Tagebuch, Montag bis Samstag, 5. bis 10. August – Beta-Papa

Mein Vater hatte im Mai einen Schlaganfall und war dann nach einer Operation in der Reha. Seit vorletzter Woche ist er wieder zuhause. Er ist noch der Papa, den ich kenne, aber mit neuen Features und anderen, die nicht mehr so recht funktionieren. Ein Beta-Papa vielleicht. Ich war in der vergangenen Woche in der alten Heimat, um meine Mutter etwas zu entlasten, während sich Dinge wie Pflegedienste und Hilfsmittelfirlefanz einspielen. Das gehört aber nicht hier ins Blog, denn das ist nicht meine Geschichte.

Was meine Geschichte ist: Es war die anstrengendste Woche meines Lebens, und mein bisheriger Rekord, eine 70-Stunden-Woche in der Werbeagentur, war ein Spaziergang mit Käsekuchen und Konfetti dagegen. Ich hatte die Tragweite der Veränderungen, nicht nur an Papa, sondern auch im Elternhaus und in der Familiendynamik optimistisch unterschätzt. Die plötzliche Intimität war für mich anstrengend, das Arbeiten (Dinge erledigen, Dinge vor- und einkochen, Dinge vorbereiten) war für mich anstrengend, weil die häusliche Umgebung nicht auf meine, sondern auf anderer Leute Bedürfnisse eingestellt war, das Schlafen im alten Kinderzimmer war anstrengend, weil es nicht nur mal eben zu Weihnachten für eine Nacht nach viel gutem Essen und Sekt war, sondern nach einem Tag, der emotional und körperlich sehr schlauchte, und dann kam noch ein Tag und noch einer, und ich bin fast stolz darauf, erst am Freitag einen völligen Überforderungsheulflash bekommen zu haben. Um dann vom Vater getröstet zu werden, wegen dem man heult und der einen für die eigene Schwester hält.

Die komplette Fremdbestimmung durch einen Kranken war für mich mit am anstrengendsten, denn wenn ich etwas schätze, ist das meine relative Freiheit, die mir Selbständigkeit, Studium, Wohnsituation und Beziehungen lassen – im Prinzip kann ich so gut wie dauernd machen, was ich will und wann ich es will, und wie großartig das ist, habe ich erst in der letzten Woche so richtig gemerkt. Wegen dieser konstanten Fremdbestimmung und Überforderung und Anstrengung dachte ich die ganze Woche lang, ich will nach Hause, ich will nach Hause, ich will nach Hause, auch wenn ich mich sehr darüber gefreut habe, wirklich eine Hilfe sein zu können, sowohl in wenigen Augenblicken für die Pflegenden als auch ganztags für meine Mutter, und sei es nur durch eine aus Gartenfrüchten zubereitete Tomatensauce, die Mama jetzt nur noch aufwärmen muss, um schnell ein Mittagessen fertig zu haben.

Die Zugfahrt gestern nach München war eine Art Dekompression; ich las ungefähr eine Seite in meinem mitgebrachten Buch – immerhin eine mehr als die ganze letzte Woche –, hörte aber sonst nur Klassik auf Spotify und guckte aus dem Fenster. Zuhause räumte ich sofort den Kofferinhalt brav weg, setzte Wäsche an, sagte allen meinen Blumen persönlich guten Tag, warf mich aufs arg vermisste Sofa, um endlich wieder eine Serienfolge zu sehen und dachte, so, alles prima, wieder daheim, yay. Aber ich merkte nach ungefähr 20 Minuten, dass ich sehr unkonzentriert schaute und es mir eigentlich auch egal war. Und dann dachte ich: Ich will wieder in den Norden, wo ich sinnvollere Dinge tun kann als Serien zu gucken, die mir egal sind.

Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser sehr unerwarteten Reaktion anfange.

Ein zielvolles Dankeschön …

… an Julia, die mich mit Richard J. EvansThe Pursuit of Power: Europe 1815–1914 überraschte. Ich meine dieses Buch in einer Rezension zu einem anderen Geschichtsbuch entdeckt zu haben, und weil es so viel spannender klang als das besprochene, musste ich es gleich auf den Wunschzettel setzen. Kann aber auch sein, dass in der FAZ die deutsche Ausgabe rezensiert wurde und ich dachte, ach, les ich doch gleich das Original. Wie dem auch sei, ich zitiere bequem den Perlentaucher zur deutschen Fassung:

„‚Das europäische Jahrhundert‘ entwirft ein außergewöhnlich facettenreiches, überraschendes und unterhaltsames Panorama des 19. Jahrhunderts in Europa. Der Kontinent durchlief zwischen 1815 und 1914 eine drastische Transformation mit grundstürzenden Veränderungen in Kultur, Politik und Technik. Was in einer Dekade als modern empfunden wurde, war in der nächsten bereits veraltet. Großstädte schossen innerhalb einer Generation aus dem Boden, und neue europäische Länder gründeten sich. In der Zeit zwischen der Schlacht von Waterloo und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beherrschte Europa den Rest der Welt wie niemals zuvor oder je wieder danach.“

Und, Achtung, totaler Allgemeinplatz, das 20. Jahrhundert in seinen Widerlichkeiten wäre ohne diesen Verlauf des 19. vermutlich – hoffentlich – anders verlaufen. Auch deshalb interessiert mich die, im wahrsten Sinne des Wortes, Vorgeschichte.

Vielen Dank für das Geschenk, ich habe mich sehr gefreut.

Links vom Sonntag, 4. August 2019

Die ethische Last journalistischer Arbeit

Carolin Emcke schreibt, warum sie die Enthüllung von Hingsts erfundenen Geschichten richtig findet, denkt aber auch über journalistische Verantwortung nach.

„Als Journalistin nicht zu reflektieren über die Frage, über was es zu schreiben oder nicht zu schreiben gilt, das wäre auch unrecht. So zu tun, als ginge uns dieser Tod nichts an, als forderte er uns nicht alle heraus, das wäre allzu zynisch und bequem. Sie steht ja im Raum, die Frage: Ob es unlauter war, eine Person zu konfrontieren mit ihren Lügen, jemandem die Identität(en) zu entziehen, die sie sich selbst erschaffen hatte – und sie möglicherweise dadurch bedenklich zu destabilisieren. […]

Ich weiß nicht, ob ich die Not des Gegenübers erkannt hätte, ich weiß nicht, ob ich versucht hätte zu helfen, wenn ich sie erkannt hätte. Ich hoffe es. Aber ich weiß, dass ich mich auch in der Verantwortung gegenüber den echten Toten und Überlebenden der Schoah begriffen hätte, deren Geschichte sich niemand aneignen darf, als sei es ein Accessoire. Und ich weiß um alle die antisemitischen Revisionisten, die immer noch und immer wieder versuchen, die Tatsache von Auschwitz zu bestreiten, ich weiß, wie sehr erfundene Opfergeschichten denen nutzen, die allzugern behaupten, die Verbrechen der Nationalsozialisten habe es nie gegeben. Ich weiß, dass die Erinnerung an die Wahrheit und der Widerspruch gegen das Leugnen zu dem gehört, was mir aufgetragen ist.

So furchtbar es ist, es lässt sich beides denken: Auch ich hätte geschrieben über die Täuschungen, weil wir das den Angehörigen der Opfer der Schoah schuldig sind. Und gleichzeitig wünschte ich wie alle anderen, es hätte verhindert werden können, dass ein junger Mensch aus dem Leben geht.“

Warum der SPIEGEL über den Fall Marie Sophie Hingst berichten musste

Martin Doerry erläutert, warum er seinen Artikel und dessen Veröffentlichung immer noch für richtig hält und erwähnt auch seinen Kollegen von der Irish Times.

„Der Berliner Korrespondent der “Irish Times”, Derek Scally, hat Marie Sophie Hingst etwa eine Woche nach der Veröffentlichung aufgesucht und ein anderes Bild von ihr gewonnen. Er zeichnet in seinem Porträt das Bild einer verwirrten, hilflosen Person, die an der jüdischen Familienlegende verzweifelt festhält. Er behauptet, ich hätte übersehen, in welcher katastrophalen psychischen Verfassung Frau Hingst gewesen sei. Was er dabei übersieht, ist die Tatsache, dass Frau Hingst vor der Publikation des Artikels keineswegs verzweifelt und niedergeschlagen war, sondern souverän, kämpferisch und entschlossen. Er ist ihr erst begegnet, als ihre fiktive Identität zusammengebrochen war. Wir haben zwar dieselbe Person getroffen, aber in zwei völlig unterschiedlichen Lebenssituationen.

Scallys Bericht löste in den sozialen Netzwerken ein starkes Echo aus. In vielen Kommentaren wird ihre von ihm kolportierte Aussage, sie habe sich durch den SPIEGEL “wie bei lebendigem Leibe gehäutet” gefühlt, als Beleg seelischer Grausamkeit gesehen. Die Tatsache, dass Marie Sophie Hingst sechs Jahre lang systematisch Lügen über ihre angeblich im Holocaust umgekommenen Vorfahren verbreitet hat – nicht nur in ihrem viel gelesenen und prämierten Blog, sondern auch in öffentlichen Reden vor großem Publikum –, erscheint dagegen häufig als lässliche Sünde oder wird gar nicht thematisiert.“

Athleisure, barre and kale: the tyranny of the ideal woman

Ein mäandernder, aber genau in dieser Flaniererei guter Artikel von Jia Tolentino, der aber die Grundtendenz der modernen Frau in welcher Ausprägung auch immer gut zusammenfasst: Wir optimieren uns, um in einem System mitzuspielen, das uns gar nicht mitspielen lassen will.

Sie beginnt mit dem Feminismus in seiner weichgespülten Form, der uns Dinge verkaufen will:

„Today’s ideal woman is of a type that coexists easily with feminism in its current market-friendly and mainstream form. This sort of feminism has organized itself around being as visible and appealing to as many people as possible; it has greatly over-valorized women’s individual success. Feminism has not eradicated the tyranny of the ideal woman but, rather, has entrenched it and made it trickier. These days, it is perhaps even more psychologically seamless than ever for an ordinary woman to spend her life walking toward the idealized mirage of her own self-image. She can believe – reasonably enough, and with the full encouragement of feminism – that she herself is the architect of the exquisite, constant and often pleasurable type of power that this image holds over her time, her money, her decisions, her selfhood and her soul.

Figuring out how to “get better” at being a woman is a ridiculous and often amoral project – a subset of the larger, equally ridiculous, equally amoral project of learning to get better at life under accelerated capitalism. In these pursuits, most pleasures end up being traps, and every public-facing demand escalates in perpetuity. Satisfaction remains, under the terms of the system, necessarily out of reach.“

Dann schreibt sie über Lunch Breaks, in denen wir teure Salate bei Vapiano und Co. essen, um möglichst schnell wieder ins Hamsterrad zu kommen, am besten, während man noch mal schnell die Arbeitsmail checkt. Für psychologischen Ausgleich durch Sport betreibt Tolentino Barre, ein Sport, bei dem es eher darum geht, gut auszusehen als stark zu werden. Und das alles in athleisure, ein Kleidungskonzept, das uns in der Freizeit aussehen lässt wie beim Sport. Jedenfalls einige von uns:

„Spandex – the material in both Spanx and expensive leggings – was invented during the second world war, when the military was trying to develop new parachute fabrics. It is uniquely flexible, resilient and strong. It feels comforting to wear high-quality spandex, but this sense of reassurance is paired with an undercurrent of demand. Shapewear controls the body under clothing; athleisure broadcasts your commitment to controlling your body through working out. And to even get into a pair of Lululemons, you have to have a disciplined-looking body. (The founder of the company once said that “certain women” aren’t meant to wear his brand.) “Self-exposure and self-policing meet in a feedback loop,” Weigel wrote. “Because these pants only ‘work’ on a certain kind of body, wearing them reminds you to go out and get that body.”

Und sie schließt mit einer deprimierenden Feststellung für alle Beauty-Bloggerinnen und Influencerinnen da draußen, die vermutlich zu beschäftigt sind, um dieses Essay zu lesen:

„The realm of what is possible for women has been exponentially expanding in all beauty-related capacities – think of the extended Kardashian experiments in body modification, or the young models whose plastic surgeons have given them entirely new faces – and remained stagnant in many other ways. We have not “optimized” our wages, our childcare system, our political representation; we still hardly even think of parity as realistic in those arenas, let alone anything approaching perfection. We have maximized our capacity as market assets. That’s all.“

Wenn Sie beim Lesen ein bisschen Musik hören wollen – oder einfach nur so Musik hören wollen –, empfehle ich die 5. Sinfonie (1946) von Bohuslav Martinů. Schon viel zu lange keinen Martinů mehr gepluggt. Dauert auch nur ne halbe Stunde.

Tagebuch Freitag, 2. August 2019 – Nürnberger Feierabend

Gestern morgen zusammengepackt, ausgecheckt, das Köfferchen im Hotel gelassen und ein letztes Mal den Weg von dort zum Kunstarchiv gegangen. Nochmal St. Lorenz gewunken; die Kirche hatte ich mir bei meinem letzten Nürnberg-Besuch mal etwas ausführlicher angeschaut.

Dann wühlte ich weiter in den noch übriggebliebenen Boxen und Mappen des Nachlasses. Bei meinen letzten drei Besuchen hatte ich mir notiert, wo was liegt, denn, wie vermutlich schon erwähnt, ist der Nachlass noch unsortiert und unverzeichnet, das heißt, er hat auch noch keine zitierbare Inventarnummer. Ich durfte die 15 Behältnisse aber nummerieren, und im Moment ist das dann auch die offizielle Quellenangabe: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Protzen, Carl Theodor, Box oder Mappe sowieso.

In vielen Boxen lagen Ausstellungskataloge, von denen der Herr oder seine Frau teilweise fünf Duplikate aufgehoben haben. Warum davon nicht gleich vier an irgendwelche Bibliotheken gegangen sind, weiß ich nicht – darf man als annehmende Institution den Nachlass noch ausflöhen oder muss der auf alle Ewigkeit so bleiben wie er ankam? Ich wollte bei einigen dringend was fürs ZI klauen, habe mich aber brav zurückgehalten. Wobei: die Kataloge, die bei uns fehlen, waren hier auch meist nur einmal vorhanden. Aber eben immerhin einmal, ha!

Ich schaffte es gestern, noch alles abzuarbeiten, was wichtig war. Was eher zweitrangig war, bleibt für den nächsten Besuch liegen: einige der Fotoalben, in denen die beiden private Aufnahmen eingeklebt hatten, blätterte ich nicht noch einmal durch, weil ich keine Zeit mehr hatte. Zwei schaute ich nochmal durch, weil da Aufnahmen von Familienmitgliedern drin waren, bei denen ich auf Bildunterschriften hoffte, aber davon waren die beiden anscheinend keine Fans. Und bei einem weiteren wusste ich, dass darin Aufnahmen von der Grundsteinlegung vom Haus der (deutschen) Kunst waren, die wollte ich auch nochmal anschauen. Ganze vier Seiten voller Fotos waren eingeklebt, das war deutlich mehr als der Aufenthalt in Avignon 1929, nur mal als Vergleich. Zur Grundsteinlegung gab es einen Festumzug, der auch auf einigen Bildern zu sehen ist. Und es gab ein Programmheft dazu, das wusste ich noch nicht. Interessiert durchgeblättert, ob ich bekannte Namen fand; fand ich, waren aber für meine Arbeit egal. Aber diese Anzeige fand ich dann ganz spannend.

Ich freute mich auch über einen skurrilen Heftfund, der mir letztes Mal beim hektischen Durchgucken entgangen war: „Das deutsche Malerblatt.“ Dieses Heft existiert sonst nur noch im Deutschen Museum hier in München und in ihm befindet sich ein Artikel zur sogenannten Ehrenhalle, mit der die Ausstellung „Die Straße“ von 1934 eröffnet wurde. In dieser temporären Ausstellung malten zehn Maler gemeinsam acht Werke an die Wände, was aus kunsthistorischer Sicht ziemlich gaga ist, weil ein Wandgemälde eigentlich etwas Dauerhaftes ist. Diese schlaue Erkenntnis teilte mir eine andere Doktorandin mit, die ein anderes Thema hat, das sich aber hier in dieser Ausstellung mit meinem Thema überkreuzt, denn einer dieser zehn Maler war der Herr Protzen. (Und ich weiß immer noch nicht, wie er an diesen prestigeträchtigen Auftrag gekommen ist, knurr.) Wir sind von meinem Doktorvater verbandelt worden, und die Dame freute sich außerordentlich über meine Fotos des Hefts und der folgenden Seiten. Und ich freute mich, dass ich jemandem eine Freude machen konnte.

Und auch, weil ich endlich wusste, welches der Bilder Protzen nun gemalt hatte, denn um diese genaue Auskunft drückten sich alle Aufsätze und Quellen, die ich bisher gefunden hatte. Aber: Im Nachlass finden sich Fotos von Kartons, die als Vorlage für die endgültigen Gemälde dienten, aber nur von vier der acht Bilder. Also gehe ich mal optimistisch davon aus, dass er nur an „2. Die römische Straße“, „4. Die Straße im frühen Mittelalter“, „5. Die Straße nach dem Dreißigjährigen Krieg“ sowie „6. Die Straße um 1800“ beteiligt war. Oder er hat ein paar Fotos bewusst vernichtet, denn in den Gemälden „7. Die Straße frei den brauen Bataillonen, Nürnberg 1933“ sieht man einen gemeinsamen Aufmarsch von SA, SS und Soldaten vor einer Fachwerkhauskulisse und in „8. Die Straßen Adolf Hitlers“ eine breite, moderne Autobahnbrücke durch eine dörfliche Gegend. Wobei das letzte Bild gut in sein späteres Schaffen passen würde, aber vielleicht war er hier wirklich noch unbeteiligt. Das ist jetzt also keine wilde Entdeckung, dass er an diesen Werken beteiligt war, aber immerhin eine Eingrenzung, und mich freuen solche Details.

Dann fand ich ein Werk von ihm auch noch in Farbe, das war auch schön. Es gibt so wenige Farbaufnahmen der Autobahnbilder, und bei einigen Werken weiß ich immer noch nicht, wo sie sich heute befinden, falls sie überhaupt noch existieren. Das ist ist, falls ihr die Überschrift aus der Sonderausgabe der Monatshefte von Velhagen & Klasing nicht lesen könnt, die Lauterbachtalbrücke bei Kaiserslautern.

Bei einem Katalog von 1955 musste ich sehr grinsen und an meine Großeltern und Eltern denken, die gerne alles irgendwie beschriften und notieren, man weiß ja nie. Der Katalog war von der 29. Jahresschau Oberpfälzer und niederbayerischer Künstler und Kunsthandwerker im Kunst- und Gewerbehaus Regensburg, die Ende 1955 stattfand. Protzen war als Gast eingeladen und zeigte unter anderem sein Stilleben mit schwarzem Korb, das ich mal keck auf 1955 datiere, weil er fast konstant aktuelle Werke zeigte, egal wo und wann. (Wenige Ausnahmen direkt nach dem Krieg, als noch keiner so recht wusste, was man jetzt überhaupt zeigen sollte oder durfte. In der Zeit produzierte er auch fast ausschließlich unverdächtige und kreuzlangweilige Blumenstillleben.) Im Katalog war sein Werk auch abgebildet, aber ohne Name oder Bildtitel, wie sich das eigentlich gehört, nur mit Katalognummer. Also hat der gute Mann bei allen Abbildungen die Namen der Künstler handschriftlich notiert – auch bei seinem eigenen Werk.

Bei einem anderen Katalog wimmerte ich hingegen sehr. Zusammen mit Protzen stellte nämlich auf der Dresdner Schau „Kunst und Technik“ 1939 auch ein gewisser Carl Grossberg aus, dem ich immer noch sehr hinterhertrauere. Von ihm kannte ich ja schon Bilder vom Ende der 30er Jahre – er starb 1940 –, aber die hier kannte ich noch nicht. Das Werk Grossbergs ist nach 1933 noch so gut wie nicht aufgearbeitet, weil die ollen Erben nicht wollen, dass er irgendwie in den Ruch eines Nazikünstlers kommt. Die Gefahr sehe ich natürlich nicht, aber auch generell wäre es spannend, sich diese Zeit in Bezug auf ihn anzuschauen, weil er ein hervorragendes Beispiel dafür ist, dass eben nicht alles, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland als Kunst produziert und offiziell ausgestellt wurde, so aussah, als wolle Göring es sich übers Sofa hängen. Genau das war meine erste Dissertationsidee, die aber leider am Nein der Grossberg-Erben scheiterte. Und so wimmerte ich noch ein bisschen weiter, wo ich endlich mal wieder ein Bild von ihm sah. Ich liebe sein Zeug so sehr.

Wer noch mehr zu Grossberg und seinem halbwegs aktuellen Forschungsstand lesen möchte, kann das in diesem pdf der Galerie Hasenclever von 2017 tun. Die Zeit ab 1933 und die nicht vorhandene kunsthistorische Auseinandersetzung mit ihm fängt auf Seite 6 an, Autor ist der von mir sehr geschätzte Olaf Peters.

Und so wuschelte ich bis kurz nach 15 Uhr durch, das sah ungefähr so aus, Belegbild mal wieder nur für F. aus der Hüfte geschossen, und allmählich sollte ich mir angewöhnen, auch diese Hüftbilder anständig zu machen, denn die landen neuerdings irgendwie immer im Blog:


(Mein Trackpad am Laptop hat eine Macke, und das externe Trackpad wackelt, und ich komme wir wirklich immer wie ein Idiot vor, neben Laptop und Trackpad noch einen gefalteten Zettel in alle Bibliotheken zu schleppen, damit es eben nicht mehr wackelt, ich Hobo der Kunstgeschichte. Aber bevor die Diss nicht fertig ist, gibt’s keinen neuen Rechner. Never touch a running system.)

Als Abschluss blätterte ich noch einmal das Gästebuch durch, das die Protzens von 1926 bis ungefähr 1962 führten, die letzten Einträge sind undatiert, Henny Protzen-Kundmüller starb 1967, Protzen bereits 1956, was sie auch im Gästebuch vermerkte. In den letzten Tagen, in denen ich endlich mal konzentriert und länger am Nachlass arbeiten konnte als bisher, wo ich immer nur für einen Tag in der Stadt war, sind mir eben doch noch viele Namen und Dinge aufgefallen, und einiges fand ich im Gästebuch wieder. Ich fand auch einiges nicht, was ich erwartet hatte, was mir auch wieder Interpretationsspielraum gibt. Ich bleibe hier mal so vage, sonst wird der Eintrag noch länger.

Aber das war eine wirklich schöne und ertragreiche Woche. Zu den Nachlässen der anderen Künstler bin ich nicht mehr gekommen, aber ich ahne, dass ich noch ein fünftes Mal alles durchwühlen werde, vermutlich wenn ich wieder einige Monate neue Recherche hinter mir habe. Darauf freue ich mich jetzt schon.

(Und ich habe mich über eure Mails gefreut, die davon berichtet haben, dass ihr meine Archivarbeit nicht so langweilig findet, wie ich innerlich erwartet hatte. DIE IST AUCH NICHT LANGWEILIG! Seid froh, dass ich nicht wieder mit Golfspielen anfange.)

Tagebuch Donnerstag, 1. August 2019 – Sooo laaange

Sieben Stunden durchgearbeitet – und gerade eine Box mit Katalogen geschafft sowie eine mit Zeitschriften. Wimmer! Wissenschaft nervt, weil sie sooo laaange dauert! Nix war’s mit Tagebüchern einsehen von anderen Malern, erstmal muss die olle Pflicht erledigt werden – welches Bild hing wann wo, und nein, nicht nur den Papenbrock/Saure abschreiben, denn wie ich dauernd merke, sind da gerne Fehler drin, immer schön selbst in die Kataloge gucken, immer brav die Originalquelle checken, soll ja anständig werden, das Ding. Aber das dauert halt sooo laaange!

Aber immerhin waren in der Zeitschriftenkiste einige Hefte dabei, die mir wichtige Fragen beantworten konnten, deren Antworten ich in allen Büchern und Aufsätzen zur Autobahn nicht finden konnte, ha! Außerdem habe ich immerhin ein neues Bild von Herrn Protzen in Farbe gefunden, darüber freue ich mich auch immer sehr, weil ich ihn quasi nur in Schwarzweiß kenne. Es ist alles irgendwie Fusselkram, den ich erledigt habe, ich konnte gar nicht glauben, dass der Arbeitstag schon rum war, während mein knurrender Magen vermutlich den ganzen Lesesaal unterhalten hat, und ich fühlte mich danach wie dieses klassische gif. (Wie matschig mein Kopf war, merkt man daran, dass ich beim Twittern die Zeitschriftenkiste ernsthaft schon vergessen hatte. Wie ich auch jetzt beim morgendlichen Tippen schon nicht mehr genau weiß, was ich gestern alles aufgeschrieben habe.)

Abends nichts mehr gemacht, nicht fein essen gewesen, nichts im Museum angeguckt, lieber ein Sandwich vom Bahnhof sowie meinen restlichen Keksvorrat im klimatisierten Zimmer verspeist, passt schon, letzte Folge von Jane the Virgin geschaut und wie jede Folge herrlich gefunden. Die FAZ ernsthaft komplett auf dem Handy durchgelesen, also die Teile, die ich sonst komplett auf Papier lese, und ansonsten hirntot Candy Crush und andere Zeiträuber gedaddelt. Anstrengender, aber guter Tag. Jetzt bin ich so richtig schön im Nachlass-Groove, und jetzt muss ich schon wieder weg. Mpf.

Stiefkind-Adoption

MyCuppaTea und ihre Frau haben nun ein gemeinsames Kind:

„Der Vorgang ist unnötig und belastend (und durchaus auch kostenintensiv) für die ganze Familie – für das Kind ist es schließlich unbestritten nur von Vorteil, wenn es statt nur einem Elternteil von Geburt an zwei hat. Noch dazu ändert sich an der Lebenssituation ja nichts, egal ob mit oder ohne Adoption. Des Weiteren ist es höchst kritisch zu sehen, dass man in dem Prozess private/intime Details in solchem Umfang preisgeben muss. Welches heterosexuelle Paar, das ein Kind bekommt, muss dem Staat solche Einblicke in das Privatleben gewähren?“

How Phones Made the World Your Office, Like It or Not

Halt, nicht weglaufen, ist kein fieser Work-Life-Balance-Artikel, sondern einer mit herrlichen Fotos von alten Telefonen!

„History’s first call on a hand-held wireless phone was made on April 3, 1973, by a Motorola executive named Martin Cooper. Mr. Cooper had developed the phone himself and, having a cheeky streak, decided to step out onto Sixth Avenue, in Midtown Manhattan, and call his rival at Bell Laboratories to gloat a little. Can you hear me now?

Told recently that his call was a great P.R. stunt, Mr. Cooper, who turned 90 last year, said: “Remember, this was the first public call ever made and I only cared about one thing: Was the phone going to work? This thing was a handmade prototype — thousands of parts carefully wired together by an engineer, not a production guy — and there were only two in existence.”“

Tagebuch Mittwoch, 31. Juli 2019 – Immer noch Archivglück

Okay, im Vergleich zu vorgestern war das gestern etwas mühseliger, weil ich bei jeder Kiste, die ich vom Rollwägelchen mit Protzens Nachlass runternahm, dachte, kennste schon, haste schon gesehen, haste fotografiert, haste zuhause schon stundenlang drüber gebrütet. Aber wie bereits des Öfteren erwähnt, sieht man dann doch immer noch was Neues, auch wenn es nur noch kleine Details sind und keine irren Entdeckungen. Mit denen rechne ich auch nicht mehr wirklich. Meistens war ich nur damit beschäftigt, im Text Fußnoten zu ergänzen, wo bisher nur stand „Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Carl Theodor Protzen, Box ???“ und dann das betreffende Stück. Ich habe in den letzten Tagen viele Fragezeichen löschen können.

Um den Kopf ein bisschen abzulenken, bat ich um zwei Stücke aus dem riesigen Nachlass der Galerie Heinemann, der netterweise vernünftig verzeichnet ist, und konnte so noch zwei Dinge im Text ergänzen, die bisher noch mit „Originalquelle einsehen!“ markiert waren. Und nebenbei fand ich Dinge, die ich nicht auf dem Plan hatte, wie immer. (GEHT MEHR IN ARCHIVE!)

Außerdem erfuhr ich von der freundlichen Ansprechdame, dass die drei Maler, deren Nachlass ich in der Onlinesuche bei zweien als unverzeichnet interpretiert hatte, immerhin schon in Listenform aufgearbeitet waren. Ich muss also nicht selber in Kisten wühlen, um zu wissen, was Anton Leidl, Carl Otto Müller und Alwin Stützer hinterlassen haben, sondern kann erstmal ein paar DIN-A4-Seiten durchlesen. Das erbrachte leider das erwartete Ergebnis: Die Herren haben irgendwie, keine Ahnung warum, wie konnte das nur passieren, huch, große Lücken zwischen 1930 und 1950 und es finden sich nur ein paar sporadische Funde, von denen sie vermutlich ahnten, dass sie damit nicht so recht durchkommen, wenn die fehlen (Spruchkammerbögen, Ausstellungskataloge aus der NS-Zeit). Bei Herrn Stützer sind immer noch noch Tagebücher da, und genau da werde ich heute oder morgen mal reinschauen – und vorher beten, dass der Mann kein Sütterlin mehr geschrieben hat. Bei Protzen habe ich Glück, der schrieb so ein Mittelding zwischen Sütterlin und heutiger Schreibweise, das kann ich lesen.

Sehr matschig im Kopf und sehr hungrig um halb vier Feierabend gemacht. Ich arbeite durch, weil ich weiß, wie wenig Zeit ich habe, aber gestern dachte ich so gegen kurz nach drei, wärste man gegen eins auf einen Kaffee rausgegangen, dann könntest du jetzt besser denken.

Wie gut, wenn man abends mit einem charmanten Herrn zum Essen bei einem netten Italiener verabredet ist. Danach war mein Kopf auch wieder da, und so konnte ich im Hotel noch ein paar Textblöcke aufräumen. Spaßeshalber zählte ich dann mal wieder die Seiten zusammen, die ich bisher aus NICHTS, wie ich ja gerne rummeckere, zusammengekloppt habe. Ich bin dann jetzt bei 101, und ich bin immer noch nicht im Kapitel mit den Autobahnbildern. Ähem.

Tagebuch Dienstag, 30. Juli 2019 – Archivglück

Ich bin die ganze Woche in Nürnberg. Also von Dienstag bis Freitag, weil mein Liebling, das Deutsche Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum, nur von Dienstag bis Freitag geöffnet ist UND ICH NICHTS SCHAFFEN WERDE! Jedenfalls kam mir das gestern um 16 Uhr so vor – SIE SIND AUCH NUR VON 9 BIS 16 UHR GEÖFFNET –, als ich sechseinhalb Stunden durchgetippt und noch nicht mal eine Mappe des Protzen-Nachlasses vernünftig aufgearbeitet hatte.

Eigentlich möchte ich noch in drei weitere Nachlässe reingucken, aber ich ahne, dass ich nicht mal den Protzen durchbekomme, obwohl ich ihn schon dreimal eingesehen habe. Aber wie es halt so ist, Zauberei, beim vierten Mal und nach einem Jahr intensiver Recherche anderswo sieht man mehr als beim ersten, zweiten und dritten und plötzlich muss man ganz viel aufschreiben.

Nach Feierabend ausgehungert alle guten Vorsätze von Salat und Bagel und Fair-Trade-Kaffee mit Biomilch fahrenlassen und bei Mäcces gespeist. Alles richtig gemacht. Bei Aldi noch ein paar Getränke geholt und dann aus dem irrwitzig schwülen Nemberch ins menschenfreundlich kühl klimatisierte Hotel geschlichen.

Was ich gestern lernte: Wenn ihr Stress mit euren Eltern habt, schreibt um Gottes willen keine Briefe und hebt die auf und gebt die in Archive. Da sitzen sonst Jahrzehnte später Studierende mit sehr stark rollenden Augen dran! Ich meine es nur gut!

Tagebuch Sonntag, 28. Juli 2019 – Tippen statt twittern

Ausgeschlafen, dem Regen zugehört. Gefrühstückt, dem Regen zugehört.

Die Sendung mit der Maus aus Bayreuth geguckt und mich sehr über den wahren Satz „Die Sitze sind unbequem und teuer und trotzdem will da jeder hin“ gefreut.

Serien geguckt, leider nicht mehr dem Regen zugehört. Gelesen, dem Regen zugehört. Im Interweb nach Zimmerpflanzen gesucht, weil die Balkonpflanzen mich gerade nicht brauchen. Eine Verabredung für nächste Woche getroffen und vorgefreut.

Dann auf Twitter rumgelungert, im Internet rumgelesen, mich aufgeregt, fünf Replys formuliert und fünfmal gelöscht, denn wenn jemand felsenfest weiß, wie es richtig ist, ist es nutzlos, ihn oder sie davon zu überzeugen, dass da noch ein paar Grautöne in dieser Welt sind. Twitter ausgemacht und lieber in die Diss vertieft.

Das am Donnerstag durchgesehene Konvolut aus dem Lenbachhaus ausgewertet und aufgeschrieben, dabei eine alte Wohnadresse von Protzen gefunden, sie ergoogelt und festgestellt, dass der Mann mal 750 Meter Luftlinie von mir gewohnt hat. Weil ich gerade den großen Lost-Rewatch mache, hatte ich natürlich sofort schlimme Ahnungen von Schicksal und ähnlichem Quatsch. Das musste ich dann doch wieder vertwittern und bekam zur Adresse noch gute Tipps. Nebenbei noch ein Dankeschön für einen Lichterketten-Tipp für den Balkon und ein Danke für einen Blogeintrag erhalten. Doch wieder mit Twitter versöhnt gewesen.

Abends mit F. einen sehr anständigen kalifornischen Rotwein verköstigt. Zwischendurch aus Gewohnheit Twitter auf dem Handy geöffnet, nach drei Tweets wieder schlechte Laune gehabt. Twitter vom Handy geschmissen. Es ist in zwei Wochen wieder drauf, ich kenne mich ja, aber Fresse jetzt, Nerv-App, herrgottnochmal.

Tagebuch Samstag, 27. Juli 2019 – Letzte Worte

Marie Sophie Hingst ist tot. Ein Artikel über ihr Leben und ihren vermutlichen Suizid aus der Irish Times wurde gestern viel geteilt, auch von mir, und im Zuge dessen wurde auch mein Blogeintrag zum Thema von Ende Mai wieder verlinkt.

Ich ringe seit gestern mit mir, ob ich dazu noch etwas schreiben möchte. Ich mache es kurz: Ich hätte den Blogeintrag weiterhin so formuliert. Ich glaube nicht, dass der Spiegel journalistisch fahrlässig handelte, und ich glaube auch nicht, dass der Artikel in der Times irgendwie besser oder menschlicher mit ihr umgegangen ist, was gestern auf Twitter einige Male geäußert wurde. Der Holocaust und seine Leugnung sind in Irland vermutlich kein Thema mit einem ähnlichen Wichtigkeitsgrad wie in Deutschland, daher ist es einfach zu sagen, nee, bringen wir nicht. Ich bin nicht froh über die Offenlegung des Lügengebäudes, aber sie war meiner Meinung nach richtig. Und natürlich bin ich traurig darüber, dass Hingst anscheinend nicht die Hilfe bekam oder diese annehmen konnte, von der ich hoffte, sie wäre möglich. Es gibt keinen Schuldigen bei diesem Ausgang, es gibt nur eine Biografie, die vielleicht von einer Krankheit bestimmt wurde, das kann ich nicht beurteilen, die ein Ende gefunden hat. Vermutlich weniger selbstbestimmt als ich hoffte, und auch darüber bin ich traurig.

Tagebuch Freitag, 26. Juli 2019 – 200 Seiten weniger

Morgens als erstes der Blick auf den Router, wo in den letzten beiden Tagen nur drei klägliche Lichtlein blinkten statt fünf. Gestern morgen: VOLLE POWER! ICH HABE MEIN INTERNET WIEDER! Sofort den Tannhäuser-Stream angeworfen, nicht im Word-Dok vorgebloggt, sondern gleich mutig in der WordPress-Oberfläche im Browser, sehr lang und ausführlich aufgeschrieben, wie ich die Aufführung fand. Nochmal hach!

Den Vormittag dann am Schreibtisch verbracht, um den abendlichen Gesprächstermin mit dem Doktorvater vorzubereiten. Nochmal brav über alles gegangen, was mir wichtig war, Notizen für Fragen gemacht, was man halt so tut. (Das ist übrigens fast ein Bildtitel von Protzen: Was man so alles tut (Selbstportrait) (1929, Werkverzeichnis 198, 130 x 82 cm). Holt mich hier raus.)

Reisevorbereitungen getroffen, denn demnächst geht’s nach Nürnberg ins Kunstarchiv. Mal wieder nicht rechtzeitig die FAZ von Papierlieferung auf digitale Ausgabe umgestellt bekommen; vielleicht freut sich der Blumengießdienst über das Exemplar.

Zu heiß für ernsthafte Diss-Arbeit, den Lost-Rewatch weiterbetrieben, neue Folgen von Younger und Jane the Virgin geguckt. Rumgelegen, geschwitzt und mich auf das kühlere Wochenende gefreut, an dem ich wieder denken kann.

Gegen 16 Uhr dann doch in die Scheißhitze gegangen, wenigstens im knallpinken Shirt. Macht überhaupt nicht schlank, aber dafür gute Laune.

Der Doktorvater war mit dem vorherigen Termin noch nicht fertig, das ist er nie, das ist in Ordnung. Ich bekam den üblichen Kaffee angeboten, den ich wie üblich ablehnte, dann wurde kurz nach der Finanzierung meines Lebens gefragt; nein, ich will immer noch kein Stipendium, dann darf ich nämlich nicht mehr arbeiten, und das ist in meiner Branche dann doch etwas einträglicher als das geschenkte Geld. Wenn mich mal jemand wieder buchen würde, ähem. Letzteres lässt mich manchmal nachts nicht gut schlafen, aber in meinem Kopf reichen die Ersparnisse bis zur Abgabe, und danach sehen wir weiter. Und wenn mich niemand bucht, kann ich halt ungestört promovieren. Hat alles Vor- und Nachteile. (Will trotzdem besser schlafen.)

Meine vorab brav geschickte vierseitige Gliederung mit den bisherigen Erkenntnisgewinnen – bzw. einem winzigen Ausschnitten davon – hatte Papa natürlich noch nicht gelesen, also taten wir das jetzt gemeinsam. Hier eine Nachfrage, da eine Anmerkung – „Sie wühlen ja immer recht gründlich“ –, dann, auch wie immer, irrwitzige Hinweise auf Archivbestände, von denen ich noch nie gehört hatte, und Personen, die ich mal anmailen sollte. Tipps für den Umgang mit Archivar*innen: „Immer sagen, was Sie schon kennen, das macht einen guten Eindruck, dann sieht das nicht so aus, als sollte das Archiv die Arbeit für Sie machen.“ „Bei dem Herrn eine Mail schicken und erst frühestens nach drei Wochen nochmal nachfragen. Der hasst es, wenn er sich gedrängt fühlt, weiß aber alles.“ „Die Dame freut sich total, wenn man sie was fragt, in dem Archiv ist nie jemand.“ „Wenn Sie gut in Bibliotheken arbeiten können, nehmen Sie die vom Deutschen Museum. Da stehen Zeitschriften, von denen Sie nicht mal wissen, dass sie existieren, und der Lesesaal ist nie so voll wie in der Stabi.“ Gerade auf letzteres freue ich mich seit Wochen, denn ich beginne ja gerade das Autobahnkapitel, für das ich bergeweise technische Zeitschriften wälzen will.

Ich erwähnte es hier vermutlich schon mehrfach: Meine Diss besteht aus zwei Teilen, zuerst die Aufarbeitung von Protzen und anschließend seine Rezeptionsgeschichte nach 1945. Die wollte ich eigentlich an den drei großen Ausstellungen von systemkonformer Kunst des NS aufbereiten: Dokumente der Unterwerfung (Frankfurt 1974), Aufstieg und Fall der Moderne (Weimar 1999) und Artige Kunst (Bochum, Rostock, Regensburg 2017). Dafür wollte ich nachvollziehen, wie die endgültige Bildauswahl zustandegekommen ist, also: Warum hängt da eben Protzen als teilweise einziger Vertreter von Autobahnmalerei und niemand sonst? Um diese Ausstellungen herum wollte ich die kunsthistorischen Diskurse der Zeit aufarbeiten: Wie ging und geht unser Fach mit dieser Kunst um? Spoiler: Wir haben uns noch nicht festgelegt, ob das jetzt überhaupt Kunst ist, und wenn ja, ob man sie zeigen sollte, und wenn ja, wie genau.

Diesen Teil der Diss hatten wir bisher nur theoretisch durchgesprochen. Jetzt in der ausführlichen Gliederung, wo ich mein Vorhaben mal ordentlich niedergeschrieben hatte, meinte der Herr Doktorvater für mich etwas überraschend: „Von den Kapiteln Frankfurt, Weimar und Bochum ist im Prinzip jedes eine eigene Diss.“ Und in dem Moment, in dem er das sagte, war mir das auch klar. „Bei wie vielen Seiten sind Sie denn jetzt? 70? Das ist in Ordnung. Rechnen Sie das mal hoch mit den noch ausstehenden Protzen-Kapiteln … und dann die nach 45 dazu. Dann sind Sie bei 600 Seiten. Das können Sie natürlich machen. Es ist nur die Frage, ob Sie das machen müssen.“ Äh. Ja. Hmpf.

Die Kapitel, die ich bisher habe, sind eher die kürzeren zum Herrn, die anderen werden garantiert länger. Daher diskutierten wir schließlich, wie ich mich um die Ausführlichkeit der Rezeptionsgeschichte rumdrücken kann, ohne meinen Punkt zu verlieren, den ich machen will, nämlich den, dass es auch noch andere Kandidaten für die Ausstellungen gegeben hätte, wir uns in unserem Fach aber seit 1974 auf ein Konvolut an Bildern beschränkt haben, das jetzt als beispielhafte NS-Kunst gilt, fertig, da müssen wir nicht mehr drüber nachdenken. Aber genau das mache ich jetzt eben. Mein Lieblingsbeispiel ist die Kalenberger Bauernfamilie von Adolf Wissel, die ich als eher als noch latent neusachlich denn als fiese Blut-und-Boden-Ideologie wahrnehme, aber das ist eben auch eins der Bilder, das überhaupt nicht mehr hinterfragt wird. Einmal Nazischeiß, immer Nazischeiß.

Wir sind jetzt so verblieben, dass ich erstmal den Protzen-Teil fertigstelle, was ja eh mein Plan gewesen ist, und mir währenddessen vermutlich eh klar wird, wie ich mit seiner Rezeption umgehe. Denn die ergibt sich schließlich auch aus seiner Wahrnehmung während der NS-Zeit, und die muss ich erstmal anständig aufarbeiten. Aber es klingt so, als wäre meine Arbeit gerade um 200 Seiten kürzer geworden. Yay?

Nach dem Heimweg nur noch ermattet rumgelegen, einen riesigen Obstsalat gegessen, ein Kilo Eiswürfel in Softdrinks geschmissen, vor dem Ventilator eingeschlafen.

Was schön war, Donnerstag, 25. Juli 2019 – „Tannhäuser“-Livestream

Morgens hoffnungsvoll aufgewacht – und sogleich enttäuscht worden. Das Internet funktionierte immer noch nicht. Aber mit meinem 24-Stunden-unbegrenzt-Gigabyte-runterschaufeln-Pass konnte ich tethern und bloggen.

Um kurz vor 10 saß ich in einem perfekt klimatisierten Bus, um mich zum Museum Brandhorst shutteln zu lassen. Dort wartete eine Fotografin der Süddeutschen auf uns Fehlfarben-Bunnys, um uns für den demnächst erscheinenden Artikel abzulichten. Mit Profis arbeiten ist toll: In einer Viertelstunde waren wir fertig.

Vorher gab es per Gruppen-DM ein paar Diskussionen zur Kleiderfrage: Shirts, Hemd/Bluse, Polos … F. meinte, dass es gut wäre, wenn wir das einheitlich machten, woraufhin ich meinte, warum das denn, wir sind doch nicht Kraftwerk. Also sehen wir auf dem Foto so aus, wie wir halt aussehen: F. im Bandshirt, Florian und ich im Nicht-Band-Shirt. Auch unsere offensive Schüchternheit, mit einer Fotografin zu arbeiten, die schon diverse bekannte Menschen vor der Kamera hatte, war unbegründet. (Meine Hochachtung dafür, Bret Easton Ellis wie das Man Child aussehen zu lassen, das er ist.)

Danach raffte ich mich noch zur Packstation auf, das Buch im Abholfach der Stabi wird da aber wohl liegenbleiben. Jeder Gang, der gerade nicht sein muss, fällt aus, sorry, Stabi.

Nachmittags hatte ich noch einen vor mir, auf den ich mich aber freute, denn er fand in der Klimakammer aka dem Vorlageraum des Lenbachhauses statt, wo ich zum dritten und vorerst letzten Mal in der Protzen-Mappe blättern durfte. Ich war nämlich bei zwischenzeitigen Recherchen (DAS HÖRT JA NIE AUF!) auf Dinge gestoßen, die mir die These ermöglichen, dass ein paar der dortigen Werke diejenigen sind, die Protzen zwischen 1927 und 1931, dem Jahr des Glaspalastbrandes, an eben diesem Ort ausstellte. Gestern suchte ich die betreffenden Werke noch einmal zusammen, fotografierte sie anständig, die Kuratorin half mir beim Vermessen – habe ich das auch mal gelernt – und ich behaupte jetzt, alle seine Grafiken von immerhin 1927 und 1929 nachweisen zu können.

Schnell wieder in die mit geschätzt 25 Grad geradezu kühle Wohnung, denn fünf Minuten, nachdem ich zuhause ankam, begann der Livestream von den Bayreuther Festspielen. Es gab den Tannhäuser, den ich gerade erst am Dienstag auf der Generalprobe gesehen hatte. Den Stream könnt ihr übrigens immer noch sehen. Macht das mal, bitte. Lohnt sich.

Der Tannhäuser erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann. Die beiden Damen bilden den beknackten Gegensatz Hure (Venus) und Heilige (Elisabeth) ab, und eigentlich kann man den Stoff echt nicht mehr ertragen. Den Gegensatz kann man auch in modernen Inszenierungen nie ganz wegdeuten, aber man kann ihn besser verpacken, und meiner Meinung nach hat das hier hervorragend geklappt.

Während der Ouvertüre beginnt schon eine Videosequenz, die klarmacht, dass wir heute nicht nur auf eine bespielte Bühne gucken, sondern noch eine zweite Ebene haben. Zuerst im Bild: die Wartburg, auf der der Sängerwettstreit stattfindet. Dann epische Drohnenflüge über den doitschen Wald, wo ich schon unangenehm zusammenzuckte, weil das offensichtlich Schöne ja gerne einen doppelten Boden hat. Hier kommt irgendwann ein Citroen HY ins Bild – mit einem gelben Hasen aus dem beknackten Schlingensief-Parsifal auf dem Dach –, der dann an einem Hinweisschild auf eine Biogas-Anlage vorbeifährt, an das ein Mann das Schild „Mangels Nachfrage geschlossen“ klebt. Das war natürlich eine kleine Spitze gegen den vorherigen Tannhäuser in Bayreuth, der in einer solchen Anlage gespielt wurde und der, soweit ich mich erinnere, großflächig bei Kritik und Publikum durchgefallen war. Ab diesem kleinen Scherz hatte mich die Inszenierung fest in der Tasche.

An Bord des Transporters: Tannhäuser im Clownskostüm, Venus im schwarzen Glitzeranzug und vermutlich zum ersten Mal in einem Tannhäuser die schwarze Dragqueen Le Gateau Chocolat sowie Manni Laudenbach als Oskar Matzerath. Die vier bilden das anarchische Quartett, das auf Regeln in der Kunst pfeift und macht, was es will. Das Video zeigt aber auch, dass sie sich dabei an wirklich keine gesellschaftlich gesetzte Regel halten: Bei einem Überfall auf einen Burger King wird ein Wachmann überfahren, der sich dem Transporter in den Weg stellt. Tannhäuser hadert hier also im ersten Akt nicht damit, dass er die fleischliche Lust im Venusberg irgendwie über hat, sondern damit, wie weit er für seine Kunst gehen will – und wie weit eben nicht. Im Video sieht man ihn nachdenklich im Transporter sitzen, im Hintergrund das Gesicht von Botticellis Venus deutlich im Bild, was mich die ganze Generalprobe irritiert hat, weil ich die Dame nicht mit der Venus vor mir auf der Bühne zusammenbekommen habe.

Der erste Teil des ersten Akts findet auf einem Rastplatz statt, wo erstmal die erbeuteten Burger ausgepackt werden und Tannhäuser rumhadern darf, während er sich seiner orangefarbenen Clownsperücke entledigt. Venus hat daraufhin irgendwann die Schnauze voll, der Mann jammert immer, dass sein Heil in Maria liegt (also der hohen Kunst und nicht diesem anarchischen Trash), dann soll er doch gehen, er fliegt aus der Band – und findet sich vor dem Festspielhaus wieder. Im Hintergrund ist das unverkennbare Gebäude zu sehen, der Vordergrund ist die Straße, die während der Festspielzeit mit einer rot-weißen Begrenzung abgesperrt ist – und selbstverständlich war auch die da. Auch wegen solcher kleinen Details fand ich das Bühnenbild ausgezeichnet. Der junge Hirte ist hier eine Radlerin, natürlich mit Fahrradklammer ums Hosenbein, wie sich das gehört, und die Pilger, die sonst von der Wartburg kommen – „Zu dir wall’ ich, mein Jesus Christ / der du des Pilgers Hoffnung bist!“ – sind hier, großartig, Festspielbesucher*innen in Abendroben und Anzügen, die auf Kommando gleichzeitig mit ihren Programmen und Eintrittskarten rumfächern, denn auf dem Hügel ist es bekanntlich immer zu heiß. Sie pilgern zu ihrem Heiland, dem Herrn Wagner, der in ihren Augen unantastbar ist, weswegen in Bayreuth auch immer gebuht wird, ganz egal, was vorne passiert. Der Wagnerianer an sich findet erstmal alles scheiße, was nicht so aussieht als hätte Ritchie es selbst inszeniert. F. als jemand, dem ich das nie erklären konnte, fand sich ganz in seinem Element, und auch deswegen bin ich im Nachhinein so froh, dass es ausgerechnet diese Inszenierung war, die er als erste in Bayreuth zu sehen bekam.

Die Ritter, mit denen Tannhäuser sich verkracht hatte, sind Festspielmitarbeiter, stilecht mit Lanyard und Ausweis um den Hals und teilweise in biederen Kostümen. Tannhäuser zieht seine alte, grüne Edition-Peters-Partitur aus dem Reisesäckchen, will wieder ernsthafte Kunst machen und keine Drag-Revuen, was die Ritter freut, Elisabeth, in Sneakers und Bademantel, anscheinend kurz mal aus der Künstlerinnengarderobe auf ne Zigarette draußen, sieht Tannhäuser – und ohrfeigt ihn. Endlich kriegt der Blödmann mal eine geknallt, darauf habe ich so lange gewartet! Akt zuende, Vorhang, Freude im Publikum bzw. auf dem Sofa bzw. meiner Twitter-Blase.

Der zweite Akt wurde dann noch besser. Hier ist die Bühne größtenteils zweigeteilt: Unten ist eine Art Guckkastenbühne, mit Neonröhren umfasst, auf der eine altmodische Tannhäuser-Inszenierung gegeben wird, während in der obereren Hälfte meist ein Video läuft, das Szenen hinter der Bühne bzw. rund um das Festspielhaus zeigt. Die Bühne auf der Bühne und ihre Mitwirkenden sehen genauso aus, wie ewiggestrige Wagnerianer vermutlich gerne mal wieder einen Tannhäuser sehen wollen würden: In der großen Halle stehen klobige Möbel, ein güldener Kronleuchter hängt rum, die Architektur ist ein unauffälliger Zwitter zwischen Romanik und Renaissance, alles hübsch aufgeräumt. Die Kostüme sind ebenso ordentlich und herrschaftlich: dunkelblau und gold, während Elisabeth mit Krönchen und langem Gewand aussieht wie Uta von Naumburg. Haben wir also alle Stilepochen beieinander, bevor mit dem Barock alle irre wurden.

Auf der Bühne geht die Aufführung brav vor sich, während im Video zu sehen ist, wie Venus, Le Gateau Chocolat und Oskarchen ins Festspielhaus einbrechen und ein Banner mit dem Wagner-Motto „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“ vom Balkon hängen, auf dem die Bläser in der Pause immer das Ende derselben anzeigen, indem sie ein Motiv aus dem nun folgenden Satz spielen. Regisseur Tobias Kratzer geht es also vermutlich nicht nur generell um den ewigen Streit zwischen E und U, sondern er erinnert auch daran, dass Wagner selbst mit seiner Richtung haderte. Nicht umsonst gelten der Holländer, Tannhäuser und Lohengrin heute noch als eher klassisch-romantische Opern, während er mit dem Ring, Tristan und Isolde sowie Parsifal die Opernwelt revolutionierte. Auch er war also ein Wandler zwischen den angeblich feindlichen Welten. Je länger ich über die Inszenierung nachdenke, desto besser und schlüssiger finde ich sie.

Zurück zu unserer Chaos-Truppe, die sich nun ihren Weg durchs Festspielhaus bahnt. Wir sehen die Besuchergarderoben, die Erinnerungstafel an die Uraufführung vom Ring, alles nett für Festspielbesucher*innen, weil man sich halt wiederfindet. Dann geht’s hinter die Kulissen, wo in der Generalprobe sehr laut gelacht wurde, im Stream habe ich es nicht so auffällig wahrgenommen: In der Fotogalerie der ganzen Dirigenten (hat schon mal eine Frau auf dem Hügel dirigiert?) bleibt der Blick von Le Gateau Chocolat bzw. der Kamera einen Hauch länger als nötig auf dem Bild von Christian Thielemann, dem Musikdirektor der Festspiele.

Dann ein schöner Kniff, auch einer, der mir total logisch vorkam: Venus überfällt eine Dame, die einen Edelknaben singt, zieht sich ihr Kostüm an und sitzt nun mit im Saal, wo Tannhäuser mit anderen Rittern um die Gunst von Elisabeth singt – was Venus völlig zu recht entgeistert mimisch kommentiert. Elena Zhidkova hat ein großartiges komödiantisches Timing, ich habe sie sehr genossen. Wie gesagt, völlig logisch, dass Venus nicht fassen kann, was hier stattfindet, und ich fand es sehr schön, eine Art Bundesgenossin vor der Nase zu haben und mich nicht nur alleine zu fragen, warum Elisabeth dieses Spiel mitspielt. Sie ist hier netterweise mehr als nur die keusche Jungfrau, die sich schließlich für ihren Kerl opfert (Augenrollen, immer!), sondern vielschichter. Sie hat sich ihr Korsett aus Verpflichtungen und Maßstäben vielleicht sogar selbst ausgesucht, aber es schwingt immer mit, dass dieses Korsett eins der Männergesellschaft ist, in der sie sich bewegt. Sie spielt so gut mit, wie es geht, aber spätestens im dritten Akt geht es eben nicht mehr.

Ich mochte am zweiten Akt diese Doppelbödigkeit, dieses Aufrechterhalten des, im wahrsten Sinne, schönen Scheins, der da gülden aus dem Guckkasten kommt. Die Videos waren willkommener Comic Relief, aber bis auf wenige Ausnahmen hatte ich nie das Gefühl, dass das Regiekonzept das Ursprungsmaterial übertüncht. Beim ewig langen Einmarsch der Edlen zum Beispiel wurde die Guckkastenbühne ganz von der Leinwand überdeckt, es gab nur noch ein Video zu sehen. Das war einerseits nett, weil diese Szene schlicht schnarchig ist, aber ich musste mich selbst zwischendurch daran erinnern, dass ich hier keinem Film mit hübschem Soundtrack zugucke, sondern einer Theateraufführung.

Der Akt endet damit, dass im Video Festspielchefin Katharina Wagner die Polizei ruft, die dann auch den Grünen Hügel rauffährt – und ich hatte fast damit gerechnet, dass in der Pause noch ein Polizeiwagen vor dem Haus steht. Das war nicht der Fall, aber das gehisste Banner hing wirklich draußen. Im Saal auf der Guckkastenbühne Tumulte, Venus hat sich zu erkennen gegeben, als Tannhäuser klar geworden war, dass ihm die hohe Kultur genauso auf den Zeiger geht wie vorher die Anarchie. Oskarchen trommelt zum Weltuntergang, Le Gateau Chocolat wirft eine Regenbogenflagge über die goldene, natürlich, goldene Harfe, auf der vorher die Sänger begleitet wurden, Tannhäuser wird abgeführt, Vorhang, Applaus.

Mit dem dritten Akt habe ich direkt nach der Probe etwas gehadert, der erschloss sich mir nicht sofort. Gestern im Livestream passte dann aber auf einmal alles. Die Bühne ist dunkel und abgewrackt, der Transporter nur noch Schrott, Oskar kocht sich Suppe in seiner Trommel – und bietet der umherirrenden Elisabeth, die seit Jahren Tannhäuser sucht, mildtätig und mitleidig etwas davon an. Sie nimmt dankbar an. Wolfram, der Elisabeth bisher erfolglos und keusch aus der Ferne angeschmachtet hat – das wurde auch im zweiten Akt schön im Video eingefangen, auch Tannhäusers Augenrollen über seine blutleere Verehrung im Gesang – nähert sich, tröstet, ist halt der Kumpel, den man manchmal echt nicht braucht. Mein geliebter Pilgerchor besteht aus Obdachlosen, die die Bühne nun von allem noch verwertbaren Schrott befreien und sie quasi leeräumen. Auch Oskars Trommel ist weg, das Kapitel ist zuende. Tannhäuser war nicht zwischen den Pilgern, Elisabeths letzte Hoffnung ist dahin. Und dann kam die Szene, bei der mich die Inszenierung dann endgültig hatte: Wolfram zieht sich Tannhäusers Clownskostüm an, setzt die Perücke auf – und Elisabeth bittet ihn zu sich in den Transporter, wo sie miteinander schlafen. Wolframs Lied an den Abendstern, der olle keusche Schmachtfetzen, war auf einmal traurig und nicht mehr sehnend, und Elisabeths letzter Versuch, in ihrem beschissenen Korsett zu funktionieren, hat auch nicht geklappt. Zum ersten Mal hat ihr anschließender Selbstmord für mich Sinn ergeben, weil es mehr war als die selbstlose Aufopferung, sondern ein aktives Zerbrechen und ein ebenso aktiver Rückzug aus einem Leben, das schlicht nicht ihres ist.

Ab da wollte ich dann eh nur noch, dass alles vorbei ist. Die Rom-Erzählung von Tannhäuser ist mir meist egal, so auch hier, aber immerhin ein schönes Detail: Wenn er vom „grünen Stab“ singt, dann hat er dabei die zusammengerollte Partitur in der Hand, was mal wieder passt. Es passt überhaupt fast alles, eine wirklich tolle Inszenierung. Nur das Ende ist mir beim zweiten Mal ein bisschen schief aufgestoßen: Im Video fahren Tannhäuser und Elisabeth glücklich im Transporter in den Sonnenuntergang. Fand ich beim ersten Mal schlüssig, aber gestern dachte ich plötzlich: wieso ist das das Happy-End? Ist es doch gar nicht, die beiden passen offensichtlich nicht zusammen. Wieso fahren nicht Elisabeth und Venus zusammen weg und machen ihr eigenes Ding, bis Tannhäuser und seine Ritterjungs sich mal klarkriegen? Denn gestern fiel mir nämlich auf, wie ähnlich Elisabeth im dritten Akt mit ihren offenen Haaren der Botticelli-Venus ähnelt. Und da war der schöne Bogen zum Anfang, und ich klatschte sinnlos in Richtung Macbook.

Also nochmal: Stream angucken. Während ich das hier alles verbloggt habe, lief der im Hintergrund, weswegen ich auch weiß, dass dieser Eintrag gute anderthalb Stunden gedauert hat. Nur so als Hinweis Zwinkersmiley.

Hach! Oper! HACH! Ich guck den Stream jetzt einfach zuende.

Was schön war, Freitag, 19., bis Mittwoch, 24. Juli 2019 – Dritte Liga (Würzburg), Interview (München), Generalprobe (BAYREUTH!)

Am Freitag erfolgreich weiter an der Diss gearbeitet. Jetzt, fünf Tage später, habe ich schon wieder keine Ahnung mehr, was ich geschrieben habe.

Am Samstag fuhren F. und ich nach Würzburg. Eigentlich wollte nur der Herr fahren, um sich die Bayern-Amateure bei ihrem ersten Drittligaspiel nach erfolgreichem Aufstieg anzuschauen, aber wir haben ein lauschiges Pärchen-Wochenende daraus gemacht, weil gemeinsame Urlaube gerade aus Gründen etwas schwierig sind.

Ereignislose und pünktliche Zugfahrt, Umstieg in Nürnberg, ich winkte dem Kunstarchiv zu, das man zwar von der Bahnstrecke aus nicht sehen kann, aber ich weiß, es ist da, my precious.

In Würzburg dann in die Tram gestiegen, die direkt vor dem Hauptbahnhof hält und bis fast vor die Hoteltür geshuttelt, genau wie ich es mag. Und ähnlich nett ging es weiter: Das Hotel hatte uns ein Upgrade gegeben, warum auch immer, und so durften wir im sehr neuen Hoteltrakt nächtigen. Statt in einem Zimmers eines Betriebs, der sich angeblich seit 1408 um Gäste kümmert, schliefen wir im Neubau, der quasi erst vor fünf Minuten fertiggestrichen wurde. So roch es jedenfalls. Das war aber auch das einzige, an dem wir etwas zu meckern hatten. Okay, die fehlenden Handtuchhaken, die die Handwerker vergessen hatten, wie die plauderige Dame an der Rezeption meinte. Und der Bewegungsmelder, der den Fußboden zum Bad schon eifrig beleuchtete, wenn ich mich im Bett umdrehte. Aber das war’s dann wirklich. Ich meine: der Ausblick alleine! Und: eine Klimaanlage, die lautlos alles auf gefühlte 14 Grad runterkühlte. Es waren vermutlich 23, aber irgendwann kroch ich ernsthaft unter die Bettdecke, weil es einen Hauch zu frisch wurde. Große Liebe.

Außerdem gab’s einen Obstteller und Wasser und einen kleinen Bocksbeutel und einen Blumenstrauß, den ich wirklich gerne mitgenommen hätte, und dann dieses Zeug, aus dem F. kaum wieder seine Füße nehmen wollte. Also aus denen, auf denen sein Name stand.

Ansonsten hatte ich persönlich noch nie soviel Platz in einem Hotel; das Bad alleine war so groß wie ein gesamtes Zimmer im Motel One. Und die Regendusche machte mich sehr glücklich, als wir nach drei Stunden in praller Sonne vom Fußball wiederkamen. Den Preis, den das Zimmer normal kosten würde, würde ich dafür zwar nicht zahlen wollen, aber quasi geschenkt – gerne wieder. Der Rest vom Laden war auch äußerst nett (Menschen) oder lecker (Frühstück).

Gerade erwähnt: drei Stunden in praller Sonne. Das war nicht so meins, und die Amas sind mir eigentlich auch egal und das Spiel war eher mies, aber das Stadion der Würzburger Kickers war wirklich nett. Da passen, soweit ich weiß, ungefähr 10.000 Leute rein und das ist eine Größe, die mir sehr sympathisch war. Der Stadionsprecher war allerdings pure Hysterie. Ich weiß, das gehört zum Berufsbild, dass jedes Tor und jede Mannschaftsaufstellung und jeder Wechsel gefeiert wird wie die Heilung von Krebs, aber das hier war wirklich eine Nuance zu viel. (Und der Sprecher bei den Bayern-Damen drei Nuancen zu wenig, aber das nur nebenbei.)

Wir wurden stets ermahnt, viel zu trinken und das hätte ich auch gerne gemacht, aber die beiden rührend kleinen Getränkeausgaben füllten jeden Becher ernsthaft erst nach Bestellung. In den größeren Stadien stehen batterienweise fertige Becher rum, so dass nur jemand zugreifen muss, und viele Stadien haben auch Bezahlkarten, womit das leidige Geldwechseln entfällt. Hier nicht, was ich als Gast auch okay fand, dass ich keine Karte brauchte, aber meine Güte, hat das alles gedauert. Ich hatte vor dem Spiel einen halben Liter getrunken und habe es nicht mal bis zur Halbzeitpause ausgehalten, den nächsten zu holen. Das dauerte ungefähr eine Viertelstunde, danach ließ mich F. von seinem Getränk nippen, weil die Schlange am Stand immer länger wurde. Ich hoffte ein bisschen auf einen Wasserschlauch in den Gästeblock, der aber leider nicht kam. Wäre bei 34 Grad vielleicht eine Idee gewesen.

Deswegen saß ich in der zweiten Halbzeit auch fast nur noch stumm und still rum und fächerte mir Luft zu, weil ich Angst um meinen Kreislauf hatte. Der hielt, aber das mache ich vermutlich nicht nochmal. Aber hey, meine erste Auswärtsfahrt! Und mein erstes Drittligaspiel!

Abends gönnten wir uns im Hotelrestaurant Kuno 1408 ein schönes fränkisches Menü plus regionaler Weinbegleitung. Ich hatte schon nach den Küchengrüßen keine Lust mehr zu fotografieren, weil ich einfach nur dasitzen und zufrieden sein wollte, daher sind die Bilder danach von F.

Aber meinen freundlichen Sitznachbarn konnte ich noch knipsen. Nächstes Mal möchte ich den Tisch, an dem der Panda saß. (Fragt mich nicht, ich habe keine Ahnung, warum da Stofftiere waren.)

Die Reinkommer: eine tolle Kartoffelkrokette, ein knuspriger Keks, ein fruchtiges Gelee, das sich mir nicht ganz erschlossen hat.

Der erste Gang war gleich mein Liebling des Abends: Forellentatar und Forellenkaviar, dazu eine Honigsenfsauce, in der eingelegte Dillstängel steckten, dazu Selleriefond. Normalerweise ist Anis nicht so meins und Dill auch nur in kleinen Dosen, aber das war alles perfekt. Frisch und zart und trotzdem voller Tiefe, hier ein bisschen Süße, hier was Saures, ach, herrlich, hätte ich mich reinlegen können.

Auch toll: eine Kohlrabischeibe, ungeschält, wie ich interessiert feststellte, mit Spargel drin, Radieschen, Kartoffelschaum, irgendwas Knusprigem obendrauf und dann leider einem Hauch zu viel Bacon in der Mayonnaise bzw. als Bröckchen. Ich weiß, Speck geht immer und mit allem, aber hier hätte ich mir die Souveränität gewünscht, das ganze vegetarisch zu lassen.

Nochmal toll: Kaninchen. Ewig nicht mehr gegessen, sollte ich eventuell öfter machen. Unten im äußerst formschönen Teller lag ein hohler Semmelknödel, der mit Blumenkohlpüree gefüllt war. Darauf dann zwei Sorten vom Fleisch, zwischen denen ein Crisp lag – ich tippe auf Pastinake, bin mir aber nicht sicher –, worauf noch ein bisschen Senfeis balancierte. Das happste man einfach so weg (F.) oder ließ es in die Sauce fallen (ich). Auch der Gang war überraschend süß, aber ich mochte ihn sehr gern.

(Memo to me: F. sagen, er möge bei Essensbildern immer, haha, Fleisch dranlassen, also großzügig mit Umgebung fotografieren, damit ich das Bild gerade zum Horizont ausrichten kann, ohne das Gericht beschneiden zu müssen. Hier ist nix ausgerichtet, weil dann das Eis nicht mehr im Bild gewesen wäre.)

Und dann kam leider für mich ein Totalausfall. Ich habe noch in keinem Sterneladen bisher einen Gang gehabt, den ich so gar nicht mochte, aber der hier war es. Zum geflämmten Zander gab es unter anderem eingelegte Gurke, Dörrtrauben, Hirsesalat und ein Ziegenkäsesößchen. Mag ich in Einzelteilen alles gern, aber das ging gar nicht zusammen. Den Zander fand ich langweilig, die Gurken undefiniert, die Trauben viel zu süß und ich wusste nicht, was sie auf dem Teller sollen, die Hirse schmeckte gammelig, der Ziegenkäse ließ endgültig alles ins Unangenehme kippen, und ich fand es doof, dass ich mir alles von zwei Tellern zusammenbasteln musste.


Der mummelige Kondensmilchflan mit dem herrlich frischen Erdbeerlimesorbet konnte mich auch nur halb wieder glücklich machen, denn unter der gewöhnungsbedürftigen Gewürzsahne lag fies saurer Rhabarber. Auch eigentlich etwas, das ich mag, aber auch hier war es die Kombi, die mich etwas unzufrieden zurückließ. Aber: frittierter Rucola! Grandios.

Die Petit Fours waren dann wieder gut. Nougatcreme auf eine Platte zu schmieren, durch die man mit dem Löffel durchfährt, fand ich super. Auch das Brot zum Mahl war gut, die Weine waren nett, der Käse war gut, jajaja. Aber ich hadere immer noch mit dem ollen Zander.

Als Absacker einen Sauerkirschbrand, dann lange und gut geschlafen.

Den Sonntag verbrachten wir Würzburg-Touri-gerecht zunächst in der Residenz, wo ich wieder eine Powerpoint-Folie aus einer Univorlesung abhaken konnte: das Treppenhaus mit dem Deckengemälde von Tiepolo habe ich jetzt auch gesehen und war angemessen beeindruckt. Ansonsten werden Barock und ich keine Freundinnen mehr, und wir durchstreiften die ganzen Prachträume recht schnell, bevor wir uns in den Garten setzten, schön geschützt unter Bäumen, denn es begann zu nieseln, und Leute stellten sich stilvoll unter.

Danach shuttelten wir mit der Kulturlinie 9, kleiner Tipp für euch, von der Residenz zur Festung hoch. Dort knipsten wir nur den Ausblick auf die Stadt, weil es wieder über 30 Grad heiß war, ich matschig und im Prinzip auch nur mit Eincremen und der Sonne ausweichen beschäftigt war. Im Biergärtchen ein Radler getrunken.

Im in der Festung gelegenen Frankenmuseum sahen wir dann eine Ausstellung, die wir auch in München hätten sehen können, aber mei: Sieben Kisten mit jüdischem Material. Von Raub und Wiederentdeckung 1938 bis heute. Ich musste an die Tagung zur Provenienzforschung denken, wo genau über diese Judaica gesprochen wurde (vorletzter Absatz), die seit Jahrzehnten in deutschen Museen rumliegen, weil keiner so genau weiß, wo sie herkommen. Ich fand die Ausstellung sehr unaufgeregt präsentiert, gut betextet, schön aufbereitet, kein unnötiges Pathos, aber viele Infos.

Ich bin nur im englischen Text, der neben dem deutschen auf den Tafeln stand, über das Wort „Kristallnacht“ gestolpert. Ich kannte „night of broken glass“, hätte aber auch gedacht, dass diese Begriffe inzwischen unüblich geworden sind, so wie wir heute ja auch „Novemberpogrome“ sagen, um das Verniedlichende aus dem Begriff bzw. dem Ereignis zu bekommen. Lustigerweise las ich einen Tag später im New Yorker in einem Artikel, in dem das Stuttgarter Museum erwähnt wird, genau darüber: „There was a small display with three cut-crystal goblets. “Pogrom of November 9, 1938,” the caption said, using the Russian word in place of the more familiar Kristallnacht.“ Scheint also im Englischen weiter benutzt zu werden, das letzte Wort.

Die Kulturlinie wieder zur Residenz gefahren, in einem Restaurant, was zwischen dort und dem Hotel lag, in dem noch unsere Koffer standen, was gegessen und weitergeschwitzt und gefächelt, aber ich zählte innerlich schon die Minuten, bis ich endlich wieder zuhause war. Das ist einfach nicht mein Wetter, dieses über 30 Grad, und ich wusste, wir sitzen noch zwei Stunden im Zug und ausnahmsweise auch nur in der zweiten Klasse, weil das Kuno teuer genug gewesen war. So litt ich vor mich hin, vergnatzte den armen F. mit meinem offensiven Rumleiden, und wir kamen beide nach einem eigentlich schönen Wochenende schlecht gelaunt in München an.

Montag hatten wir uns aber schon wieder zusammengerauft. Den Vormittag verbrachte ich mit Rumliegen, ich war immer noch fertig, und es war immer noch zu heiß. Nachmittags musste ich aber raus, denn eine Dame von der Süddeutschen wollte mit uns über unseren kleinen Kunstpodcast reden. Dazu gab es KEINE FRANZBRÖTCHEN, DIE WAREN AUS, WAS DENN NOCH, ALLES IST SCHLIMM BEI 30 GRAD, also Johannisbeerkuchen und drei Flat White für mich, weil sie halt so gut waren. Kann Bean Batter weiterempfehlen.

Und dann konnte ich mich Dienstag wieder nicht erholen, denn wir saßen schon wieder im Zug! Dieses Mal nach Bayreuth, wieder über Nürnberg, allmählich hatte ich keine Lust mehr zu winken. Ein von mir geschätzter Videokünstler hatte uns Karten für die Generalprobe des neuen Tannhäuser besorgt, und so konnte ich F. endlich mal das Festspielhaus zeigen, in dem ich immer leide (ZU WARM, IMMER, IMMER, IMMER. Außerdem Folterstühle, aber hauptsächlich zu warm), aber gleichzeitig auch immer vor Glück heule. So auch dieses Mal wieder, Pilgerchor halt, kriegt mich immer.

Offensichtlich Hügelwetter. F. musste einen schönen Wortwitz machen.

Eine andere Musik kriegte mich aber auch. Ich lache seit Dienstag darüber, dass die Melodie der Maus in Bayreuth gespielt wurde.

Über die Probe darf ich euch leider gar nichts sagen, aber vielleicht schaltet ihr heute den Livestream oder Samstagabend einfach 3sat ein, dann können wir endlich darüber reden! Und ich habe so viel zu sagen! Außerdem bin ich sehr auf die Kritiken gespannt, die mir vielleicht ein paar Referenzen erklären, die ich nicht mitgekriegt habe. Aber ich ahne, was der Couch Gag sein wird, ha! (In dem eben verlinkten Artikel fand ich die Frage: „Sind Wagner-Sänger nicht ohnehin abgebrühter, weil sie – im Gegensatz zu den Verdi-Kollegen – durch viele Konzept-Stahlbäder gegangen sind?“ sehr großartig.)

Hinter uns im zahlreich erschienenen Publikum – das Haus war in der oberen Parketthälfte voll, würde ich sagen, die untere war abgesperrt – saß ein Pärchen. Die Dame meinte vor der Ouvertüre: „Aber den Deckel vom Orchestergraben machen sie noch auf, oder? Sonst sehe ich ja die Musiker gar nicht!“ Ich grinste sehr, merkte aber im Laufe des Stücks, als sie immer bei den richtigen Szenen lachten (ja, es durfte bei Wagner gelacht werden, sehr schön), dass der Graben-Satz vermutlich auch ein Insider war. Vielleicht hatten sie ihn mal von einem Hügel-Newbie gehört und trugen ihn nun als Running Gag weiter. Ich werde das übernehmen.

Eigentlich hatten wir den Mittwoch auch noch in Bayreuth verbringen wollen, aber nach dem anstrengenden Würzburg-Wochenende und den nächsten Tagen und Wochen, die für uns beide ähnlich anstrengend werden, buchten wir kurzerhand Montag abend noch um und verließen das schon wieder viel zu heiße Bayreuth gegen 9 Uhr morgens.

Und wenn mein Internet sich nicht um 16 Uhr verabschiedet hätte, hätte ich gestern unverschwitzt auf dem Sofa gesessen. So musste ich aber mal wieder Schränke durchwühlen, um meine Festnetznummer rauszufinden, die ich nie benutze, um bei der Telekom zu eruieren, ob ich die einzige bin, deren Interweb zickt. War ich nicht. Lustiges Tethering, für das der Laden immerhin 10 GB für lau springen ließ. Na gut dann. Halbherzig die zwei Termine für diese Woche vorbereitet, aber da muss ich nochmal ran.

Besorgt meine Balkonblumen beobachtet, wie sie genau wie ihre Mami vor sich hinlitten. My babies! Mit diesem Rumpflanzen hätte ich also auch nicht beginnen dürfen, ich bin zu emotional für durstige Petunien! So, Hitze, du Mistvieh. Jetzt isses persönlich! *emogießen*

Tagebuch Donnerstag, 18. Juli 2019 – Wuseltag

Den ganzen Vormittag mit Kleinkram verbracht: E-Mails, die beantwortet werden mussten, Termine mit Doktorvater koordiniert, der auch gerne mal eine Gliederung gesehen hätte, und da ich meine erste ja komplett in die Tonne gekloppt hatte, musste ich die halt nochmal schreiben. Dabei gemerkt, dass ich doch schon ordentlich was weggeschafft habe. Fühlt sich trotzdem so an, als hätte ich mich dem Kern meiner These noch nicht mal angenähert.

Dann Mittach. Ich entdecke zur Zeit ein älteres Kochbuch wieder, nämlich JETZT! Gemüse (2014) von Sebastian Dickhaut. Gestern gab es daraus Möhren mit Senfbutter und das eingedampfte Rezept habe ich auf Instagram beschrieben. Dass man von den Möhren Streifen schneidet, habe ich vorausgesetzt und daher nicht notiert.

Erst nachmittags kam dann die nächste Runde Diss. Ich twitterte frohgemut, dass ich nun endlich das Kapitel zu den Gemälden der Reichsautobahn beginne. Schon beim Anlegen des Kapiteldokuments merkte ich aber, dass die RAB-Bilder einen sehr großen Teil des Kapitels einnehmen und seine ganzen anderen Ausstellungen vielleicht eher stören. Also teilte ich das Kapitel und beginne nun erstmal mit allen anderen Bildern zwischen 1934 und 1940. Oder 1941, da kam noch ein RAB-Bild, muss ich gucken. Dann überlappen die Kapitel halt. (Meine innere Prusseliese guckt schon hektisch.)

So suchte, verglich und tippte ich so vor mich hin. Zwischendurch kam eine DM von F., die mich sehr stolz auf meinen brav zuhörenden Partner machte. Es ging um eine Ausstellung, in der auch Künstler gezeigt werden, die während der NS-Zeit eher nicht systemkonform produzierten, soweit ich weiß, und die dort mit dem beknackten Begriff der „verschollenen Generation“ betitelt werden. Über diesen Begriff schrieb ich (bei meinem heutigen Doktorvater) eine sehr nölige Hausarbeit und kann die angebliche Stilrichtung des Expressiven Realismus seitdem nicht mehr ernstnehmen. Ihr solltet das auch nicht!


Irgendwann hirntot zwei Serienfolgen geguckt und endlich rausgefunden, wozu e-Reader erdacht wurden.

Ich habe beim Lesen Salbei und Minze gerochen, die in Töpfen auf dem Balkontisch stehen und fand das alles ganz herrlich. Sehr müde ins Bett gefallen.

Tagebuch Mittwoch, 17. Juli 2019 – Tippeditipp

Schreibtischtag, unterbrochen von Besorgungen zur Mittagspause und der üblichen Episode Masterchef Australia. Nur noch drei Folgen!

Ich habe gestern die bisherigen ersten beiden Kapitel nochmal komplett überarbeitet. Das erste Kapitel geht von 1887 bis 1925, also von der Zeit von Protzens Geburt in Pommern, Schul- und Lehrzeit in Leipzsch, seiner Zeit als Modezeichner in Paris und als Zivilgefangener auf Korsika bis zu seinem Abschluss an der Akademie der bildenden Künste hier in München. Ich ahne, dass ich das noch unterteilen werde, aber momentan weiß ich noch nicht genau, wo oder wie. Das zweite Kapitel, das bisher längste, geht von 1926 bis einschließlich 1933; ich mache also keinen Schnitt zwischen der Weimarer Republik und der NS-Zeit, denn das hat die bürgerlich akzeptierte Kunst auch nicht gemacht. Heute beginne ich mit dem mit Abstand wichtigsten Kapitel: 1934 bis 1940, denn in dieser Zeit hat der Mann die Gemälde der Reichsautobahn produziert, die Dreh- und Angelpunkt meiner ganzen Dissertation sind. Und dazu noch ungefähr 200 andere Bilder, die ich vermutlich auch in Teilen erwähnen werde.

Wenn ich mir angucke, wie lange ich an den ersten Kapiteln (plus angerissener Quellenlage und Forschungsstand) gesessen habe, nämlich seit Anfang März, rechne ich optimistisch mit zwei bis drei Monaten Schreibzeit für diesen Textblock. Wenn alle Archive geöffnet sind, ich immer reinkann und mir vielleicht noch nebenbei ein paar Quellen in den Schoß fallen. Vielleicht kann ich den Protzen-Teil dann sogar bis Ende dieses Jahres abschließen und mich 2020 um die Aufarbeitung systemkonformer Kunst im NS in der Bundesrepublik kümmern, was der zweite Teil der Arbeit sein wird. Die interne Deadline September 2020, das Ende meiner Studienzeit, steht noch!

Bei der gestrigen Überarbeitung habe ich zum ersten Mal einen Modus gefunden, wie die Kapitel keine reine Aufzählung von Daten und Bildernamen sein könnten, sondern wie ich ein Narrativ entwickele, das (hoffentlich) durch die gesamte Arbeit trägt. Das fühlte sich exorbitant gut an, und ich habe bis fast 20 Uhr am Rechner gesessen, denn wir wissen ja alle: never leave a hot keyboard. Mit diversen Streichungen, aber gleichzeitig noch vielen Anmerkungen im Text (CHECKEN! KUNSTARCHIV? STADTMUSEUM! LENBACHHAUS!) bin ich jetzt bei 68 Seiten Text aka 122.000 Zeichen aka meiner Master-Arbeit. UND ICH BIN ERST BEI 1933! *wimmer*, aber ein irre motiviertes und deutlich optimistischeres *wimmer* als noch vor wenigen Wochen.

Zum Mittach gab’s wieder Ottolenghi, den herrlichen scharfen Tofu, vermutlich mein Lieblingsrezept von ihm, gestern schwarz wie die Nacht (das ist die Sauce!). Weil gestern die Frage nach dem Berg an Knoblauch kam, der laut Rezept rein soll: Das passt schon, die Sojasauce kleistert eh alles zu. Bei der Butter darf man aber gerne sparen, da nehme ich nie die angegebene Menge.

Das häuft sich neuerdings, dass Leute über mich und Otti twittern. Ich fühle mich geschmeichelt.

Notre-Dame came far closer to collapsing than people knew. This is how it was saved.

Großartiges Stück der New York Times: sinnvoll bebildert, gut grafisch aufgemacht, sehr verständlich. Zwischendurch ne Runde Pathos, aber das ist bei Kathedralen in Ordnung. Ich erinnerte mich beim Lesen an meine Furcht, als ich die Flammen im Nordturm sah. Ich wusste nicht, wie gefährlich sie waren.

„About 7:50, almost an hour into the fight, a deafening blast engulfed her. It was, she said, like “a giant bulldozer dropping dozens of stones into a dumpster.” The 750-ton spire of the cathedral, wrought of heavy oak and lead, had collapsed. The blast was so powerful it slammed all the doors of the cathedral shut. The showering debris broke several stone vaults of the nave. Corporal Chudzinski and other firefighters happened to be behind a wall when a fireball hurtled through the attic. It probably saved them. “I felt useless, ridiculously small,” she said. “I was just powerless.” […]

Before the blast, Corporal Chudzinski and her colleagues had made a critical observation: The flames were endangering the northern tower. The realization would change the course of the fight. Inside that tower, eight giant bells hung precariously on wooden beams that were threatening to burn. If the beams collapsed, firefighters feared, the falling bells could act like wrecking balls and destroy the tower. If the northern tower fell, firefighters believed, it could bring down the south tower, and the cathedral with it.“

Wegbereiter des Judenhasses

Die FAZ sehr informativ und einordnend über den BDS.

„Ausgeblendet bleibt in der Debatte die geopolitische und historische Dimension des Konflikts. Dass es im Nahen Osten, anders als der BDS nahelegt, nicht Gut (Palästina) und Böse (Israel) gibt, ist schon deshalb so, weil in den Konflikt die Interessen einer Reihe von arabischen Staaten hineinspielen, von denen einige Israel (und die Juden) ganz offiziell vernichten wollen.

Angesichts des eliminatorischen Eifers, mit dem der BDS den palästinensischen Befreiungskampf feiert und dafür, wie die BDS-Aktivistin Jasbir Puar, selbst Terror meint rechtfertigen zu müssen, ist an einige historische Tatsachen zu erinnern: etwa, dass der Zionismus keine Entscheidung aus freien Stücken war, sondern die Reaktion auf Pogrome gegen Juden in aller Welt; dass der palästinensische Großmufti Jerusalems mit dem NS-Staat kollaborierte, was der Jerusalem-Ausstellung am Jüdischen Museum keinen Hinweis wert war; dass der auf den UN-Teilungsplan zurückgehenden israelischen Unabhängigkeitserklärung noch am selben Tag die Kriegserklärung von sechs arabischen Staaten folgte; dass die Aggression vor dem Sechs-Tage-Krieg nicht von Israel, sondern von Ägypten ausging; dass die palästinensischen Flüchtlinge von 1948 in den arabischen Staaten nicht etwa bereitwillig empfangen wurden, sondern teils bis heute in Flüchtlingslagern unter beklagenswerten Umständen leben; dass die Terrororganisation Hamas, mit der die BDS-Bewegung offen sympathisiert, jede ernsthafte Friedensverhandlung als sinnloses Geschwätz abtut. Und warum stört sich der BDS eigentlich nicht an der südlichen Blockade des Gazastreifens durch Ägypten?

Das alles entwaffnet nicht Kritik an der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik und dem nationalistischen Kurs der aktuellen Regierung. Aber von ernstzunehmender Kritik ist zu erwarten, dass sie den Blick nach beiden Seiten richtet.“

Tagebuch Dienstag, 16. Juli 2019 – Die kleinen Kleinigkeiten

Morgens beim ersten Balkongang zum Ausputzen und Gießen und einfach nur Rumstehen und Gucken bemerkte ich, dass mein Koriander blühte. Ich wusste gar nicht, dass der blühen kann, ich Newbie, und guckte mir das genauer an. Dabei sah ich, dass das Basilikum nebenan auch sehr apart aussieht, bevor es nach oben sprießt.

Das Foto ist nicht ganz scharf, weil ich bei allem Angst habe, mein iPhone fallen zu lassen, und aus den oberen Stockwerken habe ich dazu noch weniger Lust als in der Wohnung. Daher: aus dem Handgelenk geknipst und schnell wieder an den sicheren Körper gezogen. Bonus: die blauen Papiermülltonnen im Hof.

Tagsüber am Kapitel 1926 bis 1933 weitergeschraubt. Beim zehnten Jahr, für das ich Protzens Ausstellungsbeteiligungen und Einkünfte notiere, soweit ich sie kenne, fiel mir ein, dass ich mich vielleicht auch mal mit den Bildinhalten auseinandersetzen sollte sowie dem Stil, in dem sie gemalt wurden. Also ging ich nochmal über alles rüber, fischte mir besonders aussagekräfte Werke raus, klickte dazu mehrfach durch meinen liebevoll angelegten Fotoordner – und merkte im Laufe des Tages den Anfang des Flows, den ich bisher für alle Hausarbeiten und die Masterarbeit hatte (Bachelorarbeit war doof). Dieses Wissen, wo man sich bewegt, dieses Gefühl, allmählich den Kram geknackt zu haben, die Beruhigung darüber, auf dem richtigen Weg zu sein. Das war schön.

Und nebenbei ist dieses Kapitel jetzt schon länger als die Bachelorarbeit. Wie sehr ich mich damals mit dem Kram überanstrengt habe! Und jetzt ist die gleiche Textmenge nur ein Durchgangskapitel.

Vorgestern hatte mich mein Doktorvater an eine andere Doktorandin verwiesen, in deren Arbeit auch ein bisschen Protzen vorkommt. Wir tauschten uns gestern per Mail aus (nachdem wir die andere gegoogelt hatten, hust) und treffen uns vermutlich in wenigen Wochen, um uns gegenseitig ein bisschen was zu erzählen, was der anderen gut ins Thema passen würde. Das war auch schön. Oder wie F. meinte: „Endlich hast du jemand, der auch so gerne über den Kram redet wie du.“

Zum Mittag holte ich mir Kräuter vom Balkon. Weil sie da sind.

Ich weiß, das klingt für Leute mit (Schreber-)Garten oder für solche, die schon Bananen und Bambus auf ihren Balkonen züchten, total albern, wenn ich mich über Petersilie freue. Aber ich hatte bis auf wenige Kräutertöpfe auf Fensterbänken, die alle nach vier Wochen vor sich hinsiechten, noch nie frische Kräuter direkt vor meiner Nase. Also immer und sofort, wenn ich möchte. Ich muss dafür nur drei Meter weit gehen und nicht mal bis in den Supermarkt.

Ich habe auch jahrelang nicht verstanden, warum ich mir die Mühe machen sollte, wo ich doch eben nur in den Supermarkt gehen muss. Vielleicht hatte ich in Hamburg auch mehr Glück mit meiner Umgebung – der Edeka hier neben mir, den ich aus Bequemlichkeit dann doch viel zu oft ansteuere, hat eher mieses Gemüse, das sollte man essen, sobald man es aus dem Einkaufsbeutel zieht, denn einen Tag später ist es nur noch Matsch oder Schimmel. Bei Kräutern hat er mal diese, mal jene Sorte, keine Ahnung, wo da das System ist.

Aber gestern wollte ich nur Ottolenghis Kartoffeln und Erbsen mit Pesto und Minze machen und stellte überrascht fest, dass ich dafür alles im Haus oder auf dem Vorbau daran zur Verfügung hatte. Und ich genieße das warum auch immer so sehr, kurz ins Grüne zu gucken, auch wenn das Grün nur einen Balkonkasten groß ist, die Pflanzen anzufassen (ja, ich weiß, wie komisch sich das liest, ja, ich streichele manchmal meine Blumen, SCHON GUT), sie vorsichtig abzuzupfen und dann frisch zu verarbeiten. Im Moment schmeckt jedes Essen besser als vorher. Und, wie schon eine Million Mal erwähnt, es beruhigt mich immer wieder und immer wieder überraschend so sehr, beim Grün- und Buntzeug zu stehen und einfach nur draufzuschauen.

(Mal wieder länger darüber nachgedacht, über was man sich in verschiedenen Lebensabschnitten freut und was wichtig ist. Gedankengang noch nicht abgeschlossen. Erstmal was essen.)

Und selbst der morgendliche Flat White wird so ganz langsam. Ich habe ewig die Milch geschäumt, bis ich das Metallkännchen nicht mehr anfassen kann. Wahrscheinlich habe ich memmige Finger, denn so war die Milch meist einen Hauch zu flüssig. Jetzt nehme ich den prüfenden Finger am Kännchenboden weg und schäume noch zwei, drei Sekunden weiter – und ta-daa, deutlich fluffigerer Schaum. Also manchmal. Reicht.


Vorgestern.


Gestern.

Ich war geistig nach dem Tag sehr matschig, denn das strengt schon an, sich acht Stunden am Stück (mit Mittagspause) auf sinnvolles Zeug zu konzentrieren, und ich vergesse immer, wie sehr das anstrengt. Nur noch entspannt Mondfinsternis bei F. geguckt, Gin Tonic dazu getrunken und nach einer kurzen Radfahrt durch die sommerliche Nacht ins Bett gefallen. Guter Tag, gerne wieder.