteilung V nun rüber in den Lesesaal, den ich noch gar nicht kannte. Ich umschiffte gekonnt die Klippe, in die falsche Tür zum Staatsarchiv München zu gehen, sondern nahm die eine weiter in Bayerische Hauptstaatsarchiv. Ich weiß nicht, wie lange der riesige Wegweiser mit den beiden Namen da schon steht – ich meine, ich bin 2016 noch ins falsche Archiv gelatscht, weil ich nicht wusste, wo jetzt was ist.
Im Staatsarchiv war ich gerade erst vor ein paar Wochen, und dort hatte ich gelernt: Wenn man schon mal da war, auch wenn es drei Jahre her ist und man den kleinen Benutzerausweis längst weggeschmissen hat, ist man noch im System. Das lernte ich, indem ich dort am Empfang sagte, ich hätte keinen Ausweis, dann durfte ich an einem Rechner alles ausfüllen (immerhin nicht mehr per Hand auf einem Bogen, den dann irgendwer abtippen muss), dann bekam ich die Fehlermeldung, dass es mich schon gibt, der Empfangsmensch korrigierte Dinge, druckte alles aus und erstellte meinen neuen Ausweis aus, auf dem nun nicht mehr „Leo von Welden“ steht, sondern „Carl Theodor Protzen“. Bis er den Ausweis ausfüllen konnte, musste er mir aber die Eingabemaske nochmal öffnen, denn wie ich auch gelernt habe: Mit dem Apple-Klammergriff für das @ setzt man die Windows-Maske wieder auf Null.
Daher war ich jetzt bei den Nachbarn im Hauptstaatsarchiv vorbereitet und sagte brav, ich sei schon im System. Wie zu erwarten war, fand man mich hier nicht mehr wieder und ich durfte ein zweites Mal alles eingeben. Dieses Mal ließ ich mir aber vorher zeigen, wie man das @ tippt und bekam ohne Umwege einen zweiten neuen Ausweis. Damit durfte ich dann endlich in den Lesesaal, wo die fünf ausgehobenen Akten schon auf mich warteten, wie nett!
Ich hatte mir Sitzungsprotokolle der Münchner Künstlergenossenschaft ausheben lassen, dazu Korrespondenz bzw. Briefentwürfe zur Ausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“ (1936) und noch ein bisschen Kleinkram. Und weil Archive ja immer super sind, fand ich einiges, das ich eigentlich in Berlin vermutet hatte und noch mehr Dinge, die ich nicht ahnen konnte. Gaaaanz langsam verdichtet sich mein Bild, was den Künstler, sein Engagement im Münchner Kunstleben und die ersten beauftragten Bilder der ollen Autobahnen angeht, und das war ein ganz hervorragender Arbeitstag.
Feierabend um 15 Uhr, weil alles durchgearbeitet.
(Ich bin mir gerade selbst nicht sicher, ob die Minions in einen Blogeintrag gehören, in dem auch Hitler erwähnt wird. Ich hatte das erste Gif nur so dermaßen vor Augen, als ich fassungslos vor dem Archivar rummemmte.)
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Kekspaket zur Post gebracht und nur zehn Minuten in der Warteschlange gestanden. Kein Buch dabeigehabt, daher die Kindle-App auf dem Handy angeworfen.
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Mit leichterem Rucksack nach Hause spaziert, dort alles abgeworfen, die dicke Wolljacke gegen mein geliebtes, bequemeres, leichteres Frühlings- und Herbsthoodie getauscht – wir hatten schließlich satte fünf Grad – und den vertrockneten Weihnachtsbaum 300 Meter weit zur Abgabestelle getragen.
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Abends kam F. von seinem Kurzurlaub zurück und brachte kiloweise Käse mit, wie man das halt macht, wenn man im Allgäu war. Außerdem zwei Bücher des klassischen Kanons, die ich noch nicht gelesen hatte. Gestern abend noch erledigt.
Bis 2 Uhr nachts nicht einschlafen gekonnt, dafür erst um 10 wach geworden. Nöliger Vosatz: diesen Rhythmus spätestens heute ändern. Vorsatz erfüllt, gestern nacht zwar auch erst um 1 müde gewesen, aber bis kurz vor dem Wecker um 7 durchgeschlafen. Win!
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Wenn die Archive noch nicht geöffnet sind, lungere ich halt weiter in ihren Suchmasken rum. Okay, das Bundesarchiv in Berlin hatte gestern vermutlich geöffnet, aber der spontane Anfahrweg wäre etwas weit gewesen. Aber in dir wühle ich noch, keine Bange, Hase. Vor allem, seit ich gestern mal wieder etwas gefunden habe, nach dem ich länger latent gesucht habe. Nur eben noch nicht in deinen Findmitteln, sondern in denen in München.
Außerdem Mails vorbereitet, die ich heute abschicken werde, wenn wieder alle am Schreibtisch sind.
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Kekse gebacken als Dankeschön für jemanden, der mir im Dezember sehr spontan und ohne groß nachzufragen bei einer blöden Sache ausgeholfen hat. Wenn ich sie nicht alle aufesse, gehen sie diese Woche noch auf die postalische Reise.
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Netflix gekündigt, New Yorker gekündigt, FAZ war bereits zum Jahresende abbestellt, die NY Times nur deshalb nicht gekündigt, weil man dafür irgendwo anrufen muss, was ich vehement ablehne, und ich außerdem ahne, dass mir ihre Rätsel- und Kochseite fehlen würden.
Twitter mal wieder vom Handy geschmissen, aber das hält eh nie lange vor. Gerade keine Geduld mehr für gar nichts. Über Blogpausen nachgedacht, aber auch die halten nie lange vor, daher blubbere ich hier vorerst weiter rum. Spätestens nach dem nächsten Archivbesuch muss ich ja wieder dringend was erzählen.
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Mich innerlich für das neue Jahr gestählt, das quasi erst heute für mich richtig losgeht. Please like me, 2020.
Die Bilderrahmen und -aufhängen-Aktion von Freitag und Samstag beendet. In der Bibliothek hängt jetzt ein Foto von Christian, genauer gesagt, das hier. Kann man in untenstehendem Bild schlecht erkennen, weil der Billorahmen spiegelt und ich gerade kein Geld für Museumsglas habe, daher der Link.
Im Flur, in den ich vom Sofa in der Bibliothek immer gucke, hängt eine Gouche von Katia, nämlich diese hier. Ist völlig unfotografierbar, diese Ecke der Wohnung, spiegelt quasi alles von überall. Aber wenn ich direkt vor dem Bild stehe, ist es super. Also bleibe ich da jetzt öfter stehen.
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Steuer gemacht, schlechte Laune bekommen. Selbst belohnt, indem ich den blöden „Jobs“-Ordner auf dem Rechner zuklickte und den „Text“-Ordner öffnete, der im Ordner „Promotion“ liegt. An der Einleitung rumgefeilt, die sich nach der neuen Stoßrichtung der Arbeit logischerweise sehr ändern wird. Auf einen neuen Titel gekommen bzw. einen älteren leicht verändert und für gut befunden, wenigstens für die nächsten acht Wochen und drei Archivbesuche. Ich ahne, dass der noch lange nicht in Stein gemeißelt ist. Das Team „Ergebnisoffenes Forschen“ buddelt weiter.
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Mich beim Ident-Verfahren mit einem sonntäglich genervten Mitarbeiter am Handy zum Affen gemacht. „Wie, anders hochkant?“
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Gerne gelesen: Kais Blogeintrag über seine Fahrt am Heiligabend. Um die Mittagszeit des 24. bekam ich eine SMS mit einem Selfie des Herrn vor einem Edeka und Grüßen, auch an die Familie, von seinem „kleinen Weihnachtsspaziergang“. Und ich so: Den Supermarkt kenne ich, aber – der ist nicht in Hamburg. „Bist du … AUF SYLT?“ Well played, Kerl.
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Late Lunch: Reis gekocht, Schalotten, Chili, Ingwer und Knoblauch angedünstet, Pak Choi dazugeworfen, mit Hühnerbrühe und Sojasauce abgelöscht, in einer anderen Pfanne Tofu knusprig werden gelassen, Sesamsamen drüber, Essen in 20 Minuten fertig. Auf dem Sofa gelungert, Teller auf dem Bauch, zwei tolle Bilder im Blick.
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Die werktäglichen zwei Liter Tee getrunken, der Urlaub neigt sich anscheinend dem Ende entgegen. Nur noch einen doofen Feiertag aushalten, dann haben alle Bibliotheken und Archive wieder geöffnet, wo-hoo! Abends die latent nölige Laune endgültig vertrieben, indem ich mich in Online-Findmittelbüchern rumtrieb. Da liegt noch so viel schönes Zeug für mich!
Da wir bis zum frühen Abend des 30. Dezembers in Wien oder auf dem Rückweg nach München waren, blieb in diesem Jahr keine Zeit für ein opulentes Festmahl, das ich zubereiten konnte. Das fand ich etwas schade, denn das hatte mir im letzten Jahr sehr viel Freude gemacht. Aber aus Zeit- und Geldgründen wurde es dann ein fast klassisches Raclette bei mir, für das F. drei Flaschen herrlichen Champagner anschleppte, der auch pflichtschuldig geleert wurde.
Wann, wenn nicht heute, die Bruegel-Servietten.
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Das neue Jahr, das im Großen und Ganzen nur besser werden kann als das blöde alte, begann mit Waffeln. Möge es voller Apfelmus und Puderzucker sein.
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Die ersten Januartage verbringt F. traditionell außerhalb von München, weswegen ich mich alleine vom letzten Jahr erholen konnte/musste. Ich schlief ewig aus, lag dafür nachts sorgenvoll wach, fand die Kombi eher doof, konnte aber auch nichts dagegen machen.
Die Diss darf noch bis heute oder morgen rumliegen.
Am Freitag hatte ich die tolle Idee, für drei Einrichtungsgegenstände, nach denen ich diverse Bau- und Schnickschnackmärkte sowie Kaufhäuser vergeblich online durchwühlt hatte, zu Ikea zu fahren. Mit mir war ungefähr die halbe Stadt auf diese Idee gekommen, aber so waren immerhin fast alle Kassen geöffnet und: Ich musste nicht mal eine Minute auf den Bus warten, der direkt vor Ikea abfährt und mich zur S-Bahn bringt, die mich zur U-Bahn bringt. Auto! Pffft. Okay, abends ein bisschen Rückenschmerzen vom Schleppen der unförmigen Gegenstände gehabt.
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Den Restfreitag und gestern damit zugebracht, Bilder zu rahmen (große Rahmen waren zwei der Gegenstände) und aufzuhängen sowie eine Bilderschiene (das war der dritte) anzudübeln. Eigentlich wollte ich ein altes schmales Regal aus meinem Keller, das schon in drei Wohnungen hing, anbringen, aber Wände und Dübel fanden sich scheiße, und im Moment habe ich nicht mal Lust, fünf Euro für neue Schrauben und Dübel in Größen, die nicht in meiner Werkzeugkiste liegen, auszugeben, weswegen ich die Bilderschiene dort andübelte, wo sie eigentlich gar nicht hinsollte, um die blöden Bohrlöcher zu verdecken, aber jetzt gefällt sie mir da sogar besser. Der für sie eigentlich vorgesehene Platz ist noch leer und ich glaube, der bleibt dann auch so.
Weiterhin Grundkaterstimmung gemischt mit „Ich kann nicht mal ne Wand vernünftig dekorieren“.
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Vielleicht sollte ich doch heute schon mit der Diss weitermachen, da kriege ich wenigstens gute Laune.
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Immerhin gestern noch eine gute Idee gehabt: die Sahnebutter aus dem Mast in Wien nachzubauen. Einfach wenig Sahne und Butter gemeinsam zur gewünschten fluffigen Konsistenz aufschlagen und ordentlich salzen. Dazu hatte ich schönes dunkles Brot von meiner Lieblingsverkäuferin meiner Lieblingsbäckerei.
Einziger Neujahrsvorsatz: mich endlich an Sauerteig rantrauen.
Und die grauenhaft gemusterte Arbeitsplatte einbetonieren oder so.
Ach, Wien, auf dich freue ich mich immer so, da nervt der fies frühe Zug um kurz nach 7 auch nur ein bisschen. Im Zug war ich dann genervter, weil so ziemlich der halbe Großraumwaggon hustete, aber: Bis heute keine Erkältung! Mein Immunsystem scheint sich wieder im Griff zu haben. (Oder mein ewiges Wegducken und Shirt vors Gesicht halten haben geholfen.)
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Die App der Wiener Linien heißt inzwischen Wien Mobil, wie ich netterweise noch vor der Abfahrt aus München feststellte. Damit buchten wir auf der Rolltreppe zur U-Bahn entspannt zwei 48-Stunden-Tickets, denn mehr Zeit hatten wir dieses Mal nicht.
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Wie immer im Lieblingshotel genächtigt, dieses Mal sogar ein Upgrade bekommen und uns über viel Platz gefreut.
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Nachdem wir so früh losgefahren waren und dringend was essen mussten, ging der erste Weg natürlich zum Bitzinger an der Albertina, wo ich eine Bosna erstand. Diese Wurstspezialität war mir bisher nur vom Augschburger Weihnachtsmarkt bekannt, wo ich bei jedem Konsum darüber meckere, dass auf die heiße Wurst eiskalte Zwiebeln und eine fast ebenso kalte Sauce kommen. Nicht so hier: Wurst, Zwiebeln (nicht eiskalt!), Currypulver und – frischer Koriander. Man sieht die Wurst gar nicht mehr unter dem herrlichen Zeug.
Einen Nachteil hat die Köstlichkeit aber doch: Als ich kurz darauf F. küssen wollte, zuckte er spaßeshalber zurück: „Bosna breath!“ Guter Name für eine Fun-Punk-Band.
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Wir hatten, im Gegensatz zum letzten Besuch, nur ein leichtes Programm geplant, hauptsächlich wollten wir entspannen und schlafen. Daher: keine 17 Museen, kein Sterneessen. Aber mei, wenn man schon da ist und einem in der U-Bahn am Bahnhof schon ein Plakat mit Henrike Naumann entgegenlacht, die derzeit auch im Haus der Kunst zu sehen ist, dann geht man da halt hin. Bzw. nimmt die Tram, was für mich ja eh immer das schönste Verkehrsmittel ist. Wie immer in Wien dauerte es gefühlt fünf Sekunden, bis ich wieder der Pracht des untergegangenen Vielvölkerstaats und Kaiserreichs hinterhertrauerte und Dinge dachte wie: Für so opulent breite Straßen haben wir in D einen Weltkrieg gebraucht.
Im Belvedere 21 (dessen Website gerade nicht erreichbar ist, bitte selbst googeln) begannen wir dann mit der eben angesprochenen Naumann und ihrer Arbeit Das Reich. Ich kannte ihre Möbelinstallationen bisher nur als Ansicht, stand aber noch nie in einer. Das Thema Reichsbürger und Neonazis war irritierend-anstrengend umgesetzt, vor allem ein eingespielter Film blieb noch lange im Kopf. Es fühlt sich nicht mehr richtig an, die sogenannten Reichsbürger als aluhuttragende Spinner abzutun, das wurde mir spätestens dort klar.
Ein Stockwerk über Naumann war eine weitere Installation zu sehen: Eva Grubinger zeigte mit Malady of the Infinite eine sinnlose, weil nicht seetüchtige Hülle einer riesigen Yacht, in der man herumspazieren konnte. Guter Flyertext: „Malady of the Infinite zeichnet ein Bild von struktureller Ungleichheit, von unendlichem Begehren ohen Aussicht auf Befriedigung. Grubinger bezieht sich dabei auf einen Text des Soziologen Émile Durkheim, nach dem wir ‚am Unendlichen‘ leiden – an einem unbegrenzten Begehren, das materiell nie erfüllt werden kann.“
Eine überraschende Entdeckung war dann im letzten Stockwerk Josef Bauer, den wir beide vorher nicht kannten. Im ersten Raum dachte ich noch, och jo, hmpf, na gut, aber im zweiten hatte er mich dann, denn da begannen seine Arbeiten mit Worten, und mit Worten kriegt man mich ja immer. Der Katalog beginnt mit dem Satz „Man kann alles mit allem verbinden“ und auch das hat mich gekriegt. Bauer bastelt Buchstaben auf lange Stangen, die man mit sich herumtragen kann, lässt Menschen Buchstaben durch Landschaften schleppen, trägt Gesichter aus Werbeanzeigen mit Aceton ab oder überdeckt alte Postkarten mit dicken Farbschichten, ergänzt alte Musterbücher mit Materialien oder Gemaltem, hängt mal eben Buchstaben als eine Art Decke über eine Stuhllehne, irritiert mit blauen Wänden, an denen in gelb das Wort „rot“ steht. Neben der sinnlichen Herangehensweise, die mir sehr gefallen hat, erwischten mich auch diverse politische Aussagen. Inzwischen erkenne ich NS-Kunst ziemlich gut und so musste ich nicht erst den Wandtext lesen, um die ollen Statuen auf Postkarten als Breker-Werke zu erkennen, die Bauer ebenfalls teilweise übermalt hatte. Eine weitere Arbeit nutzte Textschnipsel von Heimrad Bäcker, die von Deportationen und Vergasungen handelten, und auch hier überdeckte Bauer, verwischte, irritierte und machte die Texte dadurch noch stärker.
Naumann und Bauer laufen nur noch bis zum 12. Januar, falls ihr noch Gelegenheit habt, huscht mal durch.
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Nach einem Abstecker zum Lieblingsschokoladenladen und einem Flat White nebenan genossen wir Freizeit im Hotelzimmer und gingen abends ins Rebhuhn, unser liebsten Adresse für Schnitzel und Backhendl.
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In den Sonntag schliefen wir rein, waren aber trotzdem recht früh wach, vielleicht auch, weil unser einziger wirklicher Programmpunkt wartete: die Albrecht-Dürer-Ausstellung in der Albertina.
Die Albertina besitzt, soweit ich weiß, mit eine der größten Sammlungen weltweit an Dürer-Zeichnungen und -Drucken, deren Provenienz sie, laut stolzem Katalog, „bis in Dürers Erbmasse“ nachweisen kann. Netterweise kann man sich alle Werke auch online anschauen, wenn auch nicht in irre großer Auflösung. (WARUM NICHT?) Wegen der Fragilität der Stücke sind sie nicht ständig zu sehen, aber so alle zehn Jahre holt das Museum ihre Schätze mal wieder ans Licht.
Wir hatten schon Tickets und konnten daher die schon um 10 Uhr morgens beachtlich lange Schlange umgehen, betraten die Ausstellungsräume dann aus dem Fahrstuhl heraus anstatt über die Treppe, weil ich Fußlahme Treppen bekanntlich hasse, und mussten so erstmal rückwärts durch die Ausstellung zum ersten Raum gelangen. Wir blieben aber irgendwo in der Mitte stehen, denn dort hingen an einer Wand nebeneinander der Flügel einer Blauracke (um 1500), der als Postermotiv in ganz Wien zu sehen ist, der knuffige Feldhase (1502), den alle kennen, und mein Liebling, das große Rasenstück (1503). Ich habe keine Ahnung, warum ich Grashalme toller finde als die putzigen Barthaare des Karnickels, aber egal, ich stand vor dem Rasenstück und staunte. Und staunte weiter. Und staunte einfach noch ne Runde. Ich ahne so langsam, warum ich diese Naturstudie so mag: weil sie im Nichts stattfindet. Sie hat keinen Hintergrund; der Hase sitzt in einem undefinierten Raum, das Rasenstück hört einfach auf bwz. stößt fieserweise an alle Bildränder, so dass man noch weniger weiß, wie es weitergeht, aber man ahnt, dass es weitergeht.
Im selben Raum hängt das Aquarell Tal bei Kalchreuth (um 1495–1500), das mich sehr unerwartet erwischt hat. Ich ahne, dass es damit zusammenhängt, dass ich seit Monaten auf blöde Landschaften eines mittelbegabten Malers gucke, dass mich diese Landschaft, die wie mal eben hingeworfen aussieht, so faszinieren konnte. Eben weil sie so hingeworfen aussieht, während ich ahne, dass Protzen, der alte Streber, sich um jeden blöden Baum Gedanken gemacht hat. Vermutlich hat Dürer das auch, aber das sieht man dem Bild nicht an.
Irgendwann war ich dann auch in Raum 1 angekommen, wo alle aus dem Treppenhaus hinaus reinstapften und mit dem Audioguide am Ohr vor jedem Bild stehenblieben. Das habe ich mir längst abgewöhnt, gerade bei Blockbuster-Ausstellungen, bringt eh nichts. Ein Bild aus dem ersten Raum wollte ich aber dringend sehen: Dürers vermutlich erstes überliefertes Werk, sein Selbstporträt als Dreizehnjähriger (1484). Ich erinnerte mich an mein erstes Semester, wo eine Dozentin erzählte, sie hätte über frühe Porträts gearbeitet und die Albertina gebeten, mal einen Blick auf eben dieses Bild werfen zu dürfen, woraufhin das Museum freundlich ablehnte. Ich dachte damals, Kunsthistoriker*innen, Profis! ständen immer alle Kunstkammern offen, aber: anscheinend nicht. Jetzt wartete ich brav, bis die Schlange mal eine winzige Lücke freigab, schlüpfte hinein und staunte erneut.
Aber nicht lange, denn da hing ja noch so viel mehr! F. und ich trafen uns immer zwischendurch, machten uns auf Werke aufmerksam, guckten aber eher getrennt. Ich blieb sehr überraschend – überhaupt war für mich quasi alles überraschend an diesem Vormittag, ich meine, Dürer, den kennt man doch, aber nee, anscheinend nicht – vor einem Stich des Hl. Eustachius stehen. Heiligenbilder sind mir eher wurst, aber hier faszinierte mich die gefühlte Dreidimensionalität des Werks. Das gibt der Katalog nicht wieder und auch die Online-Ressource nicht, aber wenn man davor steht, und DESWEGEN GEHT GEFÄLLIGST IN MUSEEN UND KLICKT NICHT NUR DIE WIKIPEDIA DURCH, sieht man so viele Details, die im Druck zusuppen und online sowieso abstinken.
Ich erspare euch meine ganzen Gedankengänge, aber wir fangen trotzdem einfach mal oben an. Dass um den Bergfried Vögel kreisen, habe ich erst nach zehn Minuten gesehen, so sehr hatte mich das spitze, zackige Gewächs unter dem Turm links davon im Bann. Alleine diese ungefähr sechs Quadratzentimeter Blatt ließen mich nicht los, die Zinnen des Turms, die fast skulptural gestalteten Felsen und dann eben der Strauch, der an ihnen wächst. Ich war so kurz davor, mit den Fingern über das Blatt streichen zu wollen, weil es eben so plastisch aussah, dass ich nicht glauben konnte, dass da bloß Tinte auf Papier vor mir hängt. Die Gestaltung des Baums rechts im Bild: oben feiner und dunkler ausgearbeitet als unten. Das Kruzifix im Hirschgeweih: fast ein Heiligenschein zu erahnen. Die Schuhe und der Gürtel des Heiligen: die Details! Und so weiter und so fort. Vor dem Bild blieb ich länger als vor dem Rasenstück.
Irgendwann trafen F. und ich uns wieder, beide überwältigt. Ich so: „Ob hier auch das Rhinozeros hängt?“ — „Oder die Melencolia?“ — Beide: „Nee, das wäre zuviel. Hier hängt ja schon Irrwitziges.“
Ich bestaunte die grüne Passion, kannte ich noch nicht, toll, die verschiedenen Kleidungsstile von Nürnberger Frauen, das Männer- und das Frauenbad, die Ansichten aus Innsbruck, die ebenfalls im Nichts stattfanden, kein Himmel über der Stadt wie beim Hasen, ich mochte das so sehr.
Nach der Passion waren wir wieder in dem Raum, den wir als erstes betreten hatten – und entdeckten, an welchen Werken wir vorbeigerannt waren. Links vom Fahrstuhl hing das Rhinoceros – und rechts davon hingen die drei Meisterstiche Dürers und damit natürlich auch Melencolia I. Hier blieb ich ähnlich lange wie vor dem Eustachius, weil ich nicht glauben konnte, ein Schlüsselwerk der Kunstgeschichte vor Augen zu haben. Und netterweise viel Platz dazu, denn das hier war der vorletzte Raum, die meisten Besucher*innen waren schon leergeguckt vom Zeug am Anfang und rannten hier eher durch. So konnte ich stehen und staunen – und erneut feststellen, wie bereits in den Sälen vorher, dass mir die wenigen bunten Gemälde gerade total egal waren und ich der Druckgrafik verfallen war.
Im letzten Saal dann noch die betenden Hände, das hatte ich schon ganz vergessen, dass die ja auch noch da waren. Ich habe Melencolia gesehen, damit war ich beschäftigt.
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Eigentlich gucken wir uns in Museen, für die wir Eintritt bezahlt haben, alles an, was da ist, aber nach dieser Ausstellung wollten wir den Rest des Hauses nicht mehr sehen. Im Untergeschoss waren gerade Warhol und Richter und Zeug, aber F. meinte sinngemäß, dass die jetzt vermutlich wie unbegabte Schmierfinken aussähen. Wir spazierten ein wenig durch die Gegend, als ich meinte, ich hätte ein bisschen Rückenschmerzen. F. so: „Vielleicht drückt das auf die Wirbelsäule, wenn du zwei Stunden lang den Mund offenstehen hast.“
Er zeigte auf dem Handy einen Bildbeweis: „Du beim Dürer-Angucken.“
Pfft. Wenigstens bin ich niedlich.
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Der Blogeintrag muss hier aufhören, denn das war großartig. Daher nur noch stichpunktartig: Eva Hesse im Mumok, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, war eher enttäuschend – ein eingespielter Film über sie brachte mir mehr als so gut wie alle ausgestellten Zeichnungen, aber immerhin ein paar konnten mir ihre Entwicklungsstufe zwischen Flachware und Skulptur (die ich von ihr verehre) klarmachen. Der Rest das Hauses war geschenkt, bis auf einen Raum mit Heimrad Bäcker, den wir ja einen Tag vorher in der Bauer-Ausstellung kennengelernt hatten.
Abends dann große Freude über hervorragendes Essen und ebenso gute Weine im Mast. Als wir beide das Fünfgangmenü orderten, kam die Frage, ob wir bei jedem Gang vielleicht zwei unterschiedliche Gerichte haben und die teilen wollten? Wollten wir! So aßen wir uns durch fast die gesamte Karte und ich bedauere es sehr, so weit von dem Laden wegzuwohnen, denn dort würde ich gerne deutlich öfter hingehen.
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Zurück in München ein Bild von Leo von Welden aus der Küche abgehängt und drei Postkarten von Josef Bauer, die in der Ausstellung auslagen, eingerahmt und aufgehängt. Jetzt dauernd Heimweh nach Wien. Ach, Wien.
Tagebuch Mittwoch, 16. Dezember 2020 – Korrekturexemplar und Privilegien
Den Vormittag verbrachte ich mit Kochbüchern und dem Internet; das Menü für den Heiligen Abend steht einigermaßen. Ich werde doch auf wilde Experimente verzichten und muss bis jetzt nur für ein oder zwei Zutaten in Geschäfte, in die ich sonst eher selten gehe, was meine Verweildauer in geschlossenen Räumen und das wilde Suchen in den dortigen Regalen deutlich verringern sollte.
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Nachmittags hatte ich einen Termin mit dem Doktorvater. Das ZI ist seit gestern für den Besucherverkehr geschlossen, meine geliebte Bibliothek für mich nicht mehr zugänglich, aber Vati wusste selbst nicht, ob ich nun überhaupt nicht mehr ins Gebäude und damit in sein Arbeitszimmer käme oder doch. Wir verabredeten uns also im Foyer und wollten uns notfalls auf eine Bank auf dem Königsplatz setzen. Daher trug ich unter der radfahrkompatiblen Schnuffeljacke noch einen dicken Pulli, wie ich das aus diversen Stadionaufenthalten gelernt hatte. Auf die Thermotights verzichtete ich.
Ich gammelte kurz im Foyer herum, bis mich die freundliche Dame an der Pforte fragte, ob sie helfen könne. Ich schilderte den Sachverhalt und unsere Unsicherheit, woraufhin sie meinte, als Arbeitstermin dürfte ich natürlich rein, nur die Massen an Bibliotheksbesucher*innen müssten halt leider draußen bleiben. (Masse = 36 Menschen in drei Lesesälen.)
Mit meiner FFP2-Maske ausgestattet durfte ich also die heiligen Hallen betreten und besprach dann mit Vati eine gute Stunde die Überarbeitung meiner Diss. Ich lernte viel über Aussagen in Gutachten, wir klönten noch ein bisschen über die Autobahnbeilage (hier länger verbloggt), die er mir auf Papier aufgehoben hatte und die nun auch ein weiteres Argument für mich bildet. Denn das war unter anderem eine Frage der Zweitgutachterin: Wieso muss man sich mit jemandem beschäftigen, den die Kunstgeschichte 80 Jahre lang ignoriert hat? Bisher waren meine Argumente, unwissenschaftlich formuliert: weil ich’s kann, weil er da ist, eben weil es noch nichts über ihn gibt. Wichtiger: weil die Autobahnen und damit ihre Gemälde das einzige neue Motiv sind, das die NS-Kunst etablieren konnte. Und mein persönliches Lieblingsargument: weil die deutsche Kunstgeschichte (West und Ost) sich bewusst um die NS-Zeit gedrückt hat, um nicht „über den ‚Sündenfall‘ von bürgerlicher Kunst überhaupt nachdenken zu müssen“. (Zitat: Anja Hesse: Malerei im Nationalsozialismus: Der Maler Werner Peiner (1897–1984), Hildesheim 1995, S. 6.) Die Autobahnbeilage gibt mir nun noch ein Argument an die Hand, warum wir uns vielleicht mit diesem Maler beschäftigen sollten: damit nicht staatliche Behörden Argumente nachplappern, die Hitler schon super fand.
Wir sprachen auch über die Veröffentlichung. Ich plane, und ich hoffe, ich finde einen Verlag, der das mitmacht, eine gleichzeitige Publikation als Buch und als eBook bzw. PDF auf dem Uniserver oder ähnliches. Ich möchte etwas haben, das im Regal stehen kann, möchte aber gleichzeitig einen barrierefreien und kostenlosen Zugriff für alle ermöglichen, damit dieses Thema nicht weiter in seiner Nische bleibt. Ich weiß noch nicht, ob das in der Schriftenreihe meines Doktorvaters möglich ist – er bot mir gestern an, dort zu veröffentlichen, was mich natürlich äußert freuen würde. Die Reihe heißt Brüche und Kontinuitäten: Forschungen zu Kunst und Kunstgeschichte im Nationalsozialismus, und der Verlag stand sowieso auf meiner Wunschliste.
Zum Veröffentlichen gehört leider auch ein Batzen Geld, denn wissenschaftliche Werke kosten den Verlag eher als dass sie damit etwas verdienen. Promovierende sparen also gerne auf den sogenannten Druckkostenzuschuss, der sich für mein Werk, wenn ich mir Seitenzahlen und Abbildungen so angucke, wohl um die 10.000 Euro belaufen wird. Die habe ich überhaupt nicht rumliegen, daher werde ich mich um Stipendien kümmern. Falls daraus nichts wird, hat sich mein Mütterlein schon erboten, den Betrag zu übernehmen, weil sie auch ein Buch haben möchte. Ich fühle mich seitdem äußerst privilegiert. Die Diskussion um Privilegien und wie wenige Nicht-Akademikerinnen-Kinder einen Doktortitel erringen (1 Prozent) ist mir durchaus bewusst, und gerade jetzt spüre ich sie erstmals sehr deutlich.
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Nachmittags mit F. in die Wolle gekriegt, musste auch mal sein. Wir sind alle durch mit diesem Jahr und dieser Pandemie. Ich jedenfalls.
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Abends las ich die korrigierte bzw. mit Anmerkungen versehene Diss durch, die mir mein Doktorvater mitgegeben hat. Diese Seite ist bisher meine liebste.
Ich kenne seine Abneigung gegen mein „ich“ in der Arbeit, was ich mir aber in acht Uni-Jahre nicht abgewöhnt habe, weil ich Passivkonstruktionen hasse. Das ist meine Arbeit, da steht mein Name drauf, daher darf ICH mit Fug und Recht Dinge schreiben wie „In dieser Arbeit werde ich zeigen, dass …“ und nicht „Diese Arbeit wird zeigen, dass …“ Dass er nun ein „ich“ reinkorrigieren musste, hat wahrscheinlich sehr weh getan. Sorry!
Wobei ich zugeben muss, dass sich das auf dieser Seite sehr häuft, das werde ich etwas entschärfen. (Wobei sich das zugegebenermaßen auf dieser Seite sehr häuft, das lässt sich entschärfen.)
Tagebuch Montag, 14. Dezember 2020 – Hefeteig und Weihnachtsabsage
Nicht gut geschlafen. Brav abends im Bett nicht mit dem Smartphone geendet, sondern noch was aus Papier vor die Nase gehalten, aber vielleicht war das Suhrkamp-Büchlein zur Weimarer Republik nicht unbedingt eine gute Einschlafhilfe. Mein Kopf beschäftigte sich noch bis 3 Uhr morgens mit der Diss bzw. ihrer Überarbeitung für den Druck, bis ich endlich wegdöste.
Den Wecker verflucht, trotzdem aufgestanden, wir wollen hier ja nichts einreißen lassen, das machen wir erst zwischen den Jahren, für die ich „ausschlafen, rumliegen, gar nichts tun“ geplant habe, aber mal sehen, was dann passiert.
Den Tag am Schreibtisch verbracht und geguckt, welche der Gedanken, die mir morgens um 2 kamen, ich wirklich umsetzen kann (bin immer noch unschlüssig). In neuen Büchern aus der Uni-Bibliothek gelesen und Dinge im Manuskript ergänzt. Nebenbei die übliche Kanne Ostfriesentee geext, neuerdings ohne Zucker oder Süßstoff und mit Milch statt Sahne.
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In der Mittagspause auf die Matte gegangen. Mein Interweb-Sportkurs bietet sogenannte Programme an, die aus einzelnen Übungseinheiten bestehen. Ich hatte sinnvollerweise einen Anfängerkurs gewählt, der aus 56 Einheiten aufgebaut ist. Die habe ich in den vergangenen Wochen alle durchgeturnt und wartete daher auf ein Fleißbienchen oder digitales Konfetti oder irgendwas – aber nichts. Erst dann kapierte ich, dass ich das Programm aktiv anwählen muss anstatt einfach nur die Einheiten anzuklicken, um das Konfetti zu kriegen – oder immerhin ein „Completed Programs = 1“ am oberen Bildschirmrand. Da es mir für die innere Ausgewogenheit total wichtig ist, Fleißbienchen zu bekommen, hatte ich letzte Woche das Programm noch einmal von vorne begonnen. Das war eh der Plan gewesen, weil es mir Spaß macht und mich fordert. Bei den ersten beiden Einheiten dachte ich noch gut gelaunt, hey, das regelmäßige Training hat geholfen, die Übungen für Stabilität und Mobilität bringen mich nicht mehr so ins Schwitzen, und auch die Bauchmuskeleinheiten gingen deutlich besser. Gestern gelernt: Das gilt alles nicht für Cardio. Genauso außer Atem gewesen wie noch vor zwei, drei Monaten, als ich mit dem Kram angefangen habe.
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Kleines Nebenbeiprojekt: neue Croissants für den Tiefkühler backen. Wie praktisch, dass Hefeteig dauernd gehen muss, das ging quasi nebenbei. Leckere Fleißbienchen.
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Abends länger mit dem Mütterchen telefoniert und schweren Herzens den Weihnachtsbesuch in der alten Heimat abgesagt. Zugfahren steht derzeit nicht auf meinem Plan, aber meine Schwester hatte allen Ernstes angeboten, mich aus München mit dem Auto abzuholen, damit ich nur eine lange Fahrt, die zurück, übernehmen müsse, dann eben per Mietwagen aus Hannover. Ich hatte wirklich darüber nachgedacht, und drei Haushalte (Eltern, SchwesterSchwager, ich) sind auch erlaubt, aber vielleicht ist es jetzt gerade sinnvoller, die Regeln nicht auszureizen, sondern sie noch enger zu fassen. Ich bleibe hier, wo mir nichts passieren kann und wo ich auch niemanden anstecke. Wie F. feiert, steht noch nicht fest, eventuell sitze ich hier am 24. alleine vor einem Racletteset, mit einem Käsebrot oder auch mit fünf Gängen nur für mich, ich weiß selber noch nicht, worauf ich eigentlich Lust habe. Aber meinen Geburtstag im März habe ich auch alleine überstanden, das wird schon okay sein. Bis dahin ist eventuell auch mein hochwertiges Schokoladenpaket aus Wien eingetroffen, das ich mir gegönnt habe, damit nicht alles so fürchterlich ist wie es sich gerade anfühlt.
Um mal wieder was Positives für mich festzuhalten: super Croissants! Sport gemacht und Spaß dabei gehabt! Eine warme Wohnung voller Bücher und mit einem bunten Weihnachtsbaum. Und gesund bin ich auch.
Tagebuch Donnerstag/Freitag, 10./11. Dezember 2020 – Lesetage
Ich erwähne mal wieder Das Buch Alice, das ich jetzt fast durchgelesen habe. Es irritiert mich immer noch, weil es ständig hin- und herschwankt zwischen wissenschaftlicher Aufarbeitung und populärwissenschaftlicher Schreibe, ich habe immer noch kein System für die Endnoten erkannt (wann wird eine Quelle angegeben, wann nicht), aber inzwischen kann ich damit leben, denn ein Kapitel hat mir gereicht, um das Buch jetzt doch großflächig zu empfehlen. Das Kapitel „Bücherdiebe“ beginnt auf Seite 150 und hier geht es endlich um den Punkt, den das Buch machen möchte bzw. der im Untertitel steht: „Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten.“
Ich zitiere im Folgenden sehr ausführlich, weil ich das korrekt wiedergeben möchte.
„Seit 1901 beliefen sich in Deutschland die Fristen für den Urheberschutz auf 30 Jahre. Ein Jahr nach der Machtübernahme ließ Hitler diese Fristen auf 50 Jahre erhöhen. Das neue Urheberrechtsgesetz, das noch bis 1966 galt, machte zwischen ‚arischen‘ und ‚nichtarischen‘ Autoren keinen Unterschied. Theoretisch hätte der Schutz des Urheberrechts also auch einer jüdischen Sachbuchautorin wie Alice zugutekommen können. Ihr Buch wurde 1935, ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes, in München vom Ernst Reinhardt Verlag publiziert. Trotzdem würde sie nach der Vorstellung der Nationalsozialisten nie von dem Gesetz profitieren, denn für diese waren Autoren ‚Treuhänder des Werks für die Volksgemeinschaft‘. Da Juden aus rassischen Gründen nicht Teil der ‚Volksgemeinschaft‘ sein durften, konnten ihre Werke keinen Wert haben und keinen rechtlichen Schutz genießen.“ (S. 151)
Ich meine, „Machtübergabe“ statt „Machtübernahme“ ist derzeit der gebräuchlichste Begriff, aber das nur nebenbei. In diesem Absatz begann bei mir die große Aufmerksamkeit, weil ich mich wieder an die vielen irrsinnigen Gesetze erinnerte, die ich im Studium kennengelernt hatte. Zum Beispiel die Legalisierung der Ausplünderung der jüdischen Menschen, falls diese in die Konzentrationslager im Osten deportiert wurden: Auschwitz galt zwar als erobert, aber nicht als reichsdeutsch, weswegen die Juden deutschen Boden verlassen hatten, weswegen ihr Hab und Gut im „Altreich“ nun eben diesem zufiel. (Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz, 25.11.1941)
Die Ausplünderung betraf nicht nur materiellen, sondern auch geistigen Besitz wie eben Urheberrechte.
„Bis heute ist die ‚Arisierung‘ [Anführungszeichen von mir] von Büchern nicht untersucht worden. Es gibt nicht einmal eine einheitliche Bezeichnung für den Vorgang. Der Begriff ‚arisierte Bücher‘ wird bisher für ein anderes Verbrechen der Nationalsozialisten benutzt – man beschreibt damit die Plünderung jüdischer Bibliotheken. [1] Mit dem – sehr viel schwerer wiegenden – geistigen Diebstahl von Leistungen jüdischer Autoren und Herausgeber hat sich niemand beschäftigt. Es existiert noch keine Statistik über die ungefähre Zahl der Betroffenen. Das Thema kommt in der Forschung einfach nicht vor.“ (S. 151/152)
Auf den folgenden Seiten bespricht die Autorin die unterschiedlichen Möglichkeiten der Verlage, sich dem NS-System anzudienen, irgendwie um es herumzulavieren oder sich oppositionell zu positionieren, was eher selten vorkam. Genau diese Möglichkeiten sind mir auch in der Aufarbeitung von Teilbereichen des Betriebssystems Kunst im NS schon aufgefallen: Die Reichskulturkammer hatte zwar auf dem Papier große Macht, aber auch hier stritten sich verschiedene Unterorganisationen um Zuständigkeiten, weswegen es durchaus möglich war, durch die Maschen des Systems zu schlüpfen. Bei meiner Bearbeitung des Künstlers Leo von Welden stellte ich die These auf, dass dessen RKK-Mitgliedsnummer, die sich auf Bildrückseiten und Anmeldeformularen für Ausstellungen fand, schlicht ausgedacht war, weil er als Nicht-Deutscher bzw. Staatenloser gar nicht Mitglied dieser Kammer werden konnte. Im Zuge meiner Dissertation stieß ich im Hauptstaatsarchiv München in den Unterlagen zur Großen Deutschen Kunstausstellung 1944 auf diverse Anmeldeformulare, auf denen keine Mitgliedschaft angegeben wurde sowie Bitten um Ausnahmeregelungen, deren Gewährung teilweise als Telegramm oder Brief erhalten sind (auf der GDK durften nur Kammermitglieder ausstellen). Es gab also anscheinend Künstler und Künstlerinnen, die es bis 1944 nicht für nötig gehalten hatten, in die RKK einzutreten.
Urbach gibt anschließend ihre erfolglose Bitte um Einblick in die Verlagunterlagen wider, das Buch ihrer Großmutter betreffend, das 1938 einen neuen Verfassernamen bekam und teilweise umgeschrieben wurde. Der Verlag behauptete, keine Akten mehr über diesen Vorgang und vor allem aus dieser Zeit zu besitzen. Urbach: „Um das einordnen zu können, muss man wissen, dass der Ernst Reinhardt Verlag 1974 und 1999 zwei Festschriften veröffentlichte, die auf Archivmaterial aus der Vorkriegs- und Kriegszeit beruhten.“ (S. 154)
Im Folgenden beschreibt Urbach, wie andere Verlage mit Anfragen umgingen und skizziert weitere „Arisierungen“ von jüdischem geistigen Besitz nach. Dieses Kapitel versöhnt mich sehr mit dem Rest des Buchs, das für meinen Geschmack zu oft und zu weit vom eigentlichen Kern wegführt. Ich mochte die nachvollziehbare Aufarbeitung des Vorgangs und seine historische und politische Einordnung sehr, denn es hat mein Wissen über die Kulturpolitik des NS sehr erweitert. Alleine dass es zu diesem Thema noch überhaupt keinen Forschungsstand gibt, war für mich sehr aufschlussreich.
Tagebuch Mittwoch, 25. November, bis Dienstag, 2. Dezember 2020 – Hochs und Tiefs
Wie praktisch, ein Kontakttagebuch zu führen, da kann ich jetzt nachgucken, was ich eigentlich in den letzten Tagen gemacht habe, die irgendwie verschwimmen.
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Ich war bis Samstag in der alten Heimat. Das war einerseits sehr schön, weil die Luft da besser ist als in München und ich morgens solche Ausblicke hatte.
Das war andererseits sehr schwierig, weil es Papa nicht besser geht. In der letzten Woche stand eine größere, vorläufige Entscheidung an, die uns allen Schwierigkeiten bereitet hat, über die ich hier nicht schreiben möchte. Jedenfalls war meine Mutter noch mehr durch den Wind als sonst, aber ich konnte durchs Dasein etwas abfangen und ihr einige Gänge abnehmen, die sie partout nicht machen konnte/wollte. Meine Schwester ist ebenfalls überlastet, auch hier konnte ich ein bisschen helfen. Nebenbei gab’s aus Gründen einen Coronatest, der wie erhofft negativ war.
Außerdem habe ich meine Mutter erstmals einen Burger essen sehen; sie verzehrte die Einzelteile mit Messer und Gabel.
Und ich durfte/musste das schicke Auto der Eltern öfter fahren als sonst. Es piepst bei allem, was ich tue, und ich spreche mit ihm sehr anders als mit meinen ganzen ehemaligen Autos, indem ich dauernd „Halt die Klappe, du Depp“ sage. In diesem Zusammenhang nachgedacht: Das neueste Auto, das ich je besessen habe, wurde Anfang der 1990er gebaut. Alles danach ist für mich ein unverständliches Raumschiff. Oma Gröner möchte ihre drei Knöppe und ein Radio ohne Stationstasten wiederhaben.
Auch gemerkt: Ich habe kein Körpergedächtnis für Geschwindigkeiten in modernen Fahrzeugen. Bei meinen Karren fühlte ich irgendwann, wie schnell ich war; im Auto der Eltern guckte ich öfter auf den Tacho als auf die Straße. Dabei stellte ich erfreut fest, dass die Todeslandstraßen meiner Jugend, auf denen ich noch lustig 100 fahren durfte, inzwischen fast durchgehend auf 70 geregelt sind. Sehr gut.
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Am letzten Abend hielt ich meiner Mutter und Schwester sowie dem Schwager meinen Verteidigungsvortrag und zeigte die Präsentation, die Dissertation liegt eh bei ihnen seit Juni rum. Ich fand es sehr spannend, nicht-akademischen Menschen zu erklären, was ein Forschungsstand ist und wie ich gearbeitet hatte. Noch spannender waren die Fragen, von denen eine fast genauso vom Doktorvater in der Disputation gestellt wurde: „Wenn es schon Fotos der Autobahnbaustellen gab, wieso mussten die dann noch gemalt werden?“ Hier bitte ein Spontanreferat zur politischen Funktion von Kunst im NS-Staat einfügen. Und meine Schwester legte gleich bei der ersten Folie, auf der Protzens „Straßen des Führers“ (1939) abgebildet war, den Finger in die Wunde: „Das sieht ja gar nicht wie Nazikunst aus?“ Das Spontanreferat hier handelte von den Versäumnissen und blinden Flecken der bundesdeutschen Kunstgeschichte. Dann blätterten alle den kompletten Abbildungsteil der Diss durch und ich guckte ihnen interessiert dabei zu, an welchen Werken sie hängenblieben. Diese Diskussion kann ich hier nicht nachvollziehen, denn für die Werke habe ich die Bildrechte nicht und sie sind nirgends abgebildet außer in meiner Diss. Hier Spontanreferat zu Bildrechten uswusf.
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Der Zug aus Hannover war noch spärlicher besetzt als auf der Hinfahrt. Ich glaube, wir starteten mit vier Menschen im Großraumwagen (1. Klasse), und ab Nürnberg war ich alleine. Außerdem ging ein Sicherheitsteam durch den Zug, um zu überprüfen, ob auch alle brav Maske tragen. Es gab übrigens wieder Zeitungen! Jedenfalls hatte ich auf der Hinfahrt die FAS, auf der Rückfahrt nur die Wahl zwischen Welt und Bild, also gab’s im Prinzip keine Zeitungen.
Ich las Peukerts Weimarer Republik mit viel Gewinn weiter – ich hatte mir in der alten Heimat schon einen Stift zum Unterstreichen borgen müssen, der jetzt in München wohnt, sorry, Mama – und hörte die Episode des Beethoven-Podcasts zur Waldstein-Sonate. Die lohnt sich alleine für die ersten zwei Minuten, in denen Levit sagt: „Wenn ich für irgendwas studiert habe, dann dafür.“ Danach hörte ich, wie immer beim Podcast, die ganze Sonate, und danach wollte ich dann auch nichts anderes mehr hören.
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Samstag abend wurde ich von F. verwöhnt, der uns erneut das Wochenendmenü aus dem Broeding geholt hatte. Das tat gut, von einer Welt wieder in die andere zu kommen. Es gab ein fantastisches Rote-Bete-Meerrettich-Mousse, dessen Rezept ich irgendwie ergoogeln muss, Saibling en papilotte mit einer Krachersalsa, in die ich immer noch Brot stippe, und ein Stück Birnenstrudel, wie immer hervorragend.
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Über diesen Comic lache ich seit Tagen.
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Montag und gestern waren häusliche Backtage, die ich genoss, bevor mich die echte Welt wieder hat. Es gab simple Mürbeteigkekse, mal mit Schokospritzern, mal mit Kakao zu Schnecken gerollt, meine geliebten Orange-Mandel-Kringel, die Lieblinge meiner Mutter, Orangenkekse mit Schokolade, sowie zu dick geschnittene Florentiner und Engelsaugen. Aus den Eiweißen, die bei den Engelsaugen übrig blieben, machte ich Macarons, aber die sehen so unförmig aus, dass sie nicht auf den Teller durften.
Beim Stollenbacken fiel mir wieder ein, warum ich normalerweise nur einen mache. Gut, der zweite soll in die Post, aber trotzdem.
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Mein Internet-Sportprogramm hatte zwei Wochen Pause, zuerst wegen der Verteidigung, dann weil ich weg vom Internet war. Vorgestern und gestern stieg ich wieder ein und stellte fest: Ich kann doch noch Muskelkater kriegen. Verdammte Bauchmuskelübungen.
Die launige Beilage „Die Autobahn A3 für Europa“ und was das mit meiner Dissertation zu tun hat
In der SZ und, soweit ich weiß, noch einigen anderen Zeitungen lag gestern die 32-seitige Broschüre „Die Autobahn A3 für Europa“ bei. Ich sah sie durch einen Tweet des Journalisten Lenz Jacobsen, der sich in einem kurzen Thread mit dieser Vermischung von redaktionellem und werbischem Inhalt beschäftigte. Er resümierte: „Das Ding ist also weder schlimm noch lesenswert, aber ein beeindruckendes Beispiel für die alltägliche, wirtschaftliche und publizistische Macht und Interessenvertretretung aller, die am Ausbau der Auto-Infrastruktur beteiligt sind und davon profitieren.“
Die Beilage ist online, so dass sie mir niemand zuschicken muss, aber wie ich inzwischen weiß, hebt sie mein Doktorvater sogar für mich auf, der per Mail folgenden Kommentar hatte – oder auch nicht: „Ich enthalte mich jeden Kommentars … zu einzelnen Beiträgen, Redewendungen, Bildern, Metaphern etc., denn das scheint mir doch einigermaßen offensichtlich. Ich denke, dass Sie evtl. (vielleicht sogar an verschiedenen Stellen) in der Druckfassung der Diss. darauf eingehen könnten.“
Das war natürlich auch mein erster Gedanke: Lustig, wie wenig sich Argumente und Bilder in 90 Jahren geändert haben. Damit will ich der Autobahndirektion Nordbayern und den ganzen Menschen, die an dem Ding gearbeitet haben, kein faschistisches Gedankengut unterstellen, aber die Ähnlichkeit zu Texten zum Bau der Reichsautobahn ist schon frappierend. (Edit 30.11., weil hier gerade viele Menschen vorbeischauen, die dieses Blog nicht seit drei Jahren lesen: Ich wurde vor Kurzem mit einer Arbeit über den Maler Carl Theodor Protzen (1887–1956) promoviert, der zwischen 1936 und 1940 29 Gemälde der Reichsautobahn malte. Die Dissertation ist noch unveröffentlicht.)
Gleich in der Einleitung verbietet sich Minister Scheuer jede Kritik an diesem Ausbau: „Denn Wege sind Voraussetzung dafür, dass wir vorankommen. Und das wiederum ist Voraussetzung dafür, dass Wirtschaft und Wohlstand wachsen können. Wer das nicht wahrhaben will und stattdessen ein Moratorium für den Bau von Autobahnen fordert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er wirklich noch nah genug dran ist an den Menschen in unserem Land – mit all ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen.” Markus Söder begann seinen Text so: „Die A3 ist die fränkische Leidensstrecke – und sollte doch eigentlich die Lebensader sein, die ganz Franken verbindet.“ Das Wort Lebens- oder Verkehrsader wird auch von fast allen anderen Politiker:innen verwendet, die sich in der Beilage zitieren ließen. Das erinnerte mich beides unangenehm an einen Text von Otto Reismann, Pressereferent von Fritz Todt, dem Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, der 1937 schrieb: „Auch in der West-Ost-Richtung folgen die Autobahnen traditionsreichen Verbindungen. Es sind die gleichen Wege, auf denen die politische und kulturelle Eroberung des deutschen Ostens erfolgte, die Wege aber auch, die Osteuropa und Westeuropa verknüpfen. Reichsautobahnen sind die Pioniere neuer Siedlungen. Sie öffnen der volklichen Durchblutung in menschenarmen Gegenden und Grenzgebieten bessere Möglichkeiten, sie sichern und wahren so den Besitzstand.“[1]
In einer weiteren Einleitung schreibt der Journalist Bernhard Heck von „23 Großbrücken und zwei Tunnelabschnitte[n]“, die entstehen. Zur Reichsautobahn gehörten bis 1941 ca. 9000 Brücken, drei Prozent davon waren die Großbrücken, die meist in Gemälden festgehalten wurden; sie waren damals schon beeindruckende Aushängeschilder – und scheinen es auch heute noch zu sein.
Laut Heck wurde eine „Trasse geschaffen, die in Ausführung und Eleganz in Deutschland ihresgleichen sucht.“ Etwas weiter im Text: „Dabei sind Brücken nicht nur Ingenieurbauwerke, sondern werden so geplant und ausgeführt, dass sie hervorragende ästhetische Eigenschaften besitzen und somit eine Bereicherung der ursprünglichen Landschaft, eines Tales oder eines Flusses darstellen.“ Gerade diese angebliche Bereicherung der Landschaft war auch für die Nationalsozialisten ein wichtiges Thema; die Reichsautobahnen sollten die deutschen Gaue nicht auf möglichst schnellen, sondern auf landschaftlich reizvollen Wegen verbinden. (Im Gegensatz zu den italienischen Schnellstraßen, die kurz vorher entstanden. Dort orientierten sich die Wegführungen, wie die Schiene, am einfachsten und kürzesten Weg.) Landschaftsanwalt Alwin Seifert schrieb 1936: „Für uns ist der Straße übergeordnet die deutsche Landschaft. Wenn alles Leben auf dieser Erde nur auf der Grundlage einer unzerstörten Harmonie des Naturganzen Dauer haben kann, so hängt Verstand und Echtheit des deutschen Volkes davon ab, daß sein Lebensraum, seine Landschaften in jener kraftvollen Gesundheit und inneren Ausgeglichenheit erhalten bleiben.“ Seifert ging es aber nicht nur um die Schönheit und Geschlossenheit eines Naturraums, sondern vor allem um den Wunsch, eben diesen zu verteidigen. Damit zog Seifert eine direkte Linie vom Straßenbau bzw. der Heimat zu kriegerischen Handlungen: „In einem von rücksichtslos geführten Verkehrswegen zerschlitzten, von Leitungen aller Art verdrahteten und seiner wilden Räume und Gebüsche beraubten Land wird der Einzelne wohl noch seine Brotstelle, auf Dauer aber nicht mehr ein geliebtes Vaterland verteidigen.“[2]
Auch zur Bauzeit bzw. den Kompromissen, die beim Bau gemacht werden, schreibt Heck kurz: „Kann Deutschland noch Großprojekte? Ja, es kann, wenn die Faktoren nicht im Klein-Klein ersticken.“ Damit wiederholt er, hoffentlich unwissentlich, genau die Argumente des NS-Staats. Straßenbau war in der Weimarer Republik Ländersache. Solange die Nationalsozialisten im Reichstag in der Opposition waren, stimmten sie gegen das Projekt Autobahn, zuletzt Anfang 1931. Auch in den Arbeits- und Wirtschaftprogrammen der NSDAP von 1932 fand sich noch kein Hinweis auf den Autobahnbau. Mit der Machtübergabe nutzten die Nationalsozialisten dann die Pläne der HaFraBa – und deuteten sie in ihrem Sinne um. Die größtenteils privatwirtschaftlichen Initiativen der HaFraBa, ihre Pläne sowie ihre Finanzierungsvorschläge konnten in der Weimarer Republik aus politischen und ökonomischen Gründen nicht erfolgreich sein. Erst ein zentralistischer, totalitärer Staat, der sowohl die Organisation als auch die Finanzierung übernahm, war nun in der Lage, ein derartig umfangreiches Projekt in relativ kurzer Zeit umzusetzen. Diese Assoziation wollte auch Hitler in seiner Rede zum ersten Spatenstich erwecken, indem er sagte: „Und ehe wieder Jahre vergehen, soll ein Riesenwerk zeugen von unserem Dienst, unserem Fleiß, unserer Fähigkeit und unserer Entschlußkraft.“ [3]
Was mich außerdem amüsiert hat, waren die vielen Anzeigen der am Bau beteiligten Firmen, die sich in Textbausteinen und Bildauffassungen nicht sehr von den Anzeigen der Firmen der Reichsautobahnen unterschieden, die zum Beispiel in Die Straße in jedem Heft inserierten. (Ein, zwei Beispiele. Auch für die Landschaftseinbindung.) Auch die öffentlichen Inszenierungen, die einen Spatenstich oder die Eröffnung eines Teilabschnitts begleiten, finden sich bei den Reichsautobahnen genauso wieder. Alleine 1938 wurden 42 Teilabschnitte eröffnet,[4] immer mit Pomp and Circumstances, was zur Bekanntmachung des Bauwerks vermutlich deutlich mehr beigetragen hat als gerade 44 Werke zu diesem Thema auf den Großen Deutschen Kunstausstellungen.
In der Beilage findet sich die Überschrift „Ingenieur*innen am Puls beim Bau AK Fürth/Erlangen“. Ich ignoriere mal das schiefe Bild mit dem Puls am Bau, aber immerhin: Anscheinend gibt es heute Frauen, die irgendwas mit der Autobahn zu tun haben, unglaublich. Die Welt der Reichsautobahn war eine eindeutige Männerwelt; selbst zuarbeitende Menschen wie Köche in den Arbeiterlagern entlang der Strecke waren, soweit ich Quellen und Bildmaterial kenne, immer Männer.
Die letzte Seite der 32 wagt dann einen Blick zurück: „Knapp 100 Jahre deutsche Autobahnen im stetigen Wandel“. In einer meiner Meinung nach äußerst unangemessenen Verkürzung heißt es: „Willy Hof gründete 1926 den “Verein zur Vorbereitung einer Autostraße Hansestädte–Frankfurt am Main–Basel” (HAFRABA) und besuchte 1933 zweimal die damaligen Machthaber in Berlin und unterbreitete dort die Planungen seiner Gesellschaft. Tatsächlich hatte die Reichsführung und seine Berater den hohen Wert der HAFRABA-Arbeiten für ihre Zwecke erkannt denn am 1. Mai 1933 verkündete man in Berlin offiziell den Bau eines Straßennetzes, das nur dem Automobilverkehr vorbehalten sein sollte.“ Hübsch euphemistisch einen Namen vermieden und grammatikalisch auch leicht daneben: „die Reichsführung und seine Berater“. Die beginnenden Bauarbeiten werden erwähnt und dann, huch, ist alles vorbei, und es werden „Kriegswirren und Aufbaujahre“ erwähnt. Eine historische Einordnung sieht anders aus. Immerhin wird bei einem Bild die Wikipedia als Quelle angegeben. Ich rate mal, woher der Rest kommt.
Falls euch das Thema etwas ausführlicher interessiert, hätte ich hier ein 20-seitiges PDF: das Autobahnkapitel aus meiner Diss. Jetzt wo das Ding durch ist und ich nicht mehr die Plagiatssoftware des Prüfungsamts fürchten muss, kann ich entspannt einen Abschnitt online stellen. Nennen wir es einen Vorgeschmack auf die Druckfassung. Ihr findet darin einen kurzen Abriss zur Baugeschichte sowie jeweils einen Abschnitt zur ideologischen Überhöhung der RAB und der RAB als Motiv für Gemälde. Enjoy.
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[1] Reismann, Otto: Deutschlands Autobahnen, Adolf Hitlers Straßen, Bayreuth 1937, S. 12.
[2] Beide Zitate Seifert, Alwin: „Natur, Technik und der deutsche Straßenbau“, in: Süddeutsche Monatshefte 10 (1936), S. 604–610, hier S. 607 bzw. 608.
[3] Reismann 1937, S. 3.
[4] Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941, Berlin 1996, S. 59.
Tagebuch Montag/Dienstag, 23./24. November 2020 – Toll und traurig
Das Gutachten zur Dissertation ist jetzt auch von meinem Doktorvater angekommen. Nach der Note der Zweitprüferin konnte ich auch von ihm erfreut eine 1,0 entgegennehmen, auf die ich mir durchaus etwas einbilde.
Ich erwähnte im Blogeintrag zur Verteidigung, dass ich das Gefühl gehabt hätte, bei einer Antwort nochmal nachjustieren zu müssen, weil die Frage nicht nur beim Doktorandenkolloquium, sondern eben auch bei der Verteidigung kam: Sollte man einen Künstler, der sich in den Dienst des NS-Systems gestellt hat, genauso aufarbeiten wie jeden anderen? Meine Antwort war ja, solange der Kontext stets deutlich gemacht wird. Im Gegensatz zur Zweitprüferin scheint mein Doktorvater mit mir übereinzustimmen, weswegen ich nun ahne, dass er mir die Frage erneut stellte, damit auch die anderen Prüfer:innen die Antwort hören. Ich zitiere aus dem Gutachten: „Grundsätzlich kann die Arbeitsperspektive der Verf. durch Ernstnehmen charakterisiert werden; diese banale Selbstverständlichkeit ist deshalb der Erwähnung wert, weil das Oeuvre von Protzen – anders als bei Leonardo, Picasso oder Klee – eben nicht einmal ansatz- oder umrissweise als gesichert gelten kann. Das künstlerische Werk muss zunächst in extenso konfiguriert werden, in Entwicklung, Umfang und Dichte.“ Ebent. Danke.
Mein Bildfund, über den ich mich sehr gefreut habe und über den ich leider noch großflächig schweigen muss/will bis zur Veröffentlichung, wurde als „spektakulär“ bezeichnet, und die innere Kommafee errötete zufrieden bei den Sätzen „In formaler Hinsicht ist die Arbeit exzellent. Die Zahl der Tippfehler ist definitiv einstellig. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind makellos. Die Studie ist ausgesprochen sorgfältig.“ Eine Million Korrekturgänge haben sich gelohnt!
Auch hier war natürlich Kritik zu lesen, die ich aber ebenso nachvollziehen kann wie die im anderen Gutachten. Ich freue mich auf die Überarbeitung.
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Aber erstmal ist die alte Heimat wieder sehr aktuell. Aus Gründen, wie es so schön heißt, habe ich mich Sonntag in einen Zug gesetzt. Väterchen baut leider sehr ab, findet Worte nicht, kann sich nicht mitteilen, es ist, als ob die Systeme teilweise langsam runterfahren. Daher kann ich meinen neuen Titel gerade nicht ganz so genießen wie ich gerne möchte, aber, unglaublich, es gibt Wichtigeres.
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Ich durfte wieder das schicke Auto der Eltern fahren und vor allem mal schneller als 30. Jetzt weiß ich auch, wie sich eine automatische Lenkkorrektur anfühlt; verdammtes modernes Zeug! Wenn ich zu weit rechts fahren will, dann will ich zu weit rechts fahren! (Ich scherze.) Und: Ich durfte nach 30 Jahren wieder erfahren, im wahrsten Sinne des Wortes, was es heißt, auf den Land zu wohnen: Man hängt ewig hinter Treckern.
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Papa ist eingeschlafen, während ich ihm die Haare schnitt. Falls das mit der Wissenschaft nichts wird, eröffne ich einen Salon: „Kein Gequatsche, nur Geschnippel.“ Ich sehe eine Marktlücke.
Tagebuch Sonntag, 22. November 2020 – Doch noch ein Doktorhut
Meine Schwester hat mir einen gebastelt. Oder eher: dem nächsten Lindt-Schokobär, den ich nicht essen kann.
Für die Notizen: Den gestrigen Zug von München nach Hannover buchte ich erst am Samstag. Ich konnte noch relativ viele Plätze anwählen (1. Klasse), beim Einsteigen sah ich, dass geschätzt ein Viertel der Plätze reserviert war. Losgefahren sind wir dann mit drei Leuten im Großraumwagen, bis Hannover waren es, wenn ich richtig gezählt habe, nie mehr als acht. Ich trug zum ersten Mal eine FFP2-Maske und fand es absolut erträglich. Oder besser: Schade, dass ich nicht dauernd snacken kann, aber wenn man nur rumsitzt und liest und Podcasts hört, stört die Maske quasi null.
Was schön war, Donnerstag, 19. November 2020 – Erfolgreich verteidigt, Pizza und Champagner (Und dann noch einen) ((Ach, weil’s grad so nett ist))
Die Mail vom Doktorvater kam vorgestern abend noch: Bitte um 9.45 Uhr zur lauschigen Zoom-Konferenz einwählen, damit wir notfalls noch an der Technik rumzuppeln und dann um 10 starten können. Sine tempore! Das dürfte der einzige Termin in acht Jahren Uni sein, der nicht c. t. losging. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.
Ich war seit fünf Uhr wach, keine Ahnung, warum, haha, kochte Kaffee, verbrachte nutzlos viel Zeit im Bad, warf mich in anständige Klamotten anstatt der üblichen Leggings und bestaunte mein sehr leergeräumtes Arbeitszimmer. Die Uni hatte mir mitgeteilt, dass man bei Zoom-Konferenzen erstmal seinen Ausweis in die Kamera halten müsse, man weiß ja nie, wer da einen Doktortitel haben will, und dann sollte man der Kommission einen 360-Grad-Rundumblick seiner Umgebung gönnen, damit da niemand unter dem Schreibtisch hockt, der mir Spickzettel zusteckt. Glaube ich jedenfalls, dass das der Grund ist, mir fällt sonst keiner ein außer alle Uni-Menschen gucken sich wie ich gerne fremde Wohnungen an, aber dafür gibt es ja Instagram.
Ich hatte vorgestern also brav nicht nur in allen Ecken staubgesaugt und -gewischt, sondern auch die Yogamatte ins Schlafzimmer getragen, die plüschigen Simpsons-Schuhe nach nebenan gebracht, das Stofftier vom Sofa genommen und, vermutlich in einer irren Übersprungshandlung, das deutlich am Rücken zu erkennende Buch des Drittprüfers hinter mir aus dem Regal gezogen und es in meine Nicht-Arbeits-Bibliothek nebenan gebracht, damit nicht der Eindruck einstehen könnte, ich würde mich irgendwie einschleimen wollen.
Donnerstag morgen tigerte ich dann sinnlos in der Gegend rum, ging nochmal meine Karteikarten durch, schlug noch eine Sache in der Diss nach, die mir im Bad eingefallen war, und natürlich kam quasi nichts von dem dran, was ich gelernt hatte. Fast nichts, ein paar Statistiken und Fun Facts konnte ich unterbringen, aber vermutlich dienten diese Karten eh nur dazu, meine eigene Nervosität zu bekämpfen. Ich habe noch nie eine Dissertation verteidigt, ich wusste schlicht nicht, was auf mich zukommt.
Um 9.44 Uhr saß ich aufgehübscht am Rechner, LMU-Studiausweis und Perso neben mir, ich hatte gerade noch das Post-it auf dem Schreibtisch befolgt – „Handy in Flugmodus, alle Programme außer Mail aus“ und das dann bei beginnender Prüfung auch, weil Mails bei mir sichtbar auf dem Bildschirm aufploppen und ich nicht wollte, dass bei freigegebenem Bildschirm blöder Spam auftauchte, den mein Filter nicht erwischt hatte. Vergaß ich natürlich, aber so sah ich immerhin mitten in der Prüfung (ohne freigegebenen Bildschirm) eine freundliche PayPal-Spende, dankeschön!
Ich loggte mich um 9.46 ein, man will ja nicht übereifrig erscheinen, Papi war schon da, der Rest ließ sich noch etwas Zeit, was meinem Doktorvater die Gelegenheit gab, mir noch einen Tipp mitzugeben. Seine Doktormutter hätte ihm nach der Prüfung gesagt, er habe wie ein Tagesschausprecher gewirkt – ich könne ruhig so locker sprechen wie immer. Gut, dass ich das nur halb beherzigt habe, denn auch durch das Blog habe ich mir in den letzten Jahren einen gewissen Plauderton angewöhnt, wenn es um schlimme Nazikunst geht. Dem versuchte ich bewusst in den letzten Tagen gegenzusteuern und redete selbst mit mir, als ob ich vor einem Uni-Seminar stände und ich meine, das war eine gute Idee. Ein paar Flapsismen sind mir durchgerutscht, aber das schien die Note nicht beeinträchtigt zu haben.
Wir warteten zu fünft (drei Prüfer:innen, die Protokollantin, icke), bis es Punkt 10 war, dann sollte ich mit meinem Vortrag anfangen. Ich fragte, ob ich nicht noch den Ausweis zeigen und den Schwenk machen … aber alle winkten nur amüsiert ab, nee, Quatsch, geht los jetzt. UMSONST STAUBGEWISCHT!
Ich überzog meine 15 Minuten etwas, was aber auch daran lag, dass sich das Internet bei einem Prüfer verabschiedete und dann auch kurz bei mir, supi, war aber alles kein Beinbruch. Generell war es eine äußerst entspannte Geprächssituation, aber ein paar Fragen brachte mich dann doch ins Schwitzen. Schon beim Doktorandenkolloquium wurde ich gefragt, ob man einen Künstler, der sich in den Dienst des NS-Systems gestellt hätte, genauso wissenschaftlich aufarbeiten sollte, dürfte, müsste wie jeden anderen. Vor vier Wochen bejahte ich das, aber als die Frage gestern noch einmal kam, ahnte ich, dass es noch eine andere Antwortmöglichkeit geben müsste, die mir blöderweise nicht einfiel. Ich begründete meine Antwort damit, dass die Damen und Herren auf der GDK größtenteils ausgebildete Künstler:innen gewesen seien (auch Protzen hat hier in München studiert), die Werke wurden als Kunst produziert und als Kunst gehandelt – dass Teile meines Fachs sie als „Unkunst“ bezeichnen, zum Beispiel Max Imdahl, halte ich für falsch. Dementsprechend würde ich auch die Handelnden nicht anders aufarbeiten als Künstler:innen aus anderen Epochen. Es muss allerdings immer der Kontext gegeben werden, in dem ihre Werke entstanden; deswegen sind die Werke zur Reichsautobahn auch keine Industrieabbildung oder eine Landschaftsdarstellung, sondern Teil einer politischen Inszenierung. Aber da die Frage bereits zum zweiten Mal kam, werde ich über diese Aussage bis zur Drucklegung der Diss noch weiter nachdenken.
Auch andere Fragen ließen mich ahnen, an welchen Stellen ich noch nacharbeiten muss – oder sollte: Ich kann das Ding jetzt sofort auf den Uniserver stellen und dann darf ich mich „Doktor“ nennen, ich nehme die Pointe des Eintrags mal total vorweg. Ich kann das ganze aber auch noch überarbeiten und erst dann veröffentlichen, bis dahin darf ich mich laut meiner Prüfungsordnung Dr. des. nennen. (Ich habe gerade aus dem verlinkten Artikel gelernt, dass die weibliche Form dieses Titels „Doctrix designata“ lautet, was für mich wie eine finnische Heavy-Metal-Band klingt and I think that’s beautiful.)
Mein Vortrag war übrigens abgelesen. Acht Uni-Jahre lang habe ich immer bequengelt, wenn Leute vorlesen und nicht frei sprechen, aber ich wollte meine Punkte exakt und sauber rüberbringen und das ging am besten mit Ablesen. Ich ahne, dass ich so sogar langsamer spreche als normal, was nie ein Fehler ist.
Weitere Fragen bezogen sich auf meine inhaltliche Anordnung – ob ich auch über eine andere als über die chronologische nachgedacht hatte? (Ja, sogar ausprobiert.) Es wurde nach einer speziellen Einordnung gefragt, über die ich lustigerweise gerade einen Abstract für einen Vortrag geschrieben hatte, das schien also eine gute Idee gewesen zu sein. Es ging um bildwissenschaftliche Fragen, bei denen ich immer glaube, keine Ahnung zu haben, weil ich mich eher als Kunst*historikerin* sehe anstatt als Bildwissenschaftlerin. Generell gaben mir die Fragen eine Ahnung davon, was der Arbeit gefehlt hatte bzw. welche Gedanken sie noch besser machen könnten, was ich sehr hilfreich fand. Auch wenn ich mir innerlich ständig an die Stirn schlug, so nach dem Motto „Da hättest du auch selbst drauf kommen können.“
Natürlich hatte ich die 45 Minuten nach dem Vortrag das Gefühl, nur Quatsch zu reden, aber es schien okay gewesen zu sein. Nach gut einer Stunde wurde ich per Zoom in den Warteraum geschubst, saß sinnlos vor dem Rechner, wagte es nicht, aufs Klo zu gehen und wurde schließlich nach 15 Minuten wieder reingebeten. „Frau Gröner, die gute Nachricht vorneweg: Sie haben bestanden.“ Ich machte anscheinend ein Idiotengesicht, alle freuten sich mit mir. „Die Diss haben wir mit magna cum laude bewertet, die Verteidigung ebenso, daher ergibt sich eine Gesamtnote von … “ Schon klar, aber schön, es zu hören. Ich machte weiter mein Idiotengesicht, bemühte mich, total professionell nicht zu heulen, weil dann doch arg viel Spannung abfiel, es ging noch um ein paar Formalitäten und dann war ich Doktor (des.).
Normalerweise hätte ich dann den Raum in der Uni oder im Zentralinstitut für Kunstgeschichte verlassen, F. und vielleicht noch ein paar andere Menschen hätten draußen auf mich gewartet, möglicherweise mit Sekt und einem gebastelten Doktorhut, aber das fiel gestern leider alles aus. Ich klappte den Rechner zu und guckte, wie ich mich so als Doktor fühlte und dann fing ich endlich an zu heulen.
Nachdem die Tränen getrocknet waren, wurde das Mütterchen angerufen, dann bekam F. eine DM, wir verabredeten, wann er rumkommen sollte, danach empfingen die beiden Hamburger Damen gleichzeitig eine WhatsApp mit dem Doktorhut-Emoji, woraufhin ich mit gifs überschüttet wurde, anschließend bekam Schwesterherz eine WhatsApp und dann twitterte ich.
Und dann stand ich weiter sinnlos im Arbeitszimmer rum und wusste nichts mit mir anzufangen. Das war doch ein arg antiklimaktisches (vorläufiges) Ende von drei Jahren Promotion. Ich schlüpfte in die Bequemklamotten, aber das kam mir sofort falsch vor, also zog ich das Verteidigungs-Outfit wieder an und behielt es auch bis nach der letzten Flasche Champagner an, wie sich das am Tag der Disputation gehört.
Dann öffneten wir die erste von drei Flaschen Champagner bzw. Schaumwein und ließen es uns gutgehen. Mittendrin trudelte das Gutachten der Zweitprüferin ein, das mich sehr freute und an dem ich auch sehen konnte, wo meine eigenen Zweifel an der Arbeit (leider) berechtigt gewesen waren. Sehr gute Denkanstöße, die ich vermutlich alle umsetzen werde. Außerdem stand da auch die Note von 1,0 für die Diss, was mich außerordentlich freute. (Gutachten von Vati ist noch nicht da.) Edit: Auch vom Doktorvater gab’s eine 1,0, auf die ich mir durchaus etwas einbilde.
Irgendwann wurde Pizza bestellt, ich sah die vielen, vielen Glückwünsche auf Twitter (DANKESCHÖN!) und begann mich so langsam zu freuen. Das fehlte nämlich irgendwie, ich war so angespannt, dass ich mich erst allmählich an den Titel gewöhnte. Seit Jahren hatte ich ihn haben wollen und jetzt, wo er quasi da ist, war es eher so „Okay then. Next!“
Da wir bereits um 13 Uhr mit dem lustigen Trinken begonnen hatten, lagen wir um 22 Uhr äußerst erschöpft im Bett. Eine Reservierung im Lieblingsrestaurant zum Feiern war, genau wie die Prüfung vor Ort an der Uni, aus bekannten Gründen nicht möglich, aber das holen wir heute so halbwegs nach: Das Broeding bietet Menüs to go an, die F. uns heute abend anschleppen wird.
2020 mag ein richtiges Scheißjahr sein, aber es ist jetzt auch das, in dem ich meinen Doktortitel bekam. Frau Dr. des. ruht sich nun erstmal ein paar Tage aus.
Tagebuch Donnerstag/Freitag, 12./13. November 2020 – Lesen, schwitzen, lesen und ein kleiner Schokobär
Donnerstag wühlte ich mich durch die längsten Kapitel meiner Diss, notierte lauter schicke Dinge und wurde wieder etwas besser gelaunt, weil die Arbeit stimmiger wurde und mir weitaus weniger Fehler oder Ungenauigkeiten auffielen.
Nach neun Stunden am Schreibtisch (minus einer Mittagspause mit Brokkoli im Backteig) wollte ich, für mich sehr ungewohnt, nicht aufs Sofa, sondern mich dringend bewegen. Im Programm war erneut Shotokan vorgesehen, also das weniger schweißtreibende, wenn auch angenehme Halten von Positionen. Das erledigte ich brav und konzentriert und klickte dann irgendein neues Workout an, das nach Cardio und Schweiß aussah. Das war es dann auch, ich schwitzte nach dieser halben Stunde an Stellen, an denen ich noch nie geschwitzt hatte. Die hyperaktive Trainerin hatte ihren Ehemann dabei, der alles mitturnte und netterweise danach genauso fertig aussah wie ich. Ich sehe das gern, dass austrainierte, schlanke Menschen genauso schwitzen wie ich.
Die einfache Methode dieser Einheit: Wir machen eine Übung eine Minute lang, dann kurz Pause, dann dieselbe Übung nochmal und ohne Pause eine weitere hintendran, dann Pause, dann alles von vorne und noch eine dritte Übung hinterher und so weiter. Das waren insgesamt fünf Übungen, also eigentlich nur fünfzehn Minuten richtige Arbeit, aber die reichten dann auch. Eine der Übungen war, schnell auf der Stelle zu joggen (eigentlich auf der Stelle zu hüpfen, aber das kann ich mit meinem Matschfuß nicht) und dabei in ordentlichem Tempo mit beiden Armen nach vorne zu boxen. Die fitte Animierdame musste sich also fünfmal Dinge überlegen, die sie dir zur Anfeuerung durch den Rechner ruft, und sie begann mit dem üblichen „mal alle Agressionen rauslassen“ und ähnlichem, was mich eher nervt, denn ich will ja gar keine Aggressionen abbauen, sondern gut gelaunt schwitzen. Irgendwann schwenkte sie um auf „Stellt euch vor, vor euch hängt eine Piñata, die ihr zertrümmern müsst“ und das fand ich gut. Schon taten die Ärmchen nicht mehr weh.
Geschlafen wie ein Stein. Ein zufriedener, durchgeschwitzter Stein.
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Gestern radelte ich morgens mal wieder ins ZI. Im Laufe des Neu-Lesens kamen mir doch noch ein paar Fragen, von denen einige möglicherweise auch nächste Woche an mich gerichtet werden könnten, weswegen ich noch ein bisschen Literatur auffrischen wollte. Ich zog die üblichen Kataloge und Tagungsbände aus den Regalen, las und las und las und merkte irgendwann, dass ich bei den meisten Texten innerlich dauernd dachte „weiß ich, weiß ich, weiß ich auch“. Das war ziemlich schön zu merken, dass man anscheinend doch was gelernt hat bei diesem Studierendingsda.
Die meisten Bibliotheken schließen, soweit ich das sehe, nicht mehr über die Mittagszeit, Schmierinfektionen scheinen also eher kein Thema mehr zu sein, so dass man durcharbeiten kann. Das ZI nicht, da ist um 13 Uhr Schluss, aber so lange brauchte ich eh nicht für meinen Stapel.
Ich holte mir ein schönes Päckchen aus der Packstation, danke, Rowohlt! und freue mich sehr auf Lesen. Rezension gefällig?
Gestern guckte ich nur kurz rein und weiß jetzt, dass Wagner an seinem Todestag einen rosafarbenen Morgenrock trug. Das bringe ich in der nächsten „Wagner und die maskulinen Hypernazis“-Diskussion sofort an.
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Abends war Date Night. Seit dem neuerlichen Runterfahren des öffentlichen Lebens halten auch F. und ich wieder mehr Abstand und treffen uns meist nur einmal die Woche und zwar Freitagabend zur Date Night. Ich koche, der Herr bringt Wein und es wird meist lang und schön.
Gestern brachte der Herr noch einen kleinen Lindt-Schokoteddy mit, der mich verzweifeln ließ, weil ich schon einen großen Lindt-Schokoteddy vom letzten Jahr hier rumstehen habe, den ich partout nicht essen kann.
„Ich dachte, den kannst du nicht essen, weil du den Pulli so schön findest? Der kleine hat nämlich keinen.“
„Ich kann den nicht essen, weil er ein Teddybär ist. Jetzt kann ich ZWEI nicht essen!“
Gut, dass der Mann mir noch eine von diesen kleinen Eulen mitbrachte, die kann ich prima essen.
Tagebuch Mittwoch, 4. November 2020 – Unkonzentriert und nölig, aber mit Milchreis
Nach nur gut dreieinhalb Stunden Schlaf war ich wieder wach, also wach in Anführungszeichen, kochte die übliche Kanne Tee (letzte Grünpack-Packung angebrochen, muss wieder nachordern) und setzte mich an den Schreibtisch.
Ich las den ganzen Tag in einer anderen Dissertation bzw. in der üblichen Sekundärliteratur, was mich gerne an meinen eigenen Fähigkeiten zweifeln lässt, weil andere viel schlauer sind. Dr. F. so per DM: „Lässt das Imposter Syndrome nach einer erfolgreichen Verteidigung nach?“ Ich so: „Keine Ahnung, sag du’s mir.“
Ich bejammerte mal wieder die möglicherweise fehlende Theorie in meiner Diss. Ich erwähnte es vermutlich schon mal, aber je länger ich mich mit Kunstgeschichte beschäftige, desto mehr erkenne ich, dass ich mich eher als Historikerin denn als Kunstwissenschaftlerin sehe. Das ganze theoretische Geblubber, das auch gerne in musealen Wandtexten zu finden ist, geht mir des Öfteren sehr auf die Nerven. Ich arbeite zehnmal lieber in Archiven mit Originalquellen als mit den bedeutungsschwangeren Sekundärtexten. Gerade bei der Auseinandersetzung mit NS-Kunstwerken geht es – meiner Forschungsmeinung nach – grundsätzlich um eine eher persönliche Deutungshoheit, indem man eine Autobahnbrücke entweder als bedrohlich, beeindruckend oder langweilig beschreibt. Je nach eigener Auslegung des Begriffs „Kunst“, über den Enzyklopädien geschrieben wurden, kann man den Werken, die zwischen 1933 und 1945 an Museumswänden gehangen haben, jede gewünschte Bedeutung einschreiben oder genau diese verneinen. Vermutlich klingt meine Diss an manchen Stellen ähnlich bockig wie dieser Blogeintrag.
Auch deshalb fand ich das Doktorandenkolloquium so nett, weil man mal nicht darüber diskutieren muss, ob das, womit wir uns beschäftigen, nun Kunst ist. Größtenteils keine besonders gute Kunst, aber halt Kunst. Was mir auch geholfen hat, waren die vielen Fragen, die an die Vortragenden, auch an mich, gerichtet wurden. Für meine Verteidigung versuche ich natürlich schon im Vorfeld zu überlegen, wo Nachfragen kommen könnten, und ich fand es sehr überraschend, auf was ich im Kolloquium antworten musste. Alles, was ich mir vorher überlegt hatte, war egal, es kamen ganz andere Fragen. Die haben mich immerhin auf ein paar Ideen für die Verteidigung gebracht.
Das Lernen für die Disputation ist ungewohnt, weil ich größtenteils meinen eigenen Kram auswendig lerne. Ich habe ein miserables Namensgedächtnis, immer, wenn ich Maler oder Malerinnen der GDK erwähne, blubbere ich was von „der Maler dieses dreiteiligen Werks mit Bauer, Soldat und Arbeiter“ anstatt Hans Schmitz-Wiedenbrück zu sagen, weil mir der Name halt nie einfällt. (Indem ich ihn aufschreibe, merke ich ihn mir vielleicht endlich mal.) Die Maler, die ich etwas länger in der Diss erwähne, habe ich drauf, alle Maler*innen und ihre Werke aus meinen knapp 1900 Fußnoten muss ich auswendig lernen. Was gestern etwas schwer fiel, weil ich einen Hauch müde und unkonzentriert war.
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Zum Mittag Kartoffelbrot mit den üblichen Belägen (Senf, Salat, Gurke, Käse, dieses Mal noch Fenchelsalami), dazu eine Runde Gemüse zum Wegknabbern und eine der letzten Folgen Gilmore Girls. Ist der Re-Watch auch wieder durch.
Abends war ich kurz davor, noch was zu backen, weil ich was Nettes machen wollte, als mir Herr Hirngabel seinen Milchreis in die Timeline spülte. Milchreis! Eine völlig unterschätzte und glücklich machende Köstlichkeit. Gleich angesetzt, und während er vor sich hinblubberte, rührte ich schnell noch Florentiner zusammen, für die ich überraschenderweise alles im Haus hatte (eine Zitrone statt einer Orange reingerieben). Damit ging der Tag wenigstens entspannt und satt zuende UND ich habe heute Kekse zum Frühstück.
Gegen eins vor CNN weggedöst, was anscheinend gut war, die US-Wahl ist auch heute noch nicht durch.
Tagebuch Dienstag, 3. November 2020 – Eine von fünfzehn
Schreibtischtag, ich bastele weiter an der Verteidigung meiner Diss. Gestern sah ich auf der Uni-Website endlich die Kandidat:innen und ihre Themen, die in unserer Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften an diesem, meinem, Termin verteidigen. Uns standen drei Termine für 2020 zur Auswahl, zwei sind schon vorbei, der dritte ist jetzt im November. Im letzten Termin verteidigten gerade zwei Doktorand:innen, dieses Mal stehen 15 Namen online, und einer davon ist meiner. Ein kleiner stolzer Moment.
Alle Verteidigungen finden per Zoom statt. Wir hätten die Möglichkeit gehabt, auch in den Räumen der Uni, des Zentralinstituts für Kunstgeschichte oder des Instituts für Zeitgeschichte zu sprechen, aber dafür hätten Hygienekonzepte entwickelt werden müssen, wofür vermutlich niemand von uns so recht einen Kopf hat, ich jedenfalls nicht.
Leider habe ich zu spät auf die Seite geschaut: Der erste mögliche Disputationstermin wäre der 2. November gewesen und den hatten sich auch gleich einige gesichert. Vor meiner eigenen würde ich mir gerne eine andere Verteidigung anschauen, und ausgerechnet gestern wäre eine gewesen, die mich thematisch interessiert hätte. Die nächste ist erst einen Tag vor meiner eigenen, aber dann nehme ich die halt mit. Vermutlich ist es egal, ich werde eh nervös sein.
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Mittags mal wieder Ottolenghis scharfen Tofu zubereitet, und weil ich mich allmählich an scharf rangegessen habe, war er auch erstmals scharf und nicht nur so latent würzig.
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Abends döste ich gerne vor Netflix weg, denn ich hatte mich auf eine lange Nacht eingestellt. Ab 1 Uhr lief CNN und ich klickte abwechselnd bei der NY Times und dem New Yorker rum, aber gegen 3 war ich doch zu müde und ehrlich gesagt ein bisschen mutloser geworden. Ich hatte auf ein deutlicheres Ergebnis für Florida gehofft und auf überhaupt irgendeins für Georgia. Momentan (9.50 Uhr am Mittwochmorgen) gehört Florida Trump und auch Georgia neigt sich sehr in seine Richtung. Überhaupt neigt sich viel zu viel für meinen Geschmack in seine Richtung, obwohl ich natürlich auch weiß, dass die Briefwahlstimmen teilweise noch ausgezählt werden, es ist noch nichts entschieden, ja, schon gut. Aber: Die letzten vier Jahre Trump waren für viele Menschen offensichtlich kein Grund, ihm ihre Stimme zu verweigern; stattdessen haben sich sogar noch mehr für ihn entschieden: 2016 lag er bei knapp 63 Millionen Stimmen, jetzt, noch vor dem Abschluss des Zählvorgangs, sind es bereits über 65 Millionen für ihn. What the hell? (Clinton 2016 knapp 66 Mio, Biden derzeit knapp 67.)
Ich kann es schlicht nicht mehr nachvollziehen. Wo ich mich 2016 zähneknirschend damit abgefunden hatte, dass Clinton anscheinend deutlich unbeliebter war als ich dachte, und ich den Trump-Wähler:innen zugestanden habe, einfach mal ein bisschen zündeln zu wollen, um zu gucken, was passiert, fällt mir jetzt wirklich kein Grund mehr ein. Außer: Sie wollen wirklich alles brennen sehen, weil’s bisher ja so schön gebrannt hat. So wie ich damit klarkommen muss, dass hierzulande Menschen die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer extremistischen Positionen wählen, was mir auch schlicht nicht in den Kopf will.
Ich geh jetzt wieder Nazikram lesen, passt grad gut in die Zeit.
Was schön war, Freitag, 30. Oktober 2020 – Zum zweiten Mal Tantris
Nach der Abgabe der Masterarbeit vor drei Jahren gönnten F. und ich uns einen Besuch im Tantris, um dieses Ereignis gebührend zu feiern. Damals war ich von allem überfordert, gleichzeitig schwerstens beeindruckt und meinte, dass ich erst nach der Abgabe der Dissertation dort wieder hingehen würde. Und so habe ich es auch gemacht.
Küchenchef Hans Haas geht Ende 2020 in Rente, danach wird das Haus saniert und beginnt unter einem neuen Küchenchef eine weitere Ära in seiner Geschichte. Auch das war ein Grund dafür, dort noch einmal hingehen zu wollen. Wir hatten eigentlich eine Reservierung im März zu meinem Geburtstag, weil wir ahnten, dass es zum Ende des Jahres – wenn alle nochmal bei Haas essen wollen – vielleicht schwieriger werden würde mit der Buchung. Meine Abgabe war da noch für Oktober geplant, ich wusste aber schon, dass es klappen würde mit der Einreichung, also zogen wir die Diss-Feier vor. Bis der Lockdown kam, alles schließen musste und wir die Reservierung verschoben – auf Ende Oktober, jetzt sogar perfekt nach der Abgabe, und im Oktober wäre ja möglicherweise schon das Schlimmste an der Pandemie vorbei. Nun ja.
Ich verbrachte die letzten zwei Wochen, nachdem die Infektionszahlen durch die Decke gingen, damit, jeden Tag zu gucken, wie die Ansagen für die Gastro gerade waren. Ende letzter Woche war klar, dass die Restaurants noch geöffnet blieben, die Sperrstunde aber auf 21 Uhr vorgezogen wurde, was bedeutete, dass wir uns vom geplanten 7-Gang-Menü verabschieden mussten. Es war uns aber beiden ganz recht, dass uns diese Überlegung abgenommen wurde: Wir mussten nicht mehr auf Zahlen und Zeiten gucken, sondern wussten: 18 bis 21 Uhr, vier Gänge, fertig.
Wobei ich bis gestern nachmittag noch haderte, überhaupt hingehen zu wollen. Ja, Diss-Abgabe feiern, ja, noch einmal von Haas bekocht werden, ja, schon klar. Aber: [Hier alle Gegenargumente für Restaurantbesuche einsetzen, die ich alle kenne und an die ich mich seit März halte. Ich war einmal im Broeding und ansonsten dreimal in Gaststätten, allerdings draußen, und zweimal im Biergarten.] Ich las eine Studie nach der anderen, die im Prinzip nur das aussagte, was wir vermutlich alle inzwischen verinnerlicht haben: In ungelüfteten Innenräumen ist das Infektionsrisiko höher als draußen. Das half nicht so recht weiter.
Ein Punkt in meinen Überlegungen waren die Infiziertenzahlen in München: Derzeit sind ungefähr 0,3 Prozent der Bevölkerung erkrankt. Das schien mir ein halbwegs überschaubares Risiko zu sein in einem nicht turnhallengroßen Sternerestaurant mit funktionierender Klimaanlage.
Was den Ausschlag gegeben hat, mich ohne Maske drei Stunden lang in einen Gastraum zu setzen, und das hat mich selbst überrascht, war Instagram. Erst vor wenigen Tagen, als der Lockdown beschlossene Sache war, fiel mir auf, dass viele meiner Foodies, denen ich folge, in den letzten Monaten weiter essen gegangen waren, Gerichte posteten und sich anscheinend weniger Sorgen gemacht hatten als ich. Gleichzeitig waren sie auf Twitter unterwegs, posteten Bilder von sich mit Maske, unterstützten die Ansagen der Regierungen und waren generell vernünftige Menschen. Das überzeugte mich, warum auch immer, davon, dass man möglicherweise halbwegs gefahrlos essen gehen konnte, wenn man sich die richtigen Läden dafür aussuchte. Also ging ich essen.
Wie schon beim letzten Blogeintrag stehen auch hier wieder keine Fotos der Gerichte; dieses Mal knipste ich zwar, aber ich behalte das trotzdem für mich.
Wie F. gestern schon sagte: „Man geht nur einmal das erste Mal ins Tantris“, und damit hatte er sehr recht. Ich kannte nun die Qualität der Speisen, die aufgetragen wurden, und war daher nicht mehr ganz so umgehauen wie beim ersten Mal. Was mich dieses Mal fertig gemacht hat, waren die Weine. Wir – also F., denn ich wurde großzügigerweise eingeladen – entschieden uns für die Premium-Weinbegleitung, die hier aus der Hüfte fotografiert lesbar ist. Den Preis habe ich mal abgeschnitten.
Wo ich beim ersten Besuch notiert hatte, dass ich fast beim Lammgang geheult hätte, weil er so toll gewesen war, erledigte mich dieses Mal ein Chardonnay, und ich bin nicht mal großer Chardonnay-Trinkerin. Ich hatte im letzten halben Jahr, wo ich gefühlt von allem gestresst und überfordert war und die kleinen Futterinseln, die mir andere bauen, größtenteils ausgelassen hatte wegen DER GESAMTSITUATION, anscheinend vergessen, wie glücklich mich hervorragendes Essen und noch bessere Weine machen können. Die gestrigen drei Stunden begannen für mich etwas angespannt, aber nach dem Champagner zum Reinkommen, dem Gruß aus der Küche und dem tollen ersten Gang fühlte sich alles gleichzeitig nach Urlaub und, Achtung, das böse Wort in diesem Jahr, endlich mal wieder irgendwie normal an. Bei mir lösten sich anscheinend siebzehn Blockaden gleichzeitig und so verheulte ich die konfierte Seezunge mit Blumenkohlpüree und Sepiagnocchi total, weil ich nach jedem Schluck Tränen trocken musste, mich wieder zusammenriss, einen Bissen nahm, einen Schluck trank – und wieder weinte. Gut, dass die Tische schon in Nicht-Pandemie-Zeiten hier so schön weit auseinanderstehen und jetzt erst recht – vermutlich hat das niemand mitbekommen außer F., und der kennt mich Heulsuse ja.
Was auch schön war: Wir hatten endlich mal andere Gesprächsthemen als den derzeit üblichen Deprikram, weil wir, wie immer bei Restaurantbesuchen, jeden Krümel auf dem Teller ausdiskutieren und alle zwei Minuten neue Noten in den Weinen entdecken. Das ging bis zum Digestif so weiter, den wir gleich zweimal nahmen. F.: „Haben wir noch Zeit?“ – Kellner: „Noch zehn Minuten.“ – F.: „Dann noch eine Runde.“ So genoss der Herr zweimal einen Bierbrand (noch nie gehört) und ich sprach selig einem Tonkabohnengeist zu.
Nach vier Gängen waren wir längst nicht so abgefüllt wie nach dem letzten Mal, wo wir uns ein wenig erschlagen zur U-Bahn schleppten. Gestern spazierten wir zu einer Bushaltestelle auf ungefähr einem Drittel des Wegs, ich ließ mich nach Hause chauffieren, F. zu sich, wonach er zu Fuß zu mir kam. Es war seltsam, den Abend schon gegen 22 Uhr zu beenden, da hätten wir normalerweise gerade beim Dessert gesessen und danach noch eine Etagere Petit-fours leergemampft, aber das war okay. Ich habe mich sehr gefreut, dieses Erlebnis noch mitnehmen zu können, bevor wir alle vier Wochen lang zuhause sitzen. Ich fühle mich jetzt auch etwas besser gerüstet für den langen Winter. (Vielleicht doch noch auf Önologie umsatteln?)
Tagebuch Dienstag, 27. Oktober 2020 – Use your core!
Meinen Wocheneinkauf erledigt. Seit zwei Wochen ungefähr beschränke ich mich wieder darauf, möglichst nur einmal die Woche in einen Supermarkt zu gehen, und gestern war dieser Tag.
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Danach in die Sportklamotten geworfen und die im Plan vorgesehene Einheit aus meinen True-Beginner-Kurs absolviert. Das Cardio-Kickboxing kannte ich schon, das ist bereits das dritte Mal, das ich diese Einheit anklickte, aber anscheinend hörte ich gestern zum ersten Mal richtig zu. Viele der Übungen gehen nicht auf Fitness für Survival-Urlaube, sondern sind wirklich für Leute wie mich gemacht, die außer zur Bibliothek radeln nichts an Sport machen. Oder für Menschen, die nach Unfällen wieder fit werden wollten, Ältere und manchmal denkt das Programm auch an dicke Menschen. Das heißt, viele der Übungen sind wirklich Basics und sorgen für mehr Kraft, mehr Mobilität und mehr Stabilität. In so ziemlich jeder Aufwärmphase balanciert man auf einem Bein, und je weiter fortgeschritten die Übungen sind, desto öfter kommen Kommandos wie „und jetzt das Bein ganz nach hinten“, weit zur Seite, wie einen Kick in Zeitlupe halt, oder auch: Heb dein Knie nach vorne, stell dir vor, es steht eine Teetasse darauf, jetzt den Fuß kreisen. Eigentlich simpel, aber wenn man einen Matschfuß hat wie ich, dessen Zehen nicht mehr funktionieren, die normalerweise das ganze wunderbare Ausbalancieren erledigen, dann wackelt man dabei halt sehr rum. Weil der Anfängerkurs aber nett ist, darf man immer einen Stuhl neben sich haben, an dem man sich festhalten kann. Auch hier gibt es Abstufungen: Wo es am Anfang hieß, halt dich fest, you know your body better than anyone else, heißt es nun: Stell dir vor, auf der Stuhllehne liegt ein Ei und du darfst dich nur so kurz und so sanft wie möglich festhalten. Ich mag das.
Beim Rumbalancieren habe ich meine Hände nicht an der Hüfte wie der knuffige Vorturner, sondern benutze sie wie Flügel eines irre gewordenen Flugzeugs, um zu balancieren. Das klappt dann nämlich in den allermeisten Fällen auch ohne mich am Stuhl festzuhalten, wenn ich auf dem rechten Bein stehe. Gestern hatte ich, vermutlich aus Gewöhnungsgründen an das Programm, die geistige Kapazität frei, dem Vorturner zuzuhören anstatt mit den Armen zu wackeln und mich auf meine Füße zu konzentrieren, denn ich befolgte erstmals seinen bestimmt schon hundertmal geäußerten Tipp: „Use your core.“ Also: spann die Bauchmuskeln an, um die Balance zu halten. Das tat ich – und stellte begeistert und sehr überrascht fest, dass ich anscheinend inzwischen Bauchmuskeln habe, die meinen raumgreifenden Körper ausbalancieren können.
Ich ahne, dass sich das für euch total lächerlich anhört und ihr, wenn ihr mich auf dem Handy lest, gerade kopfschüttelnd und entspannt auf einem Bein steht, aber für mich war das eine ziemlich tolle Sache, und ich freue mich immer noch darüber. Ich musste auch an eine der Physios denken, die mit mir in der Reha nach der Bandscheiben-OP gearbeitet hat, und bei der ich mich, erstmals auf einem Wackelball sitzend, vorgestellt habe mit der Bemerkung, dass ich überhaupt keine Bauchmuskeln hätte. Woraufhin sie meinte: „Sie können sich aufrecht auf einem Ball sitzend halten – das sind Ihre Bauchmuskeln.“
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Nach den 30 Minuten hatte ich das Gefühl, gerade warm geworden zu sein und ärgerte mich über mich und mein Körpergefühl, dass ich mich jetzt nicht einfach traue, in den Tights und dem engen Shirt vor die Haustür zu gehen und eine Stunde auf dem Friedhof herumzuwalken. Laufband und Standfahrrad sind inzwischen Hamburger Sperrmüll, aber ich wollte mich noch weiter bewegen. Also klickte ich eine weitere Übung an, die ich über die Suchparameter „easy“, „halblang“, also irgendwas zwischen 20 und 30 Minuten, und „no equipment“ fand. Das waren fiese 20 Minuten, die ich größtenteils, aber nicht komplett mitmachen konnte. Danach war ich aber immerhin so atemlos und durchgeschwitzt, wie ich gerne sein wollte.
Ich vermisse ein Folgeprogramm für True Beginner, vielleicht in die Richtung „Not a true beginner anymore, but still not fit and also fat“. Hello, Daily Burn? Eins-a-Vorschlag hier am Start!
Die Übungen nahmen die Arme mehr mit als das meiste, was ich bisher gemacht habe, was ich schon im Laufe des Tages merkte, als ich Zeug aus Schränken nehmen wollte und dafür die Arme strecken musste. Au. Au. Au. (Herrlich.)
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Mittags gab’s eine Riesenschüssel Salat mit ein paar Croutons aus Baguette, ehe das komplett hart wird, und abends bastelte ich Reispapierrollen. Das einwöchige Einkaufen sorgt auch dafür, dass ich endlich mal meine Vorratsschränke leerkoche. Wieder eine Packung Nudeln weg und das Reispapier ist jetzt auch alle. Der tolle vietnamesische Dipp dazu kommt aus einem Lesergeschenk und geht so:
Nước chấm
12 g Zucker in
45 ml warmem Wasser auflösen.
15 ml Fischsauce,
15 ml frischen Limettensaft,
1 fein geschnittene Knoblauchzehe und
1 fein gehackte Vogelaugenchili dazugeben, fertig.
Ich habe meine Reispapierbröckchen noch angebraten. Und ja, das ist chinesisches Geschirr, aber ich benutze das so selten und gestern hatte ich halt Lust darauf. Vermutlich zu lange über cultural appropriation oder Respekt vor fremden Küchen nachgedacht. Zu keinem Ergebnis gekommen außer: Ich benutze das Geschirr so selten und gestern hatte ich halt Lust darauf.
Was schön war, Freitag/Samstag, 23./24. Oktober 2020 – Kolloquium
Das war schön, zwei halbe (lange) Tage mit Mitdoktorand:innen per Zoom zu verbringen. Ich stellte meine Arbeit vor bzw. meinen Bildfund, und dann lehnte ich mich zurück, trank viel Tee, guckte in 23 andere Arbeitszimmer und hörte viele spannende Vorträge.
Danach kam die übliche Nach-Kolloquiums-Depression, weil ich alleine und unvernetzt zuhause saß und nur eine sehr geringe Chance für mich sehe, in dem Bereich weiterzuarbeiten, in dem ich seit acht Jahren sehr glücklich bin, und das war dann scheiße.
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Netterweise konnte mich der Briefkasten aufheitern, denn dort lag ein Lesergeschenk: Demokratie: Eine deutsche Affäre von Hedwig Richter, der ich gerne auf Twitter folge und die ich dort auch per DM um einen Literaturhinweis für Demokratiegeschichte bat, den ich dann gleich in die Diss einbauen konnte. An Verfasserin und freigebigen Schenker hiermit ein dickes Danke.
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Und abends kam dann F. mit zwei Flaschen Blaufränkisch rum, immer eine gute Idee.
Das war mein letztes Doktorandenkolloquium, was ich sehr bedauere. Ich hoffe, dass ich wenigstens noch irgendwo ein paar Vorträge oder Papers unterbringen kann – dann vielleicht auch mit einem schicken Titel vor meinem Namen. Gestern kam nämlich auch die offizielle Einladung der LMU zu meiner Verteidigung – mit einem Beipackzettel, was man alles bei Zoom-Disputationen beachten muss. So muss ich meinen Perso in die Kamera halten, irgendwer muss Protokoll führen, und bevor es losgeht, soll ich mit der Kamera den ganzen Raum abfahren, damit die Prüfer:innen sicher sein können, dass mir niemand unter dem Schreibtisch sitzend Spickzettel zusteckt. Das heißt also: aufräumen und möglicherweise drei Sätze zu Luise vorbereiten, die ja in meinem Arbeitszimmer hängt und mir beim Verteidigen zugucken wird.
Vielleicht bis dahin auch die Simpsons-Schuhe verräumen.
F. und ich verbrachten den Vormittag mit ein paar Protzens, wobei der Herr sich des Öfteren über die „bescheuerten Nazi-Formate“ beklagte, weil wir halt mal Leinwände in den Größen 130 x 200 cm bewegen mussten. Ich noch so: „Nebenan sind die kleineren“, wobei das kleinste dann auch 120 x 130 cm maß, aber das konnte ich immerhin alleine tragen. Ansonsten stand ich hinter den Gemälden und hielt sie halbwegs gerade, denn das war mein Problem mit den von mir im Januar per Handy abgelichteten Werken gewesen: Sie lehnten alle irgendwo an Wänden und ich habe sie nie vernünftig entzerren können, damit sie einigermaßen aufsichtig aussehen. Für einige der Werke ist das aber entscheidend, und netterweise gab es vor Kolloquium und Verteidigung noch einen Fototermin, so dass ich Ende Oktober und Ende November bessere Bilder vorzeigen kann.
Die Gemälde selbst dürft ihr leider noch nicht sehen, aber immerhin einen Teil der charmanten Dame, die manchmal im Weg stand. Oder hinter riesigen Autobahnen.
Die Tipps zum Leinwandreinigen, die ich mir vor ein paar Tagen auf Twitter geholt hatte, ließ ich lieber bleiben; bei einem Werk kam mir die Ölfarbe schon in Flöckchen entgegen, weswegen ich den ganzen Tag von „kuratorisch äußerst bedenklichen Zuständen“ wimmerte. Ich weiß, diese Werke interessieren außer mir vermutlich niemanden, aber wenn man sich drei Jahre lang mit ihnen befasst, ist man doch ein bisschen traurig, wenn sie zerbröseln. Jetzt sind sie immerhin vernünftig dokumentiert.
Tagebuch Dienstag, 6. Oktober 2020 – Erster Zoom-Call
Schreibtischtag. Ich bereitete mein vermutlich letztes Doktorandenkolloquium vor, auf dem ich meine Diss vorstellen möchte – auch als Übung für die Verteidigung. Ich werde vermutlich auf beiden Veranstaltungen nicht genau dasselbe erzählen, aber erstmal muss ich mir darüber klar werden, was ich überhaupt erzählen will. 360 Seiten in 15 Minuten zusammenzufassen, ist doch schwieriger als ich dachte. Also las ich gestern einen großen Teil meiner Diss quer und hielt mich dann hauptsächlich an den Zwischenfaziten und dem Schlussteil fest, in denen ich meine sensationellen Funde und Erkenntnisse brav aufgezählt habe.
Nachmittags hatte mein ewiges Quengeln endlich Erfolg gehabt und F. lud mich per Mail zu einem Zoom-Meeting ein. Ich bin bisher durch die ganze Pandemie ohne eine einzige Videokonferenz gekommen, wenn man von dem einen virtuellen Treffen mit den Hamburger Damen absieht, das aber per Facetime stattfand, wenn ich mich richtig erinnere. Ich wollte testen, ob Zoom noch funktioniert, obwohl ich die Uni-Version auf dem Rechner hatte, denn an der Uni bin ich ja jetzt offiziell nicht mehr. Ging. Was nicht ging, war die Kamera, was aber durch Neustart des Rechners behoben werden konnte. Dann testete ich lustige Dinge wie „Bildschirm freigeben“ und muten und freute mich darüber, dass meine blaue Arbeitszimmerwand ein ganz hervorragender ruhiger Hintergrund für mich ist.
Mein Corona-Kontakttagebuch auf den neuesten Stand gebracht (gestern: keine Kontakte), weiterhin zwei Risiko-Begegnungen in der Corona-App, aber alles auf grün. Die waren zwischenzeitig auf einen Kontakt zusammengeschrumpft, dann war wieder keiner zu sehen, seit vorgestern sind es wieder zwei.
Mit einer Behörde einen Fototermin ausgemacht, um ein paar Protzens erneut abzulichten, weil ich beim Erstkontakt viel zu aufgeregt gewesen war. Dieses Mal hält F. die Kamera und ich die Gemälde. Auf Twitter holte ich mir Tipps zum Abstauben, weil die Dinger seit gefühlt 30 Jahren nicht mehr abgestaubt worden sind, aber ich weiß nicht, ob ich sie morgen umsetzen werde. Mit der Behörde außerdem über die Formulierungen in der Diss gesprochen, die ich ja veröffentlichen muss, um den Titel tragen zu dürfen. Dem Amt ist es nicht ganz so recht, wenn genau zu lesen ist, wo sich die Gemälde befinden, da es in der Vergangenheit anscheinend schon öfter Menschen gab, die sich als Polizist oder ähnliches ausgewiesen haben, um an Zeug zu kommen (oder es wenigstens ablichten zu können), was eventuell als NS-Devotionalie durchgeht. Wieder was gelernt. Ahne allmählich, warum mir die Staatsgemäldesammlungen nicht verraten wollten, wo mein Lieblings-Protzen gerade hängt (gehört ihnen, ist ausgeliehen).
Was schön war, Mittwoch bis Freitag, 30. September bis 2. Oktober 2020 – Essen
Neulich empfahl die NYT mal wieder eine Magenverkleinerung als supidupi-Alternative zu mühseligen Diäten, woraufhin ich kurz mein Handy anschrie und dann was kochen ging. Netterweise erinnerten viele Kommentator:innen die Autorin daran, dass eine OP nie ein lustiger Spaß ist, dass es Folgen hat, ein Organ zu verkleinern und dass man danach nie wieder so essen werden kann wie vorher (kotzen und Durchfall gibt’s gratis dazu und wenn man sich nicht richtig anstrengt, auch das ganze verlorene Gewicht). Als dicker Mensch hatte ich mich natürlich (?) auch mal mit dieser Idee befasst und musste mir eingestehen, dass ich damit wahnsinnig werden würde. Vermutlich leichter und dünner, aber eben auch wahnsinnig. Essen ist für mich in Stresssituationen zwar des Öfteren eine blöde Krücke mit zu vielen Kalorien, aber eben auch eine Krücke, die mich hält. Ich bin nach der anstrengenden Woche bei meinen Eltern und ein paar Dingen, die nicht ins Blog gehören, immer noch sehr nah am Wasser und strenge mich derzeit an, nicht beim Edeka an der Kasse zu flennen. Wo ich aber sofort glücklich und nicht am Wasser war: im Asiamarkt. Dort entdeckte ich im Kühlraum eine Zutat, auf die ich schon länger gewartet hatte:
Und daraus wurde der Green Papaya Salad, der anscheinend ein Nationalgericht Thailands ist. Ich hoffe, ich habe ihn halbwegs korrekt hingekriegt. Das Video von Hot Thai Kitchen half sehr. Dort lernte ich auch, wie man eine Limette clever schneiden kann und dass man die Hüllen ruhig in den Salat werfen kann, sieht super aus.
Gelernt: Im Inneren der unreifen Papaya verbergen sich Kerne, die wie die weißen Styroporkügelchen aussehen, die früher in Sitzsäcken waren. Die kullern einem auch total überraschend entgegen, wenn man die Papaya halbiert und man muss erstmal die Küche fegen, bevor man sich ans Kochen macht.
Ebenfalls gelernt: eine Vogelaugenchili ohne Kerne im Salat erzeugt nur eine milde Wärme. Zwei Vogelaugenchilis mit Kernen sorgen dafür, dass ich nach zehn Gabeln erstmal ein halbes Glas Milch trinken muss, um meinen Mund zu beruhigen. Danach aß ich weiter, im vollen Bewusstsein, dass es wieder weh tun würde, aber es war so unglaublich lecker.
Das zweite Rezept war aus dem neuen Kochbuch. Ich röstete lustig Gewürze an …
… und nutzte Opas Kaffeemühle als Gewürzmühle. Der nächste Kaffee könnte eventuell etwas anders schmecken, aber wenn’s so gut wird wie die Pakoras, in die ich die Gewürze warf, passt mir das gut. Auch im Asialaden erworben: Kichererbsenmehl. Tolles Zeug.
Überhaupt hat mich nicht nur das Kochen glücklich gemacht – Essen ja sowieso –, sondern alleine der Laden, in dem so viel Zeug steht, das ich nicht kenne. Es ist ein einziger Abenteuerspielplatz, und neben dem Mehl kaufte ich noch Klebreis, Sriracha und thailändische Krabbenpaste, denn die indonesische, die ich überfordert beim ersten Einkauf erworben hatte, ist mir zu intensiv.
Den frischen Koriander und die Minze mixte ich mit Jogurt zu einem Dipp.
Die Sriracha brauchte ich für ein weiteres neues Rezept, das ich gestern F. servierte: simple Nudeln in einer Sauce aus Sojasaucen und Schalottenöl, das ich ebenfalls ansetzte. Dazu Frühlingszwiebeln und Knoblauch-Schnittlauch, den ich auch glücklich im Kühlraum gefunden hatte. Bei mir gab’s noch Brokkoli dazu und ein Ei drüber.
Und weil ich gestern nicht nur Lust zum Kochen, sondern auch zum Backen hatte, gab’s noch einen Marmorkuchen nach Mamas Rezept. Der hat nicht so viel Zucker, weswegen er dringend eine Glasur aus Schokolade braucht.
Auch wenn die thailändische Küche noch neu für mich ist, fühle ich mich in ihr recht wohl, einfach weil ich mich generell wohl am Herd oder bei Schneidearbeiten fühle. (Auch so ein Satz, von dem ich vor 15 Jahren noch nicht gedacht hätte, ihn ernst zu meinen.) Ich weiß bei den neuen Rezepten noch nicht, wo ich eigentlich hinkoche, aber es bereitet mir große Freude, sie zuzubereiten. Ich fühle mich sicher inmitten meiner ganzen wohlschmeckenden Schätze, und so lange ich am Herd stehe, kann die ganze Welt da draußen genau da bleiben: draußen.
Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 24. bis 27. September 2020 – Überschätzt
Am Donnerstag nutzte ich die elektrische Schiebehilfe für Papas Rollstuhl, um ihn einen Berg hochzukriegen, damit wir mit dem Mütterlein auf den Markt gehen/fahren konnten. Das Ding funktioniert über eine Art Toter-Mann-Schalter, also einen Kipphebel am rechten Handgriff des Rollstuhls, den man ständig gedrückt hält, damit es schiebt oder zieht, das Teil hat nämlich auch einen Rückwärtsgang. Sobald man den Hebel loslässt, steht der Stuhl oder sollte es zumindest. Abrupt bremsen ist allerdings doof, denn Papa ist nicht angeschnallt, hat aber einen Keil zwischen den Beinen, damit er nicht herausrutscht. Das tat er am Anfang mehrmals, weil er nicht mehr weiß, dass er eine linke Körperhälfte hat und er sich dementsprechend nur einseitig irgendwie aufrecht hält. Die Geschwindigkeit steuert man über ein Drehrädchen, das man mit dem Daumen bedienen kann, während der Zeigefinger den Kipphebel hält. Es funktioniert nicht ganz stufenlos, so dass ich interessiert feststellen konnte, dass die Anzeige 75 für mein Gehtempo zu langsam, 80 aber schon zu schnell ist.
Das Mütterchen erhoffte sich ein paar persönliche Ansprachen auf dem Markt, weil Papa dort früher – also vor anderthalb Jahren – regelmäßig eingekauft hatte. Es waren wohl auch Leute da, die ihn kannten – ich kannte natürlich niemanden –, aber es kam niemand auf Vaddern zu, was Mama erboste. Mich weniger, ich ahne, dass viele Menschen nicht damit umgehen können, wenn einem die möglicherweise eigene Verletztlichkeit so vor Augen geführt wird. Ich wäre auch weggeblieben, muss ich zugeben.
Also schoben wir ohne Begrüßungen, aber mit Obst und Gemüse in unseren Rucksäcken wieder nach Hause.
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Den Nachmittag verbrachte ich damit, einen Zwetschgenkuchen mit Hefeteig zu backen und nölte etwas zu ausgiebig über die Küche und ihre Gerätschaften rum. Ich entschuldigte mich, weil ich ja weiß, dass es Quatsch ist, aber mich machen Arbeitsumgebungen kirre, die ich mir nicht selbst eingerichtet habe. Mama meinte, das hätte ich von Omi, die hätte auch immer in fremden Küchen gemeckert: „Wieso steht das nicht da, wo es hingehört?!?“ Yay, ich habe von Omi noch mehr geerbt als nur mein Lieblingsgeschirr!
Die weiße Tischplatte gehört zu Papas Beistelltischchen, das der Nachbar gebaut hat. Er bockte dazu einen normalen quadratischen Tisch auf vier Untersetzstangen auf, so dass Papa nun mit dem Rollstuhl und vor allem dessen hohen Armlehnen unter einen Tisch passt. Jetzt kann er „geradeaus“ essen und muss nicht immer seitwärts zu seinem Teller sitzen. (Und wir müssen nicht immer den Küchenfußboden saugen, fegen oder wischen, nachdem Papa gegessen hat.)
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Freitag hatte ich eigentlich einen Vormittag für mich eingeplant, denn ich habe morgen einen wichtigen Termin, auf den ich mich noch etwas besser vorbereiten wollte; das meiste hatte ich schon in der letzten Woche in Bibliotheken erledigt, aber so ganz top fühlte ich mich noch nicht. Dummerweise kam ein weiterer Termin dazwischen, den ich nicht eingeplant hatte, aber wahrnehmen wollte. Damit war der Vormittag weg, nachmittags ist Arbeiten für sich selbst nicht möglich, weswegen ich etwas nervös wurde und, warum auch immer, plötzlich sehr nah am Wasser war. Momentan habe ich einige Bälle in der Luft, die teilweise voneinander abhängen und es macht mich nervös, dass ich nicht vernünftig für die nächsten Monate planen kann, weil die Entscheidungen nicht von mir abhängig sind. Das Mütterlein beschloss daraufhin, mich am Sonntag nach Hause zu schicken. Geplant war eigentlich, dass ich direkt von Hannover zum Termin fahre, aber ich war am Freitag schon so übermüdet und eben unvorbereitet, dass mir das wie eine sehr gute Idee erschien.
Ich hatte mal wieder unterschätzt, wie sehr man bei meinen Eltern fremdbestimmt ist. Den Tagesablauf von Papa kenne ich natürlich inzwischen, und ich habe mir auch ein Dokument angelegt, in dem ich eben diesen Plan minutengenau notiert habe, damit ich es immer wieder weiß. Was ich aber vergessen hatte: wie unterschiedlich Papa von Tag zu Tag und von morgens im Vergleich zu abends drauf ist. Mal geht er abends sofort ins Bett, wenn wir „Feierabend“ sagen, mal hält er einen bis 23 Uhr wach, weil er nach einem ruft und Angst hat, weil er vergessen hat, wo er ist. (Er bekommt ein mildes Schlafmittel, sonst kämen wir nie ins Bett.) Ich hatte vergessen, wie anstrengend es ist, völlig sinnfreie Unterhaltungen zu führen, wenn man ihn nicht einfach drei Stunden vor dem Fernseher parken will, was ich nicht will (und Mama auch nicht). Ich hatte unterschätzt, wie angeschlagen ich von DER GESAMTSITUATION bin und dass es mich anscheinend gerade doppelt so viel Kraft kostet, in der Wedemark zu sein als sonst. Ich hatte launig im Hinterkopf gehabt, dass ich dort auch schon an der Diss arbeiten konnte und daher optimistisch gesagt, dann spare ich mir zwei Zugfahrten und fahre von Hannover aus zum Termin und von da nach München, aber diese Idee zerbröselte ab Tag 1. So saß ich gestern im Zug, fing schon im Auto meiner Schwester, die mich zum Zug brachte, dauernd an zu heulen und heulte auch im Zug, keine Ahnung warum, Überforderung und akute Übermüdung, tippe ich laienpsychologisch. Ab Göttingen hatte ich dann einen lauten Vierertisch neben mir, der die Maskenpflicht umgang, indem erstmal alle ein paar Bierchen köpften, woraufhin ich mich umsetzte, weil ich sonst mit Dingen geworfen hätte.
Im Zug hatte ich dann auch mal Zeit, über die andere Gesamtsitutation nachzudenken. Meiner Mutter geht es gesundheitlich immer schlechter, weil sie natürlich auch ständig übermüdet ist. Einen Platz in der Tagespflege für Papa zu finden, damit sie wenigstens mal ein paar Stunden ohne Verantwortung sein kann, entpuppte sich in den vergangenen Monaten als unmöglich, und jeder gibt andere Gründe an, warum Papa nicht kurzfristig in ihr Heim könne. Die Krankenkasse hat ihre Kur abgelehnt, aber das scheinen Krankenkassen einfach per Default zu machen, wir legen natürlich Widerspruch ein. Ihre geplanten Kurzurlaube verschiebt sie von Monat zu Monat, und im Moment ist es eh schwierig wegen DER GESAMTSITUATION. Eigentlich hatte sie sich eine Deadline von Ende 2020 gesetzt, um für sich selbst zu gucken, wie lange sie das noch kann, aber so wie ich sie einschätze, hat längst ihre Kriegskindmentalität mit dem „Augen zu und durch und wir stellen uns da mal gar nicht an“ eingesetzt. Auch meine Schwester und ihr Mann können nicht alles abfangen, obwohl sie sehr viel aushelfen, und falls ich demnächst ganz möglicherweise eine Festanstellung finde, werden meine monatlichen Trips auch schwieriger. Nicht unmöglich, davon gehe ich jetzt mal bockig aus, aber schwieriger.
Und Vaddern macht mir auch Sorgen. Er schläft nicht mehr wie früher ausgestreckt, sondern verkeilt seine Beine ineinander, es sieht ein bisschen nach Embryonalhaltung aus. Er kann nicht mehr so gut unterscheiden, was Fernsehen und was Realität ist – noch ein Grund mehr, ihn nicht dauernd davor zu setzen –, und es fehlt ihm schlicht der Umgang mit anderen Menschen, auf die wir in der Tagespflege gehofft hatten. Er kam mir noch weniger kohärent vor als sonst; wo er in den vergangenen Monaten vormittags eigentlich immer so halbwegs bei sich war, fiel es ihm nun schon schwerer, Worte zu finden oder sich zu merken, dass ich nur nebenan in der Küche bin und er nicht dauernd nach mir rufen muss.
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Am Samstag ließ ich ein bisschen Fußball für uns laufen, die dritten Programme übertragen teilweise die dritte Liga. Weil ich nicht Rostock gucken wollte, wurden es die 1860er, wofür ich mich natürlich bei meiner FC-Bayern-Leserschaft entschuldigen möchte.
Per Handy verband ich dann meinen Laptop mit dem Interweb, das bei meinen Eltern ja immer noch nicht per Kabel vorhanden ist, und fand einen total legalen Stream für das Augsburg-Spiel. Die Herren gewannen überraschend gegen Dortmund, weswegen ich zwischenzeitig gute Laune hatte. Papa freute sich auch, fragte aber dauernd, welche denn die Münchner seien. Mama freute sich, dass ich mich freute und dass mal eine andere Stimme in der Küche zu hören war. Ich erklärte Sky und Bezahlfernsehen und erfuhr, dass sie auch immer auf die Augsburg-Ergebnisse gucken, weil sie ja wissen, dass F. und ich da zusammen hinfahren.
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Es musste noch ein zweiter Kuchen gebacken werden, wenn schon mal Hefe im Haus ist. Der Nachbar hatte wieder kiloweise Äpfel rübergebracht, die teilweise eingekocht wurden und teilweise auf dem Backblech landeten. Um Papa zu beschäftigen, bat ich ihn, mir aus der Kiste die gelben rauszusuchen, „nicht die grünen“, und die möglichst großen und die ohne Stellen. Je länger der Tag dauert, desto mehr benutzt Papa Worte, die es nicht gibt, oder baut solche, die es gibt, in Sätze ein und wir raten dann, was er meinte. Irgendwann gab er mir einen Apfel und meinte, der habe „nur ganz wenige … Erlebnisstellen“, womit er die braunen Stellen der Falläpfel meinte. Das twitterte ich, weil ich den Begriff so schön fand, aber ich ahne, dass die meisten, die diesen Tweet favten, nicht wussten, dass es kein poetisches Wort war, sondern schlicht eins aus einem Gehirn, das mehrere Schlaganfälle hinter sich hat.
Tagebuch Samstag, 19. September 2020 – Oktoberfestchen
Gestern wäre eigentlich die Wiesn eröffnet worden, ab 12 Uhr hätte man auf der seit Monaten vom Aufbau belegten Theresienwiese ein kleines Bierchen gezapft bekommen und so ein, zwei Leute wären vielleicht mitgebummelt. Das fällt dieses Jahr alles aus, was einige Münchner:innen und vermutlich noch mehr Zugezogene (hier!) bedauern.
Daher hatten F. und ich uns zu einer Winzwiesn verabredet. Um halb zwölf stand ich bei ihm auf der Matte mit vom Lieblingsmetzger frisch belegten Leberkässemmeln, er hatte zwei Augustiner-Wiesenbiere kalt gestellt und um 12 zapften wir an bzw. ließen die Kronkorken ploppen. Auf eine friedliche Nicht-Wiesn.
Danach bummelten wir zum Ballabeni, unserer Lieblingseisdiele, um uns Nachtisch abzuholen. Für uns beide gab’s die neue Sorte „Vier Nüsse“, die nur nach Walnuss schmeckt, aber ich mag Walnuss, wie praktisch, dazu für mich eine Kugel Chai Latte, für den Herrn Amarena-Kirsch.
Wo wir schon mal bei den Pinakothen waren, schauten wir kurz in der Pinakothek der Moderne vor (die ich immer im ersten Anlauf „Modernde“ schreibe, es tut mir leid!). Dort empfängt einen eigentlich ein helle Rotunde, in die von oben Licht fällt. Jetzt gerade nicht, denn Anish Kapoor hat den kompletten Eingangsbau mit einer riesigen schwarzen Gummikugel namens Howl zugeballert. Es ist ein bisschen spooky, sich mitten unter die Kugel zu stellen, und ich bedauerte das Kassen- und Servicepersonal, dass ihnen nun ein bisschen Licht fehlt, aber ich mochte diesen Blob recht gerne.
(Nur aus der Hüfte geknipst. Gehen Sie mal vorbei, kostet nix. Hier sind eindeutig bessere Fotos.)
Gesättigt, bierbeschwingt und kunstbeflügelt schlenderten wir zum Königsplatz, auf dem seit Monaten der sogenannte „Sommer in der Stadt“ stattfindet. Weil den ganzen Fressbüdchen und Fahrgeschäften das Geld wegbricht, durften sie anstatt auf der Theresienwiese in der ganzen Stadt ihre Häuschen und Karussells aufbauen, unter anderem am Königsplatz. Meine geliebten Propyläen haben jetzt ein Riesenrad als Vorbau, den vermutlich jede Münchner Instagrammerin bereits abgelichtet hat – ich aber noch nicht. Ich habe auf extra-matschiges Mittagslicht gewartet. F. hat dafür mit Stativ tolle bunte Bilder vom sich bei Nacht drehenden Rad gemacht, die ich mir irgendwann als Fototapete auf den Flur hängen werde.
Eigentlich habe ich Höhenangst, aber ich erinnerte mich, schon mal auf dem Oktoberfest Riesenrad gefahren zu sein. Da war ich allerdings vermutlich ein winziges bisschen angeheitert und es war dunkel, so dass ich außer der buntblitzenden Fressgasse eh nichts sehen konnte. Nun war es hell – und es ging sehr hoch. Mir wurde sofort etwas kodderig, aber ich hielt mich einfach an allem fest, was ging, atmete in mich rein (das Sport-Übungsprogramm der letzten Wochen hatte diesen netten Nebeneffekt) und konzentrierte mich auf Dinge, die in der Ferne lagen und nicht 800 Millionen Meter direkt unter mir. (48 Meter.)
So bestaunte ich das Zeltdacht des Olympiastadions, das am Horizont aufragte und machte ein nicht-vorzeigbares Foto. Die Türme der Frauenkirche ohne Gerüst, auch mal schön. Das goldgelbe Lenbachhaus von oben war dann wieder unter meinen Füßen, aber allmählich gewöhnte ich mich an die Höhe; das Rad fuhr uns insgesamt viermal über die Stadt. Einmal blieben wir stehen und zwar fast ganz oben, das nutzte ich, um endlich mal mein geliebtes Bällebad mit seinen drei Oberlichtern von oben zu begutachten. Zwei davon sind über den Lichthöfen, eins über meinem Lieblingslesesaal. Erst von oben fielen mir die doch recht üppigen Ausmaße des ZIs und der danebenliegenden Musikhochschule auf (langjährige Mitleser:innen wissen: Das waren mal das NS-Verwaltungsgebäude und der sogenannte „Führerbau“, in dem das Münchner Abkommen unterzeichnet wurde). Das NS-Dokumentationszentrum wirkte von oben sehr schmal zwischen den beiden Klötzen.
Was ich besonders toll fand, nachdem ich mich damit abgefunden hatte, aus unglaublicher Höhe in den Tod zu stürzen, war, auf Augenhöhe mit den Propyläen zu sein. Da wäre ich gerne mal stehengeblieben, aber ich ahne, dass ich die einzige der wenigen Mitfahrenden gewesen wäre, die gerne ein Steinfries vor Augen gehabt hätte. Den Tauben geht’s auf dem Klotz übrigens super, überall wo keine Netze die 160 Jahre alten Reliefs schützen, machen die kleinen Racker es sich gemütlich. Würd ich auch.
Meine traditionelle Handlung auf dem Oktoberfest: gebrannte Mandeln kaufen. Auch das wurde erledigt und dann gingen wir für den Rest des Tages getrennte Wege. Ich freute mich über das 3:1 von Augschburg gegen Union und wunderte mich bei der Übertragung, dass das Stadion an der Alten Försterei recht voll aussah, aber total leer klang. Trotzdem war es wirklich schön, wieder Fans im Stadion zu hören und keine dusselige Tonspur mit alten Aufnahmen oder die umheimliche Stille wie Freitag in der Allianz-Arena, an die ich mich schon fast gewöhnt habe.
Langer und lesenswerter Nachruf auf Bader Ginsburg in der NYT. Unter anderem wegen Absätzen wie diesem hier, der sehr simpel verdeutlicht, worum es geht – nicht um ein Gleichmachen, sondern ein Gleichbehandeln.
„In this majority opinion, the most important of her tenure, Justice Ginsburg took pains to make clear that the Constitution did not require ignoring all differences between the sexes. “Inherent differences between men and women, we have come to appreciate, remain cause for celebration,” she wrote, “but not for denigration of the members of either sex or for artificial constraints on an individual’s opportunity.” Any differential treatment, she emphasized, must not “create or perpetuate the legal, social, and economic inferiority of women.”
Oder diesem hier, der daran erinnert, dass Sexismus keine Relikt aus längst vergangenen Zeiten ist, sondern von vorgestern und – leider – von heute.
„[Her mother] Celia Bader was an intellectually ambitious woman who graduated from high school at 15 but had not been able to go to college; her family sent her to work in Manhattan’s garment district so her brother could attend Cornell University. She had high ambitions for her daughter but did not live to see them fulfilled. She was found to have cervical cancer when Ruth was a freshman at James Madison High School, and she died at the age of 47 in 1950, on the day before her daughter’s high school graduation. After the graduation ceremony that Ruth was unable to attend, her teachers brought her many medals and awards to the house.
On June 14, 1993, when Judge Ginsburg stood with Mr. Clinton in the Rose Garden for the announcement of her Supreme Court nomination, she brought tears to the president’s eyes with a tribute to her mother. “I pray that I may be all that she would have been had she lived in an age when women could aspire and achieve and daughters are cherished as much as sons,” she said. […]
Harvard Law School was a challenge for women even in the best of times. There were no women on the faculty. During Ms. Ginsburg’s first year, the dean, Erwin Griswold, invited the nine women in the class to dinner and interrogated each one, asking why she felt entitled to be in the class, taking the place of a man. Ruth stammered her answer: that because her husband was going to be a lawyer, she wanted to be able to understand his work.”
Tagebuch Montag, 31. August 2020 – Drei Jahre (von acht)
Gute-Laune-Programm für den Vormittag: zur Bibliothek des Deutschen Museums radeln und dort in alten Büchern blättern. Habe ich gemacht, war gut; das Paper, das mir vorschwebt, ist damit in Arbeit und wird demnächst als Abstract eingereicht.
Den retweetete ich, woraufhin @bilsandbytes meinte, ich sei die erste, die sie kenne, die das wirklich in drei Jahren geschafft hätte.
Nun.
Dafür bin ich jetzt pleite, und an miesen Tagen frage ich mich ab und zu immer noch, ob das alles so eine schnafte Idee gewesen ist. Ich denke an das Ende einer Beziehung mit einem guten Kerl, an eine nette Stadt mit netten Menschen, in der ich nicht mehr wohne und ja, an den verdammten Kontostand, der mal ganz anders aussah und aus dem ich durchaus Selbstbewusstsein und Seelenruhe schöpfen konnte. Gut, München hat sich als noch nettere Stadt entpuppt und der neue Kerl ist auch super, aber das Geld macht mir wirklich etwas Sorgen, gerade weil München, du verdammtes überteuertes Nest.
Aber dann denke ich daran, dass ich beruflich, wenn man das Studium mal als Beruf ansieht, noch nie so viel Spaß gehabt habe wie in den letzten acht Jahren. Ich denke daran, dass ich aus so ziemlich jedem Seminar und jeder Vorlesung mit einem breiten Grinsen oder mit ungläubigem Staunen, aber immer mit riesiger Neugier und Leselust gekommen bin und es kaum erwarten konnte bis zur nächsten Einheit. Die 8-Uhr-morgens-Vorlesungen mal ausgenommen, und bei den 16-Uhr-Seminaren war mein Kopf auch schon arg auf Feierabend eingestellt, aber das waren Lerneffekte aus den ersten Semestern. Ich denke daran, wie gerne ich die allermeisten universitären Aufgaben erledigt habe; dämliches Faktenbüffeln für die Klausuren weniger, lasst mich einfach noch ein paar Hausarbeiten schreiben, den selbst erabeiteten Kram merke ich mir nämlich jahrelang und nicht nur bis zum Prüfungstermin. Gerade im Vergleich zu manchen Kundenaufträgen, bei denen man schon beim Briefing mit den Augen rollt und an die vergeudete Lebenszeit denkt bzw. daran, dass man die Rechnung unter „Schmerzensgeld“ ablegt, war das Arbeiten für die Uni ein Genuss und ein Geschenk. Ich hatte fast konstant das Gefühl, etwas Wichtiges, etwas Gutes, etwas Sinnvolles zu tun und nicht nur irgendwas, was die Miete zahlt und die nächste Pizza. Dass das ein Luxus war, habe ich mir immer selbst gesagt, aber jetzt, wo das alles zuende sein soll, frage ich mich schon, wieso das ein Luxus ist und wieso wir nicht alle so arbeiten können. Stichwort bedingungsloses Grundeinkommen. Wieso müssen viele von uns Jobs erledigen, die nicht ausfüllen, die unnötig anstrengen, die sinnlos sind, um ein Dach über dem Kopf zu haben und zu Lidl zu können, weil der Biomarkt nicht drin ist? Aber das ist eine andere Diskussion.
Ich war nach dem Tweet gestern gleichzeitig stolz und traurig, weil ich ahne, dass jetzt wieder Deppenjobs erledigt werden müssen und Bibliothekszeit erst recht Luxus werden wird. Ich bin traurig darüber, dass ich die Zeit an der Uni in meinen Zwanzigern nicht würdigen konnte, aber das kann ich leider nicht mehr ändern. Keine Ahnung, ob aus meiner Begeisterung noch eine Karriere wird, was ich innerlich natürlich hoffe, aber ebenfalls innerlich stellte ich mich neben den Bewerbungen auf Jobs, die ich wirklich haben möchte, auch auf Bewerbungen auf Jobs ein, die mir total egal sein werden. Meine innere Protestantin wird auch die gut und brav und gewissenhaft erledigen, aber vermutlich mit deutlich weniger Begeisterung als die, die mich in jedem Archiv, jeder Bibliothek und jeder wissenschaftlichen Datenbank ereilt.
Tagebuch Dienstag/Mittwoch, 18./19. August 2020 – Hefeteig, Wespenwatch und Apfelklößchen
Der Nachbar brachte vorgestern einen Eimer Falläpfel rüber, und das Mütterlein schlug Apfelklößchen als gestriges Mittagsmahl vor. Die hatte ich seit Kindertagen nicht mehr gegessen, dieses Essen war überhaupt nicht mehr auf meinem Radar, aber den Geschmack hatte ich sofort wieder auf der Zunge. So verbrachte ich eine Stunde damit, teilweise angematschte Äpfel zu schälen und in kleine Stückchen zu schneiden, nachdem Mama die ganzen Wespen verscheucht hatte, vor denen ich immer noch vermutlich zu viel Respekt habe. Scheißviecher.
Zwei Drittel des Apfelstückchenbergs wurde zu Apfelmus, das andere Drittel mischte ich mit drei Eiern (eins pro Esser:in laut dem Mütterchen, wobei ich das beim nächsten Mal vielleicht etwas reduzieren würde) und „so viel Mehl, bis der Teig gut aussieht“. Ich kippte Mehl in die Masse, rührte, befand den Teig für zu flüssig, kippte, rührte, befand, kippte usw. Irgendwann war der Teig ein zäher Brocken, aus dem ich mit zwei Esslöffeln eine Art Nocke abstechen konnte, die dann in kochendes Wasser umgesiedelt wurde. Nach wenigen Minuten erschien mir der Kloß fertig. Als alle Klöße gekocht waren, wurden sie in Butter gebräunt, und zum Servieren gab es haufenweise Zimt und Zucker drüber. Ganz hervorragend.
Vorgestern wühlte ich wieder in altem Kram und stieß auf einen Karton mit Omas Handarbeitsunterlagen. Ihr Nähkästchen schleppe ich seit Jahrzehnten von Wohnung zu Wohnung und habe es in diesem Jahr erstmals vernünftig benutzt, nämlich zum Mundschutznähen, was dazu geführt hat, dass ich inzwischen eine Nähmaschine besitze. In diesem Karton lagen ein paar alte Handarbeitszeitschriften, in denen ich mich durchaus an Kleidungsstücken begeistern konnte. Leider sind die Schnittmuster nicht mehr im Heft, danach wurde auf Twitter schon gefragt, als ich die Bilder dort postete.
Beyers Handarbeit und Wäsche – Strickmoden 6 (1956).
Burda Moden Dezember 1968.
Gestern kauften das Mütterlein und ich gemeinsam ein. Ich darf das neue Auto nicht fahren, wegen der Versicherung und so, Mist, darauf hatte mich schon gefreut, aber jetzt war ich halt nölige Beifahrerin. Wir brachten unter anderem Zwetschgen mit (Sonderangebot!), die aber nicht auf einen Kuchen sollen – ich bemerkte vorsichtig, dass Kuchenbacken bei 30 Grad vielleicht nicht so der Bringer sei. Wir sprachen dann kurz über das ewige Streitthema „Zwetschgenkuchen als Hefe- oder als Rührteig“ und Mama erwähnte, dass es das Backwerk – natürlich mit Hefe – früher für die Helfer:innen bei der Kartoffelernte gegeben habe. Mit Hefe, denn: „Hefeteig ist ein armer Teig“, da kommen deutlich weniger Eier und Fett hinein. Auch noch nie drüber nachgedacht. Ich überlege seitdem, ob man die Vorliebe für den einen oder den anderen Teig lokalisieren kann: Landbevölkerung eher Hefe, Städter:innen eher Rührteig?
Vom Einkaufen brachten wir daher fertigen Kuchen vom Bäcker mit, weswegen mich die Wespen derzeit auch nerven: Ich weiß nicht, ob Papa es mitkriegt, wenn eine von den Viechern auf seinem Kuchen sitzt bzw. in seiner Teetasse hängt. Falls er gestochen wird und er möglicherweise ärztliche Hilfe braucht, wird das schwierig: Wir kriegen ihn nicht ohne Hilfe vom Bett in den Rollstuhl und von da sowieso nirgends anders mehr hin, erst recht nicht ins Auto, das wegen seines hohen Einstiegs überhaupt erst angeschafft wurde, aber das war wohl eher Wunschdenken. Falls ihm etwas passiert, brauchen wir einen Rettungswagen. Deswegen sind Mahlzeiten momentan etwas unentspannt für mich, weil ich dauernd auf Insektenwatch bin. Vermutlich übertrieben, aber ich bin halt ein Schisser.
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Gestern abend wollte ich eigentlich gerne mit dem Väterchen Fußball gucken, wie ich das aus Kindheitstagen kenne. Bayern gegen Lyon lief nicht im Free-TV, und da meine Eltern immer noch kein Internet haben, suchte ich einen total legalen Stream per Handy-Hotspot. Der Empfang ist leider ausgerechnet im Zimmer von Vaddern eher unterirdisch – Edge kenne ich sonst nur aus Zügen. So guckte er wie gewohnt Naturdokus im Fernsehen, ich saß in der Küche bei LTE und berichtete die Spielstände. Beim 3:0 schlief er allerdings schon.
Keine Panik, keine Symptome (wenn man das Übergeben von letzter Woche ignoriert), ich wollte es nur mal abklären lassen, bevor ich wieder in den Norden fahre, um für das Mütterlein kiloweise Rouladen, Saucen und Gemüsepäckchen anzufertigen und dafür zu sorgen, dass sie ausschlafen kann.
Der Arzt, bei dem ich einen Termin hatte, bietet die Tests nur am Ende der regulären Sprechstunde an. Ich betrat also um 17.45 Uhr die Praxis, sagte mein „Hello, my name is“-Sprüchlein auf – und wurde sofort wieder rausgeworfen: „Bitte draußen warten!“ Direkt hinter mir kam noch jemand für einen Test, der wurde auch ins Treppenhaus geschickt. Immerhin war hier ein leichter Luftzug vom Fahrstuhl oder vom Ventilator in der Praxis ein Stockwerk drüber zu spüren. Wir füllten unsere Aufnahmezettelchen aus und warteten. Und warteten.
Im Haus befinden sich Wohnungen und Praxen gemischt. Eigentlich sind Praxen ja super als Nachbar: immer jemand in der Nähe, falls man sich mal böse verschluckt oder die Kochmesser unerwartet scharf sind und nach 18 Uhr ist Ruhe. Dass man sich irgendwann an potenziell infektiösen Menschen, die im Treppenhaus rumlungern, vorbeiquetschen muss, hat vermutlich auch niemand vorausgesehen.
Gegen 18.30 Uhr kam ich dran, ich hatte gerade eine Leseprobe von Amazon auf dem iPhone durchgelesen, perfekt. Der Arzt entschuldigte sich für die Wartezeit, fragte nach Symptomen – nö –, nach möglichen Kontakten – Corona-App says no – und steckte mir dann vorsichtig ein Wattestäbchen in die Nase. Ich konnte gerade noch sagen, dass das andere Nasenloch vielleicht besser wär, da ist kein Piercing im Weg, dann ging das Stäbchen durchs ungepiercte Nasenloch, ich dachte noch, das fühlt sich an, als ob das Stäbchen im Nichts verschwindet, als es plötzlich hinten am Rachen kurz kratzte, und dann war schon alles vorbei. Das Gefühl konnte ich auch nach längerem Überlegen nicht in Worte fassen, das war ganz neu. (Kommt direkt auf den Jahresendfragebogen.) Es tat nicht weh, es war nicht mal wirklich unangenehm, nur sehr seltsam. Ich musste sinnloserweise an einen Dialog aus Broadcast News denken, wo Holly Hunter die Stimme im Ohr vom Anchorman William Hurt ist, die wiederholt, was Albert Brooks ihr sagt, der wiederum vor dem Fernseher steht, alles mit ansieht und vor sich hinmurmelt: „I say it here – it comes out there.“ So ein ähnliches, fast körperloses Gefühl war das, weil, soweit ich weiß, mir noch nie jemand da hinten im Rachen rumgekitzelt hat.
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Der Rest vom Tag war Orgakram und Bürozeug und Dings. Und zu warm zum Kochen war’s auch. Aber für einen Salat und mal wieder die FAZ hat’s gereicht.
Das Tellerchen mit den Steinen darin ist die Wasserquelle für Insekten, wenn ich dieses Jahr schon keine Blümchen auf dem Balkon habe, um Bienen und Hummeln zu beglücken (kein Auto, Corona, alles doof). Ich sehe blöderweise immer nur Wespen am Wasser anstatt der flauschigen Viecher, aber man will ja nicht diskriminieren.
Was toll war, Dienstag, 28. Juli 2020 – Thierry Mugler
Klamotten gucke ich grundsätzlich lieber in Museen an anstatt in Läden; in London genoss ich vor ewigen Zeiten Armani, in der Münchner Kunsthalle sah ich bereits Gaultier, und in meinem Regal stehen ein paar Bildbände zu Yamamoto und Saint Laurent. Gestern schmachtete ich die Kreationen von Thierry Mugler an, erneut in der Kunsthalle. Die Ausstellung wurde bis Februar 2021 verlängert, und bis dahin solltet ihr sie alle gesehen haben, denn sie ist großartig.
Dass niemand in engen Räumen mehr weiß, was Abstand bedeutet, hat hingegen genervt, aber vielleicht lag das an unserer im Nachhinein doch eher doofen Idee, gleich morgens um 10 an der Kunsthalle zu sein. Als wir um 11 gingen, stand unten niemand mehr an der Kasse und auch oben vor den Austellungsräumen war keine Schlange, während man drinnen dauernd navigieren und die Luft anhalten musste, auch wenn die Anzahl der Besucher:innen natürlich begrenzt war.
Gleich im ersten Raum – die Räume hießen „Akt I, Akt II“ usw., naja – standen die Damen in den Blechgewändern, die ich von Mugler kannte. Ihr auch, falls ihr George Michaels Too Funky noch im Hinterkopf habt, da laufen alle in Mugler rum.
Im Video ist das auch großartige Bustier zu sehen, das aus Motorradteilen besteht und handbemalt wurde. Darauf war ich vor allem gespannt, und es sieht im Original noch toller aus als auf Video. (Oder auf meinem eher müden Foto.)
Im Nebenraum lief dann das eben erwähnte Video, und das rote Cowgirl-Kostümchen sowie das schwarze Spitzenkleid daraus sind zu sehen, das Nadia Auermann trug. Wobei: Die Spitze besteht nicht aus Stoff, sondern aus Gummi, was mich völlig fasziniert hat. Gerade bei den metallenen Kreationen hatte ich zum ersten Mal Respekt vor Models – das muss so irre unbequem sein, die Dinger zu tragen. Aber in ein hochgeschlossenes, langärmeliges Gummikleid zu schlüpfen, dürfte auch mehr Koordination erfordern als ich mir vorstellen kann.
Mugler war einer der ersten Designer, der Fetischassoziationen völlig selbstverständlich in die Haute Couture integrierte: eben das Gummikleid bzw. weitere Materialien wie Latex. Durch Korsetts sowie einer Mischung aus maskulinen Attributen wie breiten Schultern und gleichzeitig feminin konnotierten Zügen wie schmalen Taillen und der Betonung von Brust und Po schuf er eine einzigartige Ausstrahlung für die Trägerinnen seiner Mode. Eine meiner Säulenheiligen, die Kunsthistorikern Linda Nochlin, sprach über diese Art Kleidung mit Mugler (1994) und meinte:
„NOCHLIN: Grandiosity and generosity, at the same time. That I find politically extremely interesting, because it shakes up our ideas of femininity altogether. It’s so extreme.
MUGLER: Thank you!
NOCHLIN: It’s so extreme that these women aren’t sex objects, they’re sex subjects.“
Der letzte Satz steht auch stolz (und gerechtfertigt) im Wandtext meines Lieblingsraums. Dort ist zum Beispiel das Venuskleid von 1995 zu sehen, das Cardi B. als Archivstück 2019 zu den Grammys trug; hier ein achtminütiger Film dazu, hier ein Großteil der Kollektion aus diesem Jahr. Aber vor allem sind dort die Kleider zu sehen, die ich am eindringlichsten mit Mugler verbinde, neben den Metalldingern. Zum Beispiel dieses Kleid, das ich seit 25 Jahren im Hinterkopf habe, weil ich es so grandios finde:
Falls man es nicht erkennen kann: Das Kleid hat keine Träger, der Stoff ist an Brustwarzenpiercings befestigt. Sex Subject. Andere Kostüme hatten Aussparungen, wo Haut durch schwarzen Chiffon schimmerte, wo Stoffteile an hauchdünnen Fäden hingen, so dass alles aussah wie auf den Körper geworfener Stoff, der ganz kurz davor ist, wieder zu verrutschen, was aber nie billig oder nach male gaze aussah. Selbst das oben seitlich zu sehende Kostüm, das die obere Hälfte des Pos freilässt, über dem Perlen hängen, so dass es aussieht wie ein Dekollete, wirkt nicht albern, sondern stilvoll. Und dass unter dem Kostüm im unteren Bild, das deutliche Anklänge an den Fin de Siècle hat, bevor Frauen in losen Hängerkleidchen die 1920er-Jahre revolutionierten, und unter dem weiten Hut aus den 1950er-Jahren ein Ganzkörperanzug aus Latex getragen wird, ist nur konsequent in seiner wilden Mischung aus Zitaten, Neuem, Öffentlichkeit und Privatsphäre.
Dieses auf der Haut getragene Selbstbewusstsein wurde besonders im letzten Raum deutlich, wo Fotos von Helmut Newton hingen, auf denen Models Mugler trugen – bzw. seine Kleidung über sich oder neben sich drapierten, um weiterhin Haut zeigen zu können, Herrgottnochmal. Ich kann mit Newton wirklich überhaupt nichts anfangen, ich finde seine Ästhetik langweilig, und unterstelle ihm, vielleicht zu Unrecht, dass er nur Fotos machte, damit er nackte Frauen anstarren konnte. Jedenfalls sehen seine Bilder so aus. Ich sehe auf ihnen nie die angeblich selbstbestimmte Frau in seinen jüngeren Models, die unbedingt unbedeckt vor dem alten Mann rumstehen müssen, gerne auf hohen Absätzen. Die sehe ich aber in Muglers Kreationen.
Hier noch ein Zitat aus dem oben verlinkten Gespräch zwischen Mugler und Nochlin:
„Nochlin turned up for their meeting in a West Side apartment wearing red socks patterned with black Scotties. Mugler reacted with mock horror. The photographer taking their picture told him not to wrinkle his brow. “I’m supposed to be the aging intellectual,” Nochlin joked. They went on to talk about images of women, about femininity as an enterprise, about the uses of fashion, which Mugler calls “a trick and a game.” If fashion is in fact “a trick and a game,” what does the game tell us about the women who play it?
MUGLER: So many things. A lot, I think.
NOCHLIN: Well, that’s if you think there’s such a thing as women. I’m more inclined to agree with somebody like Joan Riviere, who was a student of Freud and said that femininity is a condition of disguise. I mean, there may be women, but femininity you dress up for. You learn how to be feminine — it’s not something natural, ever. So I would say that the great designer of clothing is always providing additional disguises to create new forms of the feminine. And I would say that clothes tell you something about the choice of the woman who’s wearing them, but they don’t tell you anything about the quote-unquote real woman, because I don’t think there is a real woman. There’s a real person, but I don’t think it’s a woman.
MUGLER: Very true. There is only the person who chooses to play the feminine role, to experience different aspects of femininity. […]
Linda, it sounds to me as if your theory is not so much that the woman is natural but that the person is natural and the woman artificial.
MUGLER: Not only the woman but the whole mythology of femininity.
NOCHLIN: Exactly. But I would also tie it in to certain postmodernist ideas about the self — that there is no self, even. That the self is a condition of disguise and that we can move back and forth in terms of sexualities, in terms of social being, in terms of all kinds of senses of who we are. And I think fashion helps us wonderfully in this. That’s why, in a sense, I would say that fashion is the postmodern art, because it helps to destabilize the self in such a wonderful way.“
Durch meine aktuelle Faszination mit Selbernähen weiß ich inzwischen, wie anstrengend das ist, zwei Stoffstücke mit geraden Nähten zusammenzubekommen. Daher warfen mich die unglaublichen Nahtbilder in der Ausstellung komplett in eine Sinnkrise. Zu sehen, wie perfekt gefühlt 80 Teile pro Jäckchen zusammengefügt wurden, um die unnachahmlichen Wellen, Kanten und dreidimensionalen Elemente, die in den Raum stoßen, herzustellen, war großartig. Kann man erneut auf meinem unteren Foto nur erahnen, dass die weißen Elemente nicht nur Flächen sind, sondern Formen. Ich war sehr früh entschlossen, den Katalog zu kaufen, solange er halbwegs bezahlbar war, um diese Werke noch länger studieren zu können, aber er kostete 79 Euro und war nur ein großes Bilderbuch ohne Detailaufnahmen oder auch nur unterschiedlichen Ansichten eines Stücks. Dann eben nicht.
Auch Kostüme waren zu sehen, die mir eher egal waren; auf einer Bühne kann man sich austoben, auf dem Laufsteg gibt es wenigstens ein paar Grenzen, denn irgendwer muss Haute Couture in Prêt-à-porter übersetzen. Trotzdem freute ich mich sehr über das einzige Plus-Size-Kostüm, das es zu sehen gab. Auch das war durchaus eine Erfahrung für mich, die es seit Jahren vermeidet, sich allzusehr Kleidergrößen um die 34 auszusetzen, um nicht ständig mit der eigenen Nicht-34 konfrontiert zu werden und in alte, selbstfeindliche Denkspiralen geworfen zu werden. Das ging überraschend gut, vielleicht hat meine derzeitige Social-Media-Nutzung von diversen Haute-Couture-Accounts diese Körperform wieder für mich normalisieren können, ohne sie erneut irreal und für mich unterreichbar zu idealisieren.
Der letzte große Raum zeigte Muglers Insects-Kollektion, bei der er sich von, genau, Insekten und ihren schillernden Oberflächen inspirieren ließ. Die Chimäre, die auf jedem Ausstellungsfoto und natürlich der Website groß zu sehen ist, war toll, aber ich fand diesen Hosenanzug viel toller: Das Wabenmuster im Blazer ist nur auf einer Hälfte zu sehen und dreidimensional gestaltet, die dunklen Linien sind keine Linien, sondern wirklich Einbuchtungen, kleine Zerklüftungen im Stoff. Wie macht man sowas? Das fragte ich mich eh die ganze Zeit und mein Mund stand wahrscheinlich dauernd undamenhaft offen. Aber das sieht unter der Maske ja niemand, ha! Nebenbei wäre diese Ausstellung eine Steilvorlage für Mund-Nasen-Schutz-Verkäufe in Rekordhöhe gewesen, aber darauf ist keiner im Shop gekommen, der in der Kunsthalle eh seltsam ist. Bling und Bleistifte, nichts dazwischen. Bitte nehmen Sie sich alle ein Beispiel an der Albertina oder dem Kunsthistorischen Museum in Wien.
Probleme hatte ich allerdings mit einigen Fotos von Mugler selbst, der seine Modelle gerne an beeindruckender Architektur inszenierte. Mit der Pariser Oper oder dem Chrysler Building kann ich arbeiten, aber zwei gut gelaunte Modepuppen vor die faschistischen Statuen Roms zu stellen, war mir ein bisschen zu wenig nachgedacht. Und auf die erwähnten Newtons hätte ich verzichten können. Dafür hätte ich vom Rest gerne mehr gesehen; in Montreal, einer der anderen Stationen der Schau, stand anscheinend ein bisschen mehr rum. Sei’s drum: große Anschauempfehlung. Vielleicht nicht gleich morgens um 10.
Was schön war, Freitag, 24. Juli 2020 – Mein erstes Kleidungsstück
Als ich vor 35 Jahren im Handarbeitsunterricht erstmals an einer Nähmaschine saß, musste mir meine Mutter mit geraden Nähten helfen, um aus vier Quadraten eine Kissenvorderseite zu nähen, die nicht so aussehen sollte, als hätte ich sie im Dunkeln zusammengetackert. Am Reißverschluss versuchte ich mich erst gar nicht und beschloss, dass Nähen wohl nicht so meins ist.
Diese Einstellung hielt bis ungefähr April 2020, als wir uns alle mit der Idee anfreunden mussten, demnächst mit Mund-Nase-Schutzen herumlaufen zu müssen, um in einen Supermarkt zu dürfen. Ich holte Omas Nähkiste aus dem Regal, fand Nadel, Faden und Gummibänder, zerschnitt eine Stoffserviette und nähte meine erste Maske. Das war eher Verzweiflung und Langeweile als der Anfang einer begeisterten Nähkarriere, aber, keine Ahnung warum, mein Interesse an Handarbeiten war geweckt. Ich bestellte schönen Stoff und passendes Garn, nähte weiter Masken und wartete, bis im Juni eine erschwingliche Nähmaschine wieder verfügbar war, die vermutlich in der Zeit der Ausgangsbeschränkungen alle bestellt hatten (die hatte im November 2019 auch eine gute Bewertung von Stiftung Warentest bekommen). Die ersten Nähversuche waren spannend, auch wenn ich merkte, dass es mir immer noch nicht leicht fällt, einfach eine gerade Naht zu nähen, aber dieses Mal war der Ehrgeiz geweckt, es selbst nochmal zu machen anstatt es dem Mütterlein hinzulegen und lieber ein Buch zu lesen.
Auf der Zugfahrt in den Norden vor Kurzem trug ich eine maschinengenähte Maske mit schicken Bändern statt Gummiband und halbwegs geraden Nähten (HA!), vorgestern hatte ich mir ein Schnittmuster aus dem Internet geladen, um das ich schon länger rumgeschlichen war, vor einigen Wochen hatte ich mir günstige Stoffe, weil Restposten und vorgeschnitten, beim Karstadt gekauft, und so saß ich gestern vor meinem ersten ausgedruckten Schnittmusterbogen, von dem ich meine normale Kleidergröße bereits auf Pergamentpapier übertragen hatte, und war sehr aufgeregt.
Ich las lieber nochmal in meinen beiden vorhandenen Fachbüchern nach (Nähen – vielleicht doch eher was für Menschen, die schon ein bisschen wissen, was sie tun; Passt perfekt – sehr motivierend geschrieben, ich arbeite mich gerade anständig durch anstatt es weiter zu überfliegen), ob ich irgendwas vergessen hatte, und das hatte ich natürlich, nämlich die irre wichtige Nahtzugabe. Beschwingt fuhr ich mit meiner bunten Schneiderkreide auf dem doppelt ausgelegten Stoff relativ Freihand um das ausgeschnittene Stück Papier und wunderte mich dann, als ich beide Teile aufeinanderlegte, dass sie nicht perfekt aufeinander passten. Bis mir einfiel, dass mein Körper nicht der eines achtjährigen Jungen ist und daher das Vorderteil etwas mehr Volumen hat als das Rückenteil. Wieder was gelernt. Alle Menschen, die routinemäßig an Kleidung sitzen, dürfen sich wieder beruhigen vor Lachen.
Ich erspare euch die weiteren, äußerst naiven Handwerksschritte, die ich alle zum ersten Mal ausführte, was ich aber genau deshalb sehr spannend fand. Das war eine kleine Entdeckungsreise zu einem alltäglichen Gegenstand: Wieso kommt hier ein Saum hin, passt das wirklich, wenn ich es anziehe, wieso sieht das hingelegt unpassend aus, aber sobald ich es zusammennähe, stimmen die Übergänge wieder – und nebenbei: Das nächste Mal achten wir etwas besser auf die Linien auf dem Schnittmuster, damit das Vorderteil nicht zehn Zentimeter länger ist als das Rückenteil. Das System der Brustabnäher ignorierte ich vorerst, ich wollte einfach erst einmal verstehen, was ich da eigentlich tue und wie ein so simples Kleidungsstück wie ein Top, das nur aus zwei Teilen besteht, funktioniert und konstruiert ist, damit ich bei meiner mehrfarbigen Bluse mit Rosshaarkragen und 17 Knopfvarianten, Taschen und einem langen Rücken weiß, was ich zu tun habe. (Haha.)
Und so konnte ich nach zwei Stunden (ja, das dauert bei mir noch lange) ein Top überziehen, das interessanterweise genau an den Stellen nicht gut saß, wo auch Kleidung nicht gut sitzt, die ich von der Stange kaufe. Aber jetzt weiß ich, wo ich ansetzen kann, um endlich keine Blusen mehr tragen zu müssen, die am Oberarm zu eng und gleichzeitig über der Brust zu weit sind. Hoffe ich jedenfalls. Und natürlich ist das totale Absicht, dass die Naht außen am Arm etwas weiter weg von der Kante sitzt als die am Hals, ist klar.
Nebenbei kann man Physiker mit einem Maßband in den Wahnsinn treiben, wenn sie dich vermessen sollen: „Für jeden Scheiß gibt es präzise Instrumente und hier brummelgrummelmuff.“ So niedlich! Auch nebenbei, wobei das nicht ganz so nebenbei ist für jemanden wie mich, die Jahrzehnte mit ihrem Körper auf Kriegsfuß gestanden hat: Die hohen Zahlen zu hören, die halt kommen, wenn man meinen Bauch, meine Taille oder meinen Oberschenkelumfang misst, konnte ich ziemlich ungerührt in meine Tabelle eintragen, ohne in eine Sinnkrise zu kommen (ein Grund, warum ich mich lange eben nicht an eine Nähmaschine setzen wollte). Seit ich keine Waage mehr habe, gibt es keine Zahl mehr, die mich terrorisieren könnte oder über die ich meinen Selbstwert definiere. Und so waren auch diese Zahlen keine Angabe darüber, ob ich ein guter Mensch bin oder ein undisziplinierter Haufen Fett: Sie waren einfach nur Zahlen, die meine Körperumfänge wiedergeben. („ABER SO UNPRÄZISE BRUMMELGRUMMELMUFF!“)
Tagebuch Dienstag, 14. Juli 2020 – Dinge, die ich gestern gelernt habe, als das Mütterchen und ich uns nach Feierabend ab 21 Uhr einen kleinen Rosésekt gönnten (oder zwei)
Auf dem Grundstück meiner Eltern blüht eine Rose, die ein Ableger einer der ersten Blumensträuße war, die mir mein erster Freund so circa 1987 geschenkt hat. Muss ich dem Herrn noch persönlich erzählen, er liest mein Blog nur sporadisch, unglaublich.
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Dann sprachen wir lange über die Kriegs- und Nachkriegszeit.
Ein großer Teil eines Flüchtlingstrecks aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (oder wie es die Dorfchronik von 2001 nennt: „Deutsche Ostgebiete“, ähem) kam Ende März 1945 in Bissendorf an, meinem Heimatdörfchen. Damals hatte Bissendorf, soweit ich die wenigen mir hier zur Verfügung stehenden Quellen interpretiere, gut 1000 Einwohner. Der Treck stammte aus der Gemeinde Groß Rohdau (Rodowo), die 1944 ebenfalls um die 1000 Einwohner hatte. Das gesamte Dorf machte sich im Januar 1945 mit einem Treck aus 60 Pferdewagen auf den Weg in den Westen. In Mecklenburg trennte sich der Treck; einige fuhren nach Bremen oder Schleswig-Holstein, andere zogen weiter in Richtung Niedersachsen. In der Chronik ist nicht verzeichnet, wieviele Menschen genau nach Bissendorf kamen, es werden 14 Familien namentlich erwähnt.
Die Chronik listet außerdem 133 Familien auf, die angeblich bis 1948 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Bissendorf kamen, darunter auch die meiner Mutter, die mit ihrer Mutter, deren Schwester und deren zwei Kindern aus Ostpreußen kamen, beide Ehemänner waren gefallen. (Die Familien meiner Mutter kamen erst Anfang der 1950er-Jahre.) Ich war erstaunt darüber, wieviele der Namen ich aus meiner Kindheit kannte. Die Vorfahren unserer Nachbarn stammen aus Litauen, die unseres Dorfschusters, von dem ich jedes Paar Schuhe bekam, bis ich ungefähr 15 war, aus dem eben erwähnten Rohdau in Westpreußen. Die Eltern einer langjährigen Freundin meiner Mutter waren ebenfalls auf diesem Treck. Weitere Namen, die ich kannte, hatten Vorfahren in Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien.
Meine Mutter erzählte, dass sie bis 1947 in der Nähe von Lapkeim (Łapkiejmy) lebten, nachdem sie aus Bartenstein (Bartoszyce) geflüchtet waren. Danach kamen sie zunächst in ein Flüchtlingslager in Brandenburg, in dem sie aber nur wenige Wochen blieben. „Am 4.11.1945 legte die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler einen ersten Arbeitsbericht vor. Demnach waren in der Sowjetischen Besatzungszone 568 Lager für die Aufnahme und Verteilung der Vertriebenen und Heimkehrer eingerichtet worden, davon in der Provinz Mark Brandenburg allein 63 Lager. Das Gesamtfassungsvermögen aller Lager betrug ca. 484.000 Personen.“ (S. 20) „Heimkehrer“ ist hier ein euphemistischer Begriff, der laut Verordnung der sowjetischen Militäradministration in der SBZ verwendet werden sollte und ehemalige Kriegsgefangene meinte. (S. 4) Meine Mutter erinnert sich an kaum noch an das Lager, nur daran, dass sie „weißen Puder“ in die Haare bekamen, vermutlich ein Entlausungsmittel. (Zitate aus Sven Olaf Oehlsen: Vertriebenenlager in Brandenburg 1945–1953, Potsdam 2006, hier als PDF.)
Ab Anfang der 1950er-Jahre lebten meine Mutter, ihre Mutter mit Schwester und Kindern gemeinsam in einem einzigen Zimmer einer Familie hier in Bissendorf, bis 1966 mit Plumpsklo auf dem Hof. Als ich bei der Erzählung meinen Mund (hinter der Maske) verzog, meinte meine Mutter nur sinngemäß: „Omi und Tante Erna meinten immer nur: ‚Es ist Frieden und wir haben ein Dach über dem Kopf.‘ Daher empfand auch ich die Situation nicht als so belastend, wie sie jetzt vielleicht klingt.“
Das rückte dann ein paar FirstWorldProblems bei mir im Kopf wieder gerade.
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Meine Mutter ging keine sieben Jahre zur Schule. Als sie 6 war, lebte sie noch in Polen und wurde nicht eingeschult, sie kam erst mit 7 in Brandenburg in die Schule und erinnert sich noch an eine russische Wendung, von der sie aber nicht mehr weiß, was sie bedeutet, aber sie mochte die Schrift so gerne. In Niedersachsen beendete sie die Volksschule, aber für eine weiterführende Schule hatte die Familie kein Geld. Sie begann mit 14 eine Lehre, um „ins Büro zu gehen“, und lernte schließlich noch Fremdsprachenkorrespondentin. Als sie meinen Vater Anfang der 1960er-Jahre kennenlernte, sagte sie, ihr gestriges Zitat wörtlich: „Ich kann mir keinen festen Freund leisten, ich möchte beruflich vorankommen.“ Ich guckte verständnislos, woraufhin sie meinte: „Das war vor der Pille.“ Ach ja. Also suchte sich Väterchen einen Job im Schwarzwald, damit die beiden Frischverliebten sich nicht so oft sehen konnten. (Ich grinse gerade beim Tippen und finde meine Mutter toll.) Zwischen 1962 (?) und Anfang 1967 arbeitete Papa dann in Hamburg, im Juli 1966 haben beide geheiratet.
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1967 zogen beide zusammen – in ein Zimmer im Haus der Eltern von Papa. Mama wollte danach für ihre Mutter ein Foto als Abschiedsgeschenk machen lassen. Dafür schritt sie, ihrer Erzählung nach, diverse Schaufenster von Fotografen in Hannover ab und entschied sich für einen Herrn Julius, der damals, Mamas Worte, „die Operndiven“ fotografierte und deren Bilder ausstellte. Sie übte tagelang eindrucksvolle Posen vor dem Spiegel und war ziemlich überrascht, dass das beim Fotografen nicht so gut ankam. Der meinte aber: „Sie sind eine optimistische Persönlichkeit, und solchen Menschen wollen wir in die Augen schauen. Gucken Sie mich mal an!“
Etwas später wurde auch mein Vater vom selben Fotograf abgelichtet, beide Bilder sind aus dem November 1968.
Was schön war, Freitag bis Sonntag, 3. bis 5. Juli 2020 – Alles
Freitag war erstmal Zeug-erledigen-Tag: Steuer gemacht und Unterlagen für die Steuerberaterin eingetütet. Dann musste ich zu meiner Ärztin, einen neuen Schwung der Standardmedikamente besorgen. Ich war ein bisschen faul und dachte über die vier Stationen U-Bahn nach, überzeugte mich aber doch vom maskenfreien Fahrradfahren und war im Nachhinein sehr dankbar dafür, weil Radfahren halt toll ist. Auch wenn man sich durch eine Stadt quälen muss, in der Baustellen eher für Autos und Fußgänger:innen gedacht sind und ich sehr oft absteigen muss, um überblicken zu können, wo ich jetzt eigentlich langfahren darf.
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Der Nachmittag gehörte dann „Hamilton“, dessen Aufzeichnung von 2016 Freitag auf Disneyplus startete, für das ein Freund *hust* Zugangsdaten hat, die ich nicht habe.
Ich kannte den Inhalt des Stücks, einige wenige Songs (ich habe den Soundtrack nie durchgehört) und alle popkulturellen Memes des Dings, aber ich war doch ziemlich begeistert vom Gesamtprodukt. Netterweise war nicht alles Hip-Hop, sondern es gab auch die schmachtigen Musicalnummern, die ich so mag. Sehr gute Balance, großartige Darstellerinnen, nur ein paar winzige Stellen, bei denen ich missmutig die Stirn runzelte, nicht zu viel Comic Relief, sondern genau richtig dosiert, viele Ebenen und psychologische Tiefen, auf die ich gar nicht vorbereitet war: Alles in allem hervorragende Unterhaltung, die ich mit englischen Untertiteln genoss, weil ich sonst nur die Hälfte mitgekriegt hätte.
„I spent almost seven years writing Hamilton as a piece of theater—and the goal was for as many people to see it in that form as possible—in the same space as the performers, in the room where it happens. But we also know that access is always an issue with something as ephemeral as live theater, so we filmed the show before the original principals started to leave. We always wanted to democratize that experience—a snapshot of what it was like in the Richard Rodgers Theatre in 2016—and give everyone access to it.“
Und er hat noch was Gutes zu Kunst (und/oder Unterhaltung) zu sagen:
„Imagine this lockdown without any of the entertainment to which you’ve had access—no movies, no TV, no music, no books. Art is escape, art is catharsis, art is distraction, art is illumination—it’s what makes the hard times just a little easier.“
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Abends kam F. vorbei und brachte den kleinen Luxus mit. Käse von Jamei, Brot von Julius Brantner und Wein, den wir im Wien im Mast getrunken hatten.
Pappsatt gemeinsam eingeschlafen.
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F. hatte neben zwei Kilo Käse, Brot und Wein noch etwas zu mir geschleppt: eine Nähmaschine. Die hatte auf der Website eine angegebene Lieferzeit von acht bis zehn Tagen, was für mich ungünstig war, weil ich dann im Norden weilen werde, also ließ ich sie zu F. schicken – und das Ding kam einen Tag nach Bestellung an. Auch gut.
Zum Nähen braucht man Stoff, aber da ich meine ersten Maschinenstiche nach 35 Jahren nicht auf meinen guten Stoffen ausprobieren wollte, radelte ich zum Karstadt am Hauptbahnhof, betrat dort erstmals die Stoffabteilung und war logischerweise überfordert. So viel Zeug! So viel Auswahl! Nicht alles fand ich hübsch, und ich wollte auch zum Üben wenigstens was halbwegs Hübsches haben. Ich ging zu den Tischen, auf denen vorgeschnittene Reste lagen, die dementsprechend niedrigpreisig waren und fand zwei dunkelblaue Teile, eins davon in fieser Stretchqualität, die mich sofort reizte, weil ich ahne, dass ich dabei prima fluchen werde, und eins in burgunderrot, das mir sogar als Maskenstoff tragbar vorkam. Noch ein paar Rollen Garn eingepackt, endlich einen Fingerhut, den ich beim Handnähen schon öfter vermisst hatte, und ein paar Maschinennadeln, und dann radelte ich mit sechs Metern Stoff und Kleinkram für akzeptable 35 Euro wieder nach Hause.
Dort las ich brav die Bedienungsanleitung der Maschine durch, guckte erneut ein Video, über das ich vor Monaten gestolpert war, und das mir, warum auch immer, total die Angst vor dem Nähen nehmen konnte, fädelte profimäßig Unter- und Oberfaden ein und gab Gas mit dem Fußpedal. Dabei fiel mir wieder ein, dass mein rechter Fuß ja nicht mehr so genau weiß, was er tut, weswegen auch das wieder eine neue Bewegung war – vor 35 Jahren wusste mein Fuß halt noch, wie’s ging. Jetzt lernt er es neu, warum soll mein Kopf auch der einzige Körperteil sein, der dauernd was Neues lernen muss. Und meine Hände waren auch beschäftigt: Wie hält man den Stoff, wie bewegt man den – oder auch nicht –, was kann ich von meinen händischen Nähversuchen übernehmen? Ich war beschäftigt und zufrieden, finde aber, dass meine erste Maske mit Maschine unordentlicher aussieht als meine letzte von Hand. (Gerade Nähte sind gar nicht so einfach! Danke für die Tipps auf Insta.)
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Samstag war auch der Tag, an dem ich erneut Nasi Lemak zubereitete. Der erste Versuch war okay gewesen, aber noch nicht brillant. In den letzten Wochen hatte ich mich etwas mehr mit Chili und Co beschäftigt und wagte einen erneuten Kochvorgang, dieses Mal mit meinen Mengenangaben und ein bisschen weniger Anchovis im Sambal, nämlich gar keine.
Das Sambal bestand aus fünf Chilischoten, allerdings ohne Kerne, Knoblauch, Schalotten, Tamarindenpaste (wenig!) und Krabbenpaste (auch wenig) und war dieses Mal hervorragend zwiebligSCHARF mit leichter Sauernote und Krabbengrund. Für den Kokosreis hatte ich leider kein Pandanblatt, aber der war auch so gut. Habe den Duft des Blatts trotzdem sehr vermisst, jetzt wo ich dauernd an der Tüte mit den getrockneten Limettenblättern schnuppere, weil sie so herrlich riechen. Erdnüsse und Anchovis wurden dieses Mal brutalst frittiert anstatt brav angebraten, es gab wieder Spiegelei statt einem gekochten und alles zusammen war: so – toll! Aus dem Handgelenk genau die richtige Menge an Schärfe produziert, mit der ich im Moment gut leben kann. Ich nenne meine Kochversuche „kinky food“, weil sie genau den Punkt zwischen Vergnügen und Schmerz treffen sollen – ich will schon merken, dass ich scharf esse, aber mein Mund soll bitte nach 15 Minuten aufhören zu kribbeln.
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Abends nochmal „Hamilton“ geguckt, warum auch nicht. Gemerkt, dass der Darsteller des Königs der Herr ist, dessen Stimme ich als Kristoff in „Frozen“ so gern mag. Seitdem Ohrwurm der drei kurzen Songs von George III. Klickt bloß nicht auf den Link.
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Für den Sonntag waren F. und ich mit einem charmanten Herrn verabredet. Meine erste Verabredung seit … weiß ich schon gar nicht mehr. Und das im Biergarten, in dem ich in diesem Jahr noch gar nicht war. Ich schlief nicht ganz so gut, weil ich Angst vor unverantwortlichen Horden in Alkohollaune hatte und ich eigentlich weiterhin alle nicht notwendigen Kontakte unterlassen möchte. Ich überzeugte mich selbst durch „ist an der frischen Luft“ und „wenn’s doof ist, gehst du halt wieder“.
(Über den geradelten Hinweg, der doppelt so lang war die Google behauptet, weil Frau Gröner manchmal zu doof ist, Karten zu kapieren, schweige ich hier sehr, sehr, sehr laut und noch einen Tag später irre angenervt von mir selbst.)
Man musste am Eingang ein Formular ausfüllen, wer zur Gruppe gehörte, mit Namen und Handynummer. Dann setzte man seine Maske auf, ging sich ein kleines Bierchen holen, hielt dabei Abstand und suchte sich dann einen der vielen Tische aus, die um 12 Uhr mittags noch sehr spärlich besetzt waren und in ausreichendem Abstand zueinander aufgestellt waren.
Das war deutlich entspannter als ich dachte, auch weil, hervorragende Idee, es Kellner:innen gab, die bei niedrigem Getränkepegel an den Tisch kamen und nach einer neuen Runde fragten. So rennen nicht alle dauernd durch die Gegend, wie es im Biergarten eigentlich üblich ist. Kostet, wenn ich richtig geguckt habe, einen Euro mehr, aber das ist es wert. Ich sah auch niemanden ohne Maske unterwegs, und am Tisch darf man sie natürlich abnehmen. Dadurch, dass die Tische weitläufiger standen, kam uns auch außer der Kellnerin niemand am Tisch zu nahe. Es gab keine Plastiktrennwände und Absperrbänder, wie ich es befürchtet hatte, sondern es war ein (fast) normaler, sehr angenehmer Tag im Biergarten, und ich merkte erst danach, wie sehr mir sowohl Gespräche mit anderen Menschen als auch das gewohnte Rumlungern beim Radler gefehlt hatten.
Nach vier Stunden Menschen, Bier und Sonne war ich allerdings völlig fertig für den Resttag und lungerte nur noch auf dem Sofa rum, wo ich gefühlt alle zehn Minuten kurz einnickte, wie es sich für Sonntage auf Sofas gehört.
Immerhin noch ne Runde Wäsche gemacht und ein Kilo Kirschen gegessen, aber ansonsten nur noch ins Bett gefallen und mich über drei gute Tage gefreut.
Was schön war, Dienstag, 30. Juni 2020 – Abgegeben, aufgeräumt, Wein geöffnet
Keinen Wecker gestellt, denn ich hatte nur einen Termin, für den würde ich schon rechtzeitig wachwerden. War dann auch so. Ich musste ein Paket mit drei Dissertationen (und einer CD. EINER CD!) zur Post bringen, und danach wollte ich die ganzen Bücher aus UB und Stabi zurückbringen.
Ich habe nur kleine Küchenwaagen im Haus, daher wusste ich nicht, wieviel Porto ich auf mein Paket kleben sollte. Anhand von super-exakten Versuchsreihen mit meiner 5-Liter-Gießkanne meinte ich zu erkennen, dass das Paket mehr als 5 Kilo wog und entschied mich für das Porto für Pakete zwischen 5 und 10 Kilo. Gegen halb zehn verstaute ich es auf meinem Gepäckträger, radelte zur Post, wo ich nach 30 Sekunden Wartezeit drankam, das Porto schien okay zu sein, ab damit.
Wieder nach Hause geradelt und einen noch schwereren Bücherstapel als mein Paket auf Gepäckträger und Rucksack verteilt. Acht Bücher in der UB abgegeben, zwei in der Stabi.
Zum Einkaufen geradelt, eingekauft. Zuhause meine leere Ablage bestaunt. Die sah noch nie so leer aus, seit ich hier wohne, weil immer ein Bücher- und Zettel- und Kopien- und Zeugstapel hinter mir lag mit Dingen, die ich genau in diesem Kapitel, an dem ich gerade saß, dauernd brauchte.
Zwei Mails an Doktorvater und Zweitprüferin geschrieben mit dem Textdokument der Diss als Anhang. Zwei WeTransfer-Links verschickt für den 300 MB großen Abbildungsteil.
An die Decke geguckt. Masterchef Australia geschaut und mich darüber gefreut, dass gutes Essen Menschen zum Weinen bringt, weil’s stimmt. Einen Riss in einer Hose geflickt. Udon-Nudeln mit Gemüse und Sesamsauce gegessen. An die Decke geguckt. Vor Netflix eingeschlafen. Mit Lektorgirl telefoniert und mir Pep-Talk abgeholt. Erneut vor Netflix eingeschlafen. Mit dem Mütterchen telefoniert und den nächsten Heimatbesuch klargemacht, denn die Diss ist jetzt abgegeben und der eine Job, der noch in der Pipeline ist, lässt sich gerade etwas Zeit, das wird schon passen. An die Decke geguckt.
Den Sommerabend mit F. und zwei Flaschen Wein auf dem Balkon verbracht, von denen nur eine geplant war. Nicht über die Diss geredet! (Okay, kaum.) Mich über die angenehm unheißen Temperaturen gefreut und meine Lichterkette und den Wein und die hervorragende Gesellschaft im kleidsamen hellblauen Shirt. Deutlich besser geschlafen als in den Nächten vorher.
„Die Diss ist jetzt abgegeben.“ Klingt immer noch komisch.
Vorgestern machte ich aus meinen Dokumenten mehrere PDFs und legte sie in den Ordner „Diss für Druck“. Direkt danach lehnte ich mich im Schreibtischstuhl zurück und fing an zu weinen, keine Ahnung warum. Schlussspurt-Übermüdung, traurige Erleichterung (jetzt isses geschafft, yay! Oh noes, jetzt ist es geschafft, nay!), das Gefühl eines Meilensteins und gleichzeitig die Hilflosigkeit des „Und was jetzt?“
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Gestern stellte ich mir keinen Wecker, war aber zu früh wach für den Copyshop und guckte idiotischerweise nochmal über das Dokument, wobei mir natürlich im Inhaltsverzeichnis noch ein Fehler auffiel, den ich dann lieber auch nochmal im ganzen Dokument gegencheckte (Danke, „Suchen“ bei Word) und ein-, zweimal korrigierte, woraufhin ich das Text-Dok und das Inhaltsverzeichnis-Dok nochmal als PDF erstellen und nochmal in den Ordner packen musste.
Mit vier Einzeldokumenten auf dem USB-Stick (einmal Farbe, dreimal Schwarzweiß) radelte ich zum Copyshop, wo man mir sagte, dass über 500 Seiten, auch teilweise beidseitig ausgedruckt, zuviele seien, das könne man nicht mehr vernünftig binden. Daraufhin radelte ich wieder nach Hause, machte aus allem zwei Bände, fasste dementsprechend erneut das Inhaltsverzeichnis an (Band I/II, Band II/II), bastelte für Band II ein huschiges Titelblatt und radelte wieder zurück. Dann wurde gedruckt und gebunden und dann sah das ganze so aus:
Drei Exemplare kriegt die Uni, eins meine Mama, die es vermutlich neben meine Masterarbeit ins Regal stellen wird, falls das Ding überhaupt stehen kann.
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Seit Monaten habe ich von meinen wenigen Online-Bestellungen die Kartons aufgehoben, weil ich wusste, dass ich einen brauchen werde, aber die waren alle zu klein. War ja klar. Deswegen zerschnitt ich den Kopierpapierkarton, den mir der Copyshop zum Transport mitgegeben hatte, füllte den Zentimeter bis zum ebenfalls mitgegebenen Deckel mit Dämmmaterial von Xocolat auf, verklebte ihn, damit er einen Atomkrieg (oder DHL) übersteht und werde ihn heute zur Post tragen, denn ins Prüfungsamt darf man wegen Corona immer noch nicht persönlich.
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In diesem Copyshop habe ich übrigens meine Bachelor-, meine Masterarbeit und nun die Diss ausdrucken lassen. Fand ich schön.
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Ich hatte unterschätzt, wieviel Papier ich produziert habe. Ich ließ alles bis auf die Abbildungen beidseitig drucken, aber 356 Seiten reiner Text plus 100 Seiten Bilder plus 17 Seiten Ausstellungsverzeichnis plus 40 Seiten Werkverzeichnis sind dann auch eine Ansage. Ich kannte das gute Stück bisher ja nur als niedliche Datei auf dem Rechner. Jetzt ist es eben ein Klotz und fühlt sich ziemlich beeindruckend an. Wenn mir demnächst langweilig wird, formatiere ich das mal auf Normseiten um.
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Abends wider besseres Wissen in ein Exemplar reingeblättert und gemerkt, dass mir beim „Band I/II“-etc-Einfügen eine Zeile doof umgebrochen ist. Zu müde gewesen, um mich darüber zu ärgern. Traue mich jetzt nicht, den Layout-Snafu in der Datei auszubessern, die meine Prüfer*innen heute kriegen, denn das ist dann ja nicht mehr das Dokument, was im Prüfungsamt landet.
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Gestern meinte jemand auf Twitter, dass ich doch gerade erst meine aufgeregten Ersti-Tweets abgesetzt hätte. Genauso fühlt sich das für mich auch an. Das war aber schon 2012, ich vergesse das auch dauernd.
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Die kleine Sache, dir mir am Wochenende noch eingefallen ist, hat sich übrigens erledigt, danke, blitzschneller Campus-Lieferdienst fürs Nachgucken in einem Buch, an das ich gerade nicht rankomme, alles richtig gemacht mit dem Ausdrucken. Zu dieser Sache ein kleiner Lesetipp nebenbei. Man lernt nie aus. (Ach was. ACH WAS?!?)
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Über diesen Tweet habe ich mich auch sehr gefreut.
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Zum ersten Mal seit acht Jahren weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll.
Was schön war, Freitag bis Mittwoch, 19. bis 24. Juni 2020 – Zweiter Archivendspurt
Freitag: letzte Fußnoten in der Bibliothek des Deutschen Museums erledigen. Danach bekam ich von einer Blogleserin eine top-exklusive Privatführung durch das Magazin der Bib (danke!) und durfte im Rara-Lesesaal ein paar alte und tolle Bücher anschauen, zu denen mir der Leiter der Bibliothek etwas erzählte. Beim Bild einer 20 Zentimeter großen Vogelspinne, die einen Kolibri frisst, in Maria Sibylla Merians Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumennahrung (die Ausgabe im Deutschen Museum ist von 1719) habe ich memmig weggeguckt, wo Merian lustig kupferstichte. In einem Buch von Alexander von Humbold bewunderte ich die clevere Zeichnung eines Berges, in den Pflanzen eingeschrieben wurden, je nach Höhenlage. An der Legende an der Seite entdeckte ich „Caffé“ und „Kartoffeln“, aber dann ging’s schon weiter. Mit dem Buch wäre ich gerne noch ein bisschen alleine geblieben. Es gab eine Enzyklopädie, die vor der Diderots erschien, ein Buch mit Abbildungen der Mondoberfläche und den Rest habe ich schon wieder vergessen, aber es war großartig, diesen Schätzen so nahe kommen zu können. Theoretisch könntet ihr das auch, aber jetzt gerade nicht. (Die SITUATION!)
Im Magazin lernte ich, dass die Erwerbungen hier nicht nach Sachgebiet stehen, sondern nach dem Jahr des Eingangs. Daraufhin wollte ich dringend irgendwas zwischen 1933 und 1945 sehen, guckte mich kurz 1939 (?) fest und sah als erstes komplette Jahrgänge einer Zeitschrift, die wir im ZI nur als Rara-Bestand haben, die ich aber hier anscheinend innerhalb von einer Stunde auf dem Tisch gehabt hätte. Ich unterschätze diese Bibliothek ganz ungemein. Macht nicht denselben Fehler wie ich! Gleich mal eine Lesekarte holen! Kostet nix! Ich lernte nämlich auch, dass die Bibliothek von Anfang an beim Museum mitgedacht wurde: Wer im Museum noch Fragen hatte, sollte einfach nach nebenan gehen und sich ein Buch aus dem Regal ziehen können. Deswegen ist die Bib auch öffentlich und am Wochenende geöffnet, genau wie das Museum. Bei mir hatte die Bibliothek schon gewonnen, als ich sah, dass Scans nichts kosten. Dafür gibt so so gut wie keine Steckdosen, aber irgendwas ist ja immer.
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Samstag. Kopf ausgemacht, Curry gekocht, mich über den Klassenerhalt von Augsburg gefreut. Mich von der langen letzten Woche ausgeruht. Konnte mich nicht auf den Bachmannpreis konzentrieren, der mir im letzten Jahr so viel Freude gemacht hatte. Nur eine Lesung und eine Jurybesprechung nachgeholt und einen der neuen Juroren gleich mal backpfeifen gewollt.
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Sonntag. Kopf wieder angemacht und das Abbildungsverzeichnis runtergerockt. Jetzt aber wirklich. Dabei natürlich noch einen Fehler gefunden – irgendwie in den 60er-Nummern verzählt, woraufhin ich 140 Folgenummern in Diss und Verzeichnis ändern musste. Zum ersten Mal kapiert, warum mir alle Leute gesagt haben: Automatisier das! Mach nicht deine übliche Handarbeit. Ihr hattet alle recht, und beim nächsten langen Text höre ich auf euch.
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Montag. Endlich war mein im Mai beantragter Perso in München angekommen, was ich online jeden Tag hektisch abgefragt hatte, denn das Prüfungsamt hätte gerne eine Kopie desselben. Die Frist zur Anmeldung zur Promotionsprüfung geht bis heute; notfalls hätte ich meinen ungültigen Ausweis kopiert, den Abholschein der Stadt und das Schreiben der Personalausweisbehörde, das mir PIN und PUK mitteilte und das sinngemäß begann: „Ihr neuer Perso wird gerade hergestellt“, um irgendwie zu vermitteln: Ich habe theoretisch einen Ausweis, nur jetzt noch nicht! Das war netterweise nicht nötig.
Ich radelte zum online vereinbarten Termin bei Kreisverwaltungsreferat, wartete fünf Minuten, wurde aufgerufen und gab am Schalter meinen alten Perso und den Abholschein ab – beides vorher nicht kopiert, wozu auch, ich krieg ja jetzt meinen neuen Ausweis. Oder auch nicht. Jedenfalls vorerst nicht.
„Wurden Sie von uns über irgendwelche Probleme benachrichtigt?“ Nö. „Haben Sie das Schreiben der Personalausweisbehörde bekommen?“ Jepp. „Hm.“ *schwitz* „Ich komme gleich wieder, ich muss da was klären.“ Ich ergab mich meinem Schicksal, die Diss erst im Oktober abzugeben, wurde dann aber in ein Büro gerufen, wo man mich darüber aufklärte, dass meine Unterschrift nicht fälschungssicher sei und dass ich dafür etwas unterschreiben müsste, dass ich darüber aufgeklärt wurde. Ich fragte lieber nach, ob ich mit meinem nicht fälschungssicheren Schnörkel unterschreiben sollte oder in Schönschrift, aber ich durfte schnörkeln und dann hatte ich einen neuen Ausweis, der an Papas 92. Geburtstag auslaufen wird.
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Nachmittags durfte ich dann ins Depot der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Diese Story wird mir bis an mein Lebensende peinlich sein: Ich hatte im Lenbachhaus und den Staatsgemäldesammlungen um farbige Abbildungen von einigen Werken Protzens gebeten, die die beiden Häuser besitzen. Das Lenbachhaus schickte nur eine Mail zurück, dass sie gerade unterbesetzt sind, dauert, aber ich ahne, dass da eh nichts Farbiges zu holen sein wird (mir ging’s auch nur um zwei Werke, eins kenne ich nicht, ist aber nicht so wichtig, das andere ist eine Autobahn, die habe ich nur in schwarzweiß). Die Staatsgemäldesammlungen mailten irre schnell zurück: Sie hätten nur eine farbige Aufnahme, immerhin die Autobahn, aber die hängt ja für mich zugänglich in Saal 13. Die ist auch die Autobahn, von der ich am meisten Abbildungen gefunden habe, daher hatte ich da sogar eine farbige Aufnahme. Man fragte mich, ob ich die Schwarzweißfotos von den anderen Werken haben wollte, würde aber ungefähr acht Wochen dauern, was ich verneinte.
Und dann kam abends noch eine weitere Mail vom Sammlungsleiter für die Klassische Moderne, der meinte, bei entsprechenden Vorlauf hätte ich mir natürlich auch die Originale im Depot angucken können. Ich las und versank vor Scham im Boden, denn das hatte ich natürlich vor ungefähr zwei Jahren im Hinterkopf – und es dann einfach irgendwann vergessen. Ich schrieb eine launige Mail zurück von wegen Diss-Stress und egal, schlief schlecht, schrieb am nächsten Morgen noch eine Mail und bat piepsig darum, vielleicht folgende zehn oder so Werke angucken zu können von den ca. 100, die die Staatsgemäldesammlungen besitzen und ergab mich in mein Schicksal, die Diss erst im Oktober abzugeben. Die meisten von Protzens Werken sind an Behörden oder ähnliches verliehen, so ein schönes Bergpanorama macht sich in bayerischen Ministerien schließlich immer gut. Aber fünf Werke wären zugänglich – nächsten Montag vielleicht? Wo-hoo!
Ich lernte einen freundlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter kennen, der mir über sein Forschungsgebiet was erzählte und mich Dinge fragte, die wirklich alle fragen, wenn sie das Stichwort „Autobahnmalerei“ hören. Merke ich mir für die Veröffentlichung. Ein ebenso freundlicher weiterer Mitarbeiter ließ uns ins Depot, wo ich fünf Originale ansehen konnte – ein Werk, das mir angekündigt wurde, war nicht dabei, aber dafür ein anderes, nehme ich auch. Das ist dann auch das letzte Werk, das ich von meinem Maler, wie ich ihn inzwischen zärtlich nenne, in der Diss abbilden werde; das freut mich, dass ich einen bunten Abschluss habe.
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Dienstag. Mit Maske und Handschuhen im Stadtarchiv die nun wirklich allerletzten Fußnoten nochmal abchecken, bei denen ich mir unsicher war. Das ging schneller als gedacht, das war fast ein bisschen schade. Danach radelte ich zur Post und gab meine Prüfungsanmeldung per Einschreiben auf. Als Belohnung radelte ich zum Asiashop und kaufte den dortigen Kühlraum leer, um Tom Kha Gai zu kochen und mich den ganzen Tag darüber zu freuen, Chilis essen zu können, ohne umzufallen.
Abends sah ich F. endlich mal wieder, er hatte einen winzigen Teil der Diss für mich korrekturgelesen, und ich fügte brav fast alles ein, was dem Mann aufgefallen war. Gemeinsam eingeschlafen.
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Gestern war dann der letzte Termin: In der Bibliothek der Pinakotheken wollte ich die Kopie des Werkverzeichnisses von Protzen einsehen, von der ich einen Scan besaß. Ein paar Dinge konnte ich dort nicht gut lesen, ahnte schon, dass das in der Kopie nicht anders sein würde, aber im Gegensatz zu den Werken wollte ich mir hier nicht nachsagen lassen, hättenSe mal bei uns nachgefragt. Wie erwartet war die Kopie nicht aufschlussreicher als mein Scan, aber gut. Interessiert stellte ich außerdem fest, dass im winzigen schriftlichen Bestand zu Protzen, der dort verwahrt wird, ein Ausdruck dieses Blogeintrags vom März 2018 von mir lag, in dem ich sehr grob beschreibe, was alles im Nachlass liegt. Darüber musste ich sehr lachen, auch wenn mir der Besuch sonst nichts brachte. Außer dass ich mal in der Bibliothek der Pinakotheken war. Das ist ja auch was.
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Im Laufe des Tages machte ich dann aus meinen ganzen Einzeldokumenten mehrere große. 359 Seiten reiner Text. 39 Seiten Literatur- und Archivangaben. 94 Seiten Abbildungen. 1884 Fußnoten. Einmal lese ich das noch durch und dann lasse ich es los.
Tagebuch Montag bis Mittwoch, 15. bis 17. Juni 2020 – Endspurt durch die Archive
München. Regen. Die Frisur hält … wenn man eine Regenjacke mit Kapuze hat. Mit dem Fahrrad ins ZI gerollt, dort die vorletzten fünf Kilo Bücher an den Platz geschleppt, Fußnoten korrigiert, Dinge nachgeschaut.
Mittags in der Zwangspause, damit lustig desinfiziert werden konnte, in die Stabi geradelt, wo mittags nicht lustig desinfiziert wird, ordentlich nass geworden, aber in anderthalb Stunden wieder getrocknet. Riesige Zeitschriftenbände mit dem Wägelchen durch den halbleeren, weil halb gesperrten Lesesaal gerollt, Dinge nachgeschaut. Dann mit einer Filmrolle in der Hand zum Raum gegangen, wo sonst die Filme angeschaut werden konnten, um festzustellen: Da geht nichts mehr. Momentan nur noch beim externen Anbieter für Kopien und Scans und Zeug möglich, derzeit in der Halle draußen. Hm. Dort bekam ich Einmalhandschuhe, um das Gerät zu bedienen, was sogar elektrisch die Filmrolle vorspulte, was mich freute, denn ich weiß nie, wie das mechanisch funktioniert und mache mich bei Filmen immer zum Deppen in der Bibliothek. Nachgeschaut, was ich wissen wollte, Film abgegeben, trocken aufs Rad gesetzt und am ZI wieder nass angekommen.
Dort die letzten fünf Kilo Bücher an den Platz geschleppt, Fußnoten korrigiert, Dinge nachgeschaut. Alles, was ich im ZI noch auf Papier nachgucken wollte, ist abgearbeitet, genau wie die Stabi. Nun nutzte ich den tollen Datenbankzugang zu Artprice, um Verkaufspreise für Werke meiner ganzen Autobahnmaler nachzuschauen, falls sie heute überhaupt noch gehandelt werden. Das war spannend.
Völlig ausgehungert um kurz nach 16 Uhr viel Zeug in Pfannen und Töpfe geworfen und auf dem Sofa genossen. Den Rest des Tages den Kopf ausgemacht, da ging auch nicht mehr viel, und ich musste eh früh ins Bett.
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Dienstag verließ mein Zug – MEIN ZUG! – um 7.17 Uhr München in Richtung Nürnberg, wo ich ein letztes Mal in den Nachlass gucken wollte. Ein bisschen wehmütig war ich, ein bisschen vorfreudig – und als das Wägelchen vor mir stand und eine neue Liste vor mir lag, die ich noch nicht kannte, ein bisschen panisch. Denn, wer hätte es ahnen können: Das Kunstarchiv hatte in der Zeit zwischen meinem letzten Besuch (irgendwann im Sommer 2019) und jetzt den bisher ungeordneten Nachlass einen Hauch geordnet. Deswegen gab es jetzt ein Findmittel aka zwei Seiten mit Karton- bzw. Mappennummern und Signaturen. Woraufhin ich dachte, ich müsste 300 Seiten Fußnoten ändern, weil meine Quellenangaben nun nicht mehr stimmen.
Ich sah allerdings freudig nach ein bisschen hektisch Rumatmen, dass meine von mir liebevoll händisch auf die Kartons gemalten Nummern übernommen wurden. Das hatte ich vor zwei Jahren erledigt, um für mich eine Liste zu erstellen, was überhaupt alles in den Kartons drin ist. Teilweise waren diese Nummern jetzt noch in Signaturen unterteilt worden, das hielt sich aber alles in Grenzen.
Ich war also zuerst damit beschäftigt, traurig zu sein, dann panisch – und als ich dann alles, was ich fotografieren wollte, weil es beim ersten Mal nicht so gut geworden war und mein Doktorvater ja was erkennen soll im Abbildungsverzeichnis, fotografiert hatte, war ich wieder traurig. Irgendwie war ich erleichtert, dass ich durch war, aber gleichzeitig war das der größte Abschied. Ich habe zwar nur viermal durch den ganzen Berg gewühlt, aber vor allem im letzten Jahr halt sehr gründlich. Das war irgendwie „meins“, und jetzt, wo der Kram Signaturen hat und schicke Fotomappen, wo letztes Mal alles ungeordnet rumlag, fühlte sich das an, als wollte mir jemand mein Spielzeug wegnehmen. Oder als ob jemand in mein Revier eingedrungen ist, in dem doch bisher nur ich rumlief. Ganz seltsames Gefühl.
Den Rest des Tages war ich dann auch eher komisch drauf, schon auf der Rückfahrt las ich nicht und hörte keine Musik, sondern starrte nur aus dem Fenster und versuchte, flach zu atmen, weil Zug und Menschen. Abends brav die Corona-App geladen, aber weiterhin traurig gewesen. Jetzt ist es wirklich nicht mehr mein Spielzeug, jetzt gehört der Nachlass wieder allen, und sobald die Diss veröffentlich ist (nächstes Jahr?), habe ich alles aus der Hand gegeben, woran ich seit Jahren so emsig rumzuppele.
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Gestern war dann wieder Fahrradfahren angesagt bei anständigen Temperaturen (fuffzehn Grad, genau meins) und keinem Regen. Auf mich wartete ebenfalls zum letzten Mal das Archiv des Deutschen Museums, wo ich nach dem ersten Besuch doch noch ein paar Signaturen einsehen wollte, kann ja nicht schaden. Ich fand nur sehr wenig, aber: Ich hatte auf einmal beim Blättern ein Schreiben von August Horch in der Hand. Das war für mich, die jahrelang Audi-Kataloge geschrieben hat, durchaus etwas Besonderes. Ich kann gar nicht beschreiben, warum eigentlich – es war ein bisschen so, als ob man einen Star trifft, den man ewig angehimmelt hat und über den man eigentlich längst weg ist, aber dann steht er plötzlich beim Bäcker vor dir und du merkst, da ist doch noch viel Zuneigung.
Den Rest des Tages (das ist meine Standardformulierung für diesen Blogeintrag) saß ich am heimischen Schreibtisch, korrigierte die Jahre 1940 bis 1942 und war’s zufrieden. Nicht mehr so traurig wie Dienstag, nur weiterhin komisch.
Vor mir liegt noch einmal die Bibliothek des Deutschen Museums, einmal das Depot der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (TOTAL AUFGEREGT!), einmal die Bibliothek in der Neuen Pinakothek (KENN ICH AUCH NOCH NICHT) und ein allerletztes Mal Stadtarchiv. Dann hätte ich gerne noch einen gültigen Personalausweis, den ich kopieren kann, denn das hätte das Prüfungsamt gerne, dann melde ich mich bis spätetens nächsten Donnerstag zur Abgabe der Diss an, schreibe sie hoffentlich bis Ende Juni fertig und das war’s dann. Werde wohl noch zwei Wochen komisch drauf sein.
Was schön war, Montag bis Freitag, 8. bis 12. Juni 2020 – Besser als Sex
Am Montag saß ich erstmals im Archiv des Deutschen Museums. Sonst gehe ich da nur in die Bibliothek, biege also am Eingang morgenmüde und vorfreudig gleich hinter dem Eingang nach rechts ab (nach Anmelden, Zeug wegschließen, Maskensitz überprüfen, nochmal die Händchen desinfizieren, Sie wissen schon). Dieses Mal wurde ich vom Pförtnerhäuschen abgeholt, weil ich nicht wusste, wo es langging. Die zwei Treppen nach oben hätte ich vermutlich auch alleine gefunden, aber hey, Service! Das ging auch gleich so weiter: Wo man sonst einfach mit den Akten allein gelassen wird, bekam ich hier eine kleine Einführung – nur mit Bleistift schreiben – „Ich hole Ihnen mal einen“ –, die Ordnung der Dokumente nicht verändern, auch wenn sie gut gemeint ist, die Lose-Blatt-Sammlungen möglichst wieder bündig in die Schachtel legen etc. Kenne ich alles, mache ich auch immer (bloß den Bleistift vergesse ich immer und notiere, wenn es sein muss, dann mit meinem fiesem Tintenroller möglichst weit weg vom Tisch in mein Notizbuch, SORRY! und gucke danach auch, ob kein Schmodder an meinen Händen ist), aber anscheinend sehe ich mit meiner hellblauen Blümchenmaske so aus, als wüsste ich nicht, wie man sich im Archiv zu verhalten hat. Egal, Service! Aber das tollste waren die kleinen Papierstreifen, die mir überreicht wurden, auf denen man sich die Signatur notieren kann, wenn man Dokumente fotografiert, die man hier netterweise fotografieren durfte. Wie toll! Sonst habe ich dafür immer mein Notizbuch geschreddert oder halt alles gleich in die Fußnoten getippt in der Hoffnung, nichts zu vergessen, aber das ist doch mal eine clevere Idee. Top Archiv, gerne wieder.
Und nebenbei viel gefunden, wenn auch nicht alles, aber die Diss ist wirklich lang genug.
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Der Weg morgens in Richtung Museum war beim Radeln schon schön, zurück ist es noch schöner, weil es da direkt an der Isar ein bisschen bergab geht. Mein Rad hat nur acht Gänge und ich hätte gerne elf gehabt. Herrlich!
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Montag nachmittag war dann nicht ganz so herrlich, da kam ein kleines Hindernis auf dem Weg zum Diss Bliss, aber das habe ich inzwischen veratmet. Abends gemeinsam eingeschlafen und dabei gemerkt, dass wir beide unseren fünfjährigen Jahrestag verpennt haben.
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Dienstag musste ich weiterhin Dinge veratmen und dabei Kuchen backen. Merke: Wenn du irgendwas mit „torched meringue“ machen willst, guck vorher, ob deine Torch noch funktioniert bzw. du eine Ersatzpatrone im Haus hast. Aber die Meringue war eh nicht glossy wie geplant sondern eher brockig, passte also alles in seiner Nicht-Funktion. Lemon Curd und Biskuit waren aber gut.
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Mittwoch nichts mehr veratmet, sondern ins Bällebad geradelt. Im ZI meine vierseitige To-Do-Liste weiter abgearbeitet, die Stand gestern abend nur noch gut zwei Seiten umfasst. Das war ein sehr anderes Arbeiten als ich es jahrelang gewöhnt war. Anstatt mir gemütlich acht Kilo Bücher an den Platz zu holen und entspannt zu lesen, rannte ich hier mit meiner ausgedruckten Liste, auf der die Signaturen stehen, durchs Haus, sammelte, rief die betreffende Seite im Dokument auf, korrigierte, nahm das nächste Buch, arbeitete den Stapel ab und rannte wieder los, um einen neuen Stapel zu holen. Meistens geht es nur um Flüchtigkeitsfehler wie fehlende Seitenzahlen oder eine Schreibweise überprüfen oder irgendeinen komischen Bezug in einem Zitat checken, das ich beim Korrigieren seltsam gekürzt und damit gefühlt sinnentstellend umformuliert habe. Richtig lesen muss ich nichts mehr oder nur wenig, das kommt nächste und übernächste Woche als quasi finaler Schritt.
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In der Zwangsmittagspause zu Suckfüll gefahren, dem besten Laden aller Zeiten, weil der einfach alles hat. Meine auf der Fensterbank gezogenen Tomaten brauchten größere Töpfe und langsam auch mal längere Stangen als meine Essstäbchen, an die ich sie anbinden könnte. Normalerweise fahre ich für sowas ins Gartencenter, aber ich will gerade keine Öffis nutzen. Also Suckfüll. Von dort erstand ich drei Kunststofftöpfe, die bequem auf den Gepäckträger passten und drei Bambusstangen, die ich gnadenlos einen Meter oben aus meinem Rucksack gucken ließ. Damit fühlte ich mich wie eine amerikanische Ur-Einwohnerin mit Pfeilköcher und Bogen auf dem Rücken. Vielleicht sollte ich mal Bogenschießen ausprobieren. Für eine hibbelige Brillenträgerin bestimmt genau die richtige Sportart.
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Donnerstag war in Bayern mal wieder Feiertag, daher saß ich den ganzen Tag am Schreibtisch und begann die jetzt aber wirklich letzte Korrekturschleife. Alles bis 1933 ist jetzt fertig, final, da fehlt nix mehr, das lass ich jetzt so.
Abends hatte ich einen Tweet in meiner Timeline, der meinen Geisteszustand gerade sehr gut beschreibt:
Ich denke zwar, meist beim Einschlafen, dass ich gerade erst an der Oberfläche meines Stoffs kratze und eigentlich noch ein Jahr daran weiterschreiben sollte, aber jetzt, beim vierten Korrekturgang und nach ungefähr anderthalb Jahren Durchschreiben dachte ich nach dem Lesen der Einleitung zu NS-Kunst, den Autobahnen und der Autobahnmalerei: Das ist gut. Das ist wirklich gut. Das hatte ich zu Uni-Zeiten selten.
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Gestern wieder Bällebad, Liste abarbeiten, den Doktorvater auf der Treppe der Bibliothek getroffen, der natürlich ins Büro wollte – „Heute ist mein letzter Urlaubstag“ – ach, Vati –, den Rest des Tages am heimischen Schreibtisch weitergearbeitet, mich bis Ende 1935 durchgekämpft und auch da gedacht: Das ist gut.
Ich kann mich bis jetzt nicht entscheiden, ob ich das Bild – von diesem Account – großartig oder fürchterlich finde. Das Foto an sich beschäftigt mich und ich bin immer noch dabei, meine Gedanken zu sortieren, das wird also jetzt keine gründliche Bildanalyse.
Die Rückansicht der Protestierenden ist spannend, man erkennt keine Gesichter, sie müssten eine Masse sein, aber ein Mensch sticht heraus. Die Pose mit der erhobenen Faust assoziiert sofort die Black-Power-Bewegung, der nackte Oberkörper mit der Aufschrift erinnerte mich schmerzlich an Fotos von Sklaven, auf deren Rücken Narben von Peitschenhieben zu sehen sind. Hier ist die Rückenhaut vermutlich von eher freundlich gesinnten Menschen mit etwas versehen worden, die glatte, unzerstörte Haut mit dem Slogan darauf hat also eine ganz andere Wirkung als die Sklavenfotos – Stichwort „empowerment“ –, wobei auch letztere, siehe Link, als Botschaft dienten. Trotz der historischen Assoziationen ist das Bild eindeutig aus der Jetztzeit: Mit dem erhobenen Handy wird gefilmt oder instagrammt, an den Ohren des zentralen Mannes sind die Bänder eines Mundschutzes zu erkennen.
Was mich seit gestern fragend auf das Bild starren lässt, ist das Outfit des Mannes: Wenn er nicht gerade auf einer Protestkundgebung wäre, könnte er auch in einem Video einer Klamottenfirma agieren oder für Accessoires wie Rucksäcke werben. Deswegen weiß ich immer noch nicht, ob ich diesen Post großartig finde – weil total on brand – oder fürchterlich – weil total on brand.
Aber immerhin konnte mein Kopf mal wieder über etwas anderes nachdenken als über Autobahnen.
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Den Vormittag verbrachte ich im Staatsarchiv und lernte, ohne es zu wollen, dass der Verband der Mineralwasserfabrikanten es 1944 total doof fand, dass die Staatsbrauerei Weihenstephan jetzt auch noch Blubber macht, wo kommen wir denn da hin. „Für die Zeit nach dem Krieg muß jedoch darauf bestanden werden, daß die Brauerei den Handel mit Limonaden einstellt.“
Und ich fand auch ein paar schöne Dinge zu Herrn Protzen und zu seinen Kollegen, von denen viele noch meinten, die zeitgenössische Kunst bestände aus „extremen Experimenten“ oder sei „abnorm“. Einer tat sich 1955 mit einem ganz besonders beknackten Zitat hervor: In einem Schreiben, in dem der bayerische Staat um finanzielle Unterstützung gebeten wird, erwähnte Franz Siegele, dass man sich die Picasso-Ausstellung im Haus der Kunst „unbedingt“ ansehen werde – „nicht der Qualität wegen sondern um zu sehen, was hinter dem Rummel um diesen Maler steckt.“ Auf der Schau hing übrigens auch die Guernica, wenn wir schon von abnorm reden, gell, deutsche Luftwaffe?
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Nach Hause geradelt, Croissants zum Mittagessen, danach gut gelaunt am Schreibtisch weitergearbeitet.
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Abends hatten F. und ich ein Date, so draußen, unter Menschen, IN EINEM LOKAL! Das hatten wir seit März nicht mehr gemacht und deswegen hielten hier gleich zwei Leute das erste frisch gezapfte Bier seit Monaten bildlich fest. Es war herrlich.
Wir durften nur zwei Stunden bleiben, aber das war in Ordnung. Außerdem trafen wir den charmanten @manumelm, der im gleichen Lokal einen Tisch reserviert hatte. Dieses Dorf! Ich war für zwei Sekunden pissig, dass der Herr auf dem Bürgersteig stehen blieb anstatt an den Tisch zu kommen, aber dann fiel es mir noch ein: Wir müssen ja Abstand halten. Ich vergesse das so gerne, weil ich so gut wie nie unter Menschen komme außer im Supermarkt. Ich bleibe weiterhin so gut es geht zuhause und gehe fast ausschließlich in Gebäude, in denen Menschen die Klappe halten und möglichst weit von mir entfernt an Einzeltischen sitzen und arbeiten.
Nach Schnitzel und Bier (ein Fest!) saßen F. und ich noch Stunden auf meinem Balkon und freuten uns über Schnitzel, Bier, Balkon, Zufallstreffen, nette Gespräche und dass es sich mal für zwei Stunden normal angefühlt hat. Bis auf die maskierte Kellnerin und dass man Namen und Telefonnummer am Tisch ausfüllen musste. Und weil wir den Tisch schon um 18 Uhr reserviert hatten, waren wir sogar noch vor Mitternacht im Bett, aber es fühlte sich an, als hätten wir die halbe Nacht durchgequatscht.
Was schön war, Freitag/Samstag, 29./30. Mai 2020 – Duft und Klang
Den Freitag nur halbherzig an der Diss gearbeitet, irgendwie mehr Lust auf Kochen gehabt und das dann umgesetzt. Ich probierte das Rezept für Dan-Dan-Nudeln aus und schon der erste Zubereitungsschritt hat mich deutlich glücklicher gemacht, als Unterpunkte im Inhaltsverzeichnis zu korrigieren. Für das Gericht braucht man erstmal ein Chili-Öl, dazu wirft man eine Zimtstange, ein paar Sternanis, zwei Lorbeerblätter und ein paar Szechuanpfefferkörner in Öl und kocht alles auf, bis es duftet. Und so hing ich zehn Minuten über dem Herd und schnupperte, was mir ganz simpel Freude bereitete. Danach gießt man das aromatisierte Öl über Chilipulver und -flocken und das duftet dann auch, auch wenn ich bei Chili immer noch den Atem anhalte weil scharf und ich Memme.
Dann duftete auch noch die Sesamsauce, die ich herstellte, und als ich das ganze einen Tag später für F. und mich zum späten Frühstück erneut zubereitete, weil ich zuviel Nudelteig gemacht hatte, briet ich Schweinehack an und verfeinerte es mit Soja- und Hoisinsauce und auch das roch einfach gut.
Gestern duftete dann mein Darjeeling, der Wochenendtee statt des Ostfriesentees an Werktagen, und mein Kühlschrank riecht gerade nach Erdbeeren, und weil mein Basilikum und mein Thymian auf dem Balkon blühen, musste ich da auch meine Nase reinhalten und überhaupt duftet gerade alles und es ist herrlich.
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Gestern verbrachte ich den halben Tag damit, Igor Levit bei seinem Mammutprojekt zuzuschauen und zuzuhören: 840 Mal hintereinander Eric Saties Vexation zu spielen. 20 Stunden waren dafür vorgesehen, der Mann erledigte das in fünfzehneinhalb. Er begann um 14 Uhr damit, sich an den Flügel zu setzen, vor ihm ein Riesenstapel Notenblätter, von denen er sich einen kleineren Packen auf den Notenständer legte, um dann Blatt für Blatt abzuspielen und diese danach auf den Fußboden zu werfen, zu legen, fallenzulassen. Die Blätter werden versteigert, der Erlös geht Kulturschaffenden zu. Dafür war die ganze Aktion überhaupt: um auf die derzeitige Situation von Künstler*innen hinzuweisen und sie zu unterstützen.
Ich habe nicht die ganzen 15 Stunden gesehen, zwischendurch musste ich mich über Augsburg aufregen, dann erwischte mich ein Nickerchen, schlimm, und ein, zwei Serienfolgen mussten auch geschaut werden. Aber ansonsten lief der Stream, bis ich nach Mitternacht ins Bett ging. Ich las nebenbei, kochte, wusch ab, aber meistens schaute ich Levit einfach zu und fand es unerwartet auf- und anregend.
Der Kopf konnte sich nicht ganz verselbständigen, obwohl die hypnotische Musik sich irgendwann so ins Gehirn gefräst hatte, dass ich sie immer noch höre, aber die Kameraführung ließ einen selten wirklich in Ruhe. Und ich fand das nicht schlimm, im Gegenteil, ich war fasziniert davon, wieviele Blicke auf einen Mann in einem Raum, in dem ein Flügel steht, möglich waren, ohne dass es langweilig wurde. Es fiel mir wirklich schwer, den Stream schließlich zu beenden und schlafen zu gehen und Levit gefühlt alleine zu lassen. Um 2 Uhr wurde ich davon wach, dass irgendein Witzbold an meiner Tür klingelte, woraufhin ich nochmal bis 3 Uhr Levit zuschaute, dieses Mal auf dem Handy im Bett.
Holger Schulze hörte fast komplett zu, bis auf die letzten Stunden, und twitterte. Diese Sätze fand ich besonders schön: „Die Musik erfüllte tatsächlich unser Haus als Möbelmusik, als die berühmte “musique d’ameublement”, von der ihr Komponist stets geträumt hatte. / Das offene, driftende tonale Zentrum dieses Stückes – das alles andere als atonal ist, wie es dennoch manchmal heisst – trug dazu bei. Es prädeterminierte nicht die Raum- oder Situationswahrnehmung durch fixe Akkordschritte und Motivarbeit. / Es legte sich tatsächlich als zarter Nebel, als sanfter Filter, als begleitender Duft über diesen Spätnachmittag, durch die Zimmer unseres bescheidenen Hauses.“
Auch Ines Häufler hörte länger zu: „Am Anfang dachte ich übrigens „Come on, was hat die arbeitslose freie Orchestermusikerin davon, dass du dich 20 Stunden quälst?“, denn es geht ja darum, auf die verzweifelte Situation der Kulturschaffenden aufmerksam zu machen. Aber jetzt kommt mir vor: Das Stück ist perfekt. / Also auf der künstlerischen Ebene, finde ich. Die endlose Wiederholung, die aus sich heraus zu nichts zu führen scheint. Die Töne, die zwischen Hoffnung/Harmonie und Verzweiflung/Dissonanzen wechseln. Die Mühe, die Töne immer wieder aufs Neue aus dem Instrument herauszuholen.“
Das fiel mir auch auf: dass das immer gleiche Stück eben nicht immer gleich klingt. Die Unterschiede in der Lautstärke waren wahrzunehmen, ich ahne auch, dass das Tempo nicht immer dasselbe war. Die letzten Minuten schaute ich mir nochmal im Stream an, und da wurde Levit sehr leise und sehr langsam anstatt das Ding einfach runterzubrettern, um endlich, endlich fertigzuwerden.
Dafür, dass wir im Moment nicht in Konzerte kommen, kriege ich doch ganz schön viel Kultur mit und damit die Gelegenheit, mich mit mir selbst und meiner Wahrnehmung von irgendetwas auseinanderzusetzen. Danke dafür.
Tagebuch Samstag, 23. Mai 2020 – Nicht scharf, aber okay
Am Freitag sabberte ich wie an jedem Wochentag beim Masterchef-Australia-Gucken meinen Rechner voll. Manchmal versuche ich sofort, Dinge nachzukochen, meistens genügt mir das Zuschauen und Lernen. Dieses Mal wollte ich kochen. Das hier.
(Screenshot)
Das ist Nasi Lemak, eine traditionelle Speise aus Malaysia. Generell wird bei Masterchef Australia sehr gerne und viel aus ganz Asien gekocht, woran ich mich aber so gut wie nie versuche, weil mir diese Küche sehr fremd ist. Ich gehe kaum asiatisch essen, wenn man vom europäisierten China-Imbiss absieht. F. hat früher gerne was vom vietnamesischen Imbiss um die Ecke was mitgebracht, aber das war auch eher München als Mekongdelta. Malaysisch hatte ich noch nie gegessen und generell bin ich überhaupt kein Fan von Schärfe, aber das sah großartig aus. (Schlüsselreiz Gurke. Alles mit Gurke ist super.)
Also radelte ich Samstag gegen 10 zu einem Asiashop, in dem ich noch nie war, der mir aber von der Größe her vielversprechend aussah, wenn ich mal an ihm vorbeikam. Da ich so gut wie nie asiatisch koche, habe ich überhaupt keinen Überblick über die Zutaten und suchte gestern vermutlich etwas länger als die anderen Kunden. Aber ich fand alles, sogar die Pandanblätter, die den Kokosreis beduften sollten, aber nicht irre fehlen, wenn sie nicht dabei sind (sagten mehrere Rezepte, die ich im Internet querlas).
Vermutlich lag es auch an der Aufgabe, warum mir das Essen so sympathisch war: Die beiden Kontrahentinnen sollten ihr ganz persönliches Comfort Food zubereiten, und Poh erzählte, dass sie dieses Essen als Kind quasi jeden Tag in ihrer Schulpause aß und es deswegen eine elementare Kindheitserinnerung sei.
Ich orientierte mich am Rezept vom Foodfreak; von diesem Blog hatte ich schon öfter und immer erfolgreich etwas nachgekocht; mein Standard-Apfelkuchenrezept ist von dort. Zusätzlich freute ich mich an diesenbeiden Rezepten und machte so ein Mittelding. Jedenfalls versuchte ich das, denn erstmal musste ich die Produkte verstehen, die ich da eingekauft hatte. Ich hatte noch nie mit Pandanblättern, Tamarindenpaste oder Belacan gekocht, und vermutlich hätte ich etwas aufmerksamer auf die Packungstexte gucken sollen. Aber das merkte ich erst beim Kochen.
Ich setzte den Kokosreis auf und legte ein verknotetes Pandanblatt hinein, was sich schon mal irre professionell anfühlte. Als ich nach dem Aufkochen den Deckel meines Topfs anhob (no Reiskocher here), duftete es herrlich, und vermutlich werde ich die Hälfte der Kokosmilchdose, die gestern übrig blieb, heute erneut mit Reis und Blatt ansetzen, weil es großartig geschmeckt hat.
Während der Reis vor sich hindämpfte, frittierte ich eine Handvoll getrocknete Anchovis (was es alles gibt!), danach hackte ich Schalotten und satte acht rote Chilis, warf die Krabbenpaste in Kokosöl, zerdrückte sie, staunte über den mir völlig unbekannten Duft (auch ein guter Corona-Check, dieses Essen), gab Schalotten und Chilis aus dem Blitzhacker dazu – und musste dringend mein T-Shirt vor die Nase ziehen, denn OMG SCHARF! Nächstes Mal gleich einen der schicken Mundschutze von der Türklinke nehmen, Hase. Das briet ein bisschen vor sich hin, und dann kam eine Mischung aus Wasser, Zucker, Salz und Tamarindenpaste dazu. Die hatte ich vorher angerührt, wobei ich etwas über die Paste verwirrt war. Eigentlich sollten vier Esslöffel in das Sambal. Aus der Masterchef-Sendung hatte ich das alles sehr feurig-rot in Erinnerung – aber diese Paste war tiefschwarz. Ich nahm nur drei Esslöffel und produzierte im Endeffekt einen sehr dunklen Schlotz, der aber verdammt gut roch, wenn auch ein bisschen sehr süßlich.
Zum Abschluss röstete ich ein paar Erdnüsse, noch ein paar Anchovis, denn die ersten kamen ins Sambal, briet ein Spiegelei (ich möchte nur selten gekochte Eier), stürzte mein Reisschüsselchen auf den Teller und gab ein winziges bisschen Sambal oben drauf, sehr ängstlich ob der Schärfe.
Die dann nicht da war. Wie ich inzwischen weiß, hatte ich aus den vier möglichen Versionen von Tamarindenpaste im Laden anscheinend ein Konzentrat erwischt, und mit drei Esslöffeln killte das wirklich alle Chilis. Gut zu wissen, aber: Das war nicht ganz das erhoffte Ergebnis. Es schmeckte trotzdem sehr gut und war ein prima Frühstück, und mein Mund zwirbelte auch noch ein paar Minütchen angenehm vor sich hin, aber das muss ich dringend mit weniger Tamarinde noch einmal machen. Ich hab ja jetzt auch alles im Haus!
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Den Rest des Tages vor Serien verbracht, Diss in Ruhe gelassen, rumgelungert. Guter Samstag.
49 Tage durfte ich nicht in eine Bibliothek. So ganz darf ich immer noch nicht rein, die Lesesäle bleiben noch bis mindestens 4. Mai geschlossen, wenn ich gerade auf dem neuesten Informationsstand bin. Die Stabi denkt darüber nach, die kleineren Säle zu öffnen – also die, in die ich immer den Nazikram aus dem Giftschrank geliefert kriege. Und mein geliebtes ZI öffnet auch ab nächster Woche wieder seine Pforten, und ich bin schon sehr gespannt, wieviele Leute dann in mein Stamm-Lesesälchen dürfen, der sonst 36 bis 40 Leuten Platz bietet. In den anderen beiden, noch kleineren Sälen sitze ich nie, keine Ahnung, wieviele da reingehen.
Gestern besuchte ich immerhin zwei meiner Lieblinge, um ein Buch loszuwerden und einige neue mitzunehmen. Es regnete, was mir recht war, denn dann sind weniger Leute unterwegs. Mundschutz auf, Regenjacke an, Fahrrad aus dem Keller gezerrt und erstmal zur Packstation geradelt, an der ich eine Retoure loswerden wollte. Schon nach wenigen Metern merkte ich: Mein toller Serviettenmundschutz, den ich bisher immer mit fast unbeschlagener Brille und guter Durchlüftung getragen habe, ist bei Regen eher Waterboarding. Das Atmen fällt durch nasse Baumwolle sehr schwer, wer hätte es gedacht, und anscheinend geht dann auch meine Atemluft nicht mehr nach unten oder zur Seite, sondern fies nach oben – wobei das auch an den gestrigen, eher kühlen Temperaturen gelegen haben könnte. Ich radelte also mit beschlagener und regennasser Brille durch die Gegend und schnappte undamenhaft nach Luft. Das war alles eher unschön.
Aber: In Busse und Trams (*wimmer* MISS YOU *wimmer*) will ich gerade nicht. Außerdem hatte ich ja die schönsten Ziele der Welt vor Augen (neben dem Schokoladenladen in Wien und dem Bodensee), die Packstation hatte problemlos noch Platz für mich, ist ja auch was, also weiter. Bis zur Unibibliothek war ich nassgeregnet und konnte kaum noch was gucken, aber egal. BIBLIOTHEK!
Die Uni-Bib ist nie so richtig überlaufen. Der Abholbereich ist Selbstbedienung, das heißt, man geht in den, keine Ahnung, wenn’s hochkommt, 50 qm großen Raum, in dem 20 Regale stehen, holt sich seine Bücher, verbucht die selbst an einem Terminal und verschwindet wieder. Daher hätte ich gedacht, dass das alles so geblieben wäre, aber nein. Pfeile auf dem Boden, Schilder und Absperrbänder führen einen an der gesperrten Selbstbedienungsausgabe vorbei zu zwei Fenstern, einmal die Rückgabe, die eh ohne Menschen funktioniert und dann das Fenster zur Abholung. Dort sind auf dem Boden Markierungen geklebt zum Abstandhalten, man legt seinen Bibliotheksausweis auf ein Lesegerät, die Dame hinter der Scheibe bekommt dadurch mitgeteilt, was für einen im Regal liegt, holt es nach vorn und verbucht es. Mit mir standen noch fünf weitere Leute in der Schlange, alle mit Mundschutz (genau wie die Bibliothekarinnen), alle geduldig und freundlich.
Ich erhielt meine zwei Ausleihen – und einen Umschlag mit Kopien, der mir die Frage nach den 1,50 Euro Gebühren auf meinem Konto ersparte, die mich etwas erstaunt hatten. Für mich war am 9. oder 10. März eine Fernleihe angekommen, die ich aber warum auch immer damals nicht abgeholt hatte. Ich ahne, dass das an meiner Nicht-Liebe zum Unibib-Lesesaal lag, den mag ich überhaupt nicht. Ich weiß auch noch, dass ich in der Woche vor den Ausgangsbeschränkungen (bitte sagt nicht Lockdown, wir hatten keinen Lockdown und auch keine Ausgangssperre) schön im Archiv gesessen habe und vermutlich auch deshalb nicht in den doofen Lesesaal wollte, weil der halt trübe und langweilig ist und meine gute Laune ruiniert. 49 Tage lang sagte ich mir selber WÄRSTE MAL HINGEGANGEN, DU NUSS, dann hättest du jetzt deinen Ausstellungskatalog aus Berlin, aber nee, Frau Gröner war sich ja zu fein für das runtergerockte Ding. Der Katalog war immer noch in meinem Konto zu sehen, daher dachte ich, der liegt da jetzt ewig, bis die Lesesäle wieder öffnen, aber nein, viel besser: Da der Katalog nur aus 20 Seiten bestand, wurde er einfach kopiert, ich zahlte 1,50 Euro, die Berliner bekamen „Deutscher Bauer, deutsches Land“ (1938) wieder, ich erhielt Kopien und weiß nun, dass Protzen dort die Meisterwerke Frühling im Bayerischen Wald (1937, WV 326, Tempera, 82 x 130 cm) sowie Landschaft vor Tegernsee (vermutlich Vor Tegernsee, 1935, WV 291, Öl, 82 x 130 cm) gezeigt hat.
Außerdem in der UB erledigt: meine LMU Card auf Sommersemester gestellt. Seit dem vorletzten Semester haben wir keine labbrigen Papierausweise mehr, sondern eine schicke Plastikkarte, die man zu jedem Semesteranfang in ein seltsames Lese- und Druckgerät steckt, das alte Semester wird abgefräst und das neue draufgedruckt. Da momentan aber alle Unigebäude gesperrt sind, kommt man nicht an diese Geräte. Hätte ich mir ein Semesterticket gegönnt, wäre das aber in Ordnung gewesen, LMU und die Münchner Verkehrsbetriebe haben einen Deal gemacht, dass die alten Cards als gültig angesehen werden, wie mir eine Mail der Uni mitteilte. Es geht momentan so vieles nicht, aber dafür geht vieles andere, was ich bei unserem deutschen Ordnungswahn nie gedacht hätte. Jedenfalls hatte irgendjemand die gute Idee, eins der Geräte aus dem Nebentrakt zu holen, wo es sonst steht, und es in halbwegs okayer Entfernung zur Warteschlange der Bibliothek zu platzieren. Ich bin dann jetzt auch offiziell im letzten Semester.
Nach der UB fuhr ich zur Stabi. Auch dort sagten einem schon Schilder, dass nur Ausleihe und Buchrückgabe geöffnet hatten, Pfeile auf dem Boden wiesen Besuchern und Personal die unterschiedlichen Wege. Die Stabi hatte ich noch nie so leer erlebt, die ist eigentlich nie wirklich leer, jedenfalls nicht zu den Zeiten, in denen ich sie besuche. Um kurz vor Mitternacht war ich allerdings noch nie drin, aber ich ahne, dass sie selbst dann belebter ist. Das war schon fast ein bisschen spooky, an einem Wachmenschen mit Mundschutz vorbeizugehen, der einen weiterwinkte, falls man sich auf dem Weg von der Eingangstür geradeaus zu den Schließfächern verirren sollte. Aber nach dem Bericht der SZ (oben verlinkt) ahne ich, dass der Herr vielleicht ein bisschen mitzählt, damit sich nicht zu viele Leute gleichzeitig im Gebäude aufhalten.
Die Schließfächer waren fast alle geschlossen, ich überlegte, ob ich jetzt überhaupt Jacke und Rucksack abgeben müsste, vielleicht funktionierte auch hier die Ausleihe jetzt nicht mehr mit der Hilfe des Ausleihenden. Mehr aus Gewohnheit warf ich alles ins Schließfach, zückte meine 1-Euro-Münze aus der Hosentasche, schloss ab und ging mit einem Buch und meinem Portemonnaie, in dem sich mein Bibausweis befindet, in den großen Raum, in dem normalerweise vielstimmig rumgewimmelt wird. Hier guckten mir zwei Menschen mit Mundschutz, aber ohne Abstand zueinander dabei zu, wie ich alleine zum Rückgabeschalter ging, wo ein gelangweilter Herr mein Buch entgegennahm, ich glaube, nun hinter einer Plastikscheibe und nicht mehr ohne. Weiß ich aber gerade nicht. Ich tippe auf Plastik.
Danach ging ich durch das geöffnete Drehkreuz, das man nun nicht mehr antippen musste, in den Ausleihbereich. Hier sah ich ungefähr drei oder vier Menschlein, wo sonst gerne mal 25 rumlaufen und ihre Bücher suchen (wir waren alle mal Erstis). Auch ich musste ernsthaft wieder neu suchen und behaupte, die Stabi ändert dauern ihre Regalnummerierung. Die Dame, die meine zwei Bücher verbuchte, saß hinter Plastik und sie fasste auch meinen Ausweis nicht an, sondern las ihn nur per Handscanner ein und wartete, dass ich ihn mir wieder nahm. Auch das Drehkreuz zum Ausgang musste nun nicht mehr von ihr entsperrt werden, ich ging einfach so hinaus, wie üblich mit meinen Büchern im Arm, was sich fast wieder normal anfühlte.
Am Schließfach hörte ich meine Münze in den Rückgabeschacht fallen, was aber anders klang als sonst, und freute mich über ein 2-Euro-Stück, das da anscheinend vergessen wurde. Darauf habe ich acht Studiumsjahre gewartet! Sieben Nuggets in der Sechserbox bei McDonald’s hatte ich aber immer noch nicht. Könnte auch daran liegen, dass ich die schon sehr lange nicht mehr bestellt habe. (Habe jetzt Lust auf Chicken McNuggets.)
Für die Rückfahrt nahm ich den Mundschutz ab, das Atmen fiel wirklich schwer und ich sehe dann doch ganz gerne den Straßenverkehr, durch den ich radele. Der war gestern netterweise merklich geringer als sonst, und so radelte ich nass, aber sehr zufrieden wieder nach Hause. Dort erledigte ich das neuerdings übliche Desinfektionstänzchen – was fasst man an, was nicht, wie oft wäscht man sich die Hände, nachdem man wieder reingekommen ist – und kochte danach meinen Mundschutz aus. Daher kam ich etwas unsanfter wieder in der Realität an, die ich eben für ein knappes Stündchen hatte ausblenden können.
Meine erste Aktion nach dem Ende der Promotion, wenn mein Bibliotheksausweis nicht mehr gültig ist, wird sein, mir einen neuen zu holen. Dann zwar ohne LMU-Aufdruck UND SCHON WIEDER MIT EINER NEUEN REGALNUMMER, aber ich weiß gar nicht mehr, wie ich ohne Bibliotheken auskommen soll. Das hat gestern wirklich sehr gut getan.
Tagebuch Donnerstag, 23. April 2020 – Letzter Satz
Verschlafen, bei Flat White und O-Saft Masterchef Australia geguckt, interessiert festgestellt, wie DHL momentan bei uns im Haus Pakete zustellt, die ich nicht in die Packstation hatte kommen lassen können: Sie werden unten im Hausflur abgelegt, während oben mein Handy mit der Nachricht „Paket zugestellt“ plingt. Okee. Ist ein gutes Haus, hier kommt nix weg.
Eingekauft, an einer Ladentür ein Gut erworben, das ich nicht näher beschreiben kann (Empfänger liest mit), mit ausgestrecktem Arm und Mundschutz Bargeld rübergereicht wie eine Bankräuberin in Bizarro-World. Die Community-Folge mit den unterschiedlichen Timelines geguckt und wie immer völlig verliebt in alles gewesen. Selbst die Menschen, die diese Serienfolge nicht kennen, kennen vermutlich ein Gif daraus.
Ich habe das Gefühl, alle zwei Wochen zu twittern, dass ich jetzt quasi fertig bin, weil ich mal wieder ein Meilensteinchen den Berg hochgeschoben habe; ich hoffe, das liest sich da nicht so. Gestern war dann aber mal wieder ein Tweet nötig, denn nach dem vermuffelten freien Tag am Mittwoch war ich gestern wieder motiviert und so okay gut gelaunt, dass ich mich an die Diss setzte und in wenigen Stunden den Schlussteil ausformulierte. Da waren doch nicht so viele Platitüden, wie ich vermutet hatte, und die Mail, die ich mir nachts beim schreckhaften Aufwachen um 2 noch selbst geschickt hatte – „mercker vollbehr vgl nachkrieg“ – half auch, die letzten Gedanken auszuformulieren, um den Teil nicht zu einer Nacherzählung der 300 Seiten vorher werden zu lassen. Um 16 Uhr 11 twitterte ich dann den frisch getippten Schlusssatz meines Textdokuments, der den Teil „Ausblick“ beendete: „Auch dazu trägt diese Arbeit bei.“ Backups erledigt, aufs Sofa gegangen, Kopf ausgemacht und nach kurzer Zeit ein Fläschchen Prosecco geöffnet und brav sozial distanziert angetrunken.
Nochmal: Ich bin noch nicht fertig. Auf Instagram kommentierte auch jemand zu Recht, dass der letzte Satz nie der letzte Satz bleibt, aber er ist jetzt erstmal geschrieben, der letzte Punkt am Ende des Brockens ist getippt. Um einen viel zu großen Vergleich rauszuholen: Die Statue ist aus dem Marmorblock geschlagen. Nun kommt das Finetuning. Anke Buonarroti nippt weiter am Prosecco.
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Zur Feier des Tages mal meinen Mittagsteller, also den, den ich nach dem morgendlichen Flat White zwischen 14 und 17 Uhr zu mir nehme, je nachdem, wann mein Kopf Pause machen will, also diesen Teller nicht hübsch angerichtet, nicht nur die Hälfte fotografiert und die fürchterlich hässliche Arbeitsplatte nicht mit einem Tischläufer abgedeckt, was ich sonst immer für die Instaposts mache. Einfach alles auf den Teller geschaufelt, was ich sonst esse, geknipst, gepostet, fertig. Ist auch kein Filter drauf, was ich eh selten mache, aber falls jemandem das Grün des Brokkoli verdächtig vorkommt: Ich habe gestern einfach perfekt blanchiert, und mein Tageslicht in der Küche ist fast durchgehend großartig.
Der Rest ist Tofu in Soja-Ahornsirup-Ingwer-Chili-Schlotz, etwas zu enthusiastisch angebraten. War sehr gut.
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Abends immerhin noch per Facetime mit F. angestoßen. Das war nicht ganz die Feier, die ich mir vorgestellt hatte, aber momentan ist ja alles anders. Ich war auch darüber erstaunt, dass mich das nahende Ende am Montag und Dienstag so fertig gemacht hat, während ich gestern glücklich und stolz war, als das Ende dann wirklich geschrieben war. Ich schiebe momentan jede emotionale Reaktion meinerseits auf eine komplette Überforderung von der Welt da draußen. Mehr Prosecco hilft bestimmt.
Vorgestern ging ich wie beschrieben zum Rossmann, gestern waren dann die Supermärkte für den wöchentlichen Einkauf dran. Dieses Mal sollte es nicht zum Edeka nebenan gehen, sondern zunächst zum Feinkostuntergeschoss im Karstadt bei mir um die Ecke, weil ich dort auf meinen geliebten Büntingtee hoffte sowie auf Dijonnaise und Kandis. Die ersten beiden Dinge hat mein Edeka eh nie, den Kandis neuerdings auch nicht, daher war die Entscheidung, die Einkäufe auf zwei Läden zu verteilen, gefallen, wenn auch ungern. Ich möchte im Moment den Kontakt zu Menschen soweit wie möglich komplett vermeiden, und daher hätte ich einen Supermarkt bevorzugt. Da der olle Karstadt aber eher Mondpreise aufruft, kaufe ich da nur das, was ich sonst nicht bekomme und hole Obst, Gemüse und Jogurt woanders.
Die zwei Atemmasken, die F. mir mitgebracht hatte, waren beide jetzt einmal benutzt, die wollte ich nicht nochmal tragen. Ich fand beide auch eher unangenehm, Geruch, Sitz, Durchfeuchtung beim Atmen, das war alles eher doof. Ich wickelte mir probehalber ungefähr 15 Schals, Tücher und ernsthaft Stoffservietten irgendwie vor Mund und Nase, was alles nicht hielt, bis ich beschloss, fuck it, du gehst jetzt ohne Maske und nachmittags nähst du dir was Passendes.
Aufs Fahrrad gesetzt, weil auf dem Fahrrad besser Abstand zu halten ist zu allem anderen. Im Karstadt keinen Tee gefunden, war ja klar, aber dafür Kandis, Majoschlotz und, noch toller, Schrobenhausener Spargel. Und Weizenvollkornmehl! Sofort mitgenommen.
Dann nach nebenan zum Lidl geradelt, der mir deutlich zu voll war. An der Kasse hörte ich, dass das für Freitage anscheinend normal sei – „was meinst du, wie’s hier morgen aussieht?“ –, was mich zu dem Entschluss brachte, nächste Woche am Montag oder Dienstag nochmal einzukaufen und dann erst wieder weit nach Ostern. Hefe vergessen, sonst alles gekriegt.
Zuhause abgeschlossen, Schüssel und Schloss mit Desinfektionszeug besprüht, Einkäufe erstmal am Eingang stehengelassen und sofort Hände gewaschen. Ich singe den Refrain von Totos Africa, der geht gut 20 Sekunden. Dann Jacke und Schuhe ausgezogen, Einkäufe verräumt, nochmal Hände gewaschen. The things you do for ich weiß schon gar nicht mehr for what es ist so absurd.
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Ich setzte mich an meinen schönen aufgeräumten, fast leeren Schreibtisch und begann, nach Anleitungen für Mundschutze zu googeln. In den sozialen Medien hatten schon diverse meiner von mir Verfolgten ihre schicken selbstgenähten Masken vorgezeigt, daher wusste ich: Ich will nicht die, mit der man wie ein Pinguin aussieht, sondern eine mit gebügelten Falten (hier die zweite Variante). Wie das geht, hatte ich aus inzwischen vier komplett geschauten Staffeln „Project Runway“ theoretisch total drauf. Problem: Ich habe keine Nähmaschine. Lösung: total egal, wir haben Pandemie, wir nähen von Hand, auch wenn’s scheiße aussieht. In Omas Nähkästchen lag sogar Gummiband, was ich gar nicht mehr wusste, so selten habe ich da reingeguckt. Ich habe auch keine Stecknadeln, aber wie ich gestern feststellte, Büroklammern gehen für kurze Zeit auch. Ebenfalls gelernt: ein Königreich für einen Fingerhut.
Das finde ich bei den ganzen Anleitungen zum Selbermachen auch immer lustig: „Ihr nehmt einfach ein Stück Stoff und dann …“ Ein Stück Stoff? Wer von den Menschen, die nicht eh ab und zu nähen, hat denn bitte einfach mal so zwei Meter Baumwolle rumliegen? Hatte ich nicht, aber: einen angeklecksten weißen Tischläufer, der unbenutzt im Schrank rumlag, aus Baumwolle war und durch den ich auch doppellagig gut atmen kann. Der wurde jetzt zum Prototyp verarbeitet, bevor ich mich an die bunten Stoffservietten als Rohmaterial wagte.
Ich hatte in der, keine Ahnung, sechsten, siebten, achten Klasse? mal Handarbeitsunterricht, und wir haben genau einmal eine Nähmaschine benutzt. Ansonsten kann ich mich nur noch daran erinnern, dass wir gebatikt haben, das war super. In den darauffolgenden 35 Jahren habe ich noch ein paar Knöpfe angenäht und Hosensäume gekürzt, aber das war’s im Prinzip. Daher wollte ich auf jeden Fall einen Prototyp basteln, der vermutlich drei Stunden dauern und fürchterlich aussehen würde.
Ging dann aber doch besser als ich dachte. Ja, die Stellen, wo ich das Gummiband angenäht habe, sehen aus, als wüsste ich nicht, was Ästhetik ist, aber das Thema des heutigen Eintrags ist „Fuck it, wir haben Pandemie“. Daher war ich schon nach einer Stunde ziemlich zufrieden; auch darüber, dass ich mir irgendwo mal gemerkt hatte, dass man das flache Blechteil aus Aktenheftern einnähen kann, damit man eine Art Nasenbügel hat. Gerade für uns Brillenträger*innen unschätzbar wichtig, sonst ist nach zwei Minuten die Brille beschlagen. Sehen Sie die kleine Kurve am oberen Rand? Metallbügel!
Und so nähte ich lustig weiter vor mich hin und hatte nach drei Stunden drei Masken, die ich auswaschen kann. Theoretisch kann ich in die zwei grünen sogar noch ein Vlies einlegen, zum Beispiel aus einem Staubsaugerbeutel, aber ich bin mir noch nicht sicher, wie gerne ich ein Staubsaugerbeutelstück direkt vor Mund und Nase haben möchte. Der Mundschutz ist, wie wir ja inzwischen alle gelernt habe, eher für die anderen da, die nicht von uns angehustet werden, als für uns, die ihn tragen. Passt so.
Bei der nächsten Pandemie kämme ich mich vorher und leg ein bisschen Lidschatten auf. Aber für jetzt gilt Sie wissen schon.
Danach musste dringend der Schreibtisch wieder in den akademischen Zustand zurückversetzt werden OMG.
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Inzwischen war es nach 14 Uhr und ich hatte immer noch nichts gefrühstückt, nicht mal einen Kaffee oder so, ich wollte morgens das Einkaufen schnellstmöglich hinter mich bringen. Daher drängte es mich jetzt in die Küche und ich bereitete mir ein Festessen zu.
Wenn man seit ungefähr 18 Stunden nichts gegessen hat, kommt so ein kleines Weinchen übrigens noch besser.
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Ich schrieb ein paar DMs an F., las ein bisschen, freute mich über die Sonne draußen und das schöne Licht in meiner Wohnung und war in einer sehr ruhigen Stimmung. Und dann war es 19 Uhr und Herr Levit lud zum Hauskonzert, das gestern auch genau dieser Stimmung entsprach. Wie immer danke dafür, man kann gar nicht oft genug danke sagen.
Mich berührt es immer, dass Levit selten nach dem Spiel einfach so aufsteht, sondern meist noch eine kleine Geste ausführt, die Faust ballt und sich damit auf den Oberschenkel klopft oder, so wie gestern, kurz die Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt, als ob er ein Kapitel beendet, seine eben für uns geöffnete Welt wieder schließt. Einer seiner letzten Sätze im langen Zeit-Podcast war sinngemäß: „Ich kann nicht abstrakt Musik machen, das macht ja was mit mir.“ Achtung, totaler Allgemeinplatz: Vermutlich kann niemand abstrakt Musik hören. Das macht auch was mit einem. Das Hauskonzert war ein sehr schöner Abschluss des Tages, und ich dachte, als ich mich zum Bloggen an den Rechner setzte, das schreib ich jetzt so auf, das war ein schöner Tag.
Ich klickte auf unsere Klassikplaylist und wählte „The people united will never be defeated“, das wir in einer Einspielung von Levit in der Liste haben und begann mit den ersten Tönen aus heiterem Himmel an zu weinen. Dann heulte ich das Stück durch, dann bloggte ich diesen Eintrag, jetzt läuft Mendelssohn und ich esse gleich noch ein paar Schokoladen-Ostereier.
Das war ein schöner (ich habe genäht!), seltsamer (Mundschutzmasken!) und emotional mal wieder völlig überwältigender Tag. So wie alle in letzter Zeit.
In der #CoronaKrise fühlt sich ein Monat wie im Zeitraffer und abwechselnd wie in Zeitlupe an. Innerlich wechseln sich Überwältigung, Zuversicht, Zorn und Entschlossenheit im Stundentakt ab. Anstrengend in der Summe. Wir alle sind in den letzten 30 Tagen um mind. 1 Jahr gealtert.
Tagebuch Donnerstag, 19. März 2020 – Okay bis zum Nachmittag
Aufgewacht, geduscht, Flat White gemacht, gebloggt, aufs Sofa gesetzt mit dem festen Vorsatz, die Diss nicht anzufassen, denn das bringt ja eh nichts.
Nach 20 Minuten an den Rechner gegangen und die Diss geöffnet. Reverse psychology works, people.
Korrigiert, Textblöcke verschoben und einen total sinnvollen Vorschlag für alle Akademiker*innen entwickelt:
Irgendwann eine gute Idee für das Kapitel gehabt, mit dem ich die letzten Tage gehadert habe, weil mir Bibliotheken und die Milliarden von Infos fehlen, die ich in ihnen finde. Die Idee ansatzweise umgesetzt, dann Hunger bekommen und erstmal Mittag gemacht. Der Nudelteig von vorgestern ist jetzt aufgebraucht.
Apropos Bibliotheken: Einige von ihnen erleichtern gerade die Zugangsmöglichkeiten zu ihren digitalen Angeboten. Ich bekam auf Twitter die Münchner Stabi (Erleichterung bei der Ausweisbeantragung) und die Kölner Stadtbibliothek mit, aber vielleicht schaut ihr mal, wie es bei euren Haus- und Hofbibs aussieht, ich ahne, dass die auch gerade ihre Angebote niedrigschwelliger machen. Meine obskuren Bücher zu meinen obskuren Malern gibt es zwar dennoch nicht digital, aber ich finde es gut, dass Dinge sich anscheinend irre schnell ändern können, wenn es nur dringend genug ist. Wäre nett, wenn es für die weitere Digitalisierung nicht das nächste Virus bräuchte.
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Noch in meiner späten Mittagspause erreichte mich die Nachricht von F., dass die Passionsspiele in Oberammergau, die nur alle zehn Jahre stattfinden, auf 2022 verschoben wurden. Wir hatten Karten für Ende Mai gehabt und uns schon sehr gefreut (ich auch über einen bisher in diesem Blog einzigartigen Eintrag), aber nun gut. F. meinte vor ein paar Tagen noch so: „Die Spiele gibt’s doch nur, weil Gott das Dorf von der Pest verschont hat – da wird so ein blödes Virus ja wohl auch einen Bogen drumrum machen.“ Tja. Virus 1, Gott 0.
Ich rief pseudo-gut-gelaunt das Mütterlein an, das wir hatten mitnehmen wollen und meinte, dass wir dann eben erst 2022 gehen würden. Woraufhin sie den Spruch brachte, den alle älteren und alten Leute vermutlich irgendwann bringen: „Ach, wer weiß, ob ich dann noch lebe.“
Ich habe wie üblich die zuversichtlichen „Ihr seid doch unverwüstlich“-Sätze von mir gegeben und mit ihr geklönt. Dabei merkte ich, wie gut die Rede von Angela Merkel am Mittwochabend gewesen war. Seit Tagen versuchen meine Schwester und ich, das Mütterlein davon abzuhalten, einkaufen zu gehen. Das hat bisher auch geklappt, aber so richtig ernst genommen hat sie das Ganze nicht. Am Telefon meinte sie nun aber: „Frau Merkel hat ja auch gesagt, dass es jetzt ernst ist.“ Der hat sie nämlich geglaubt. #DankeMerkel
Das vertwitterte ich auch, woraufhin einige Reaktionen kamen; die hier fand ich besonders schön: „Bei meiner Mutter war es die Aussage der in London lebenden Nichte, dass die Queen auch alle Termine abgesagt hat.“ (Habe den Tweet komplett gecopypastet, dabei wurde aus dem Emoji am Tweetende dieser Text: „Gesicht mit Freudentränen“. Cool, wieder was gelernt.)
Zurück zu meiner Mutter: Die Pflegekräfte für meinen Vater kommen natürlich weiterhin ins Haus, die Physiotherapie aber nur noch auf Wunsch; die hat Mama erstmal abbestellt. Sie hält auch brav zu den Pflegekräften Abstand, und auch meine Schwester klingelt, geht dann ein paar Meter zurück, bis Mama die Tür öffnet und die Einkäufe von der Türschwelle nimmt. Typisch Mütterchen: „Ja, aber [Schwester] muss doch den ganzen Tag arbeiten, da muss sie doch nicht noch für mich einkaufen.“ Und vergisst natürlich völlig, dass sie seit Monaten rund um die Uhr für unseren Vater da ist. Eigentlich sollte ich in ein paar Wochen mal wieder für eine Zeitlang in den Norden kommen, aber das haben wir erstmal vorsichtig auf Eis gelegt und gucken, wie dann die Gegebenheiten so sind und ob ich mich in einen Zug setzen sollte. Meine ewige großkotzige Ansage, dass man in einer Großstadt kein Auto braucht, beißt mich gerade sehr in den Hintern.
Als wir das Gespräch beendet hatten, kam der Satz „Ach, wer weiß, ob ich dann noch lebe“ leider wieder hoch. Denn zum ersten Mal fühlt es sich so an, als ob an ihm etwas Wahres dran sein könnte. Mir ist schon klar, dass wir nicht ewig leben, auch meine Eltern nicht, obwohl ich es mir gar nicht anders vorstellen kann, dass sie irgendwann nicht mehr da sind, denn sie sind schließlich schon immer da gewesen. Aber jetzt, wo sich um uns herum etwas Unsichtbares, Bedrohliches an uns ranschleicht, fühlt es sich auf einmal real an. Damit war der Tag dann eher gelaufen.
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Immerhin konnte ich wieder Igor Levit zuhören und dann in die Kammerspiele gucken und abends theoretisch Saša Stanišić bei einer Lesung zuhören, wofür ich aber zu traurig war. Ich kriege gerade mehr Kultur mit als zu der Zeit, als ich noch vor die Tür hätte gehen können, um sie mir persönlich abzuholen. Ich vermisse allerdings schon die Museen, denn kein virtueller Rundgang kommt auch nur annähernd an das Erlebnis heran, vor einem Kunstwerk zu stehen.
Immerhin ein Erfolgserlebnis: Der vorgestern angesetzte Sauerteig ist ernsthaft von Nichts auf Riesig angewachsen und sogar aus seinem Glas geklettert und hat meine FCA-Fleecedecke eingesaut, in die ich ihn eingewickelt hatte. Aber da ich die Decke gerade eh nicht brauche (kein Fußball, kein Stadion), ist das egal. Ich habe einen Sauerteigansatz! OMG!
Seit dem Podcast vom Dienstag überlegte ich, die Grippe-Impfung nachzuholen, die ich im letzten Herbst verschnarcht hatte, gab ja Wichtigeres. (Gab es nicht, wie ich jetzt weiß.) Hier ist das Skript; auf den Seiten 3 und 4 geht es um die Impfung gegen Grippe, obwohl die jetzige Saison jetzt gerade ausläuft, und Pneumokokken, von denen ich bis Dienstag nicht mal wusste, dass es sie gibt. Kurz und laienhaft zusammengefasst: Die Grippe-Impfung lohnt sich noch, weil die nächste Saison kommen wird, und beide Impfungen lohnen sich, damit der Körper bei einer Corona-Infektion nur damit zu tun hat und sich nicht auch noch um die beiden anderen Dinge kümmern muss, die auch die Lunge belasten: „Aber die nächste Influenza-Saison kommt auch, die Pandemie wird auch in der nächsten Influenza-Saison immer noch da sein. Und deswegen lohnt es sich auch jetzt noch mal, eine Grippeschutzimpfung mitzunehmen und sie insbesondere dann aber im nächsten Herbst aufzufrischen. Denn dann hat man von jetzt und nächsten Herbst zusammen einen ganz besonders guten Influenzaschutz in der dann kommenden, gleichzeitigen Influenza und SARS-II-Infektionswelle nächstes Jahr um diese Zeit.“ Die Pneumokokken-Impfung wird eher für die ältere Generation empfohlen, aber schaden kann sie vermutlich nicht, und so ganz jung bin ich ja auch nicht mehr.
Außerdem ging ein weiteres Medikament zur Neige, das ich täglich nehme, also musste ich eh in die Praxis meiner Hausärztin. Dort hingen schon unten an der Haustür Hinweiszettel, dass man bitte bloß nicht reinkommen sollte, wenn man symptomatisch wäre, ab nach Hause und telefonisch melden. Ich war nicht angesprochen, ging also hoch, fasste alles nur mit Handschuhen an und bekam mein Rezept ausgestellt. Dann wollte ich mir einen Termin für die Impfung geben lassen – telefonisch ging vorher gar nichts, sonst hätte ich das natürlich gemacht –, als man mir sagte, das ginge gleich jetzt. Pneumokokken-Impfung kostet übrigens 70 Euro, Grippe ging anscheinend aufs Haus, wenn ich die Rechnung richtig interpretiere. Und den Impfpass gab’s für einen Euro, denn meinen alten habe ich beim letzten Umzug irgendwie verschlampt.
Mit zwei Pflastern auf den Oberarmen fuhr ich wieder nach Hause und plante die nächste Woche geistig vor. Unser gemeinsames Abendessen auswärts sagten F. und ich ab, mir ist derzeit nicht so wohl dabei, eng in kleinen Restaurants aufeinander zu hocken. Auch über meine zwei geplanten Archivbesuche dachte ich nach, wobei ich ja weiß, dass sich in Archiven eher keine Menschenmassen bewegen. Die Entscheidung über die Besuche wurde mir aber im Laufe des Tages abgenommen: Das Deutsche Museum schließt ab heute seine Pforten, wovon sehr wahrscheinlich auch Bibliothek und Archiv betroffen sind, obwohl das nicht explizit auf der Website erwähnt wird. Die Leiterin des Archivs der Akademie der bildenden Künste informierte mich persönlich per Mail davon, dass sie derzeit alle Besuche absagte, und ich schrieb zurück, dass ich das richtig fände und mich schon auf den Nachholtermin freute.
Und dann kamen nachmittags die Meldungen rein, dass auch die Bibliotheken schließen, ich sah zuerst die Stabi, dann mein geliebtes Zentralinstitut, und jetzt beim Schreiben dieses Eintrags sehe ich, dass auch die Uni-Bibliotheken alle dicht machen. Hätte ich mal gestern noch diese Fernleihe im Lesesaal eingesehen, die seit vorgestern dort für mich liegt. Mist.
Ich schwankte und schwanke seit gestern hin und her zwischen „Dann lese ich jetzt halt anständig Korrektur“ und „Ich werde bis Juni wohl doch nicht mehr fertig mit der Diss“. F. schrieb per DM, dass es doch okay sein, wenn ich den Kopf mal ausmache, und heute morgen sah ich einen Tweet, der das Dilemma, neben dem gesundheitlichen Aspekt, gut zusammenfasst: „Is anyone else’s brain so broken that you’re beating yourself up for not being productive enough about work during an unprecedented global pandemic?“
Als introvertierter Mensch, der andere Menschen eh gerne meidet, mache ich seit Tagen Witze darüber, wie super ich darauf vorbereitet bin, alleine zuhause zu sein und vor mich hinzupuscheln, aber, totale Überraschung, auf einmal fühlt sich das alles nicht mehr so super an.
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Ein paar Tipps für den Lagerkoller:
– das zweite Hauskonzert von Igor Levit nachhören (habe ich gestern live verpasst, läuft gerade nebenbei)
– In Bayern sind auch alle Museen dicht, ich folge diversen ArtBots von Andrei Taraschuk auf Twitter. Unsere nächste Fehlfarben-Ausgabe war übrigens für April geplant, die wird dementsprechend verschoben. Auch weil unser dritter Mitspieler gerade sehr weit weg ist und von dort seit gestern alle Flüge nach Deutschland gestrichen sind.
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Nebenbei: Bei der NY Times, der Washington Post und dem New Yorker sind die Artikel über Corona frei zugänglich. Wenn die Süddeutsche da vielleicht mal drüber nachdenken und ihr dämliches SZplus dafür abschalten könnte? So wie die Hinweise für die morgige Kommunalwahl? Bezahlschranke, echt jetzt?
Viel zu früh wachgewesen (Archivvorfreude), gemütlich ins Hauptstaatsarchiv geradelt und dort vom freundlichen Pförtner, der gerade noch vor der Tür war, darauf hingewiesen worden, dass der Laden heute erst um 10 öffne und nicht um 8.30 Uhr. Am Samstag war ja der Tag der Archive, und da müsste jetzt wohl noch etwas aufgeräumt werden. Also ging ich nach nebenan in die Stabi und arbeitete dort.
Nachmittags guckte ich Tim Mälzer im Kampf mit Jan Hartwig zu, den bzw. dessen Atelier F. neuerdings so schätzt. Ich folge dem Herren auch auf Instagram und habe mich dort sogar einmal zu einem Kommentar hinreißen lassen, weil der Teller so hübsch aussah.
Abends verzichtete ich nölig aufs Fahrrad und begab mich in U- und S-Bahn, wo ich alles nur mit Handschuhen berührte, um zum Gasteig zu kommen. Dort warteten neben netter Begleitung die Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons auf mich, um mir die ersten drei Beethoven-Sinfonien vorzuspielen. Die übliche S-Bahn-Kapelle an der Haltestelle gab zur Einstimmung „Bella Ciao“, was ich noch ewig im Ohr hatte. Außerdem staunte ich über den Ständer mit Desinfektionsmittel, der im Foyer stand und auch noch eine Etage drüber (und vermutlich noch an weiteren Standorten im Haus). Der wurde auch brav benutzt, denn ich gebe zu, allmählich mache ich mir doch ein bisschen Sorgen. Dass ich mit Asthmavorerkrankung vorsichtig sein soll, ist mir klar, gestern lernte ich aber im Podcast, dass auch Menschen mit höherem Körperfettanteil eine Risikogruppe sind. Mist, ich hatte immer gedacht, wenn alles den Bach runter geht, habe ich wenigstens noch ein paar körperliche Reserven. Deswegen war ich auch nicht ganz so glücklich daüber, als Teile der gestrigen Begleitung locker meinten, sie kämen gerade aus Südtirol. Da aber beides Ärzt*innen sind, hoffe ich, dass sie mehr wissen als ich, die schienen jedenfalls nicht so irre besorgt zu sein. Wir unterhielten uns auch darüber, dass wir vermutlich Samstag nicht in Augsburg im Stadion sein werden, und F. bangte den ganzen Abend, ob die nächsten drei Abende mit den restlichen sechs Sinfonien überhaupt stattfänden. Stand jetzt scheinen sie stattzufinden. Leider ohne mich, ich hatte nur für gestern eine Karte.
Anfangs dachte ich auch, meh, vier Tage voller Beethoven, wird das nicht langweilig, aber nachdem die letzten Töne der 3. Sinfonie verklungen waren, wollte ich sofort die 4. hören. Muss ich das halt mit einem Glas Sekt auf dem Sofa machen, während F. das Live-Erlebnis genießen darf.
Ich glaube, die 1. und 2. Sinfonie hatte ich noch nie gehört. Während der 1. dachte ich die ganze Zeit, wann kommt denn jetzt eigentlich Beethoven, das hörte sich noch ein bisschen danach an, als ob Haydn ihm die ganze Zeit über die Schulter geguckt und gesagt hätte, nee, Junge, das schreibst du jetzt noch ein bisschen ordentlicher runter, gell? Gelernt: Der dritte Satz müsste der kürzeste sein, den ich je gehört habe. (Keine vier Minuten.)
Die 2. Sinfonie war dann schon eher das, was man erwartet, wenn man „Beethoven“ denkt. Spätestens im 2. Satz saß ich wieder mit offenem Mund da, weil schön. Trotzdem blieb auch hier noch Zeit, sich im Orchester umzugucken, was ich generell gerne bei klassischen Konzerten mache.
Bei den wenigen Damen (verdammter Jungsclub Wiener Phil) hatte ich bei ihrem Gang zu ihren Plätzen gemerkt, dass auch sie wie die Herren über einen Dresscode verfügen, schlichter schwarzer Hosenanzug. Bei den Schuhen gab es anscheinend nur zwei Wahlmöglichkeiten: entweder die gleichen flachen Lacktreter wie die Jungs oder Acht-Zentimeter-Stilettos. Das war wahrscheinlich der unbequeme Ausgleich dafür, dass die Herren in Fliege, Frack und Weste oder Kummerbund, wenn ich das richtig gesehen habe, rumsitzen müssen. Das stelle ich mir als Geiger oder Bratschist ja doch etwas nervig vor, diese blöde Fliege tragen zu müssen, aber was weiß denn ich. Ich starrte jedenfalls dauernd einer Dame in der 1. Geige auf die Füße; ich kann auf solchen Schühchen nicht mal stehen geschweige denn irre teure Instrumente über glatte Bühnenböden transportieren.
Ansonsten war ich mit den Jungs am Kontrabass beschäftigt. Da saßen zwei in der ersten Reihe, die beide Vollbart trugen. Der blonde Herr hätte auch preußischer Rittmeister werden können, aber einer der netten, der seine Töchter mehr lernen lässt als Klavier und Aquarellmalen; vermutlich dürften sie sogar Hosen tragen und Mädchen küssen. Der Herr neben ihm hatte eine Haartolle wie Till Lindemann, etwas kürzer, die er gerne mit eleganter Geste aus dem Gesicht strich, wenn er gerade nichts zu tun hatte, und danach machte er diese eine Handbewegung, um die ich Bartträger sehr beneide: mit Daumen und Zeigefinger gleichzeitig an beiden Seiten des Gesichts herunterstreichen, um sich unten am Kinn wiederzutreffen. Der Herr hatte seinen Bass auch fast vor sich liegen anstatt aufrecht hinter ihm zu stehen oder zu sitzen, weswegen er beim Seitenumblättern einen Riesenschritt nach vorne machen musste. Soviel zur 2. Sinfonie. Ähem.
Nach der Pause (Schnittchen, Roséschampus) gab’s die 3. Sinfonie. Die „Eroica“ kannte ich natürlich, und schon nach den ersten 40 Takten hatte ich das Gefühl, ah, jetzt isses Beethoven. Was ich so an ihm mag, ist, dass ich eben keine Zeit mehr für die Herren am Bass hatte, sondern dass die Musik mich dauernd vorne auf der Sesselkante hält. Bei den ersten beide Sinfonien konnte man noch entspannt rumsitzen und sich berieseln lassen, aber jetzt kam ständig was, was Aufpassen erforderte. Gerade war das Motiv da, ach schön, oh, geht schon weiter, aha, jetzt wird’s langsamer, okay then, Bartschnuffi angucken, oh wait, und jetzt piano, ach nee, doch schon wieder laut, wir waren doch gerade da und jetzt sind wir schon wieder ganz woanders und trotzdem hält alles zusammen und lässt mich atemlos werden. Im zweiten Satz flossen dann für mich etwas überraschend ein paar Tränchen, aber mei, ich bin halt auch ein leichtes Opfer.
Sehr viel Applaus und sehr viel Bedauern bei mir, die restlichen Sinfonien nicht auch live hören zu können. Zu teuer. Geht grad nicht. Vielleicht mache ich heute abend einfach YouTube an, da kann ich bestimmt auch in irgendein Orchester gucken.
Das Foto ist von 1960, ich sah es in einem der Alben, die ich beim letzten Elternbesuch durchgeblättert hatte. Weil ein Foto von Omi auf Twitter mal so nette Kommentare zu ihrem Kleid erhalten hatte, fiel mir bei diesem Bild auf: Ich glaube, ich habe meine beiden Großmütter nie in Hosen gesehen. Auch nicht auf dem Fahrrad, bei der Gartenarbeit oder auf der Baustelle des Hauses meiner Eltern.
Direkt vor dieser Seite hatte meine Mutter, die im ehemaligen Ostpreußen geboren wurde, 1958 Aufnahmen aus dem Lager Friedland eingeklebt und mit einer Bildunterschrift versehen, über die ich stolperte: „Heimkehrerzug aus den zur Zeit unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten.“ Dass die Warschauer Verträge auch ein paar Jahrzehnte Entstehungszeit hinter sich hatten, war nicht mehr auf meinem Radar.
Wieder nur lausig mit dem iPhone abfotografiert. Ich muss beim nächsten Mal ein paar Alben auf den Scanner legen, hilft ja nichts. Viel zu spannend, um es im Wohnzimmerschrank verstauben zu lassen.
Tagebuch Donnerstag, 27. Februar 2020 – Bundestränchen
Am vorletzten Tag meines Bundesarchiv-Aufenthalts wartete der Feind: die Mikroformate. So war es mir jedenfalls auf der Bestellbestätigung vom Archiv mitgeteilt worden, nicht alles, was ich haben wollte, gab es auf schönem, übersichtlichen Papier.
Todesmutig stapfte ich in den Ausgaberaum, wo mir sechs Umschläge mit Mikrofiches in die Hand gedrückt wurden. Interessiert stellte ich fest, dass die Lesegeräte nicht ganz so altmodisch waren wie die, die ich aus der Münchner Stabi kenne, wo man eines der Plastikblättchen auf die dafür vorgesehene Glasplatte legt, sie unter das Objektiv (?) schiebt und hofft, dass man alles richtig herum reingedengelt hat. Das war’s. Hier war das Lesegerät digital, das heißt, man konnte per Mausklick die Ansicht ändern, wenn man das Blatt, wie erwartet, verkehrt eingelegt hatte. Außerdem konnte man an Kontrast und Helligkeit rumspielen, zoomen (okay, das geht analog auch) und ich meine auch ausdrucken. Und: Man liest nicht die ganze Zeit weißen Text auf schwarzem Grund, was ich hasse, sondern schwarz auf weiß. Wie eingescannte Blätter halt.
Das wäre alles total toll, wenn es das Leseerlebnis verbessern würde. Schwarz auf weiß ist prima, danke, meine Augen haben sich sehr gefreut. Aber: Vieles war schlicht nicht lesbar, weil die Schrift zu hell war. Das war mir schon bei vielen Akten in den letzten Tagen aufgefallen, dass keine Originale erhalten waren, sondern der vierte Durchschlag des Originals. Auf Papier ging das noch, als Scan/Foto war es teilweise komplett unbenutzbar. Aber hey, es waren ja nur die Akten der Reichskanzlei, da stand bestimmt nichts wichtiges drin.
Ich fand immerhin das meiste von dem, was ich zu finden gehofft hatte, anderes fand ich nicht mal ansatzweise und ich weiß jetzt auch nicht mehr, wo ich noch danach suchen könnte. Bleibt das halt eine Lücke in der Diss. Die werde nur ich sehen, aber ich werde mich die nächsten 20 Jahre darüber ärgern, keine Quelle dafür gefunden zu haben.
Ich stolperte außerdem über einen Fall, von dem ich im Rosenheim-Seminar schon mal gehört hatte; das fand ich sehr spannend, den Sachverhalt anhand der Originalquellen nachvollziehen zu können.
Und dann stolperte ich noch über die ersten Entwürfe zur staatlich legitimierten „Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“, also dem Raubzug durch deutsche Museen der heute so genannten Klassischen Moderne. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet gewesen; ich hatte mich doch gerade nur durch Briefwechsel von einzelnen Künstlern oder Künstlergruppen gewühlt, die irgendwelche Nachlässe, Werke oder Kompositionen dem „verehrten Führer und Reichskanzler“ überlassen wollten, woraufhin die Kanzlei meist sehr höflich formulierte, dass Herr Hitler gerade echt was Besseres zu tun hätte. Allerdings nicht immer: Gerade die Münchner Künstler konnten sehr häufig auf persönliche Unterstützung oder finanzielle Hilfen hoffen. Auch deswegen wollte ich in diesen Beständen rumwühlen; die Sekundärliteratur war da gerne etwas blumig-vage geblieben, aber jetzt konnte ich einzelne Schreiben zitieren und Vorgänge nachvollziehen. Und so war ich im Kopf bei Bettelbriefen und Huldsbezeugungen und dann kamen auf dem Monitor plötzlich die ersten Unterlagen darüber, wie man am besten deutsche Kunst einzieht, aber die Ausländer nicht verprellt, die diesen Kram ja so mögen. Es fiel auch der Begriff „nicht unbeachtliche Vermögensobjekte“; den Deppen war durchaus klar, was sie da an den Wänden hatten, sie wollten es bloß nicht anschauen oder sich damit auseinandersetzen, dass es mehr als ihre beschissen eng gefasste Weltsicht gibt, sondern lieber banalste Genreszenen aus dem 19. Jahrhundert wieder aufleben lassen, weil’s da ja so schön war.
Zuerst war ich pissig und dann sehr nah am Wasser, was mich selbst überraschte. Ich weiß ja so gaaanz langsam, mit was ich mich da seit Jahren befasse, aber manchmal überwältigt es mich dann doch noch. Diese Engstirnigkeit, dieser Hass, dieser Wille zur Macht auf der einen und zur Vernichtung auf der anderen Seite. Die Sprache, das Bürokratische, die ständig neuen Regeln, die gefühlt willkürlich gemacht wurden, weil sie es konnten. Manchmal ist es zu viel und dann heult man kurz im Bundesarchiv. Weil es eben nicht nur um ein paar bunte Bilder ging. Ich bin nicht hart genug für die Kunstgeschichte.
Archivtag, alles toll für mich, weniger toll für euch, weil ihr euch vermutlich weniger über Halbsätze in Briefen freuen könnt wie ich, die sich über jeden Fitzel freut, den sie zu bestimmten Sachverhalten findet.
So war ich gestern glücklich über einen kleinen Fund, für den ich 19 Aktenpakete hatte durchblättern müssen, aber im 20. war er dann. Ich kann jetzt ungefähr sagen, wieviel Protzen für sein erstes Werk zu den Reichsautobahnen an Geld bekommen hat, was für mich ein wichtiges Indiz dafür ist, dass er einen finanziellen Ansporn hatte, mit dem Thema weiterzumachen. Und zwar keinen ganz kleinen. Anhand der verzeichneten Einkünfte in Werkverzeichnis und Spruchkammerbogen (letzte Quelle ist natürlich mit Vorsicht zu genießen) kann ich seine Einkommensverhältnisse immerhin annähernd erkennen, und da war diese Summe nicht ganz unwichtig. Sie versteckte sich in einem Brief des Ausstellungsleiters Theo Lechner von 1934, der sich bei Eduard Schönleben, die rechte Hand von Fritz Todt, über einen Berliner Grafiker beschwerte, der seiner Meinung nach viel zu viel abrechnen wollte – im Gegensatz zu seinen braven Münchner Kollegen. „Meine Meinung von dem Berliner Geist und dem Berliner Tempo ist neu bestätigt worden.“ (BArch R/4601/1306)
Und wie gestern ist eben beim Aufschreiben fürs Blog was Nettes passiert: Ich guckte nach Herrn Lechner im Interweb und weiß nun, dass sein Nachlass in der TU München liegt. Ich mache gerade geistig einen Termin aus. Ich wusste bis eben nicht, dass da NOCH EINE STELLE ist, an der ich rumwühlen kann. Harhar.
Außerdem freute ich mich über einen kurzen Schriftwechsel über ein anzukaufendes Werk für die Autobahnraststätte in Mährisch Trübau (Moravská Třebová); darin fanden sich Vergleiche zu anderen Malern – wenn Ingenieure über Kunst reden -, berechtigtes Gemeckere über die zu hohen GDK-Preise und, für mich nebenbei interessant, die Bezeichung „Beauftragter für die Durchgangsautobahn“, was den Stellenwert des heutigen Tschechien im Gesamtraumplan der Nationalsozialisten recht deutlich macht.
Daran muss ich mich manchmal selbst erinnern, in welchen Dokumenten ich hier rumwühle. Das ist zwar alles spannend und für mich aufregend und es fühlt sich wie ein sinnvoller Tag an, den ich damit verbringe, aber manchmal muss ich mir selbst deutlich klarmachen, dass auch eine so schicke Ausstellung wie „Die Straße“ eben nicht nur darüber informieren wollte, wie toll deutsche Baumaschinen sind, sondern auch, wie ideologisch selbst Dinge wie die Darstellung einer Landstraße aufgeladen werden kann („Die Straße frei den braunen Bataillonen“). Gestern stieß ich auf einen Schriftwechsel, in dem jemand der Baubehörde einen Bildhauer empfahl, dessen Arbeit aber überhaupt nicht auf Zustimmung stieß. Da hieß es sinngemäß, dass diese Kunst nicht „deutsch“ genug aussehe und dass man den Mann vielleicht mal nach Russland empfehlen sollte. Und schon wird aus dem gespannten, gut gelaunten Archivlesen die Erinnerung an alles, was dieses Regime angerichtet hat.
Auch deswegen war ich, Achtung, Themawechsel, auch so auf Hunters pissig: weil es der Serie nicht gereicht hat, den Holocaust in seiner Grausamkeit darzustellen, nein, sie haben sich total unterhaltsame Gewalttaten ausgedacht, damit es noch fürchterlicher wird. (Habe mich auf sehr seltsame Weise verstanden gefühlt, weil die Gedenkstätte Auschwitz das ähnlich sieht.)
Jeden Abend beim letzten Händewaschen im Archiv denke ich naiverweise, dass es so schön wäre, den ganzen Nazidreck da draußen genauso abspülen zu können wie ich gerade den Staub der Dokumente, die ich stundenlang in den Händen hatte.
Tagebuch Dienstag, 18. Februar 2020 – Neues achievement unlocked
Geschlafen wie ein Stein, vom Wecker aus tiefen Träumen gerissen worden. Es ging ums Kinderkriegen, das weiß ich noch. Ich glaube, mein Uterus möchte mir auf den letzten Metern noch was mitgeben.
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Den halben Vormittag mit Büro- und Orgakram am Schreibtisch verbracht, bis ich um 11 einer spontanen Eingebung folgte und ins Deutsche Museum fuhr, genauer gesagt, in die dortige Bibliothek. Mich interessierten erstmal nur die Jahresbände von Die Straße, einer Zeitschrift, die den Autobahnbau begleitete. In einigen der Bände hatte ich schon in der Stabi gewühlt, wobei ich da eher zielgerichtet Quellen nachgeschlagen hatte, die mir in Sekundärliteratur-Fußnoten aufgefallen waren. Nun wollte ich einfach alles mal durchblättern, auch um zu sehen, ob irgendwann Gemälde von Protzen als Illustration benutzt wurden.
An der Tramhaltestelle „Deutsches Museum“ steuerte ich auf den Haupteingang zu, von dem mir ein Wegweiser aber wegwies (ja, ich kann über derart billige Wortspiele lachen) und mich an der Seite des Riesengebäudes langlotste. Ein Schild zeigte mir den Eingang der Bibliothek an und nachdem mir eine freundliche Dame den Türöffner gezeigt hatte, als ich kläglich an der schweren Tür scheiterte, fand ich die Schließfächer und staunte danach mit dem Laptop im Arm erstmal über die heiligen Hallen.
Da ich noch nie in dieser Bibliothek gewesen war, nahm ich professionell meinen Personalausweis und einen Zehner mit in den Lesesaal, weil ich nicht nachgeschaut hatte, ob der Ausweis was kostet (tut er nicht). Mir wurde sehr freundlich weitergeholfen, und ich konnte sofort bestellen und meinen Kram vor allen Dingen 30 Minuten später in den Händen halten; deswegen wollte ich in diese Bibliothek und nicht in die Stabi, wo ich mindestens drei Tage auf Zeug warte.
Ich suchte einen Platz mit Steckdose und sah sofort, dass diese eine Tischecke, die vollständig mit Menschen belegt war, was mich beim ersten Vorbeigehen gewundert hatte, der Saal war doch fast leer?, die einzige Ecke war, die Steckdosen hatte. Aber ich wollte ja bloß bestellen und blättern, die paar Stündchen müsste mein Akku durchhalten. Der mitgegebene Flyer sagte mir, dass ich mich einfach ins Museum-WLAN einloggen könne, was aber nicht funktionierte. Ich testete stattdessen den eduroam-Zugang an und der ging.
In diesem Augenblick fiel mir wieder ein, was ich neben dem Semesterticket ab Oktober, wenn das Studium wirklich echt jetzt unwideruflich zu Ende ist, noch vermissen werde: eben diesen Zugang. Ich nutze ihn in jeder Uni-Bibliothek, weil das Uni-WLAN irre langsam ist, ich nutze ihn in der Stabi und sogar im ZI, obwohl dort ein WLAN ist, für das ich aber bis heute noch nicht das Passwort erfragt habe, wozu denn, ich hab ja meinen eduroam-Zugang. Du wirst mir fehlen, Schatz! (In Archiven funktioniert er, meine ich, nicht, da sitze ich meist herrlich ungestört von der Welt. Auch schön. Zum mal eben was Nachgucken allerdings sehr doof; da zücke ich meist ernsthaft mein Handy.)
Und so blätterte und blätterte ich und fand ein paar Dinge, die für mich neu und spannend waren. Nichts direkt zu Protzen, aber Kontext: So fand ich mehrere Anzeigen einer Firma, die 1937 ein Werk von ihm gekauft hatte, und ab 1936 bebilderte sie ihre Anzeigen auch mit einem Foto jener Brücke, von der Protzen ein Bild gemalt hatte. Ich kann nun also belegt behaupten, dass diese Firma an dieser Brücke beteiligt war und sein Werk – eine Kopie eines anderen – vermutlich eine Auftragsarbeit. Für derartigen Kleinkram blättert man halt Zeug durch anstatt nur das zu lesen, was die anderen vor einem schon gelesen haben.
(Anzeige von 1934, war in mehreren Heften drin.)
Als mein Rechner fast leer war, war ich mit den drei Jahrgängen fertig, die ich mir hatte ausheben lassen. Inzwischen waren die Steckdosenplätze wieder frei. Mal sehen, ob ich heute einen abkriege, wenn ich die nächsten drei Jahre durchschaue.
Tagebuch Samstag/Sonntag, 15./16. Februar 2020 – Freiburg, Irschenberg, Frauenwörth
Der FCA spielte am Samstag zuhause gegen Freiburg, das Spiel war fürchterlich, das Publikum irgendwann fassungslos, dann pissig, es ging unentschieden aus, und ich habe alles schon wieder vergessen. Aber die Zugfahrt war nett und die Stadionwurst wie immer ausgezeichnet.
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Als ich am Freitag im Zug zurück nach München saß, erreichte mich eine DM von F. Sein Mütterchen weilte außer Landes, daher hätten wir den Wagen zur Verfügung. Ob wir einen Ausflug zum Chiemsee machen wollten? Ich so: „Yay!“ Er so: „Dann fahren wir auch über deinen depperten Irschenberg.“ Ich so: „IRSCHENBERG FTW!“
Der Irschenberg bzw. die Autobahn darüber gehört zu den Motiven, die so ziemlich jede*r Autobahnmaler*in um 1936 mal gemalt hat. Hier eine meiner liebsten Ansichten von Wolf Panizza, ich schrieb schon einmal darüber:
Auch Herr Protzen hat das Ding mal gepinselt. Anscheinend haben sich die Herren bei den Bergen im Hintergrund eine gewisse künstlerische Freiheit genommen, so sei es. Jedenfalls mag ich den Irschenberg total, aber F. kann das nicht mehr hören, weil man da angeblich immer im Stau steht.
Wir setzten uns also gestern ins Auto, ich packte sogar meine anständige Kamera ein, wir fuhren, ich knipste – und stellte entsetzt fest, dass alles total überbelichtet war, obwohl ich nie an der Auto-Einstellung herumfummele, die ist eigentlich idiotensicher. Ich jammerte, dass ich zwar kurz das herrlich föhnig-klare Panorama hatte genießen können, aber nun nichts fürs Blog hätte – pics or it didn’t happen –, woraufhin der beste aller Freunde die nächste Abfahrt nahm, fünf Kilometer zurückfuhr und mich noch einmal über den Irschenberg schipperte.
War aber egal, denn die Kamera zickte erneut, was ich aber erst zuhause bemerkte, weswegen ich mein iPhone auch deutlich zu spät zückte, um den herrlichen Aufwärtsschwung zu knipsen. Egal, war toll. Und: kein Stau. Guter, alter Irschenberg!
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Dann fuhren wir weiter in Richtung Chiemsee. Ich las meine Hausarbeit von 2014 zum Frauenkloster noch einmal durch und wurde von F. daran erinnert, dass ich der seligen Irmengard noch eine Kerze anzünden wollte. Verdammte Bloggerei, alles merkt sich irgendwer, nur ich nicht. (War aber niedlich, meinen damaligen Eintrag erneut zu lesen, wo ich noch der Meinung war, meine kunsthistorische Zukunft läge in der Digitalen Kunstgeschichte und der Architektur. Unschuldige Zeiten.)
Wir setzten zur Fraueninsel über und ich dudelte wieder meinen selbstgebauten Ohrwurm im Kopf herum, den ich damals schon bei der Hausarbeit immer hatte: „Oooh, ich hab solche Sehnsucht / Du hast mich so sehr betört / Ich will wieder an den Chiemsee / Ich will zurück nach Frauenwörth.“
Spazierengegangen, die Mitte Februar noch sehr leere Insel genossen, dauernd aufs Wasser geschaut, ab und zu ein Foto davon gemacht. Dann gingen wir ins Münster, das zum Kloster gehörte, ich konnte mein im Auto wiederangeeignetes Wissen erneut anbringen, ließ einen Euro in die Sammelbüche fallen und entzündete eine Kerze. Im Hintergrund der Schädel von irgendwem (eventuell sogar die Irmengard, aber ich glaube nicht) im Reliqienschreinchen.
Mehr Wasser.
Mit der Pflanzenbestimm-App Flora Incognita gelernt, dass Efeu dicke Früchte hat. Nie bemerkt. Wir kleinen Deppen hatten zuerst auf Brombeeren getippt.
Mehr Wasser.
Beim Inselwirt eingekehrt, Spezi und Saibling für den Herrn, ein Helles und Schweinemedaillons für mich, die ich vor allem wegen der Beilage Spätzle mit Röstzwiebeln haben wollte, aber letztere waren gefriergetrocknet-ungenießbar, die habe nicht mal ich gegessen und ich esse alles, was irgendwie nach Zwiebel aussieht.
Nach der Rückfahrt nach Gstadt noch einmal das Fraueninselchen fotografiert. Ach, Schnuffi.
Auf der Rückfahrt gaaanz kurz auf dem Irschenberg in etwas dichterem Verkehr gewesen. Das war niemals ein Stau! Das würde mir der Irschenberg nicht antun.
Nebenbei über die Innbrücke gefahren, die Herr Protzen 1934 gemalt hatte, aber die konnte ich nicht genießen, weil wir ja drüberfuhren und ich sie nicht gesehen habe. Außerdem über die Mangfallbrücke gefahren, die auch alle mal gemalt haben. Protzen allerdings nicht, der hatte sich wohl an eine Notiz der Ausstellungsleitung erinnert, die zur Vorbereitung einer Schau zu den geeigneten Motiven meinte: „Mangfallbrücke (schon oft gemalt).“
Tagebuch Montag bis Freitag, 10. bis 14. Februar 2020 – Auto statt Aussteuer
Man gewöhnt sich vermutlich nie so richtig daran, wenn das Gehirn einer geliebten Person auf einmal anders funktioniert als vorher, aber die Woche war weniger stressig als die letzten Male, als ich daheim war, um meine Mutter bei der Pflege meines Vaters zu unterstützen. Für ihn werde ich immer in Hamburg wohnen, aber das ist okay. Gestern morgen verabschiedete ich mich bis zum nächsten Mal und er meinte wie immer, ich hätte es ja nicht so weit.
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Der ganze bürokratische Aufwand, der mit einer zu pflegenden Person einhergeht, lässt allmählich nach. Trotzdem hat meine Mutter noch genug zu tun, muss noch immer dauernd irgendwo anrufen und Dinge erfragen, aber es wird. Die Pflegenden sind alle toll, Papa kommt mit allen klar – mit einigen besser, mit anderen weniger, aber das wäre auch nicht anders, wenn sein Kopf noch wie vor dem Schlaganfall wäre.
Dieses Mal konnte ich abends mit dem Mütterchen, wenn wir darauf warteten, dass Väterchen einschläft, ein bisschen mehr über anderen Kram klönen als Orgazeug. Sein Einschlafen zieht sich manchmal etwas; er nickt gerne weg, wacht dann wieder auf, ist orientierungslos, ruft nach irgendjemanden, an den er sich erinnert, und dann geht man halt zwei-, drei-, viermal in sein Zimmer, beruhigt ihn, bringt irgendwann ein Stück Schokolade mit und versucht rauszufinden, was ihn jetzt gerade davon abhält, einzuschlafen. Vorgestern dachte er, er müsste mir noch ein Kissen geben, einen Abend davor verstand er nicht, wieso er nicht im oberen Stockwerk schlafen könne wie wir, weil er vergessen hatte, dass er gerade nicht gehen kann. Manchmal denke ich, mein Kopf ist nicht viel anders, der grübelt abends auch über Quatsch, den er nicht ändern kann oder nicht versteht.
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Die Vormittage konnte ich teilweise länger an der Diss sitzen; meine Mutter konnte ausschlafen, ich machte Papa Frühstück, ließ die Pflegekräfte ins Haus, danach schläft Papa gerne noch ein bisschen, weil das anstrengend ist, und weil das Mütterchen die außerhäusigen Termine in die Woche legt, in der ich da bin, konnte ich in Ruhe am Küchentisch am Laptop sitzen.
Am Mittwoch habe ich ein kleines Meilensteinchen gefeiert, indem ich die NS-Zeit der Diss so gut wie abschließen konnte. Alle Ausstellungen, die ich finden konnte, bis 1945 aufgelistet, alle Werke aufgezählt, die wichtigen beschrieben, Verkäufe notiert und vor allem Kontext gegeben. Wenn ein Herr Löbsack als Käufer im Werkverzeichnis auftaucht, sollte man erwähnen, wer das so war, wenn ein Bild „Hartmannswillerkopf“ heißt, auch, wenn ein Gemälde nach Litzmannstadt verkauft wird usw. Das hat alles wenig Spaß gemacht und ich war pissig auf Protzen, aber mei, das habe ich mir ja selbst ausgesucht.
Als ich dann am Mittwoch das Jahr 1945 vorerst abschließen konnte, war ich zunächst erleichtert, dass ich den Nazischeiß endlich hinter mir hatte, aber das dauerte nur wenige Stunden, denn dann war mir klar: Ich bin wirklich fast fertig. Die Zielgerade, die der Doktorvater und F. vor einigen Wochen schon sahen, sah ich plötzlich auch sehr deutlich vor mir. Das war einerseits toll und andererseits vermisse ich es jetzt schon, sie nicht mehr zu sehen.
Aber: Feste feiern, wie sie fallen, abends mit Mama Sekt aufgemacht und auf Meilensteine angestoßen. Dabei fragte ich sie etwas nach der jungen Bundesrepublik aus, denn ich hatte tagsüber natürlich gleich brav mit 1946 weitergemacht, bis 1956 muss ich noch. Sie ist Jahrgang 1940 und konnte sich daher nicht an Dinge wie die Währungreform erinnern, die mich gerade interessieren, weil das Vermögen der Protzens nach 1945 nicht unsubstanziell war, wenn man ihre Spruchkammerbögen als wahrheitsgemäße Quelle ansehen will. Deren Summen konnte ich mit dem Werkverzeichnis abgleichen, bei dem ich davon ausgehe, dass die Zahlen dort stimmen. Einige konnte ich anhand der Archivalien vom Haus der (Deutschen) Kunst bestätigen, daher gehe ich davon aus, dass auch der Rest meist passt.
Mama wusste noch, dass sie mal ein Sparbuch mit 500 D-Mark darauf gehabt hatte, was ihre Mutter mit „Davon kaufst du die Aussteuer“ kommentierte. Sie war mit 14 von der Schule abgegangen, weil meine Omi das Schulgeld für die höhere Schule nicht bezahlen konnte; eine Tante hätte gesagt, sie sei klug und könne gut rechnen: „Du gehst ins Büro.“ Also wurde sie Fremdsprachenkorrespondentin, absolvierte Wettbewerbe in Steno und Schreibmaschine und lernte als dann schon Vorstandssekretärin meinen Vater kennen, der Exportkaufmann war. (Sie verdiente damals mehr als er, was ich super fand.)
Die beiden verlobten sich 1965, und wie das so ist in Beziehungen, zofften sie sich irgendwann. Er ließ dann wohl den fiesen Satz fallen: „Vielleicht will ich dich ja gar nicht heiraten!“ Woraufhin Mütterchen, von der ich anscheinend mehr geerbt habe als ich dachte, zum Beispiel totale Übersprungshandlungen mit finanziellen Folgen, siehe die vier Absätze vor diesem, zu sich selbst sagte: „Wenn ich nicht heirate, brauche ich auch keine Aussteuer. Ich kauf mir lieber ein Auto.“
Da steht das gute Stück vor dem Haus, das die beiden gemeinsam bauten, inzwischen verheiratet (und ich war gerade unterwegs). Der Käfer endete Anfang der 1970er Jahre an einer Leitplanke in Hamburg-Maschen, meine Eltern gottlob nicht. Alle Autos danach wurden auf Papas Namen zugelassen. Aber das erste, das sie gemeinsam fuhren, gehörte Mama.
Gestern erzählte sie mir noch, dass sie in der Fahrschule nur mit zwei weiteren jungen Frauen saß, um sie herum 20 Männer. Auch bei der theoretischen Prüfung war das Verhältnis nicht gerade ausgewogen. Das war 1965 anscheinend etwas Besonders für eine 25-jährige Frau, ein Auto zu haben, und das auch noch selbstbezahlt.
Hier ist die Dame von damals. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir das Foto vor vorgestern aufgefallen wäre, was mich irre macht. Ich finde es nämlich ganz großartig, und wenn ich mir die Twitter-Likes anschaue, bin ich nicht alleine. Das Foto hatte 1965 eine Arbeitskollegin von Mama gemacht, Ruth Schäfer, Jahrgang 1925. „Wir hatten einen 36er-Film, den haben wir im Büro mal verknipst.“
Wenn das ein Ölgemälde wäre und Kleidung und Haarfrisur etwas anders, würde ich es gnadenlos in die Neue Sachlichkeit datieren und an der Wand haben wollen. Ich glaube, ich werde mir das als Poster anfertigen lassen.
Das Haus da oben hatte übrigens die tollste Eingangstür der Welt, hier die Ansicht von innen. Ich hatte ja ernsthaft über Glasbausteine als Diss-Thema nachgedacht, weil ich die so toll finde und es erschreckend wenig Literatur über sie gibt.
Und hier die zukünftige Frau Doktor beim Wiederaufbau einer gotischen Kathedrale.
PS: Die Fotos sehen so mies aus, weil sie nur mit dem iPhone abfotografiert wurden, ich hatte keine Lust, mich bei Elterns an den Scanner zu setzen.
Tagebuch Montag/Dienstag, 27./28. Januar 2020 – Zielgerade
Montag war ich, Achtung, totale Überraschung, in einem Archiv, es ist so irre! *seufz*
Dabei hatte ich wieder Akten aus dem ehemaligen Haus der Deutschen Kunst in der Hand, die nach 1945 bis Ende 1949 nun den Absender „Abwicklungsstelle Haus der Deutschen Kunst (Neuer Glaspalast)“ trugen. Ich blätterte diverse Korrespondenzen durch, wobei ich nicht auf Protzen stieß, aber dafür auf Verwaltungsvorgänge, die ich persönlich spannend fand.
Da war zum Beispiel ein Schreiben an Gottfried Rasp vom 16. August 1949:
„Wir empfingen Ihr Schreiben vom 31. Juli 1949 und teilen Ihnen dazu mit, daß sämtliche im Haus der Kunst befindlichen Kunstwerke bei Kriegsschluß von der hiesigen Militärregierung beschlagnahmt und nach dem Central Collecting Point Munich verbracht wurden, wo sie auch jetzt noch lagern. Die Freigabe dieser Arbeiten wird seitens der Militärregierung von einer Vorlage einer beglaubigten Abschrift eines Spruchkammerbescheides abhängig gemacht, weshalb wir Sie mit unserem Schreiben vom 12. Juli 1949 um Einsendung dieser Unterlage baten, damit Sie wieder in den Besitz Ihres Bildes gelangen können.“
Rasp findet sich nicht in der Datenbank zur GDK; vermutlich hatte er Bilder eingereicht, die aber nicht ausgestellt wurden und sie aus welchen Gründen auch immer bis Mai 1945 nicht abgeholt. Die GDK 1944 fand eigentlich vom 29. Juli bis zum 26. November 1944 statt, blieb aber weiterhin temporär geöffnet, wie alle GDK seit 1941. Der letzte Kauf dieser Ausstellung wurde Ende April 1945 getätigt. Wie im Schreiben steht, blieben danach alle Bilder erstmal im Museum und wurden erst nach Erhalt des Spruchkammerbogens aka Entnazifizierungsbescheids ausgehändigt. Bis auf die mit eindeutig ideologischem Inhalt, diese und tausende weitere waren zu der Zeit längst in Washington (deutlich kürzere Erklärung zur German War Art Collection hier).
Wer sich nicht selbst ans Haus der (Deutschen) Kunst wandte, bekam auch Post, wie Edeltraut Quade, die zwei Zeichnungen auf der GDK 1944 hatte, vom 12. Juli 1949:
„In unserem Gewahrsam befinden sich noch zwei von Ihnen zur „Großen Deutschen Kunstausstellung 1944“ eingesandte Arbeiten. Wir bitten Sie um baldigstmögliche Einsendung einer beglaubigten Abschrift Ihres Spruchkammerbescheides, damit wir die Freigabe dieser Bilder beantragen können. Da unsere Abwicklungsstelle demnächst aufgelöst werden soll, wären wir für schnelle Erledigung dankbar.“
Aber selbst wenn alles in Ordnung war, gab es im Jahr 1949 manchmal Umständlichkeiten, wie das Schreiben an Otto Polus zeigt, der drei Zeichnungen ausgestellt hatte. Ich habe mir blöderweise das genaue Datum nicht notiert, kaum schreibt man was nur fürs Blog auf, wird man nachlässig, schlimm:
„Wir empfingen Ihr Schreiben vom 28. Januar 1949 und teilen Ihnen mit, daß auf Grund der von Ihnen eingesandten Bescheinigungen die Freigabe Ihrer hier befindlichen Arbeiten in Kürze erfolgen dürfte. Inzwischen bitten wir Sie um eine Bekanntgabe einer Anschrift in der Westzone, an die wir Ihre Bilder zum Versand bringen lassen können, da eine Zusendung nach Berlin z. Zt. leider nicht möglich ist.“
In einigen Briefen wird nach einer Kontoverbindung gefragt, da Bilder 1944 verkauft wurden, das Geld aber 1949 immer noch nirgends hingeschickt werden konnte. Andere Künstler schrieben, dass sie keinen Wert auf die Rücksendung ihrer Werke legten, die könnten vernichtet werden, wie zum Beispiel Paul Wynand, der sich am 25. Januar 1949 dementsprechend äußerte.
Wieder viel gelernt. Nicht für die Diss, aber fürs Leben. Und dafür machen wir diesen Kram ja schließlich.
(Alle Zitate BayHStA, Haus der Deutschen Kunst 33.)
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Gestern saß ich dann im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, wo mich der Herr Doktorvater empfing. Er war mit meinem bisherigen Stand sehr zufrieden, nur die generelle Forschungsfrage war ihm inzwischen etwas zu klein geworden. So ging es mir auch, aber ich kam nicht mehr auf den großen Bogen des Werks, weil ich mich in den letzten Monaten dermaßen in Detailfragen verloren hatte, dass ich zwar noch wusste, wo ich hinwollte, aber nicht mehr, warum eigentlich. Das erarbeiteten wir gestern gemeinsam und ich ging sehr beschwingt nach Hause. Auf dem Aufgabenzettel: die gewünschte Zweitprüferin anmailen, ob sie Zeitprüferin sein möchte und dann zur Abgabe der Diss anmelden. Vielleicht vorher noch fertigschreiben.
Im Gespräch kamen wir auf Forschungsliteratur zur NS-Kunst. Die hatte ich bewusst aus meinem Forschungsstand rausgelassen und nur die äußerst spärliche zur Autobahnmalerei aufgeführt, aber Vati hätte doch gerne noch eine etwas weiter gefasste Einordnung – „nicht lang, drei, vier Seiten. Das geht ja schnell, gibt ja nicht viel.“ ICH WEISS! Wir tauschten die Titel aus, die wir kannten, bis er ein Buch von Joseph Wulf nannte, das mir erstmal nichts sagte. Als er es aus dem Regal zog, wusste ich aber, dass ich das auch schon mal in der Hand gehabt und mich über sein frühes Entstehungsdatum gewundert hatte: Die bildenden Künste im Dritten Reich war bereits 1963 erschienen, und aus der Zeit kennt man eigentlich immer nur Hildegard Brenners Standardwerk Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus. Auch auf Wulf war ich eher durch Zufall, Umwege und eine mitteilungsfreudige Suchmaschine im ZI gestoßen. Nach Brenner nennt man dann Berthold Hinz, dessen Die Malerei des deutschen Faschismus: Kunst und Konterrevolution (1974) die nächste größere Auseinandersetzung mit dieser Kunst war (ich stehe etwas auf Kriegsfuß mit dem Ding). Aber wie gesagt, Wulf ist mir eher selten bis vermutlich gar nicht untergekommen, bis ich ihn selbst zitieren konnte.
Die Lebensgeschichte von Wulf lest ihr bitte in der Wikipedia nach. Das war am Tag nach dem 27. Januar genau die falsche, über die ich was erfahren wollte. Mein Doktorvater gab sie in Kürze wider, und ich war erneut kurz davor, alles hinschmeißen zu wollen. Der Mann überlebte Auschwitz und verzweifelte an der Bundesrepublik. Manchmal möchte ich wirklich sehr viel anzünden.
Tagebuch Donnerstag bis Samstag, 23. bis 25. Januar 2020 – Zu viel Realität
Meine Tage geben derzeit wenig fürs Blog her – also eigentlich irre viel, aber das schreibe ich gerade lieber ins Diss-Dokument. In den letzten Tagen habe ich weiterhin die Bestände vom Haus der Deutschen Kunst durchgesehen, vor allem die Einlieferungsbücher zur Großen Deutschen Kunstausstellung, die noch erhalten sind. Des Weiteren blätterte ich durch diverse Ordner mit Anmeldebögen der Künstler und Künstlerinnen zu dieser Ausstellung; leider sind auch diese nicht mehr vollständig.
In einem Band für die GDK 1944 fand ich Protzen wieder, genau wie seine Frau, von der ich endlich eine Handschriftenprobe habe, da war ich mir im Nachlass nie so ganz sicher. Diese Probe ruiniert jetzt zwar eine hübsche Theorie von mir, lässt aber genug Raum für eine andere. Auf den Anmeldebögen gaben die Künstler*innen ihren Wohnort an sowie die Adresse, an die die Werke nach der Ausstellung zurückgeschickt werden sollten. Das waren nicht immer dieselben. Es fanden sich Formulierungen wie „Da ich in den nächsten Tagen ins Feld gehe, bitte Bilder an meine Frau schicken.“ Oder die Rücksendeadresse war eine im Deutschen Reich, der derzeitige Aufenthaltsort des Künstlers war aber nur mit „Rußland“, ohne weitere Ortsangabe, angezeigt.
Wie schon bei den Dokumenten zum CCP war ich davon angefasster als ich erwartet hatte. Keine Ahnung, warum mich das alles auf den letzten Metern noch mitnimmt; dass die Deutschen Krieg geführt haben, ist mir ja nicht neu. Aber das wissenschaftliche, emotionslose, akribische Wühlen in Dokumenten, um Detektivarbeit für Bilder zu leisten, hat dann doch mehr abgelenkt als ich dachte, ich habe es darüber fast vergessen. Und jetzt kam es mir nochmal sehr deutlich vor Augen.
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Neben dem Hauptstaatsarchiv saß ich noch in der Stabi und meckerte mal wieder über die Belanglosigkeit der Werke, die im Haus der Deutschen Kunst an den Wänden gehangen haben und dass ich jetzt keine Landschaften, Rehkitze oder Bauernstuben mehr sehen kann.
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Außerdem war ich in der Historicumsbibliothek, um mich besser über Franz Xaver Schwarz zu informieren, die DAF und die NSV (alles Käufer bzw. Aussteller von Protzen). Dort las ich auch in einem Band zu den NS-Gebäuden am Münchner Königsplatz. In einem Aufsatz über das Verwaltungsgebäude, in dem der CCP eingerichtet wurde, stand dieser bemerkenswerte Satz zur systemkonformen Kunst des NS: „It is the feeling among art historians here that this material should not be exhibited or seen, but furter that it should not be destroyed as that act of vandalism would deprive future generations of making a full and just estimate of the Nazi character, spirit and times.“ Er stammt von Herbert S. Leonard, Leiter des CCP München, 17.9.1947 in einem Schreiben an das Office of the Military Government for Germany.
Er sagt meiner Meinung nach sehr viel in sehr wenigen Worten, unter anderem, dass diese Werke Zeitzeugen sind, historische Dokumente, die über den Charakter und die Geisteshaltung der Nationalsozialisten berichten können und zusätzlich einen Eindruck der Zeit vermitteln, in der sie entstanden und ausgestellt wurden. Diese Ansicht wurde in den Jahrzehnten danach durchaus kontrovers diskutiert: Sollte man das Zeug nicht doch vernichten? Müssen wir das nicht sogar?
Mein Fach ist sich bis heute nicht einig. Die Pinakothek der Moderne hat anscheinend ihren Saal 13, hier mein Blogeintrag von 2017 dazu, zum dritten Mal umgehängt. Den muss ich mir dringend nochmal anschauen, denn der kommt auch in der Diss vor. Der BR berichtete kurz, und mein Doktorvater darf, in der Bibliothek des ZI stehend, mal wieder die NS-Frauen-Warte erwähnen, das macht er neuerdings dauernd. (Neues Buch?) Im Filmchen könnt ihr neben Zieglers ollen Vier Elementen zwei Protzens sehen. Mehr scheint dort nicht mehr als systemkonforme Kunst zu hängen. Ich muss wirklich mit der Diss fertig werden.
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Gestern abend machte ich mich um 23 Uhr zum Schlafengehen im Bad fertig und hörte dabei wie immer Radio, zufällig war es der Deutschlandfunk. Während der Nachrichten putzte ich die Zähne und hörte nichts, danach war ich mitten in einer Reportage über die Gedenkstätte Auschwitz. Ich saß noch zwanzig Minuten in Schlafklamotten auf dem Badewannenrand und hörte zu, bis mir eine musikalische Einlage die Gelegenheit gab, mein Handy zu holen, dort den Livestream zu suchen und mit ihm ins bequemere Bett zu gehen.
Die ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski ließ sich unter anderem von einer Konservatorin der Gedenkstätte über die Habseligkeiten der Toten erzählen, über die Mühe, die es kostet, ein Bauwerk zu erhalten, das nie für die Ewigkeit gedacht war. Es ging um das Effektenlager „Kanada“, in dem Häftlinge die tausendenfachen Schuhe, Mäntel, Koffer sortieren mussten und die sich heute noch im Lager befinden.
Danach berichtete jemand, der für die Kunstwerke aus Auschwitz zuständig war, was mein Gehirn gerade so gar nicht mit dem Diss-Thema zusammenbringen wollte. Es ging auch um eine Künstlerin, die für Mengele Aquarelle anfertigte von den Menschen, an denen er seine Experimente durchführte; sie waren für ihn besser geeignet als Fotografien, weil sie die Farben der Geschwüre und Nekrosen besser wiedergeben konnten. Spätestens hier wollte ich mal wieder mit Dingen werfen und alles anzünden, denn genau dieses Argument fehlte mir ein bisschen für die Diss: Wieso wurden die blöden Autobahnbaustellen gemalt anstatt sie zu fotografieren? Genau wegen der hübschen Farbigkeit, die damals mit fotografischen Verfahren noch nicht perfekt wiedergegeben werden konnte.
Die Sendung hörte für mich etwas unbefriedigend mit dem Satz „Kunst gegen den Tod“ auf – und dann kam wie immer zum Programmschluss um Mitternacht die deutsche Nationalhymne, die mir selten so gegen den Strich ging wie nach dem eben Gehörten. Ich hörte die danach gespielte Europahymne auch noch an, das war wichtig, Beethoven hilft.
Ich stellte eben erst beim Linksuchen fest, dass die Sendung „Zeugen sterben, Dinge erinnern“ noch gar nicht zu Ende gewesen war, sie ging noch zwei Stunden weiter. Damit habe ich heute noch etwas zu tun. Macht am Sonntag vermutlich nicht so richtig Spaß, aber zumindest die erste Stunde kann ich euch sehr zum Nachhören ans Herz legen.
Tagebuch Donnerstag, 16. Januar 2020 – Jetzt bloß nicht im Lesesaal heulen
Gemeinsam aufgewacht, getrennt voneinander den Tag begonnen, wie so oft. Während der Herr noch wach wird, habe ich schon geduscht, Kaffee gemacht, das Geschirr von gestern abend verräumt und gebloggt. Danach fuhr ich mal wieder ins Hauptstaatsarchiv, wo ich eigentlich auf 15 Einheiten hoffte, aber es lagen nur lausige vier für mich bereit.
Ich wühlte mich also seufzend durch die Bestände der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Zunächst blätterte ich einen Order mit Nachlässen durch, wo ich noch wenige, aber spannende Details zu einigen von Protzens Werken fand – unter anderem, dass einige von ihnen bewusst vernichtet wurden. Leider nicht welche oder wieviele. Gna. Das ist auch noch einer meiner Knackpunkte – ich weiß von ungefähr der Hälfte seiner mir bekannten Werke nicht, wo sie heute sind. Auch nicht, wo alle Autobahnen sind. Immerhin habe ich mich gestern selbst davon überzeugt, dass es 28 Gemälde sind und nicht 29. Könnt ihr (hoffentlich) nächstes Jahr selbst nachlesen, warum das so ist.
Dann blätterte ich in Korrespondenz zu Ausstellungen, die 1976 stattgefunden hatten. Dabei stieß ich auf eine zum grafischen Werk von Marino Marini, für die die Gemäldesammlung 14 Leute zu einem kleinen Dinner im Hotel Vier Jahreszeiten eingeladen hatte, und dafür übersandte das Hotel jetzt drei Seiten Menüvorschläge. Ich hatte spontan Lust auf die Avocado norwegische Art, was auch immer das gewesen ist, sowie die Kalbsmedaillons Marie Chantal. Den dritten Ordner habe ich schon wieder vergessen, da war nichts für mich drin. Und dann kam Ordner Nummer 4.
Den hatte ich mir nur zum Vergnügen, haha, rauslegen lassen, denn in ihm ging es um die Bestände der Staatsgemäldesammlungen am Central Collecting Point in München. Ich hoffte ein bisschen auf Zufall und miese Ablage und daher etwas zu Protzen, aber wenn man auf Schlampigkeit hofft, haben natürlich alle wieder vernünftig gearbeitet. Jedenfalls lagen in diesem alten Ding gefühlt hundert hauchdünne Durchschlagspapiere, auf denen die jeweiligen deutschen Konservatoren der US Army bestätigten, welches Kunstwerk sie gerade entgegen genommen hatten, um es im weitgehend unzerstörten Haus der Kunst fotografieren zu lassen.
Die Archivalien durfte ich nicht fotografieren (andere schon), aber eine Seite habe ich mir mal abgeschrieben:
„Office of Military Government for Bavaria
Economics Division
Munich, Germany. APO 407, US Army
Receipt
25 March 1948
I have received this date from the custody of the Central Collection Point Munich the following listed paintings:
– Mun. No. 18181 Dürer Paumgartner Altar
– Mun. No. 18148 Holbein d. Ä. Verkündigung an Maria
– Mun. No. 28006 Cranach d. Ä. Christus am Kreuz
Items will be returned after photographs have been made in the Haus der Kunst.
Dr. K. Röthel
Konservator an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen“
Das war jetzt weder ein Teil des äußeren Restitutionsprozesses, wo aus anderen Ländern geraubte Kunst zurückgegeben wurde, noch einer des inneren, wo „an Personen, die ‚aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus‘ beraubt worden waren, Kunstgegenstände zurückgegeben wurden, Zitat aus dem obigen Link, der nicht zur Wikipedia geht. Es war einfach nur ein Vorgang, wo wegen der Kriegsumstände ausgelagerte Besitztümer der Staatsgemäldesammlungen aus den süddeutschen und österreichischen Stollen oder provisorischen Lagerstätten zurück nach München kamen und registriert wurden, um irgendwann erneut in der wieder aufgebauten Alten Pinakothek zu hängen.
Daher weiß ich nicht genau, warum mich diese Schreiben so angefasst haben. Vielleicht weil ich schlicht zum ersten Mal Originaldokumente aus dem CCP in der Hand hatte, von dem ich vor dem Studium nie gehört hatte, aber der seitdem dauernd in meinem Hinterkopf ist, denn das Zentralinstitut für Kunstgeschichte ist heute in einem der beiden Gebäude untergebracht. Die Bibliothek, die ich so liebe, sieht heute noch fast genauso aus wie auf den Fotos im verlinkten Artikel. Mir ist bei jedem Besuch klar, in welchem Haus ich sitze. Meistens denke ich allerdings eher daran, dass ich in einem ehemaligen Nazibau arbeite, weil ich das natürlich noch mehr im Hinterkopf habe.
Aber die Arbeit der „Monuments Men“ (und Women) und des Alliierten Kunstschutzes beeindruckt mich dann doch immer wieder. Gerade die US-Armee hätte das Deutsche Reich locker zu Klump bomben können, aber stattdessen haben die Air-Force-Piloten Listen mitgenommen, auf denen steht, welche Kirche und welches Schloss sie bitte verschonen sollen, die wären kunsthistorisch wichtig, möglichst dran vorbeiwerfen, please. Jedesmal, wenn ich auf die USA pissig bin, denke ich an diese Leistung, und bin ein bisschen weniger pissig. Und gestern hatte ich halt zum ersten Mal ein Dokument in den Händen, auf denen was von US Army stand, hielt einfach mal inne und ließ mich ein bisschen vom Hauch der Geschichte umwehen. Mache ich ja eigentlich mit jeder Akte, die ich in jedem Archiv in der Hand habe, weswegen ich auch noch nicht so genau weiß, warum mich das gestern etwas mehr beeindruckt hat als all die anderen staubigen Unterlagen, die ich schon durchgewühlt habe. Vielleicht weil ich ganz simpel mindestens ein Kunstwerk vor Augen hatte, an dem ich schon hundertmal in der Alten Pinakothek vorbeigelaufen bin. Das steht da einfach rum. Das ist, und das muss man sich vielleicht ab und zu mal in jedem Museum sagen, keine Selbstverständlichkeit.
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Viel zu früh Feierabend gemacht, daher zuhause weiter am Schreibtisch gesessen. Aber erstmal eine Riesenportion Möhrensalat gegessen mit einem wilden Dressing aus Honig, Ingwer, Knoblauch, Sojasauce, Reisweinessig, dunklem Sesamöl und Olivenöl. Hervorragend! Die Schüssel wurde leer, Dressing blieb übrig – also gab’s abends einfach nochmal Möhren und Gurken darin. Außerdem eine Runde Käse mit Quittengelee und einem Scheibchen meines derzeitigen Lieblingsbrots (da ist Sesam drin, Sesam ist immer gut). Eigentlich hätte ich Lust auf einen Rotwein gehabt, aber alleine wollte ich keine Flasche öffnen.
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Nachmittags diverse Archive wegen Zeug angemailt. Langsam nähere ich mich dem Ende des Werkverzeichnisses, und es sind immer noch Wissenslücken da, die ich nicht füllen kann. Außerdem Quellen und Forschungsstand mal wieder umformuliert nach den neuen Erkenntnissen aus dem Staatsarchiv. Mir ist wieder einmal bewusst geworden, dass das Wichtigste, was ich im Studium gelernt habe, das sogenannte „ergebnisoffene Forschen“ ist. Momentan bin ich in der Position, genau das Gegenteil von dem zu behaupten, mit dem ich die Diss angefangen habe. Aber jetzt kann ich diese Position begründen.
Wie gestern im Blogeintrag prophezeit: Ich kann gar keine Blogpause machen, weil ich in Archiven immer was Tolles finde.
Gestern shuttelte ich zum Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dort war ich für die erste Hausarbeit zu Leo von Welden schon einmal gewesen und hatte mich durch die Einreichbücher zur GDK gewühlt, um zu prüfen, ob Leo neben den Werken, die im Ausstellungskatalog auftauchen, noch weitere eingereicht hatte. Damals musste man nur fünf Minuten warten und bekam dann alles in dem Raum vorgelegt, in dem man das Findmittelbuch durchgeblättert hatte.
Ich erwartete also dasselbe Prozedere, klopfte an irgendeine Tür, um mich anzumelden, da war niemand, aber jemand auf dem Gang fragte nach meinem Begehr und brachte mich nach meinem inzwischen achthundertmal an vielen Orten aufgesagten Sprüchlein „Ich bin Doktorandin der Kunstgeschichte und promoviere zum Maler Carl Theodor Protzen achtzehnsiebenundachtzig bis neunzehnsechsundfünfzig“ zum richtigen Ansprechpartner. Der freundliche Herr führte mich in eben den kleinen Lesesaal, den ich kannte, ich blätterte zum Spaß das Findmittelbuch durch, denn ich hatte online ja schon rausgesucht, was ich haben wollte, füllte nach seinen Anweisungen den Bestellschein aus, und er bat mich zu warten.
Wenige Minuten später kam er wieder und meinte: „Das können Sie dann in drei Wochen einsehen.“
Ich so:
Er so:
„Haha, nur Spaß. Legen wir gleich drüben für Sie im Lesesaal raus. Haha.“
Ich musste mitlachen, weil er sich so freute, mich fies drangekriegt zu haben, diese leichtgläubigen Archivbesucherinnen, haha.
Aber: Ich musste aus der Abteilung V nun rüber in den Lesesaal, den ich noch gar nicht kannte. Ich umschiffte gekonnt die Klippe, in die falsche Tür zum Staatsarchiv München zu gehen, sondern nahm die eine weiter in Bayerische Hauptstaatsarchiv. Ich weiß nicht, wie lange der riesige Wegweiser mit den beiden Namen da schon steht – ich meine, ich bin 2016 noch ins falsche Archiv gelatscht, weil ich nicht wusste, wo jetzt was ist.
Im Staatsarchiv war ich gerade erst vor ein paar Wochen, und dort hatte ich gelernt: Wenn man schon mal da war, auch wenn es drei Jahre her ist und man den kleinen Benutzerausweis längst weggeschmissen hat, ist man noch im System. Das lernte ich, indem ich dort am Empfang sagte, ich hätte keinen Ausweis, dann durfte ich an einem Rechner alles ausfüllen (immerhin nicht mehr per Hand auf einem Bogen, den dann irgendwer abtippen muss), dann bekam ich die Fehlermeldung, dass es mich schon gibt, der Empfangsmensch korrigierte Dinge, druckte alles aus und erstellte meinen neuen Ausweis aus, auf dem nun nicht mehr „Leo von Welden“ steht, sondern „Carl Theodor Protzen“. Bis er den Ausweis ausfüllen konnte, musste er mir aber die Eingabemaske nochmal öffnen, denn wie ich auch gelernt habe: Mit dem Apple-Klammergriff für das @ setzt man die Windows-Maske wieder auf Null.
Daher war ich jetzt bei den Nachbarn im Hauptstaatsarchiv vorbereitet und sagte brav, ich sei schon im System. Wie zu erwarten war, fand man mich hier nicht mehr wieder und ich durfte ein zweites Mal alles eingeben. Dieses Mal ließ ich mir aber vorher zeigen, wie man das @ tippt und bekam ohne Umwege einen zweiten neuen Ausweis. Damit durfte ich dann endlich in den Lesesaal, wo die fünf ausgehobenen Akten schon auf mich warteten, wie nett!
Ich hatte mir Sitzungsprotokolle der Münchner Künstlergenossenschaft ausheben lassen, dazu Korrespondenz bzw. Briefentwürfe zur Ausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“ (1936) und noch ein bisschen Kleinkram. Und weil Archive ja immer super sind, fand ich einiges, das ich eigentlich in Berlin vermutet hatte und noch mehr Dinge, die ich nicht ahnen konnte. Gaaaanz langsam verdichtet sich mein Bild, was den Künstler, sein Engagement im Münchner Kunstleben und die ersten beauftragten Bilder der ollen Autobahnen angeht, und das war ein ganz hervorragender Arbeitstag.
Feierabend um 15 Uhr, weil alles durchgearbeitet.
(Ich bin mir gerade selbst nicht sicher, ob die Minions in einen Blogeintrag gehören, in dem auch Hitler erwähnt wird. Ich hatte das erste Gif nur so dermaßen vor Augen, als ich fassungslos vor dem Archivar rummemmte.)
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Kekspaket zur Post gebracht und nur zehn Minuten in der Warteschlange gestanden. Kein Buch dabeigehabt, daher die Kindle-App auf dem Handy angeworfen.
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Mit leichterem Rucksack nach Hause spaziert, dort alles abgeworfen, die dicke Wolljacke gegen mein geliebtes, bequemeres, leichteres Frühlings- und Herbsthoodie getauscht – wir hatten schließlich satte fünf Grad – und den vertrockneten Weihnachtsbaum 300 Meter weit zur Abgabestelle getragen.
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Abends kam F. von seinem Kurzurlaub zurück und brachte kiloweise Käse mit, wie man das halt macht, wenn man im Allgäu war. Außerdem zwei Bücher des klassischen Kanons, die ich noch nicht gelesen hatte. Gestern abend noch erledigt.
Nachtrag Tagebuch 28. bis 30. Dezember 2019 – Mal wieder Wien
Ach, Wien, auf dich freue ich mich immer so, da nervt der fies frühe Zug um kurz nach 7 auch nur ein bisschen. Im Zug war ich dann genervter, weil so ziemlich der halbe Großraumwaggon hustete, aber: Bis heute keine Erkältung! Mein Immunsystem scheint sich wieder im Griff zu haben. (Oder mein ewiges Wegducken und Shirt vors Gesicht halten haben geholfen.)
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Die App der Wiener Linien heißt inzwischen Wien Mobil, wie ich netterweise noch vor der Abfahrt aus München feststellte. Damit buchten wir auf der Rolltreppe zur U-Bahn entspannt zwei 48-Stunden-Tickets, denn mehr Zeit hatten wir dieses Mal nicht.
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Wie immer im Lieblingshotel genächtigt, dieses Mal sogar ein Upgrade bekommen und uns über viel Platz gefreut.
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Nachdem wir so früh losgefahren waren und dringend was essen mussten, ging der erste Weg natürlich zum Bitzinger an der Albertina, wo ich eine Bosna erstand. Diese Wurstspezialität war mir bisher nur vom Augschburger Weihnachtsmarkt bekannt, wo ich bei jedem Konsum darüber meckere, dass auf die heiße Wurst eiskalte Zwiebeln und eine fast ebenso kalte Sauce kommen. Nicht so hier: Wurst, Zwiebeln (nicht eiskalt!), Currypulver und – frischer Koriander. Man sieht die Wurst gar nicht mehr unter dem herrlichen Zeug.
Einen Nachteil hat die Köstlichkeit aber doch: Als ich kurz darauf F. küssen wollte, zuckte er spaßeshalber zurück: „Bosna breath!“ Guter Name für eine Fun-Punk-Band.
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Wir hatten, im Gegensatz zum letzten Besuch, nur ein leichtes Programm geplant, hauptsächlich wollten wir entspannen und schlafen. Daher: keine 17 Museen, kein Sterneessen. Aber mei, wenn man schon da ist und einem in der U-Bahn am Bahnhof schon ein Plakat mit Henrike Naumann entgegenlacht, die derzeit auch im Haus der Kunst zu sehen ist, dann geht man da halt hin. Bzw. nimmt die Tram, was für mich ja eh immer das schönste Verkehrsmittel ist. Wie immer in Wien dauerte es gefühlt fünf Sekunden, bis ich wieder der Pracht des untergegangenen Vielvölkerstaats und Kaiserreichs hinterhertrauerte und Dinge dachte wie: Für so opulent breite Straßen haben wir in D einen Weltkrieg gebraucht.
Im Belvedere 21 (dessen Website gerade nicht erreichbar ist, bitte selbst googeln) begannen wir dann mit der eben angesprochenen Naumann und ihrer Arbeit Das Reich. Ich kannte ihre Möbelinstallationen bisher nur als Ansicht, stand aber noch nie in einer. Das Thema Reichsbürger und Neonazis war irritierend-anstrengend umgesetzt, vor allem ein eingespielter Film blieb noch lange im Kopf. Es fühlt sich nicht mehr richtig an, die sogenannten Reichsbürger als aluhuttragende Spinner abzutun, das wurde mir spätestens dort klar.
Ein Stockwerk über Naumann war eine weitere Installation zu sehen: Eva Grubinger zeigte mit Malady of the Infinite eine sinnlose, weil nicht seetüchtige Hülle einer riesigen Yacht, in der man herumspazieren konnte. Guter Flyertext: „Malady of the Infinite zeichnet ein Bild von struktureller Ungleichheit, von unendlichem Begehren ohen Aussicht auf Befriedigung. Grubinger bezieht sich dabei auf einen Text des Soziologen Émile Durkheim, nach dem wir ‚am Unendlichen‘ leiden – an einem unbegrenzten Begehren, das materiell nie erfüllt werden kann.“
Eine überraschende Entdeckung war dann im letzten Stockwerk Josef Bauer, den wir beide vorher nicht kannten. Im ersten Raum dachte ich noch, och jo, hmpf, na gut, aber im zweiten hatte er mich dann, denn da begannen seine Arbeiten mit Worten, und mit Worten kriegt man mich ja immer. Der Katalog beginnt mit dem Satz „Man kann alles mit allem verbinden“ und auch das hat mich gekriegt. Bauer bastelt Buchstaben auf lange Stangen, die man mit sich herumtragen kann, lässt Menschen Buchstaben durch Landschaften schleppen, trägt Gesichter aus Werbeanzeigen mit Aceton ab oder überdeckt alte Postkarten mit dicken Farbschichten, ergänzt alte Musterbücher mit Materialien oder Gemaltem, hängt mal eben Buchstaben als eine Art Decke über eine Stuhllehne, irritiert mit blauen Wänden, an denen in gelb das Wort „rot“ steht. Neben der sinnlichen Herangehensweise, die mir sehr gefallen hat, erwischten mich auch diverse politische Aussagen. Inzwischen erkenne ich NS-Kunst ziemlich gut und so musste ich nicht erst den Wandtext lesen, um die ollen Statuen auf Postkarten als Breker-Werke zu erkennen, die Bauer ebenfalls teilweise übermalt hatte. Eine weitere Arbeit nutzte Textschnipsel von Heimrad Bäcker, die von Deportationen und Vergasungen handelten, und auch hier überdeckte Bauer, verwischte, irritierte und machte die Texte dadurch noch stärker.
Naumann und Bauer laufen nur noch bis zum 12. Januar, falls ihr noch Gelegenheit habt, huscht mal durch.
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Nach einem Abstecker zum Lieblingsschokoladenladen und einem Flat White nebenan genossen wir Freizeit im Hotelzimmer und gingen abends ins Rebhuhn, unser liebsten Adresse für Schnitzel und Backhendl.
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In den Sonntag schliefen wir rein, waren aber trotzdem recht früh wach, vielleicht auch, weil unser einziger wirklicher Programmpunkt wartete: die Albrecht-Dürer-Ausstellung in der Albertina.
Die Albertina besitzt, soweit ich weiß, mit eine der größten Sammlungen weltweit an Dürer-Zeichnungen und -Drucken, deren Provenienz sie, laut stolzem Katalog, „bis in Dürers Erbmasse“ nachweisen kann. Netterweise kann man sich alle Werke auch online anschauen, wenn auch nicht in irre großer Auflösung. (WARUM NICHT?) Wegen der Fragilität der Stücke sind sie nicht ständig zu sehen, aber so alle zehn Jahre holt das Museum ihre Schätze mal wieder ans Licht.
Wir hatten schon Tickets und konnten daher die schon um 10 Uhr morgens beachtlich lange Schlange umgehen, betraten die Ausstellungsräume dann aus dem Fahrstuhl heraus anstatt über die Treppe, weil ich Fußlahme Treppen bekanntlich hasse, und mussten so erstmal rückwärts durch die Ausstellung zum ersten Raum gelangen. Wir blieben aber irgendwo in der Mitte stehen, denn dort hingen an einer Wand nebeneinander der Flügel einer Blauracke (um 1500), der als Postermotiv in ganz Wien zu sehen ist, der knuffige Feldhase (1502), den alle kennen, und mein Liebling, das große Rasenstück (1503). Ich habe keine Ahnung, warum ich Grashalme toller finde als die putzigen Barthaare des Karnickels, aber egal, ich stand vor dem Rasenstück und staunte. Und staunte weiter. Und staunte einfach noch ne Runde. Ich ahne so langsam, warum ich diese Naturstudie so mag: weil sie im Nichts stattfindet. Sie hat keinen Hintergrund; der Hase sitzt in einem undefinierten Raum, das Rasenstück hört einfach auf bwz. stößt fieserweise an alle Bildränder, so dass man noch weniger weiß, wie es weitergeht, aber man ahnt, dass es weitergeht.
Im selben Raum hängt das Aquarell Tal bei Kalchreuth (um 1495–1500), das mich sehr unerwartet erwischt hat. Ich ahne, dass es damit zusammenhängt, dass ich seit Monaten auf blöde Landschaften eines mittelbegabten Malers gucke, dass mich diese Landschaft, die wie mal eben hingeworfen aussieht, so faszinieren konnte. Eben weil sie so hingeworfen aussieht, während ich ahne, dass Protzen, der alte Streber, sich um jeden blöden Baum Gedanken gemacht hat. Vermutlich hat Dürer das auch, aber das sieht man dem Bild nicht an.
Irgendwann war ich dann auch in Raum 1 angekommen, wo alle aus dem Treppenhaus hinaus reinstapften und mit dem Audioguide am Ohr vor jedem Bild stehenblieben. Das habe ich mir längst abgewöhnt, gerade bei Blockbuster-Ausstellungen, bringt eh nichts. Ein Bild aus dem ersten Raum wollte ich aber dringend sehen: Dürers vermutlich erstes überliefertes Werk, sein Selbstporträt als Dreizehnjähriger (1484). Ich erinnerte mich an mein erstes Semester, wo eine Dozentin erzählte, sie hätte über frühe Porträts gearbeitet und die Albertina gebeten, mal einen Blick auf eben dieses Bild werfen zu dürfen, woraufhin das Museum freundlich ablehnte. Ich dachte damals, Kunsthistoriker*innen, Profis! ständen immer alle Kunstkammern offen, aber: anscheinend nicht. Jetzt wartete ich brav, bis die Schlange mal eine winzige Lücke freigab, schlüpfte hinein und staunte erneut.
Aber nicht lange, denn da hing ja noch so viel mehr! F. und ich trafen uns immer zwischendurch, machten uns auf Werke aufmerksam, guckten aber eher getrennt. Ich blieb sehr überraschend – überhaupt war für mich quasi alles überraschend an diesem Vormittag, ich meine, Dürer, den kennt man doch, aber nee, anscheinend nicht – vor einem Stich des Hl. Eustachius stehen. Heiligenbilder sind mir eher wurst, aber hier faszinierte mich die gefühlte Dreidimensionalität des Werks. Das gibt der Katalog nicht wieder und auch die Online-Ressource nicht, aber wenn man davor steht, und DESWEGEN GEHT GEFÄLLIGST IN MUSEEN UND KLICKT NICHT NUR DIE WIKIPEDIA DURCH, sieht man so viele Details, die im Druck zusuppen und online sowieso abstinken.
Ich erspare euch meine ganzen Gedankengänge, aber wir fangen trotzdem einfach mal oben an. Dass um den Bergfried Vögel kreisen, habe ich erst nach zehn Minuten gesehen, so sehr hatte mich das spitze, zackige Gewächs unter dem Turm links davon im Bann. Alleine diese ungefähr sechs Quadratzentimeter Blatt ließen mich nicht los, die Zinnen des Turms, die fast skulptural gestalteten Felsen und dann eben der Strauch, der an ihnen wächst. Ich war so kurz davor, mit den Fingern über das Blatt streichen zu wollen, weil es eben so plastisch aussah, dass ich nicht glauben konnte, dass da bloß Tinte auf Papier vor mir hängt. Die Gestaltung des Baums rechts im Bild: oben feiner und dunkler ausgearbeitet als unten. Das Kruzifix im Hirschgeweih: fast ein Heiligenschein zu erahnen. Die Schuhe und der Gürtel des Heiligen: die Details! Und so weiter und so fort. Vor dem Bild blieb ich länger als vor dem Rasenstück.
Irgendwann trafen F. und ich uns wieder, beide überwältigt. Ich so: „Ob hier auch das Rhinozeros hängt?“ — „Oder die Melencolia?“ — Beide: „Nee, das wäre zuviel. Hier hängt ja schon Irrwitziges.“
Ich bestaunte die grüne Passion, kannte ich noch nicht, toll, die verschiedenen Kleidungsstile von Nürnberger Frauen, das Männer- und das Frauenbad, die Ansichten aus Innsbruck, die ebenfalls im Nichts stattfanden, kein Himmel über der Stadt wie beim Hasen, ich mochte das so sehr.
Nach der Passion waren wir wieder in dem Raum, den wir als erstes betreten hatten – und entdeckten, an welchen Werken wir vorbeigerannt waren. Links vom Fahrstuhl hing das Rhinoceros – und rechts davon hingen die drei Meisterstiche Dürers und damit natürlich auch Melencolia I. Hier blieb ich ähnlich lange wie vor dem Eustachius, weil ich nicht glauben konnte, ein Schlüsselwerk der Kunstgeschichte vor Augen zu haben. Und netterweise viel Platz dazu, denn das hier war der vorletzte Raum, die meisten Besucher*innen waren schon leergeguckt vom Zeug am Anfang und rannten hier eher durch. So konnte ich stehen und staunen – und erneut feststellen, wie bereits in den Sälen vorher, dass mir die wenigen bunten Gemälde gerade total egal waren und ich der Druckgrafik verfallen war.
Im letzten Saal dann noch die betenden Hände, das hatte ich schon ganz vergessen, dass die ja auch noch da waren. Ich habe Melencolia gesehen, damit war ich beschäftigt.
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Eigentlich gucken wir uns in Museen, für die wir Eintritt bezahlt haben, alles an, was da ist, aber nach dieser Ausstellung wollten wir den Rest des Hauses nicht mehr sehen. Im Untergeschoss waren gerade Warhol und Richter und Zeug, aber F. meinte sinngemäß, dass die jetzt vermutlich wie unbegabte Schmierfinken aussähen. Wir spazierten ein wenig durch die Gegend, als ich meinte, ich hätte ein bisschen Rückenschmerzen. F. so: „Vielleicht drückt das auf die Wirbelsäule, wenn du zwei Stunden lang den Mund offenstehen hast.“
Er zeigte auf dem Handy einen Bildbeweis: „Du beim Dürer-Angucken.“
Pfft. Wenigstens bin ich niedlich.
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Der Blogeintrag muss hier aufhören, denn das war großartig. Daher nur noch stichpunktartig: Eva Hesse im Mumok, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, war eher enttäuschend – ein eingespielter Film über sie brachte mir mehr als so gut wie alle ausgestellten Zeichnungen, aber immerhin ein paar konnten mir ihre Entwicklungsstufe zwischen Flachware und Skulptur (die ich von ihr verehre) klarmachen. Der Rest das Hauses war geschenkt, bis auf einen Raum mit Heimrad Bäcker, den wir ja einen Tag vorher in der Bauer-Ausstellung kennengelernt hatten.
Abends dann große Freude über hervorragendes Essen und ebenso gute Weine im Mast. Als wir beide das Fünfgangmenü orderten, kam die Frage, ob wir bei jedem Gang vielleicht zwei unterschiedliche Gerichte haben und die teilen wollten? Wollten wir! So aßen wir uns durch fast die gesamte Karte und ich bedauere es sehr, so weit von dem Laden wegzuwohnen, denn dort würde ich gerne deutlich öfter hingehen.
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Zurück in München ein Bild von Leo von Welden aus der Küche abgehängt und drei Postkarten von Josef Bauer, die in der Ausstellung auslagen, eingerahmt und aufgehängt. Jetzt dauernd Heimweh nach Wien. Ach, Wien.
Im Nachhinein: mir Ende 2018 die größere Wohnung gegönnt zu haben. Dieses Jahr war finanziell mal so richtig beschissen, weil mir gleich drei Kunden auf einmal weggebrochen sind – was nicht an mir gelegen hat, sondern an dortigen internen Vorgängen –, die ich naiverweise eingeplant hatte. (Alle anderen Selbständigen so: *patsch*) Daher war ich in diesem Jahr fast konstant damit beschäftigt, meine teure Wohnung zu hassen und sie gleichzeitig zu lieben, weil sie mich theoretisch (THEORETISCH!) um so vieles entspannter sein lässt als die kleine, günstigere Schnuffelbutze.
2. Die gefährlichste Unternehmung?
Radfahren im normalen deutschen Straßenverkehr. Selbständig sein.
3. Die teuerste Anschaffung?
Anschaffung ist gut. Im Mai gönnte ich mir nach wochenlangen Zahnschmerzen eine finanziell nicht eingeplante Wurzelbehandlung. Die kam echt genau im falschen Jahr. Ansonsten war ich sehr sparsam, das zweitteuerste dürfte die Bahncard gewesen sein. Da ich jetzt regelmäßiger in den Norden fahre, schien mir das eine gute Investition.
4. Das leckerste Essen?
Zwei Sterne im Werneckhof zu F.s Geburtstag. Keinen Stern, aber wie immer liebevollst umsorgt gefühlt im Broeding. Neu auf der Liste: das MAST in Wien, bei dem ich jeden Wein und jeden Gang hätte heiraten wollen. Und jedes Käsebrot, das unter meinem Grill zur blubbrigen Delikatesse wird.
Fiktion: The Remains of the Day von Kazuo Ishiguro, quasi in einem Rutsch durchgelesen. Genau wie Saša Stanišićs Herkunft. Etwas länger gedauert haben Heinrich Manns Der Untertan und Yoko Ogawas The Memory Police, aber die waren genauso toll.
6. Der ergreifendste Film?
Ich war nur zweimal im Kino, Frozen II und Star Wars: Rise of Skywalker. Der letzte war ärgerlich, der erste immerhin unterhaltsam. Ergreifend war keiner. Bei Serien würde ich gerne ein paar Folgen von This is Us und The Good Place in den Ring werfen.
Keine CD gekauft, nichts runtergeladen. Dafür weiterhin Spotify Premium genossen (gönn dir!) und die „Year of Wonder“-Playlist rauf und runter gehört. Dazu die tollen Klassik-Playlists von Gabriel Yoran. Neben Bohuslav Martinů viel Dvořák gehört. Vorsatz fürs nächste Jahr: noch mehr tschechische Komponist*innen entdecken.
Ganz weit vorne, weil noch nie sowas gesehen: El Anatsui im Haus der Kunst. Ganz knapp dahinter jemand, von dem ich dachte, ich hätte ihn schon viel zu oft gesehen, nur um in der Albertina vor drei Tagen festzustellen: nix hab ich gesehen, ich kenne Albrecht Dürer überhaupt nicht. Wird noch verbloggt. Falls ich mein stilles Staunen irgendwie in Worte fassen kann.
10. Die meiste Zeit verbracht mit …?
Der Dissertation, am Schreibtisch, in Archiven, in Bibliotheken.
11. Die schönste Zeit verbracht mit …?
Der Dissertation, am Schreibtisch, in Archiven, in Bibliotheken.
Gleichauf damit: jede Zeit mit F., egal wo, egal wie.
12. Vorherrschendes Gefühl 2019?
2018 war irgendwie einfacher.
13. 2019 zum ersten Mal getan?
Ein Elternteil gefüttert. Sieben Monate später ein Elternteil im Rollstuhl durch die alte Heimat geschoben. Einem Zwei-Sterne-Koch die Hand geschüttelt. Einen Blumengießdienst organisiert, weil ich ein paar Tage weg vom eigenen Balkon war. Einen benutzbaren Balkon besessen. Eine Generalprobe in Bayreuth gesehen. Ein Drittligaspiel gesehen (in Würzburg, auch vorher noch nie dagewesen). Einen der Monty Pythons live gesehen. In der Schweiz gewesen (okay, nur durchgefahren). In Liechtenstein gewesen (okay, nur einen Tag). Auf 1600 Höhenmeter gestanden. Eine Dauerkarte für die FCB Damen besessen – aber es dann zu kaum einem Spiel geschafft, weil da dauernd was Wichtigeres war. F. meinte: „Sieh es als Sportförderung an.“ Bei einem Doktorandenkolloquium mein Thema vorgestellt. Angefangen, eine Dissertation zu schreiben und nicht nur Stoff zu sammeln, Dinge zu notieren und theoretische Überlegungen anzustellen. Das ist erstaunlicherweise etwas anderes.
14. 2019 nach langer Zeit wieder getan?
Tintenfinger gehabt (schreibe neuerdings mit Papas altem Füllfederhalter). In Bayreuth im Festspielhaus gewesen. Ein ehemaliges Konzentrationslager besichtigt. Meinen Geburtstag groß gefeiert.
15. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Auf persönlicher Ebene: Papas Schlaganfall. Der Rest ist egaler Kleinkram.
Auf nicht ganz so persönlicher Ebene: der Mord an Walter Lübcke, nach dem der Staatsapparat so gar nicht durchdrehte wie bei der RAF und nach dem immer noch keine Fahndungsplakate mit rechtsextremen Terrorist*innen an allen Bahnhöfen hängen.
16. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Papa, dass er keine Angst haben muss, er ist zuhause, es ist alles gut (den Umständen entsprechend gut). Und ich mich selbst, dass 2020 wieder besser wird.
17. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Zeit zu haben, in den Norden zu fahren und meiner Mutter wenigstens ein bisschen Arbeit abnehmen zu können. Hat die Buchungsflaute auch ihr Gutes.
18. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Dass F. mich finanziell ein bisschen ausgehalten hat, damit wir weiter gut essen und in die Oper gehen und ab und zu mal ein Wochenende woanders sein konnten. (Und dass er sich jeden Sugardaddy-Kommentar verkniffen hat.)
19. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
1) Am Heiligen Abend gibt’s am Nachmittag statt am Mittag Gänsebraten, von Schwester und Schwager fertig vorbereitet mit Beilagen eingekauft und am Morgen bei uns vorbeigebracht; Nachmittag, weil das mit Papas Situation einfacher schien. Normalerweise speist Papa mittags im Bett, Nachmittagskaffee und Abendbrot gibt’s dann im Rollstuhl – dieses Mal dann halt Gans statt Kekse. Gemütliches Beisammensein, Bescherung, 18 Uhr Gottesdienst für die, die wollten, danach zu sechst um den Baum rumsitzen und Geschenke auspacken.
2) Am ersten Feiertag Papa nicht erst nachmittags, sondern schon vormittags vom Bett in den Rollstuhl heben, dann zu Schwester und Schwager schieben (einmal quer durchs Dorf, ein knapper Kilometer), dort mittags bekocht werden, am frühen Nachmittag, wenn es noch hell ist, alle zurück, Papa wieder ins Bett bringen, gemeinsam um den Baum rumsitzen und Plätzchen essen.
3) Abreise Anke und F., Schwester und Schwager fahren zur Schwagerfamilie.
Geworden ist es dann:
1) 24. Dezember. Ich hatte Papa das Frühstück ans Bett gebracht, die Pflege kam und machte Papa tagesfrisch, es klingelte, ich freute mich auf Schwester und Schwager, die das Essen vorbeibringen sollten. Das taten sie auch, aber: „HALTE BLOSS ABSTAND, WIR SIND TOTAL ERKÄLTET!“ Ich bereute es, kein Desinfektionszeug von zuhause mitgebracht zu haben, als mir einfiel: steht ja alles bei Papa im Zimmer. (Habe in den letzten Monaten gelernt, was man als Pflegekraft so braucht.) Ich reinigte kurz Türklinken, verstaute das Essen in der Küche, die beiden fuhren nach Hause und fielen hustend ins Bett.
Das Mütterchen musste nochmal ins Dorf und wollte auf dem Rückweg noch bei SchwesterSchwager was abgeben. Sie meldete: „Die sehen ja schlimm aus!“
Ich so: *WhatsApp an Schwester* „Vorschlag: Ihr bleibt im Bett und kommt morgen zum Gansessen rum, dann muss Schwager auch morgen nicht kochen.“
Schwester so: *Daumen-hoch-Emoji*
Mama so: „ABER WAS ESSEN WIR DENN JETZT?“
Ich so, im Geiste den elterlichen Vorratskeller durchgehend, mit dem man mindestens zwei Atomkriege überleben könnte: „Lass mal runtergehen und gucken.“
Es wurde dann schön norddeutsch Grünkohl, denn natürlich war alles im Haus, Kohl, Bregenwurst, Kartoffeln, Schmalz zum Anschwitzen der Zwiebeln, herrlich. Ich hatte in diesem Jahr noch keinen Grünkohl und fand das viel besser als Gans; ich glaube immer öfter, dass meine Norddeutschigkeit hier im Süden verwässert, daher ist sowas wie Grünkohl quasi überlebenswichtig für die eigene Identität. Zum Nachtisch sollte es eigentlich nur Vanilleeis mit warmen Blaubeeren drüber geben (die unendliche Tiefkühltruhe), aber ich entdeckte noch eine Orange und karamellisierte schnell ein paar Orangenfilets, löschte mit Cointreau und Butter ab und kandierte die Schale (also eher: schwenkte ne Runde Zesten in geschmolzenem Zucker). Ein ganz hervorragendes Essen.
Papa bekam seine Mahlzeit an seinem üblichen Rolltisch, den man ans Bett schieben kann. Wir anderen wollten uns ungern über den Couchtisch bücken, daher schleppten wir kurzerhand den Küchentisch in sein Zimmer, welches das ehemalige Ess- und Wohnzimmer ist und aßen so fast alle an einem Tisch.
Fürs Mittagsschläfchen vergaß ich mir den Wecker zu stellen, Mama anscheinend auch, und als die Nachmittagspflege klingelte, war F. als einziger kleidungstechnisch so drauf, die Tür öffnen zu können. Die Pflegerin hatte einen Heiligenschein als Kopfputz und meinte, sie käme heute als Engel. Sehr gelacht (und mich wie immer beim Abschied bedankt. Wir haben wirklich Glück mit den Pflegekräften gehabt, Papa mag alle, auch wenn er sie immer wieder vergisst).
Papa im Rollstuhl in die Küche geschoben, dort Kaffee und Plätzchen verspeist, irgendwie hatte niemand Lust auf Gottesdienst, also warteten wir auf die Abendpflege, Schwester und Schwager kamen auf einem kurzen Spaziergang für ein paar Augenblicke vorbei („Wir können nicht mehr rumliegen“), ich vergaß, Türklinken zu desinfizieren.
Meine Nachmittagsbeschäftigung war es, Papa dazu zu kriegen, irgendwas mit seinen Händen zu machen, also griff ich zum bewährten Legespiel aus acht Holzteilen, das meine Schwester und ich schon als Kind gehabt hatten. Aus den Teilen kann man in eine Form einen kleinen Eskimo legen. Es frustriert Papa immer, wenn er die Teile nicht in die Form bekommt, also ließ ich sie einfach weg und legte die Holzteile kommentarlos in seine Nähe. Er mag es nämlich überhaupt nicht, wenn man Dinge sagt wie „Du musst mehr trinken“ oder „Lies doch mal ein bisschen.“ Aber wenn man es umformuliert in „Hier, trink mal aus, dann kann ich dir nachschenken“ oder „Ich leg dir dein Buch hier hin, falls du es brauchst“, beschäftigt er sich ein bisschen. Er mag es dementsprechend nicht, wenn man sagt „Leg mal den Eskimo“, also lasse ich das. Er stapelt die Teile auch eher als dass er sie in die richtige Form bringt, aber das reicht mir auch. Der Kopf besteht aus zwei Teilen, einem Gesicht und einem weißen Ring darum, der wohl eine Fellmütze darstellen soll, die legt er gerne ineinander und nimmt sie wieder auseinander und legt sie wieder zusammen, weil das – natürlich – befriedigend ist, wenn Dinge passen. Ich denke über Kleinkindspielzeug nach, wo man Gegenstände durch passende Löcher werfen kann, das müsste ihm auch gefallen.
Abends schoben wir Papa im Bett näher an den Weihnachtsbaum, entzündeten die Kerzen – WhatsApp vom Schwesterchen: „WASSEREIMER BEREITSTELLEN!“ – und packten Geschenke aus. Ich bekam unter anderem die gewünschten Dojczland: Ein Reisebericht von Andrzej Stasiuk sowie Die Toten von Christian Kracht. Und von F. natürlich wieder was Besonders, das ich hier leider gerade nicht herzeigen kann, weil F. es wieder in seiner Dokumentenmappe zurück nach München trug, wo es besser geschützt war als in meinem schraddeligen Koffer und es deswegen noch bei ihm liegt: eine Originalausgabe von Häuser Zeichnen (1957) von Hans Döllgast mit einer Widmungskarte, die ich bereits instagrammte, sowie fünf Originalfotos der Restaurierung der Alten Pinakothek, von denen eins im Buch abgedruckt wurde. So toll! Ich bin gerade nochmal gerührt. Der gute Mann Knutschemoji.
Worüber ich mich auch freute: Herr @el_loko74 überraschte mich mit einem größerformatigen Abzug eines seiner Bilder. Ich mochte sein Foto von Giulia Gwinn so gerne, die er perfekt vor dem erleuchten FC-Bayern-Logo am Campus erwischt hatte, dass ich es damals bei seiner Veröffentlichung auch retweetet hatte. Und der FCB-Frauen-Account nutzte es für seine Weihnachtsgrüße, wie ich gerade beim Rumgoogeln feststelle.
Für Vattern hatten wir DVDs von Deutschland von oben besorgt, das mir als ruhige, entspannte Fernsehbegleitung gut erschien, falls der NDR mal keine Tierfilme zeigen sollte, aber Papa was zum Irgendwohingucken braucht. Und das Mütterchen bekam ein paar Tage Urlaub geschenkt, denn wir haben Karten für die Passionsspiele in Oberammergau bekommen, und da fährt sie hoffentlich mit uns hin; Schwager und Schwester haben schon Papadienst zugesagt. Hoffentlich erkälten sie sich nicht.
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2) 25. Dezember. Alle schlafen aus, nur ich nicht. Papa Frühstück ans Bett gebracht. WhatsApp von Schwesterchen: „Sind immer noch krank, kommen nicht. Hätten gerne die halbe Gans der anderthalb. Fahren jetzt in die Notaufnahme, kommen danach rum.“
Ich teilte die in einzelne Tüten eingeschweißten Beilagen Rotkohl, Rosenkohl, Sauce, Knödel und Bratäpfel auf, legte die Hälfte von allem plus die halbe Gans der anderthalb in einen Korb, verstaute ihn im kühlen Windfang und bereitete unsere Hälfte fürs Kochen vor.
Die Morgenpflege setzte Papa schon in den Rollstuhl, obwohl wir ihn ja jetzt nicht durchs ganze Dorf schieben mussten, aber Abwechslung tut vielleicht gut. Oder auch nicht, wir sind uns da immer noch nicht sicher, und Papa kann uns bei dieser Frage leider nicht helfen. Ich schob ihn vor den Weihnachtsbaum und wir bestückten gemeinsam die Kerzenhalter mit einer neuen Runde Kerzen. Ich fragte ihn, ob ich die Wachsreste aus den Haltern kratzen sollte, bevor die neuen Kerzen reinkämen, und er meinte, dass er die früher immer gesäubert hätte. Er kann sich an Geburtstage von alten Freunden erinnern und Telefonnummern, die es schon lange nicht mehr gibt, aber wer ihn eben vor zwanzig Minuten in den Rollstuhl gesetzt hat, weiß er nicht mehr.
Mama ging in den Gottesdienst, ich nicht, F. schlief, Papa war anscheinend zufrieden damit, auf den Baum oder aus dem Fenster zu gucken, weswegen ich sogar ein bisschen an der Diss arbeiten und schlechte Laune kriegen konnte.
Gegen Mittag schob ich die Gans in den Ofen, wärmte alle Beilagen auf, wir hatten den Tisch in der Diele gedeckt, die jetzt quasi das Esszimmer ist, denn das Esszimmer ist ja jetzt Papas Zimmer. An den Tisch
schoben wir Papa seitwärts, weil er mit dem Rollstuhl unter keinen einzigen unserer Tische passt, und ohne Armlehnen und seitliche Oberkörperstützen sitzt er noch zu unsicher. (Habe in den letzten Monaten gelernt, was so alles an einem Rollstuhl dran ist.) Gerade als ich anfangen wollte zu essen, sah ich den Wagen vom Schwager vorfahren, ich brachte schnell den Gänsekorb raus, bekam Geschenketüten im Gegenzug, die beiden fuhren, wir aßen. (Notaufnahme: Joah, erkältet halt, Hausmittel, ausruhen. Immerhin keine Bronchitis oder sowas.)
Dann legte ich die Bratäpfel in eine Pfanne und schob sie in den Ofen. Als sie mir heiß genug erschienen, schaufelte ich Vanilleeis in Schälchen, umwickelte den Pfannengriff mit einem Küchentuch und holte die Pfanne aus dem Ofen. Ungefähr in der Mitte des Wegens zwischen Ofen und Ablagefläche merkte ich, dass ich das Handtuch nicht komplett um den Griff gekriegt hatte verfickte Scheiße war das heiß! Die anderen aßen am Tisch, ich speiste mit links, während ich die rechte Hand unter kaltes Wasser hielt. Danach googelte ich mit links nach Notfallapotheken, weil Mütterchen keine Brandsalbe im Haus hatte. Ihr fiel die Nachbarin ein, die Ärztin ist, da könne sie ja mal rübergehen. Okay. Oder ich solle doch mal Schwesterchen anschreiben, ob die Salbe hätte. Okay. Oder der Notfallkasten im Auto? Okay. Die Nachbarin wurde nicht gestört, im Verbandskasten lag nix, Schwesterchen hatte auch nix, ich meckerte jetzt doch lauter als gewohnt, weil es wirklich weh tat, und wurde *etwas* ungehalten, als Mütterchen meinte, ich solle mal nach Naturheilmitteln googeln. Gerade als ich kurz davor war, um den Autoschlüssel zu bitten, um 10 Kilometer zur nächsten Apotheke zu fahren, verdammtes Dorf, legte mir das liebevolle Mütterlein ein Stückchen aufgeschnittene Aloe Vera auf die Hand. Und was soll ich sagen? Es funktionierte. Blöde Natur, proving me wrong! Es half nicht für lange, aber immerhin, Aloe hatten wir da, da hätte ich noch ein paar Tage nachlegen können. Bis mir Depp einfiel: Bei Papa liegt nicht nur Desinfektionszeug, sondern auch jede Medikation dieses Planeten. Auch Brandsalbe? Natürlich auch Brandsalbe. Ich rollte mit den Augen, schmierte mir herrliche Chemie auf die Hand und war so gut wie schmerzfrei.
Weil ich doch etwas gehandicapt war, übernahm F. das restliche Ausweiden der Gans, die wir natürlich nicht mal ansatzweise geschafft hatten. Mit dem Grünkohl zusammen, von dem ich logischerweise auch zuviel gekocht hatte, dürften meine Eltern bis zum Dreikönigstag was zu essen haben. Plus Plätzchen!
Nachmittags zog sich F. etwas zurück, Mütterchen und ich bastelten die am 23. Dezember begonnene Eierlikörtorte fertig und deckten in Papas Zimmer fürs Kaffeetrinken ein. Dabei packten wir die Geschenketüten von Schwesterschwager aus. Schwesterchen arbeitet in der Verwaltung eines großen Drogisten, weswegen wir jetzt mit mitarbeitervergünstigten Pflegeprodukten hervorragend ausgestattet sind. Ist mir sehr recht, ich muss sparen.
Abends erneutes Kerzenanzünden, weiterhin ausgiebiges Baumloben – „So schön gerade!“ „Und so toll geschmückt!“ –, Rotwein und Sekt dazu, Papa nickte dauernd weg, die Stunden im Rollstuhl strengen ihn mehr an als die im Bett. Wir machten etwas früher Feierabend, fanden das Weihnachtsfest aber trotz der leider abwesenden zwei Gäste den Umständen entsprechend sehr gelungen.
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3) Schwester und Schwager blieben im Bett, aber F. und ich reisten wie geplant nach Hause. Nicht geplant war das etwas nervige Kleinkind vor uns, aber da muss man halt durch und es gibt ja Noise-Cancelling-Kopfhörer. Driving home from Christmas, auf die Minute pünktlich am Münchner Hauptbahnhof, ich mit zwei Franzbrötchen im Gepäck und viel Neuem, was ich dank eines hervorragenden Podcasts des Städel über Van Goghs Porträt des Dr. Gachet gelernt hatte. (Danke an Konstantin für den Tipp!)
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Ich hatte im Vorfeld ein bisschen Panik vor diesem Weihnachten gehabt, weil so vieles anders war, weil F. zum ersten Mal etwas länger bei uns war, weil ich nicht wusste, wie es Papa gehen würde, ob alles zu viel sein würde oder genau richtig oder total egal. Ich für mich fand es ähnlich anstrengend wie immer in den letzten Monaten, als ich da war, aber so ist es wohl, sich um jemanden zu kümmern, dessen Gehirn jetzt anders funktioniert. Aber als wir alle im abgedunkelten Wohnzimmer ruhig um den Baum saßen und in die Kerzen schauten, war das sehr schön und stimmungsvoll und entspannt und ich glaube, es ging allen gut.
„In jener Zeit erließ Kaiser Augustus den Befehl an alle Bewohner seines Weltreichs, sich in Steuerlisten eintragen zu lassen. Es war das erste Mal, dass solch eine Erhebung durchgeführt wurde; damals war Quirinius Gouverneur von Syrien. So ging jeder in die Stadt, aus der er stammte, um sich dort eintragen zu lassen.
Auch Josef machte sich auf den Weg. Er gehörte zum Haus und zur Nachkommenschaft Davids und begab sich deshalb von seinem Wohnort Nazaret in Galiläa hinauf nach Betlehem in Judäa, der Stadt Davids, um sich dort zusammen mit Maria, seiner Verlobten, eintragen zu lassen. Maria war schwanger. Während sie nun in Betlehem waren, kam für Maria die Zeit der Entbindung. Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen.
In der Umgebung von Betlehem waren Hirten, die mit ihrer Herde draußen auf dem Feld lebten. Als sie in jener Nacht bei ihren Tieren Wache hielten, stand auf einmal ein Engel des Herrn vor ihnen, und die Herrlichkeit des Herrn umgab sie mit ihrem Glanz. Sie erschraken sehr, aber der Engel sagte zu ihnen: „Ihr braucht euch nicht zu fürchten! Ich bringe euch eine gute Nachricht, über die im ganzen Volk große Freude herrschen wird. Heute ist euch in der Stadt Davids ein Retter geboren worden; es ist der Messias, der Herr. An folgendem Zeichen werdet ihr das Kind erkennen: Es ist in Windeln gewickelt und liegt in einer Futterkrippe.“ Mit einem Mal waren bei dem Engel große Scharen des himmlischen Heeres; sie priesen Gott und riefen: „Ehre und Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Frieden auf der Erde für die Menschen, auf denen sein Wohlgefallen ruht.“
Papa hat ewig geschlafen, Mama konnte endlich mal wieder ausschlafen, ich war brav um 7 aufgestanden, war frisch geduscht und hatte um kurz vor acht das Frühstück fertig – und keiner wollte es haben. Papa habe ich vorsichtig gegen halb 9 geweckt, bevor die Morgenpflege kam, denn davor sollte er gefrühstückt haben. Ein Scheibchen Brot mit Apfelgelee, ein Scheibchen mit Honig, eine Kanne Tee für ihn und eine halbe für mich. Das Mütterchen hatte ich irgendwann auch auf Wunsch geweckt, sie war aber wieder eingeschlafen, und das passte auch so.
Vormittags den Baum geschmückt, wie es Papa immer gemacht hat: alles in rot, ein paar Dekoglocken aus Glas, echte Kerzen. Papa wurde von mir dazu eingeteilt, die Kerzen in die Halter zu friemeln, und wenn ich ihm den Halter direkt in die Hand gegeben habe, hat er es auch hervorragend hinbekommen.
„Alles in rot“ bis auf zwei Blechtrompeten in türkis und blau, die schon bei Omi am Baum gehangen haben. Meine Schwester und ich haben auf denen als Kinder immer rumgetrötet, und wir hatten auch mal welche in gold und rot, aber die sind irgendwie verschollen und die beiden letzten geben keine Töne mehr von sich.
Danach gefühlt zwei Gallonen Kürbissuppe gekocht, weil Mama die so gern mag.
Normalerweise halte ich keinen Mittagschlaf, wenn die Eltern dösen, aber gestern war ich dann doch jahresendzeitmüde und schlief komatös ein Stündchen.
Nachmittags testete ich erstmals den Außenlift an, der seit Oktober da ist, damit Papa irgendwie vor die Tür kommt. Danach schob ich ihn im Rollstuhl zu drei Nachbarn, die eine Riesenpackung Merci bekamen und ein persönliches Dankeschön für ihre Hilfe, falls das Mütterchen mal ungeplant wegmusste und niemand bei Papa war. Ich stellte fest, dass Rollstuhlschieben ganz schön anstrengend ist und jede noch so kleine Bordsteinkante ein echtes Hindernis, wer hätte es gedacht. Die elektrische Schiebehilfe, bei deren Vorführung ich im November dabeigewesen war, wurde vom Arzt schon bewilligt, von der Krankenkasse allerdings noch nicht.
Aufgeräumt, Kuchen gebacken, Stollen gegessen, den uralten vierarmigen Leuchter aus der ehemaligen DDR angezündet, bei dem ein Holzengelchen inzwischen auch behindert ist, der ist mittig durchgebrochen und liegt jetzt auf seinem Platz anstatt zu stehen, aber anscheinend kann man auch im Liegen Geige spielen.
Abends noch ein bisschen an der Diss gesessen, Henri Nannens Rezension zur ersten GDK von 1937 gelesen und zitiert. Sehr müde gewesen, nicht mehr mit Mama in der Küche bei einem Sektchen gesessen, einfach nur noch ins Bett gefallen.
Den halben Tag im Zug verbracht, um in den Norden zu kommen. Dabei, wie neuerdings immer, Podcasts und ähnliches gehört.
Ich begann mit einem Stündchen Wrint, dieses Mal über die USA, Holger Klein, dessen Stimme ich ewig zuhören könnte, im Gespräch mit dem scheidenden USA-Hörfunkkorrespondenten Martin Ganslmeier.
Danach googelte ich nach „Podcast Geschichte“ und stieß auf Deutschlandfunk Nova, die mit Eine Stunde History etwas Nettes im Angebot haben. Die Sendung ist kein reines Gespräch, sondern setzt sich aus mehreren Konversationen, gerne mit Expert*innen, und nachgespielten und -erzählten Szenen zusammen. Ich hörte über Spotify die Folge über die Warenhäuser von Leonhard Tietz, die – natürlich, herrgottnochmal – in den 1930ern „arisiert“ wurden und die irgendwann Kaufhof hießen.
Anschließend hörte ich das neue Album von Harry Styles durch, über das @nilzenburger einen schönen Thread geschrieben hatte, den ich fast komplett abnicken kann, besonders die Beschreibung zu „Sunflower“.
Für noch mehr Hören reichte die Zeit nicht so recht, ich schnappte mir mein neuestes Lesergeschenk zur Radikalisierung des Adels bis hin zum Nationalsozialismus, mit dem ich nicht bis zum Tannenbaum hatte warten wollen. Hätte ich vielleicht machen sollen, dann hätte ich mir schlechte Laune erspart. Ich habe noch nicht mal die Einleitung durch, aber die Definition des Begriffs „Radikalisierung“ ließ mich etwas zusammenzucken; das fühlt sich leider gerade sehr aktuell an. (Das Buch ist von 2003.)
„Als Radikalisierung wird im folgenden ein Ensemble von Elementen bezeichnet, die gleichermaßen Wahrnehmung, Denken und Handeln der Akteure betreffen. Diese Elemente sind:
a) Veränderung und Bewegung: Radikalisierung bezeichnet prozeßhafte Veränderungen im Denken und Handeln von Menschen. Radikalisierung entsteht in Reaktion auf strukturelle Umbrüche und führt selbst zu strukturellen Veränderungen im Denken und Handeln. Radikalisierungsprozesse werden von kleinen, hochaktiven Minderheiten initiiert und gesteuert. Historische Bedeutung erlangen die Verstöße radikaler Minderheiten nur dann, wenn sie von einer (passiven) Mehrheit unterstützt, zumindest aber geduldet werden. Scharfe Kritik am Status quo verbindet sich stets mit unscharfen Entwürfen einer ‚besseren‘ Zukunft.
b) Reduktion und Dichomitisierung: Radikalisierung geht mit der Ausblendung einzelner Wirklichkeitsbereiche einher: eine Tendenz zur Reduktion komplexer Zusammenhänge, die auf schwierige Fragen vermeintlich einfache Antworten hervorbringt. Es entstehen zunehmend dichotome Weltbilder mit einer schlichten Trennung zwischen Freund und Feind, die als antagonistische Pole konstruiert werden, zwischen denen jede Vermittlung ausgeschlossen erscheint. Auf diese Weise hängen der Abbruch des Dialogs und der Weg in die Gewalt zusammen. In den Worten von Anthony Giddens: ‚Where dialogue stops, violence begins.‘ Die größtmögliche Einheit der ‚Freunde‘ und der möglichst vollständige Ausschluß der ‚Feinde‘ sind zwei Seiten einer Forderung. Die Forderung nach ‚Reinheit‘ und die Praxis der Gewalt gehören im Radikalisierungsprozeß meist zusammen.
c) Emotionalisierung: Die transportierten Inhalte sprechen weniger die kognitive als die affektive Wahrnehmung an. Sie sollen nicht argumentativ überzeugen, sondern emotional beeindrucken.
d) Brutalisierung der Sprache: Die Veränderung der gedanklichen Inhalte drückt sich in der Schaffung neuer, aggressiv aufgeladener Begriffe, Metaphern und Symbolsets aus. Die ‚Entmenschlichung‘ des politischen Gegners bzw. ‚Feindes‘ manifestiert sich sprachlich oft in Begriffen aus der Tierwelt. Parallel zur sprachlichen Verwandlung des ‚Feindes‘ in Ungeziefer wandeln sich die Verben: aus überzeugen, in die Schranken weisen, schlagen, ausweisen werden ausmerzen, zertreten, vertilgen, vernichten, ausrotten.
e) Brutalisierung der Mittel: Die Entstehung neuartiger Organisationsformen und Aktionsformen, in denen ‚entschiedenes‘, ‚hartes‘ oder ‚radikales‘ Handeln bzw. Durchgreifen gefordert, ermöglicht und realisiert wird.
f) Tendenz zur Anarchie der erzeugten Gewalt: Die Abnahme der Steuerungsfähigkeit von Ausmaß und Ausrichtung der freigesetzten Gewalt – ein Zauberlehrlingseffekt, bei dem sich Gewalt leichter erzeugen als dauerhaft steuern läßt. Da sich die geforderte Gewalt schließlich gegen ihre Initiatoren wenden kann, weisen Prozesse der Radikalisierung meist eine Tendenz zur Selbstzerstörung auf.“
Quelle: Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2010, S. 18/19.
Trotz des unangenehmen Inhalts musste ich zweimal grinsen. Das Wort „initiieren“ hat mir mein erster Chefredakteur gründlich ausgetrieben, das wurde immer rausgestrichen, bei allem, weil das Wort eher unleserlich ist. „Anstoßen“, „auslösen“, etc. lassen sich eindeutig besser erfassen und aussprechen.
Und der Begriff der Dichotomie ist das Buzzword für jede Lebenslage meines Doktorvaters. Ich glaube, ich kenne keinen Aufsatz von ihm, in dem das nicht vorkommt.
… an Jakob, der mich mit Stephan Malinowskis Vom König zum Führer: Deutscher Adel und Nationalsozialismus überraschte. Ich ahne, dass ich dieses Buch im Zuge der nervigen Hohenzollern-Diskussion auf meinen Wunschzettel gelegt hatte, und sofern man sich darauf freuen kann, mehr über die Verstrickungen verschiedener Bevölkerungsschichten in den Nationalsozialismus zu lesen, freue ich mich auf das Buch. Hier zwei Rezensionen beim Perlentaucher, hier die längere bei hsozkult und hier noch eine bei Sehepunkte. Alle sind größtenteils der Meinung, dass diese Dissertation eine wichtige Forschungslücke schließen konnte.
Bei mir hatte das Buch schon gewonnen, als ich beim neugierigen Reinschnüffeln (trotz weihnachtlicher Geschenkverpackung, sorry) gesehen habe, dass es Fußnoten statt Endnoten hat. Der Originaltitel der ersten Auflage lautete übrigens meiner Meinung nach etwas treffender, aber halt weniger zackig für den Markt „Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat“. Vielen Dank für das Geschenk und die Widmung, ich habe mich sehr gefreut.
Das Trinkgeld für den Zeitungsausträger ist anscheinend angekommen.
Update zu der freundlichen Gabe einer mir Unbekannten, deren Päckchen in eine renitente Packstation gegangen ist, ich schrieb darüber: Ich war nochmal da, ich habe wieder die Ansage gekriegt, dass in dieser Station nichts für mich liegt, und auch die DHL-Hotline weiß nicht mehr. Ich hoffe sehr, dass irgendwann jemand das Päckchen findet und zurückschickt und du dein Geld wiederbekommst. Es tut mir leid, dass du eventuell ein paar Euro ärmer werden könntest, weswegen ich ein extragroßes Dankeschön sage für die nette Geste. Ich hätte mich über das ausgewählte Buch sehr gefreut.
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Mittwoch war Ruhetag und Tagetag und Wärmflasche und Sofa. Abends raffte ich mich zu meinem hoffentlich letzten Star-Wars-Film auf, den ich nur sehen wollte, weil ich die letzten beiden jetzt nicht so irre scheiße fand (das höchste Lob, was ich für Star Wars habe) und vor allem die zu erwartenden Twitter-Memes verstehen will. The Rise of Skywalker war dann leider irre scheiße, und wenn ich nicht in Begleitung gewesen wäre und vor allem am Rand gesessen hätte anstatt mitten in der Reihe, wäre ich nach 30 Minuten gegangen weil OMG so langweilig.
Miesester Moment: Keine Spoiler hier, keine Bange, aber so richtig schlecht gelaunt war ich, als bei einer Kussszene so ziemlich der komplette Saal voller Kerle rumstöhnte – O-Ton hinter mir: „Immer dieses Geschlabber.“ Immer? IMMER? Wenn es irgendeinen keuschen Film gibt, dann ja wohl dieser Sternenquatsch. Aber guck ruhig weiter 40 Minuten Explosionen im Weltraum, armes Häschen.
Bester Moment: Als sich zwei Frauen, eine davon im Rey-Outfit an der langen Kassenschlange vorbeidrängelten, um zu den Toiletten zu kommen: „Immerhin sind die Damenklos jetzt leer.“
Danach brauchte ich ein kleines Bierchen. Große Liebe für den Kellner, der nach der Bestellung „Ein Helles“ fragte: „0,5 oder mehr?“ Ach, München aka Die Stadt der Maßkrüge.
Die NYT: „The struggle of good against evil feels less like a cosmic battle than a longstanding sports rivalry between teams whose glory days are receding. The head coaches come and go, the uniforms are redesigned, certain key players are the subjects of trade rumors, and the fans keep showing up. Which is not entirely terrible. “The Rise of Skywalker” isn’t a great “Star Wars” movie, but that may be because there is no such thing. That seems to be the way we like it.“
Der New Yorker: „The movie’s few infinitesimal touches of what might be called character—such as Rey substituting compassion for violence when she heals a deadly serpent—tick off a few ready-made socio-boxes. There is a quick moment of feminine solidarity, a carefully focus-grouped lesbian kiss. What’s more, it’s dispiriting to see the differences in how Ridley and Driver are directed. Ridley is called upon to express and overexpress, at each given moment, one given emotion, while Driver underexpresses, suggesting competing emotions. This isn’t a judgment on the skills of the two actors but, rather, what they reflect in the Star Wars universe and its creative conception: there, women, however heroic, are simple, and men are complex. It’s a reminder that the director and the four credited writers of “The Rise of Skywalker” are all male—and that the entire franchise, including the past half decade’s trio of sequels, has had no female director (and only one female screenwriter, Leigh Brackett, on “The Empire Strikes Back,” from 1980).“
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Donnerstag ausgeschlafen, keine Bauchschmerzen mehr gehabt, ab ins ZI. Gearbeitet. Habe jetzt alle Ausstellungskataloge bis 1945 durch. Haha. Sagte sie so leichtsinnig.
Zuhause wartete Post aus dem Staatsarchiv.
Ich wünsche euch auch total tolle Weihnachten, ihr kleinen Glücklichmacher. Wenn man bei euch fotografieren dürfte, wäre das noch toller, denn dann müsste ich mir keine sechs Briefseiten von euch einscannen lassen, die ihr mir dann auf CD brennen und per Post verschicken müsstet. Wenn ich den Empfang richtig verstanden habe, dürfte ich sogar fotografieren, aber erst alles, was älter ist als 100 Jahre. Verdammtes Diss-Thema!
Nach dem auswärtig verbrachten Wochenende war Montag dann Wochenende, das hieß: Putzen, Einkaufen, Wohnung weihnachtsfertig machen. In diesem Jahr bin ich Ende Dezember quasi nicht zuhause, sondern im Norden oder im Nachbarland, weswegen ich mir eigentlich das kleine Weihnachtsbäumchen verkneifen wollte, ich würde es ja eh kaum sehen. Aber Weihnachten ohne Baum ist doof, und daher erstand ich einen kleinen Nordmann und fuhr ihn mit dem Bus in die Nähe meiner Wohnung. Dort wurde er sogleich geschmückt, und sobald es draußen einen Hauch dunkler wurde – also so gegen 13 Uhr –, leuchteten die Lichterketten.
Das Jahr war für mich deutlich anstrengender geworden als erwartet, aus verschiedenen Gründen, und ich war auch noch nicht so recht in Weihnachtsstimmung, aber die Berggipfel am Wochenende und nun die Kugeln und Lichter sorgten endlich dafür, dass ich gefühlt etwas runterschalten konnte. Auf dem Sofa bequem gemacht, Plätzchen verspeist, Bäumchen angeguckt.
Abends ging es dann ins Kino, Frozen II in den legendären Museum-Lichtspielen, in denen ich noch nie war, weil ich keine Schachteln mehr nutzen möchte, außer es geht halt nicht anders. Hier ging es nicht anders, weil F. sich logischerweise keinen Nachmittag freinehmen wollte, um einen Film in den großen Popcornkinos zu gucken, wo er gerade im Original zu sehen ist. Also Schachtel. Es war nicht so schlimm wie erwartet, immerhin Beinfreiheit und gemütliche Sessel, aber halt mittelmäßiger Ton und eine Leinwand, die ungefähr so groß war wie der Fernseher meiner Schwester.
Den Film selber muss ich mir gnadenlos noch einmal anschauen, der rauschte gefühlt zu hektisch an mir vorbei. Ich mochte, dass einige der geliebten Figuren aus dem ersten Teil einen geschärfteren Charakter bekommen hatten, während andere leider ein bisschen verschenkt wurden. Außerdem gab es mir viel zu viele Götter aus zu vielen Maschinen, die plötzlich da waren, aber mei. Auch bei den Songs wurde anscheinend versucht, genau die Knöpfchen zu drücken, die im ersten Teil so hervorragend funktioniert hatten, aber auch hier: Wenn man schon eine der weltbesten Musicalsängerinnen im Team hat, dann nutzt man die Stimme der Dame eben auch. Und alleine für drei herrliche, sehr überraschende Minuten mit Christoph mitten im Film hat sich der Besuch gelohnt.
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Gestern wollte ich eigentlich ins ZI, nochmal schnell ein paar Tage dissertieren, bevor in München überall die Bürgersteige hochgeklappt werden, aber nach 85 Tagen (VERDAMMT!) erwischten mich die Tage wieder, weswegen ich mit einer Wärmflasche auf dem Bauch zuhause blieb. Denn auch gestern war mein Abend verplant. Schmerztabletten, Thermotights, Thermopulli, Handschuhe, Thermosocken in den Stiefeln – und dann durchs 12 Grad warme München gestapft und mich totgeschwitzt, um ins 4 Grad kalte Augsburg zu kommen, wo ich dachte, och, ne Decke wäre auch noch gegangen.
Im Stadion selbst war es aber gut auszuhalten, vor allem weil der FC Augsburg gerade einen ziemlichen Lauf hat. Anfang Oktober noch mit 1:5 in Gladbach untergegangen, einen Ausrutscher zuhause gegen Schalke (2:3) Anfang November, aber seitdem nur Siege oder Unentschieden eingefahren. Gestern gab’s ein nettes 3:0 gegen die Fortuna aus Düsseldorf; am Samstag wartet noch Leipzig, aber da rechne ich nicht wirklich mit Punkten. Egal – dass der FCA auf dem 10. Tabellenplatz in die Winterpause geht, hätte ich nach dem total grützigen Saisonbeginn und dem ständigen Kratzen an den Abstiegsplätzen wirklich nicht gedacht.
Beim blöden Abendspiel ab 20.30 Uhr waren leider die winkenden Kinder vom Kids Club nicht mehr auf ihrer Ehrenrunde. Aber die Einlaufkinder durften doch auch wachbleiben! Das System verstehe ich nicht. Aber auch hier: Egal, ich hatte Glühwein und einen ansonsten sehr guten Abend.
Viel zu spät ins Bett gekommen allerdings, denn wir haben erst den Zug um 23.41 aus Augschburg erwischt, weswegen ich um 1 zuhause war. Mitten in der Nacht!
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PS: Ich liebe es, dass DAZN die Bundesligabilder ins Netz stellt!