(Sorry, den selbstgebastelten Ohrwurm werde ich sonst nie wieder los.)
Gestern saß ich Punkt 9 im Bällebad aka dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte. Die letzte Woche war weiterhin etwas fremdbestimmt gewesen mit Museumsbesuchen für den Podcast, der Podcastaufnahme, einer mehrstündigen und quer über den Tag verteilten Videokonferenz mit einer Kundin, und irgendwie schlafe ich auch noch mies, weil ich bei jedem Geräusch hochschrecke und denke, huch, Papa braucht was, ich muss nach unten gehen. Was nicht so ist, aber die vorletzte Woche bei meinen Eltern hat meinen Kopf anscheinend nachhaltig beeindruckt. Der feiertägliche Donnerstag (<3 Bayern!) war quasi mein Wochenende, und gestern war mein Montag, an dem ich endlich wieder konzentriert an der Diss sitzen wollte, so lange der Kundenjob noch nicht in die Textphase geht.
Ich hatte es in der vorletzten Woche immerhin geschafft, die ersten 100 Seiten Korrektur zu lesen. Wie sinnvoll das war, weiß ich immer noch nicht, denn beim Drüberlesen fallen einem ja noch mehr Lücken auf als vorher. Davon wollte ich gestern ein paar schließen.
1) einen Artikel im Baumeister finden, den Protzen in seinem Spruchkammerbogen angegeben hatte.
„G. Writings and speeches. / G. Veröffentlichungen und Reden.
[…] Geben Sie auf einem Extrabogen die Titel und Verleger aller von Ihnen seit 1923 bis zur Gegenwart ganz oder teilweise geschriebenen, zusammengestellten oder herausgegebenen Veröffentlichungen und alle von Ihnen öffentlich gehaltenen Ansprachen und Vorlesungen mit Angabe des Themas, Datums der Auflage oder Zuhörerschaft. […]
Als Künstler in Ramersdorf. Kleiner Aufsatz. Wahrscheinlich erschienen im ‚Baumeister‘ 34/35+“.
+ hieß bei ihm immer, dass er sich bei der Jahresangabe nicht sicher war. Im Nachlass fand sich der Aufsatz nicht, und ich registrierte amüsiert, dass er seinen Aufsatz im Katalog zur Ausstellung „Süddeutsche Maler sehen das Ordensland“ 1942 in Danzig irgendwie vergessen hatte.
Der Baumeister steht natürlich bei uns im Regal, ich zerrte die zwei Jahresbände an meinen Platz und blätterte. Relativ schnell stieß ich auf andere Artikel zum Thema Ramersdorf und kapierte erst dann, dass „Als Künstler in Ramersdorf“ keine persönliche Angabe war – ich war Künstler in Ramersdorf und habe irgendeinen Aufsatz geschrieben –, sondern der Titel des Aufsatzes. SETZ MEHR ANFÜHRUNGSZEICHEN! Beim Hefttitel setzt du die, aber hier nicht? Ich kann so nicht arbeiten!
Jedenfalls kapierte ich netterweise nun, worum es ging: um die Mustersiedlung Ramersdorf, die zur Deutschen Siedlungs-Ausstellung DSA 1934 in München erbaut wurde. Und auf einmal wusste ich auch, wozu die Fotos im Nachlass gehörten, die ihn auf einem Holzgerüst an mehreren Häuserwänden zeigen, wo er Sgrafittos anbrachte, ha! Ramersdorf! An mein Herz!
Ich musste den kompletten Jahresband 1934 durchblättern, um Protzens halbe Seite zu finden, denn sie war im Inhaltsverzeichnis nicht angegeben und befand sich auch erst in der Beilage zum Dezember, die im Sammelband natürlich als allerletztes kam.
Wenn ihr hier bei „Beilage“ klickt und bis kurz vor Schluss zur Seite B 158 runterscrollt, könnt ihr sein ungelenkes Deutsch auch genießen, das sich quasi null mit künstlerischen Problemen beschäftigt, aber dafür damit, wie es ist, bei Regen ein Haus anzumalen. (Das Bild im Artikel stammt nicht von Protzen, sondern von Albert Burkart.) (Link zickt seit Tagen.)
Das hat mich zwar gefreut, dass ich jetzt wusste, wozu die Fotos im Nachlass gehören und auch, dass ich jetzt wohl mal einen Spaziergang durch Ramersdorf machen werde, aber ich weiß mal wieder nicht, wie der Herr an diesen Auftrag gekommen ist. Die Suchmaske im Stadtarchiv versprach mir aber ein paar Akten, die ich mir durchlesen werde, und vielleicht findet sich da ein bisschen Korrespondenz. In der wenigen Literatur zu Ramersdorf werden nämlich nur zwei Maler als Freskomaler genannt – der eben erwähnte Burkart sowie Günther Graßmann –, aber kein Protzen. In einem weiteren, allerdings eher unwissenschaftlichen Buch (ich nenne es eine selektive Lobhudelei) über die Münchner Künstler-Genossenschaft, in der Protzen Mitglied war, las ich, dass eben diese MKG für die Fresken zuständig war. Ich bin mir nicht sicher, ob Burkart und Graßmann dort überhaupt Mitglieder waren, jedenfalls sind mir ihre Namen noch nicht so irre oft aufgefallen bei den vielen Zeitungsartikeln, die ich schon über die MKG gelesen habe. Muss ich sie wohl nochmal lesen. Jedenfalls habe ich durch den Aufsatzfund jetzt wieder drei Lücken und Fragezeichen mehr im Text.
Aber ich hatte Spaß mit Google Maps: In einem Baumeister-Artikel hatte ich den Grundriss der Siedlung gesehen, in dem auch die Straßennamen standen. Die googelte ich natürlich zuerst, fand aber keinen einzigen von ihnen in München. Also schaltete ich Maps auf Satellit und guckte nach der Form, die auch heute noch prima im Stadtbild zu sehen ist. Und in einem Buch zum Thema fand ich auch die Erklärung, warum die Straßen heute alle anders heißen: Sie waren 1934 nach den Herren benannt, die am Putsch von 1923 beteiligt gewesen waren. Kannte ich alle nicht.
2) den Katalog zur Biennale 1934 in Venedig einsehen, auf der ein Bild von Protzen gezeigt wurde.
Der steht natürlich auch bei uns im Regal, aber mit dem italienischen Vorwort von Eberhard Hanfstaengl, dem Kurator 1934 und 1936 (und dann wieder nach 1945, genaue Jahreszahlen habe ich gerade nicht) konnte ich nicht ganz so viel anfangen. Ich hatte in mehreren Aufsätzen zum Thema schon gelesen, dass Hanfstaengl sich dafür entschieden hatte, sowohl bereits etablierte Künstler zu zeigen als auch solche, die den neuen Anforderungen an deutsche Kunst entsprachen. Das war schwierig, weil, ich wiederhole mich, ich weiß, es eben nirgendwo festgehalten war, wie diese Anforderungen nun aussehen. Keiner wusste bis 1945 so genau, was die neue deutsche Kunst ist, und nach 1945 war’s dann auch egal, jedenfalls dachte sich das mein Fach so schön bequem.
Ich blätterte also den Katalog durch und stieß überrascht auf einen Namen, über den wir gerade vorgestern im Podcast gesprochen hatten, nämlich den Herrn Radziwill.
Auf den Katalogseiten finden sich noch andere Namen, die mir inzwischen geläufiger sind als noch vor drei Jahren. Aber ich las eben auch genügend, die ich nicht kenne, was mein Grundproblem mit dieser Arbeit bzw. dem ganzen Themenkomplex „Kunst im NS“ ist: Viele der damals ausgestellten Maler*innen kennt heute kein Mensch mehr, weil sich die Kunstgeschichte nach 1945 dafür entschieden hatte, sie zu ignorieren. Deswegen gibt es kaum Literatur, deswegen ist bis heute die Ausstellungspolitik dieser Kunst so wachsweich-unentschieden – wir haben einfach noch keine finale Meinung zu vielen dieser Arbeiten. Oder überhaupt keine.
Das zeigt diese eine Katalogseite sehr schön: Protzen – noch keine kunsthistorische Literatur. Radziwill – deutlich besser erforscht. Walter Rose – nie gehört, hat nicht mal einen Wikipedia-Eintrag. Georg Schrimpf – hing bei der Ersthängung im Saal 13 als zwiespältiger Kandidat, weil er bis 1937 an einer staatlichen Hochschule lehrte; hängt jetzt in der Pinakothek der Moderne ohne weitere Anmerkungen bei den Neusachlichen. Edmund Steppes – Anhänger der altdeutschen Malerei, frühes NSDAP-Mitglied, endlich mal ein eindeutiger Kandidat. Und so liest sich der ganze Katalog.
Ich konnte so also immerhin in meiner Arbeit etwas zur Ausstellungspolitik in Venedig ergänzen, ein paar Namen mit Protzen kontrastieren – ich fand es sehr spannend, dass dort sowohl Ernst Barlach (extrem unverdächtig) als auch Josef Thorak (Gottbegnadeter, eins-a-Nazikram) gezeigt wurden – und las viel über die Ausstellungen in den 1920er Jahren, um meine Einordnung besser verorten zu können. Aber auch hier blieb die Frage: Warum hing Protzen da? War er schon etabliert genug, um seine Nation vertreten zu können? Oder war er einer der Neuen? Ich kann ihn immer noch nicht so recht fassen.
3) die Glaspalast-Ausstellungen einordnen.
Protzen stellte von 1927 bis 1931 im Glaspalast aus, und ich wollte diese große Münchner Schau einfach ein bisschen besser einordnen. Ich fand aber bei den ersten Griffen ins Regal nur architektonische Auseinandersetzungen mit dem schicken Gebäude und war auch um kurz vor 16 Uhr etwas matschig im Kopf. Die Beschäftigung mit Ramersdorf und Venedig – was für ein Kontrast – war so spannend gewesen, dass ich mal wieder die Zeit vergessen hatte.
Feierabend.
Der Resttag: im Apple-Store ein hektisch falsch gekauftes Kabel umgetauscht (USB, nicht USB-C, du Hirn), im Supermarkt Salat besorgt, Mayonnaise angerührt, Caesar-Dressing daraus zubereitet (was wäre ich ohne dieses Rezept), zwei Folgen Lost geguckt und dazu eine Riesenschüssel Salat verspeist.
Abends die Bundesliga-Eröffnung auf dem iPad geschaut und mich zum wiederholten Male gefragt, wieso die Streams der Öffentlich-Rechtlichen auf dem iPad fehlerfrei laufen und am Macbook dauernd haken.
Eine Stunde auf Twitter rumgegammelt, mit Buch ins Bett. Dort Candy Crush gespielt anstatt zu lesen. Genug gelesen für einen Tag.
Das war alles sehr schön. Ich werde mit dieser Dissertation nie fertig werden.