Tagebuch Sonntag/Montag, 6./7. Dezember 2020 – Panikschlaf

Sonntag konnte in die Tonne, quasi den ganzen Tag Corona-Panik geschoben. Weihnachten in den Norden fahren, ja oder nein? Normalerweise wäre „nein“ die einzige Antwort, aber durch die Situation mit Papa neige ich zu „aber wer weiß, wie lange usw.“, will aber auch eigentlich nicht darüber nachdenken, war pissig auf die Solidaritätsverweigerer, fühlte mich dann selbst wie einer, weil ich lustig durch die Gegend fahre, auch wenn es zur Pflege von Angehörigen ist, was man ja darf, aber aber aber launige Vorwurfsspirale und Verzweiflung, weil ich nicht Zug fahren will, dann aber doch. Sehr mies geschlafen.

Montag half Keksebacken. Ich testete ein neues Rezept aus der Washington Post, dessen Titel „Lemon and Cream Cheese Cookies“ genau wie meins klang. Die schmeckten aber eher wie Zitronenkuchen in Keksform, und dann verlief auch noch der Zuckerguss und ich war darob verstimmt. Immerhin wurden die Florentiner was, die sind ja auch babyeinfach, und nach einem Pfund Buttermandeln mit Schokolade drüber ging’s wieder. Sport half auch, alles sehr seltsam. Wieder besser geschlafen.

Bin etwas coronamüde und möchte jetzt bis zur Impfung auf die Pausetaste drücken.

Tagebuch Samstag, 5. Dezember 2020 – Keks- und Lesetag

Zu. Viele. Kekse. Gegessen. (Ächz.)

Ansonsten nicht geputzt, nicht nachgedacht, keine Bewerbungen geschrieben, nur mit Tee auf dem Sofa gelungert und gelesen. Ein Geschenk zu meiner Diss war ein Buch (Danke, Mama von Nathalie), das ich schon mal hier im Blog erwähnt hatte: Das Buch Alice. Es liest sich sehr entspannt weg, wenn mich auch die populärwissenschaftliche Schreibe manchmal irritiert; zu vielem werden Endnoten angeboten, bei genauso vielem aber auch nicht, ich sehe da noch kein System.

Um die Atmosphäre im Wien der 1920er-Jahre zu verdeutlichen, zitiert Autorin Urbach sehr oft ein anderes Buch: Die Tante Jolesch von Friedrich Torberg, auch mal im Blog erwähnt. Das Werk kann man quasi komplett zitieren, es findet sich immer etwas Passendes, aber gestern las ich vergnügt den folgenden Abschnitt, der dazu diente, die Stimmung im Jahr 1918 zu verdeutlichen:

„Der Kaiser verlor zwar über Nacht seine Autorität, doch in jüdischen Familien überlebten die Hierarchien, Revolution hin oder her, wie folgende Anekdote über Paul und Egon Erwin Kisch zeigt. Der rasende Reporter und glühende Kommunist Egon Erwin Kisch versuchte am 12. November 1918 mit der Roten Garde in das Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse einzudringen und stieß im Treppenhaus auf seinen Bruder Paul, Wirtschaftsredakteur der Presse. Paul versperrte Egon den Weg mit den Worten:

„Was willst du hier, Egon?“
„Das siehst du ja. Wir besetzen eure Redaktion.“
„Wer – wir?“
„Die rote Garde.“
„Und warum wollt ihr gerade die Presse besetzen?“
„Weil sie eine Hochburg des Kapitalismus ist.“
„Mach dich nicht lächerlich und schau, dass du weiterkommst.“
„Paul, du verkennst den Ernst der Lage. Im Namen der Revolution fordere ich dich auf, den Eingang freizugeben. Sonst …!“
„Gut, Egon. Ich weiche der Gewalt. Aber eins sag ich dir: ich schreib’s noch heute der Mama nach Prag.“

Nach dieser furchteinflößenden Drohung zog sich Egon Erwin Kisch zurück. Die Authentizität dieser Geschichte ist bezweifelt worden, obwohl die Neue Freie Presse tatsächlich von der Roten Garde kurzfristig besetzt wurde. Zeitgenossen, die Mama Ernestina Kisch noch persönlich kannten, beschwören den Wahrheitsgehalt.“

Karina Urbach: Das Buch Alice: Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten, Berlin 2020, S. 41. Das Zitat im Zitat: Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, Wien 1986, Teil 1 und 2 (Erstausgabe 1975), S. 29.

Aus dem Buch auch gelernt: Alice Urbach etablierte 1932 Wiens ersten „Lieferservice für fertig zubereitetes Essen“. (S. 61)

Tagebuch Freitag, 4. Dezember 2020 – Date Night

F. und ich hatten uns die Woche über nicht gesehen, auch ein bisschen aus dem Grund, weil ich in Zügen saß und noch an anderen Orten war und er am letzten Wochenende Kontakt zu seiner Familie hatte. Es ist und bleibt anscheinend kompliziert. Umso mehr freuten wir uns auf gestern, F. spendierte erneut das Menü außer Haus vom Broeding, wir genossen Saibling in Mandarinenschmand (what the … oh, lecker!), Lamm mit Polenta und Pilzen sowie einen riesigen Klecks Lebkuchenmousse. Dazu gab’s einen Blaufränkisch von Moric, mit Blaufränkisch macht man bei mir ja nie was falsch, und danach wollten wir nur kurz an der Beerenauslese nippen, aber huch, die Flasche war so klein und der Inhalt hatte nur elf Prozent, Sie wissen schon.

Ich holte dazu die alten Gläser von Oma aus dem Schrank. Die dürften aus den 20er- oder 30er-Jahren stammen; sie haben Luftblasen und man kann am Fuß noch fühlen, wo der heiße Glasstrang abgetrennt wurde, um eben diesen Fuß mit Stiel zu formen. In den Kelch sind Eichenblätter und kleine Eicheln geschliffen, letztere leuchten halb, wenn Flüssigkeit im Glas ist. Ich weiß gar nicht, warum ich die nicht öfter benutze.

Mein restlicher Tag bestand aus Schreibtischkram, Ablagekram und Sportkram (gerne wieder, das tut gerade sehr gut, warum auch immer). Außerdem raffte ich mich endlich dazu auf, die Jahresendblogeinträge vorzubereiten, auf die ich nicht so recht Lust hatte. Dieses Jahr fühlt sich so unendlich an und es scheint nie aufhören zu wollen.

Leserin Tamara machte mich auf eine Kunstaktion von Yoshinori Niwa aufmerksam: Withdrawing Adolf Hitler from a private space, die 2018 schon in Graz lief und derzeit am Düsseldorfer Kunstpalast stattfindet: Falls Sie noch Relikte aus der NS-Zeit haben, können Sie sie dort in einem Container entsorgen.

Interessanterweise berichtete die Fachzeitschrift EUWID Recycling und Entsorgung 45 (2020) darüber (leider nicht frei online lesbar).

Tagebuch Donnerstag, 3. Dezember 2020 – Schachvideos

Ein bisschen aufgeräumt, ein bisschen gearbeitet, ein bisschen Sport gemacht, viel Tee getrunken, aber im Prinzip den ganzen Tag gelesen, nämlich The Queen’s Gambit, das ich mir vorgestern als eBook gegönnt hatte. Gefiel mir gut, alles wird knappstens erzählt, kein Adjektiv ist zu viel, die Story ist überraschungsarm, aber trotzdem hinreichend interessant, gern gelesen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Netflix-Serie jetzt noch anschauen möchte, frage mich aber schon, wie man Schach spannend inszeniert.

Mir hat das Mütterlein vor 100 Jahren Schach beigebracht, bis vor einigen Jahren hat sie selbst im örtlichen Verein mitgespielt und hat auch irgendein Ranking, das ich nie verstanden habe. Ich erinnere mich bis heute an das Gefühl der hölzernen Figuren in meinen Händen; das kam gestern wieder, als ich das olle Plastikschach aufbaute und mir ein paar Videos ansah, für die ich die Figuren aber gar nicht brauchte. Als Jugendliche habe ich öfter gespielt, aber der Reiz des Ganzen hat sich mir nie so recht erschlossen; vermutlich weil ich zu faul oder zu unbegabt dafür war und bin, mehr als zwei Züge im Voraus zu denken. #TeamMonopoly

Die Diskussion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu Erinnerungskultur im öffentlichen Raum, die ich Mittwoch interessiert verfolgte, ist nun doch online. Die Diskutierenden sind übrigens alle auf Twitter, nur so nebenbei: Vahland, Zadoff, Beck, Zimmerer. Anschauempfehlung.

Abends erfahren, dass jemand positiv auf Corona getestet wurde, der nur zwei Stationen von mir weg ist. So nahe war mir das Virus noch nie, wenn man von der konstant einen Risikobegegnung in der App absieht.

Tagebuch Mittwoch, 2. Dezember 2020 – Die eBook-Falle

Gestern hatte mich der Schreibtisch wieder: Ich las die beiden Gutachten zur Dissertation erneut aufmerksam durch und bastelte zunächst einen Hauch an einer geänderten inhaltlichen Aufteilung; die lasse ich vermutlich, so wie sie ist, aber ich wollte das mal durchspielen und bin von der Alternative noch nicht überzeugt. Dann orderte ich einen Schwung Bücher für das traute Heim; die Bibliotheken in München/Bayern sind derzeit geschlossen, die wissenschaftlichen netterweise nicht, daher könnte ich sogar ins ZI, aber momentan bin ich lieber zuhause. Einen Klassiker der Männerforschung konnte ich nicht leihen, der war sowohl in UB als auch in der Stabi in allen Exemplaren ausgeliehen, aber ich bin eh nicht sicher, ob ich das Thema wirklich noch in die Arbeit einfließen lassen möchte (steht ansonsten natürlich im ZI).

Zum Mittag gab es dasselbe wie schon am Vortag: einen Crêpe aus Kichererbsenmehl, mit Gemüse gefüllt und einem zähen Sößchen drüber, denn die vorgestern angebrochene Kokosmilch musste weg und irgendwie hatte ich doch keine Lust auf Reis oder Curry. Das Grundrezept stand in meinem neuen philippinischen Kochbuch, schmeckte sehr gut.

Abends verfolgte ich eine Diskussion der Bayerischen Akademie der Wissenschaften per Livestream: „In Stein gemeißelt? Erinnerungskultur im öffentlichen Raum“ (nicht online). Moderatorin Kia Vahland schrieb zum Thema vor einiger Zeit in der SZ:

„Vielmehr gilt es, en détail zu diskutieren, welche Gedenkstücke – etwa Kriegerehrungen – Tafeln und Gegenbilder benötigen, die sie historisieren und so die Gegenwart doch noch auf Distanz zur Geschichte bringen. Diese Debatte ist in Deutschland nun bei den Straßennamen angekommen, über die in etlichen Städten eigene Kommissionen beraten. Auch hier stellt sich bei jedem Verdächtigen die Frage: Würdigt eine Ehrung der Person auf Briefköpfen und Schildern einen Täter, der nationalsozialistisches, koloniales, anderes Unrecht verantwortet? Oder handelt es sich um historisch gewachsenes Kulturgut, das man nicht ohne Not eigenen Maßstäben unterwerfen sollte?

Jede Kommune muss selbst um diese Fragen ringen. Das ist auch deshalb schwierig, weil sich in der öffentlichen Diskussion Verteidiger des Althergebrachten und Reformer in viel zu harten Fronten gegenüberstehen. Die einen wollen eine “Mohrenstraße” noch retten, obwohl ein solch kolonial anmutender Sprachgebrauch schwarzen Passanten wehtun muss. Die anderen stellen auch eine “Erich-Kästner-Straße” infrage, weil der Schriftsteller während der NS-Zeit nicht emigriert ist. Es ist jedoch illusorisch, von Toten zu verlangen, alle jetzigen Ansprüche zu erfüllen. Genauso naiv wäre es aber, Straßennamen wie Museumsstücke zu behandeln, die lediglich eine andere Zeit bezeugen – schließlich wirken sie im öffentlichen Raum, ganz gegenwärtig.“

Die Erich-Kästner-Straße in München wurde gestern auch erwähnt, hier ein eher fassungsloser Kommentar der FAZ vom Januar. Mirjam Zadoff berichtete von der Kommission, die sich mit der Kontextualisierung oder der Umbenennung von Straßen befasste. Sie erwähnte auch die NS-Bauten am Königsplatz, die nach 1945 bewusst mit den Institutionen besetzt wurden, die noch heute in ihnen residieren: die Musikhochschule sitzt im ehemaligen „Führerbau“, unter anderem das ZI im NS-Verwaltungsgebäude. Ich erwähnte hier schon öfter, dass mir der Ort durchaus bewusst ist, in dem ich so gerne durch Bücherregale streife; das kann einem auch kaum entgehen, dass die Türstürze gefühlt drei Meter hoch sind, die Treppenhäuser zu breit und der Blutwurstmarmor des Fußbodens dem im Haus der Kunst bewusst ähnelt (gleicher Architekt). Zadoff zitierte, wenn ich mich richtig erinnere, Ruth Klüger, die meinte, Gebäude an sich seien nie böse, es käme auf die Menschen an, die sie bewohnen, was ich für eine sehr richtige Sichtweise halte. Teresa Koloma Beck erwähnte aber ebenso richtig, dass Gebäude, Straßennamen, Denkmäler ins Heute abstrahlten, dass sie also trotz allem gut gemeinten Kontext immer noch heute nicht mehr akzeptiertes Gedankengut in sich hätten und das in die Gesellschaft trügen. Spannende Diskussion.

Zadoff, deren NS-Dokuzentrum direkt neben dem ehemaligen Führerbau steht, erwähnte auch die Dreharbeiten, die dort vor Kurzem stattgefunden haben, Max Westphal fotografierte eine Szene an der Feldherrnhalle. Im Gebäude wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet; das wurde nachgestellt, und sie meinte, trotz allem Wissen darüber, dass es ein Film war, das Gebäude nur noch (?) eine Kulisse, wäre das doch arg seltsam gewesen, wieder Hakenkreuzflaggen daran zu sehen. Ich musste an die Skurrilität denken, dass für die Dreharbeiten die Erinnerungstafel an eben dieses Abkommen, die sich am Gebäude befindet, genau dafür abgenommen werden musste.

Für die inneren Notizen für nächstes Jahr, wenn ich hoffentlich wieder darüber nachdenke, welchen Adventskalender von Xocolat ich möchte: Vorgestern Cassis, gestern Nougat, natürlich beides hervorragend. Ich habe derzeit den ohne Alkohol.

Und dann fiel ich abends auf ein eBook für 99 Cent herein. Auf Netflix läuft gerade die, soweit ich das überflogen habe, hochgelobte Serie The Queen’s Gambit. Sie beruht auf einem Buch von Walter Tevis, und ich las einen Artikel im New Yorker darüber: The Fatal Flaw of “The Queen’s Gambit”, der meint, die Serie hätte die Hauptfigur mit einer zu attraktiven Darstellerin besetzt.

„Actors Are Too Hot Hill is a silly place to die, yet the acclaim for “The Queen’s Gambit” series, which stars an actual former model, has stranded me there, unable to descend until I have said my piece. Allow me to shout from my lone perch at its summit that Beth Harmon is not pretty, and there is no story about her that can be told if she is. […]

Tevis mentions Beth’s ugliness too often for readers to imagine that it is just some routine, awkward part of childhood that slips away with puberty, like a boy’s squeaky tones settling gradually into a mannish timbre, or because some nice girlfriend—she has none, after Jolene—takes her to Sephora. Instead, Beth becomes reasonably attractive by learning to play chess and then excelling at it. The first moment that Beth is able to regard her reflection without disgust comes right after she wins her third tournament game. Some forty pages later, a chess player turned journalist named Townes tells Beth, “You’ve even gotten good-looking.” Toward the end of the book, Jolene herself, seeing Beth in magazines, declares, “You’ve lost your ugly.” […]

Here is the book’s most explicit mention of Beth’s physical confidence as an adult: “Beth was wearing a dark-green dress with white piping at the throat and sleeves. She had slept soundly the night before. She was ready for him.” Chess helps her to inhabit her body comfortably, and this allows her to play better chess. It’s the playing-better-chess part of the deal that really matters to her.“

Das interessierte mich dann doch, ich las die ersten Sätze in diesem kleinen Buch, fand sie gut, kaufte das eBook und wollte im Bett vor dem Schlafengehen nur noch ein paar Seiten lesen. Dann war es plötzlich 2 Uhr morgens, ich auf Seite 90 und ihr entschuldigt mich, ich muss wieder an … äh … die Diss. Natürlich. Die Diss.

Tagebuch Mittwoch, 25. November, bis Dienstag, 2. Dezember 2020 – Hochs und Tiefs

Wie praktisch, ein Kontakttagebuch zu führen, da kann ich jetzt nachgucken, was ich eigentlich in den letzten Tagen gemacht habe, die irgendwie verschwimmen.

Ich war bis Samstag in der alten Heimat. Das war einerseits sehr schön, weil die Luft da besser ist als in München und ich morgens solche Ausblicke hatte.

Das war andererseits sehr schwierig, weil es Papa nicht besser geht. In der letzten Woche stand eine größere, vorläufige Entscheidung an, die uns allen Schwierigkeiten bereitet hat, über die ich hier nicht schreiben möchte. Jedenfalls war meine Mutter noch mehr durch den Wind als sonst, aber ich konnte durchs Dasein etwas abfangen und ihr einige Gänge abnehmen, die sie partout nicht machen konnte/wollte. Meine Schwester ist ebenfalls überlastet, auch hier konnte ich ein bisschen helfen. Nebenbei gab’s aus Gründen einen Coronatest, der wie erhofft negativ war.

Außerdem habe ich meine Mutter erstmals einen Burger essen sehen; sie verzehrte die Einzelteile mit Messer und Gabel.

Und ich durfte/musste das schicke Auto der Eltern öfter fahren als sonst. Es piepst bei allem, was ich tue, und ich spreche mit ihm sehr anders als mit meinen ganzen ehemaligen Autos, indem ich dauernd „Halt die Klappe, du Depp“ sage. In diesem Zusammenhang nachgedacht: Das neueste Auto, das ich je besessen habe, wurde Anfang der 1990er gebaut. Alles danach ist für mich ein unverständliches Raumschiff. Oma Gröner möchte ihre drei Knöppe und ein Radio ohne Stationstasten wiederhaben.

Auch gemerkt: Ich habe kein Körpergedächtnis für Geschwindigkeiten in modernen Fahrzeugen. Bei meinen Karren fühlte ich irgendwann, wie schnell ich war; im Auto der Eltern guckte ich öfter auf den Tacho als auf die Straße. Dabei stellte ich erfreut fest, dass die Todeslandstraßen meiner Jugend, auf denen ich noch lustig 100 fahren durfte, inzwischen fast durchgehend auf 70 geregelt sind. Sehr gut.

Am letzten Abend hielt ich meiner Mutter und Schwester sowie dem Schwager meinen Verteidigungsvortrag und zeigte die Präsentation, die Dissertation liegt eh bei ihnen seit Juni rum. Ich fand es sehr spannend, nicht-akademischen Menschen zu erklären, was ein Forschungsstand ist und wie ich gearbeitet hatte. Noch spannender waren die Fragen, von denen eine fast genauso vom Doktorvater in der Disputation gestellt wurde: „Wenn es schon Fotos der Autobahnbaustellen gab, wieso mussten die dann noch gemalt werden?“ Hier bitte ein Spontanreferat zur politischen Funktion von Kunst im NS-Staat einfügen. Und meine Schwester legte gleich bei der ersten Folie, auf der Protzens „Straßen des Führers“ (1939) abgebildet war, den Finger in die Wunde: „Das sieht ja gar nicht wie Nazikunst aus?“ Das Spontanreferat hier handelte von den Versäumnissen und blinden Flecken der bundesdeutschen Kunstgeschichte. Dann blätterten alle den kompletten Abbildungsteil der Diss durch und ich guckte ihnen interessiert dabei zu, an welchen Werken sie hängenblieben. Diese Diskussion kann ich hier nicht nachvollziehen, denn für die Werke habe ich die Bildrechte nicht und sie sind nirgends abgebildet außer in meiner Diss. Hier Spontanreferat zu Bildrechten uswusf.

Der Zug aus Hannover war noch spärlicher besetzt als auf der Hinfahrt. Ich glaube, wir starteten mit vier Menschen im Großraumwagen (1. Klasse), und ab Nürnberg war ich alleine. Außerdem ging ein Sicherheitsteam durch den Zug, um zu überprüfen, ob auch alle brav Maske tragen. Es gab übrigens wieder Zeitungen! Jedenfalls hatte ich auf der Hinfahrt die FAS, auf der Rückfahrt nur die Wahl zwischen Welt und Bild, also gab’s im Prinzip keine Zeitungen.

Ich las Peukerts Weimarer Republik mit viel Gewinn weiter – ich hatte mir in der alten Heimat schon einen Stift zum Unterstreichen borgen müssen, der jetzt in München wohnt, sorry, Mama – und hörte die Episode des Beethoven-Podcasts zur Waldstein-Sonate. Die lohnt sich alleine für die ersten zwei Minuten, in denen Levit sagt: „Wenn ich für irgendwas studiert habe, dann dafür.“ Danach hörte ich, wie immer beim Podcast, die ganze Sonate, und danach wollte ich dann auch nichts anderes mehr hören.

Samstag abend wurde ich von F. verwöhnt, der uns erneut das Wochenendmenü aus dem Broeding geholt hatte. Das tat gut, von einer Welt wieder in die andere zu kommen. Es gab ein fantastisches Rote-Bete-Meerrettich-Mousse, dessen Rezept ich irgendwie ergoogeln muss, Saibling en papilotte mit einer Krachersalsa, in die ich immer noch Brot stippe, und ein Stück Birnenstrudel, wie immer hervorragend.

Über diesen Comic lache ich seit Tagen.

Montag und gestern waren häusliche Backtage, die ich genoss, bevor mich die echte Welt wieder hat. Es gab simple Mürbeteigkekse, mal mit Schokospritzern, mal mit Kakao zu Schnecken gerollt, meine geliebten Orange-Mandel-Kringel, die Lieblinge meiner Mutter, Orangenkekse mit Schokolade, sowie zu dick geschnittene Florentiner und Engelsaugen. Aus den Eiweißen, die bei den Engelsaugen übrig blieben, machte ich Macarons, aber die sehen so unförmig aus, dass sie nicht auf den Teller durften.

Beim Stollenbacken fiel mir wieder ein, warum ich normalerweise nur einen mache. Gut, der zweite soll in die Post, aber trotzdem.

Mein Internet-Sportprogramm hatte zwei Wochen Pause, zuerst wegen der Verteidigung, dann weil ich weg vom Internet war. Vorgestern und gestern stieg ich wieder ein und stellte fest: Ich kann doch noch Muskelkater kriegen. Verdammte Bauchmuskelübungen.

Ein vielfaches Dankeschön …

… an gleich mehrere Schenker*innen, die mir per PayPal oder Amazon-Wunschzettel zur Promotion gratulierten sowie natürlich an diejenigen, die gleich Päckchen packten. Das trudelte alles in den letzten Tagen hier ein, in denen ich noch im Norden war, daher kommt das Dankeschön etwas spät, Entschuldigung!

Bettina vermutete, dass ich jetzt wieder etwas mehr Zeit zum Nähen hätte und überraschte mich mit Constanze Derhams ABC der Handarbeiten: Nähen. Das stimmt theoretisch, aber ich würde gerne mal wieder ganz altmodisch wieder in ein Geschäft gehen, um Stoffe zu fühlen, bevor ich sie kaufe, was ich im Moment schlicht nicht vorhabe. Ein paar Meter liegen hier aber noch, und ein neues Schnittmuster ist ebenfalls altmodisch per Post gekommen – das Selbstausdrucken und Zusammenkleben ist, auf meinen Stundensatz umgerechnet, deutlich teurer als gleich ein paar Euro mehr an Burda zu schicken. Daher werde ich vermutlich in den langen Wintermonaten auf das Büchlein zurückkommen. (Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, als ich die Nähmaschine aus dem Arbeitszimmer räumte für den dann nicht stattgefundenen 360-Grad-Rundumblick bei der Zoom-Verteidigung.)

Sonja gratulierte mit Chinua Achebes Things Fall Apart. Das stand schon länger auf dem Wunschzettel; ich hatte auf Twitter mal um Tipps zu afrikanischen Autor*innen gebeten, und das war einer davon. Ich bin sehr gespannt!

Für das Buch von Susanne fuhr ich gestern zu einer Postfiliale, die ich noch nicht kannte, und ich glaube, sie wurde als Pop-up-Station für die Adventszeit hochgezogen, wenn die Packstationen überquellen. Als ich mein Rad abschloss, sah ich ungefähr zehn Menschen brav mit Abstand vor der Tür stehen und richtete mich auf eine halbe Stunde Wartezeit ein. Überrascht stellte ich fest, dass die Menschen im Sekundentakt wieder herauskamen, worauf der nächste Wartende eintrat bzw. von drinnen reingerufen wurde: „Kann noch einer rein!“ So zückte ich schon draußen meinen Personalausweis, trat nach gefühlt nicht mal zwei Minuten Wartezeit ein, sagte mein Sprüchlein auf, „Gröner, ja? Amazon? Ah, hier“, bekam mein Päckchen, und während ich noch auf dem Weg nach draußen war, wurde schon der nächste reingerufen. Ein faszinierend unpostisches Erlebnis. Im Päckchen befand sich I Am a Filipino von Nicole Ponseca und Miguel Trinidad, das ich auf einer Liste des New Yorkers zu guten Kochbüchern gefunden hatte. Da die Gene des Herrn an meiner Seite zur Hälfte von den Philippinen stammen und er mir ab und zu von den Gerichten erzählt, die er dort bei seinen Großeltern genossen hat, schien mir das eine gute Erweiterung des Kochbuchregals zu sein.

Vielen Dank an alle Schenkenden, ich habe mich sehr gefreut! Und jetzt stempele ich alles mit einem pinkfarbenen Ballon Dog von Koons zu und trinke den Lieblingswein von Frau Casalinga, das waren nämlich auch Geschenke. Der Stempel kam von hier, das ist die Dame, bei der ich mich neulich erstmals als „Doktor“ am Telefon melden konnte.

Die launige Beilage „Die Autobahn A3 für Europa“ und was das mit meiner Dissertation zu tun hat

In der SZ und, soweit ich weiß, noch einigen anderen Zeitungen lag gestern die 32-seitige Broschüre „Die Autobahn A3 für Europa“ bei. Ich sah sie durch einen Tweet des Journalisten Lenz Jacobsen, der sich in einem kurzen Thread mit dieser Vermischung von redaktionellem und werbischem Inhalt beschäftigte. Er resümierte: „Das Ding ist also weder schlimm noch lesenswert, aber ein beeindruckendes Beispiel für die alltägliche, wirtschaftliche und publizistische Macht und Interessenvertretretung aller, die am Ausbau der Auto-Infrastruktur beteiligt sind und davon profitieren.“

Die Beilage ist online, so dass sie mir niemand zuschicken muss, aber wie ich inzwischen weiß, hebt sie mein Doktorvater sogar für mich auf, der per Mail folgenden Kommentar hatte – oder auch nicht: „Ich enthalte mich jeden Kommentars … zu einzelnen Beiträgen, Redewendungen, Bildern, Metaphern etc., denn das scheint mir doch einigermaßen offensichtlich. Ich denke, dass Sie evtl. (vielleicht sogar an verschiedenen Stellen) in der Druckfassung der Diss. darauf eingehen könnten.“

Das war natürlich auch mein erster Gedanke: Lustig, wie wenig sich Argumente und Bilder in 90 Jahren geändert haben. Damit will ich der Autobahndirektion Nordbayern und den ganzen Menschen, die an dem Ding gearbeitet haben, kein faschistisches Gedankengut unterstellen, aber die Ähnlichkeit zu Texten zum Bau der Reichsautobahn ist schon frappierend. (Edit 30.11., weil hier gerade viele Menschen vorbeischauen, die dieses Blog nicht seit drei Jahren lesen: Ich wurde vor Kurzem mit einer Arbeit über den Maler Carl Theodor Protzen (1887–1956) promoviert, der zwischen 1936 und 1940 29 Gemälde der Reichsautobahn malte. Die Dissertation ist noch unveröffentlicht.)

Gleich in der Einleitung verbietet sich Minister Scheuer jede Kritik an diesem Ausbau: „Denn Wege sind Voraussetzung dafür, dass wir vorankommen. Und das wiederum ist Voraussetzung dafür, dass Wirtschaft und Wohlstand wachsen können. Wer das nicht wahrhaben will und stattdessen ein Moratorium für den Bau von Autobahnen fordert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er wirklich noch nah genug dran ist an den Menschen in unserem Land – mit all ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen.” Markus Söder begann seinen Text so: „Die A3 ist die fränkische Leidensstrecke – und sollte doch eigentlich die Lebensader sein, die ganz Franken verbindet.“ Das Wort Lebens- oder Verkehrsader wird auch von fast allen anderen Politiker:innen verwendet, die sich in der Beilage zitieren ließen. Das erinnerte mich beides unangenehm an einen Text von Otto Reismann, Pressereferent von Fritz Todt, dem Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, der 1937 schrieb: „Auch in der West-Ost-Richtung folgen die Autobahnen traditionsreichen Verbindungen. Es sind die gleichen Wege, auf denen die politische und kulturelle Eroberung des deutschen Ostens erfolgte, die Wege aber auch, die Osteuropa und Westeuropa verknüpfen. Reichsautobahnen sind die Pioniere neuer Siedlungen. Sie öffnen der volklichen Durchblutung in menschenarmen Gegenden und Grenzgebieten bessere Möglichkeiten, sie sichern und wahren so den Besitzstand.“[1]

In einer weiteren Einleitung schreibt der Journalist Bernhard Heck von „23 Großbrücken und zwei Tunnelabschnitte[n]“, die entstehen. Zur Reichsautobahn gehörten bis 1941 ca. 9000 Brücken, drei Prozent davon waren die Großbrücken, die meist in Gemälden festgehalten wurden; sie waren damals schon beeindruckende Aushängeschilder – und scheinen es auch heute noch zu sein.

Laut Heck wurde eine „Trasse geschaffen, die in Ausführung und Eleganz in Deutschland ihresgleichen sucht.“ Etwas weiter im Text: „Dabei sind Brücken nicht nur Ingenieurbauwerke, sondern werden so geplant und ausgeführt, dass sie hervorragende ästhetische Eigenschaften besitzen und somit eine Bereicherung der ursprünglichen Landschaft, eines Tales oder eines Flusses darstellen.“ Gerade diese angebliche Bereicherung der Landschaft war auch für die Nationalsozialisten ein wichtiges Thema; die Reichsautobahnen sollten die deutschen Gaue nicht auf möglichst schnellen, sondern auf landschaftlich reizvollen Wegen verbinden. (Im Gegensatz zu den italienischen Schnellstraßen, die kurz vorher entstanden. Dort orientierten sich die Wegführungen, wie die Schiene, am einfachsten und kürzesten Weg.) Landschaftsanwalt Alwin Seifert schrieb 1936: „Für uns ist der Straße übergeordnet die deutsche Landschaft. Wenn alles Leben auf dieser Erde nur auf der Grundlage einer unzerstörten Harmonie des Naturganzen Dauer haben kann, so hängt Verstand und Echtheit des deutschen Volkes davon ab, daß sein Lebensraum, seine Landschaften in jener kraftvollen Gesundheit und inneren Ausgeglichenheit erhalten bleiben.“ Seifert ging es aber nicht nur um die Schönheit und Geschlossenheit eines Naturraums, sondern vor allem um den Wunsch, eben diesen zu verteidigen. Damit zog Seifert eine direkte Linie vom Straßenbau bzw. der Heimat zu kriegerischen Handlungen: „In einem von rücksichtslos geführten Verkehrswegen zerschlitzten, von Leitungen aller Art verdrahteten und seiner wilden Räume und Gebüsche beraubten Land wird der Einzelne wohl noch seine Brotstelle, auf Dauer aber nicht mehr ein geliebtes Vaterland verteidigen.“[2]

Auch zur Bauzeit bzw. den Kompromissen, die beim Bau gemacht werden, schreibt Heck kurz: „Kann Deutschland noch Großprojekte? Ja, es kann, wenn die Faktoren nicht im Klein-Klein ersticken.“ Damit wiederholt er, hoffentlich unwissentlich, genau die Argumente des NS-Staats. Straßenbau war in der Weimarer Republik Ländersache. Solange die Nationalsozialisten im Reichstag in der Opposition waren, stimmten sie gegen das Projekt Autobahn, zuletzt Anfang 1931. Auch in den Arbeits- und Wirtschaftprogrammen der NSDAP von 1932 fand sich noch kein Hinweis auf den Autobahnbau. Mit der Machtübergabe nutzten die Nationalsozialisten dann die Pläne der HaFraBa – und deuteten sie in ihrem Sinne um. Die größtenteils privatwirtschaftlichen Initiativen der HaFraBa, ihre Pläne sowie ihre Finanzierungsvorschläge konnten in der Weimarer Republik aus politischen und ökonomischen Gründen nicht erfolgreich sein. Erst ein zentralistischer, totalitärer Staat, der sowohl die Organisation als auch die Finanzierung übernahm, war nun in der Lage, ein derartig umfangreiches Projekt in relativ kurzer Zeit umzusetzen. Diese Assoziation wollte auch Hitler in seiner Rede zum ersten Spatenstich erwecken, indem er sagte: „Und ehe wieder Jahre vergehen, soll ein Riesenwerk zeugen von unserem Dienst, unserem Fleiß, unserer Fähigkeit und unserer Entschlußkraft.“ [3]

Was mich außerdem amüsiert hat, waren die vielen Anzeigen der am Bau beteiligten Firmen, die sich in Textbausteinen und Bildauffassungen nicht sehr von den Anzeigen der Firmen der Reichsautobahnen unterschieden, die zum Beispiel in Die Straße in jedem Heft inserierten. (Ein, zwei Beispiele. Auch für die Landschaftseinbindung.) Auch die öffentlichen Inszenierungen, die einen Spatenstich oder die Eröffnung eines Teilabschnitts begleiten, finden sich bei den Reichsautobahnen genauso wieder. Alleine 1938 wurden 42 Teilabschnitte eröffnet,[4] immer mit Pomp and Circumstances, was zur Bekanntmachung des Bauwerks vermutlich deutlich mehr beigetragen hat als gerade 44 Werke zu diesem Thema auf den Großen Deutschen Kunstausstellungen.

In der Beilage findet sich die Überschrift „Ingenieur*innen am Puls beim Bau AK Fürth/Erlangen“. Ich ignoriere mal das schiefe Bild mit dem Puls am Bau, aber immerhin: Anscheinend gibt es heute Frauen, die irgendwas mit der Autobahn zu tun haben, unglaublich. Die Welt der Reichsautobahn war eine eindeutige Männerwelt; selbst zuarbeitende Menschen wie Köche in den Arbeiterlagern entlang der Strecke waren, soweit ich Quellen und Bildmaterial kenne, immer Männer.

Die letzte Seite der 32 wagt dann einen Blick zurück: „Knapp 100 Jahre deutsche Autobahnen im stetigen Wandel“. In einer meiner Meinung nach äußerst unangemessenen Verkürzung heißt es: „Willy Hof gründete 1926 den “Verein zur Vorbereitung einer Autostraße Hansestädte–Frankfurt am Main–Basel” (HAFRABA) und besuchte 1933 zweimal die damaligen Machthaber in Berlin und unterbreitete dort die Planungen seiner Gesellschaft. Tatsächlich hatte die Reichsführung und seine Berater den hohen Wert der HAFRABA-Arbeiten für ihre Zwecke erkannt denn am 1. Mai 1933 verkündete man in Berlin offiziell den Bau eines Straßennetzes, das nur dem Automobilverkehr vorbehalten sein sollte.“ Hübsch euphemistisch einen Namen vermieden und grammatikalisch auch leicht daneben: „die Reichsführung und seine Berater“. Die beginnenden Bauarbeiten werden erwähnt und dann, huch, ist alles vorbei, und es werden „Kriegswirren und Aufbaujahre“ erwähnt. Eine historische Einordnung sieht anders aus. Immerhin wird bei einem Bild die Wikipedia als Quelle angegeben. Ich rate mal, woher der Rest kommt.

Falls euch das Thema etwas ausführlicher interessiert, müsst ihr auf die Veröffentlichung meiner Dissertation warten, die vermutlich Anfang 2022 erscheinen wird.


[1] Reismann, Otto: Deutschlands Autobahnen, Adolf Hitlers Straßen, Bayreuth 1937, S. 12.
[2] Beide Zitate Seifert, Alwin: „Natur, Technik und der deutsche Straßenbau“, in: Süddeutsche Monatshefte 10 (1936), S. 604–610, hier S. 607 bzw. 608.
[3] Reismann 1937, S. 3.
[4] Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941, Berlin 1996, S. 59.

Tagebuch Montag/Dienstag, 23./24. November 2020 – Toll und traurig

Das Gutachten zur Dissertation ist jetzt auch von meinem Doktorvater angekommen. Nach der Note der Zweitprüferin konnte ich auch von ihm erfreut eine 1,0 entgegennehmen, auf die ich mir durchaus etwas einbilde.

Ich erwähnte im Blogeintrag zur Verteidigung, dass ich das Gefühl gehabt hätte, bei einer Antwort nochmal nachjustieren zu müssen, weil die Frage nicht nur beim Doktorandenkolloquium, sondern eben auch bei der Verteidigung kam: Sollte man einen Künstler, der sich in den Dienst des NS-Systems gestellt hat, genauso aufarbeiten wie jeden anderen? Meine Antwort war ja, solange der Kontext stets deutlich gemacht wird. Im Gegensatz zur Zweitprüferin scheint mein Doktorvater mit mir übereinzustimmen, weswegen ich nun ahne, dass er mir die Frage erneut stellte, damit auch die anderen Prüfer:innen die Antwort hören. Ich zitiere aus dem Gutachten: „Grundsätzlich kann die Arbeitsperspektive der Verf. durch Ernstnehmen charakterisiert werden; diese banale Selbstverständlichkeit ist deshalb der Erwähnung wert, weil das Oeuvre von Protzen – anders als bei Leonardo, Picasso oder Klee – eben nicht einmal ansatz- oder umrissweise als gesichert gelten kann. Das künstlerische Werk muss zunächst in extenso konfiguriert werden, in Entwicklung, Umfang und Dichte.“ Ebent. Danke.

Mein Bildfund, über den ich mich sehr gefreut habe und über den ich leider noch großflächig schweigen muss/will bis zur Veröffentlichung, wurde als „spektakulär“ bezeichnet, und die innere Kommafee errötete zufrieden bei den Sätzen „In formaler Hinsicht ist die Arbeit exzellent. Die Zahl der Tippfehler ist definitiv einstellig. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind makellos. Die Studie ist ausgesprochen sorgfältig.“ Eine Million Korrekturgänge haben sich gelohnt!

Auch hier war natürlich Kritik zu lesen, die ich aber ebenso nachvollziehen kann wie die im anderen Gutachten. Ich freue mich auf die Überarbeitung.

Aber erstmal ist die alte Heimat wieder sehr aktuell. Aus Gründen, wie es so schön heißt, habe ich mich Sonntag in einen Zug gesetzt. Väterchen baut leider sehr ab, findet Worte nicht, kann sich nicht mitteilen, es ist, als ob die Systeme teilweise langsam runterfahren. Daher kann ich meinen neuen Titel gerade nicht ganz so genießen wie ich gerne möchte, aber, unglaublich, es gibt Wichtigeres.

Ich durfte wieder das schicke Auto der Eltern fahren und vor allem mal schneller als 30. Jetzt weiß ich auch, wie sich eine automatische Lenkkorrektur anfühlt; verdammtes modernes Zeug! Wenn ich zu weit rechts fahren will, dann will ich zu weit rechts fahren! (Ich scherze.) Und: Ich durfte nach 30 Jahren wieder erfahren, im wahrsten Sinne des Wortes, was es heißt, auf den Land zu wohnen: Man hängt ewig hinter Treckern.

Papa ist eingeschlafen, während ich ihm die Haare schnitt. Falls das mit der Wissenschaft nichts wird, eröffne ich einen Salon: „Kein Gequatsche, nur Geschnippel.“ Ich sehe eine Marktlücke.

Tagebuch Sonntag, 22. November 2020 – Doch noch ein Doktorhut

Meine Schwester hat mir einen gebastelt. Oder eher: dem nächsten Lindt-Schokobär, den ich nicht essen kann.

Für die Notizen: Den gestrigen Zug von München nach Hannover buchte ich erst am Samstag. Ich konnte noch relativ viele Plätze anwählen (1. Klasse), beim Einsteigen sah ich, dass geschätzt ein Viertel der Plätze reserviert war. Losgefahren sind wir dann mit drei Leuten im Großraumwagen, bis Hannover waren es, wenn ich richtig gezählt habe, nie mehr als acht. Ich trug zum ersten Mal eine FFP2-Maske und fand es absolut erträglich. Oder besser: Schade, dass ich nicht dauernd snacken kann, aber wenn man nur rumsitzt und liest und Podcasts hört, stört die Maske quasi null.

Ein kriselndes Dankeschön …

… an Christine, die mich mit Detlev Peukerts Die Weimarer Republik: Krisenjahre der Klassischen Moderne überraschte. Der Herr lief mir neulich beim Abstractschreiben wieder über den Weg und da dachte ich mir, wenigstens einen Standardtext von ihm könntest du auch mal im Regal haben. Habe ich jetzt. Vielen Dank für das Geschenk und die Glückwünsche, ich habe mich sehr gefreut.

Nebenbei, nee, nicht nebenbei: Vielen Dank an die vielen Menschen, die mir per Mail, Twitter, Insta, PayPal und eben per Wunschzettel zur bestandenen Prüfung gratuliert haben. Auch darüber habe ich mich sehr gefreut! (Da muss ein Ausrufezeichen hin.)

Was schön war, Freitag, 20. November 2020 – Nachfeiern und Yodas backen

F. hatte sich Urlaub genommen, also schliefen wir beide sehr lange aus. Nachdem der Herr zu sich spaziert war, begann ich meinen langen Blogeintrag von gestern zu den erfreulichen Ereignissen vorgestern. (Vorgestern? Fühlt sich an wie ne Woche her.) Gerade als ich ihn veröffentlichen wollte, klingelte mein Handy, eine alte Freundin war dran, was ich am Display sah, und so meldete ich mich nur halb-ironisch mit „Frau Dr. des. Gröner, guten Tag?“, woraufhin es aus dem Handy kreischte: „ICH HAB NUR ANGERUFEN, DAMIT DU DICH SO MELDEN KANNST!“ (Herzchen-Emoji!)

Den Wocheneinkauf erledigt, wobei ich wieder merkte, dass es manchen sehr bewusst ist, dass Pandemie ist – ausweichen auf dem Gehweg, am Eingang des Supermarkts gucken, ob einem jemand entgegenkommt – oder egal, so wie dem Herrn, der sich ernsthaft ohne jeden Abstand an mir vorbeidrängelte, um in einen bestimmten Gang zu kommen. Okay, vielleicht ist der immer ein Arsch.

Sehr lange mit Mütterchen und Schwesterherz telefoniert aus Gründen.

Anschließend startete ich den ersten weihnachtlichen Backvorgang in diesem Jahr. Es sollte eine Runde schlichte Mürbeteigkekse werden, weil ich ein paar von ihnen besonders ausstechen und dekorieren wollte. Die zwei schönsten aßen F. und ich gestern abend blöderweise schon auf, bevor ich ein Einzelfoto von einem machen konnte. Kenner:innen sehen natürlich das Star-Trek-Emblem beim undekorierten und viel zu dunkel gewordenen Yoda. Eat this, komisches Universum.

Den Trick mit dem Engelausstecher ohne Kopf hatte mir natürlich das Internet und seine vielen seltsamen Foren verraten. Auch gelernt: einen Braunton mit Lebensmittelfarbe anzumischen, der nicht völlig unappetitlich aussieht, ist gar nicht so einfach.

Das Festessen holte F. vom Broeding ab, das für Freitag- und Samstagabend ein Menü to go plus Weinbegleitung anbietet. Ich kann das sehr empfehlen. Ich vergaß allerdings leider, die gut gepackte Tüte zu fotografieren, in der sich Brot, Salat, ein Hauptgang und ein Dessert für zwei verbargen.

Zunächst buk ich das kleine Kürbiskernbrot im Ofen auf und wir genossen dazu den Ziegenfrischkäse, der in einem kleinen Gläschen mitgeliefert wurde. Der Salat bestand aus gegrilltem Rosenkohl (wir waren skeptisch), der mit Zitrusfilets, Erdnüssen, gegrillten Zwiebeln und ordentlich Koriander serviert wurde (wir waren erfreut) und der hübsch angerichtet in runden Pappboxen kam. Ich schaufelte es trotzdem auf einen Teller, weswegen es dann nicht mehr ganz so hübsch angerichtet war.

Während wir den Salat aßen, wärmte ich den Hauptgang im Ofen auf: Es gab Ragout vom Bio-Kalb, Perigord-Trüffel, Kartoffel-Käse-Püree und Zuckerhut aus eigenem Anbau. Letzter kam in einem extra Weckgläschen, alles andere kam geschichtet in einem weiteren Glas.

Zum Abschluss erfreuten wir uns an Schokokuchen Grand crû de Terroir und jeweils einer halben leicht gekochten Birne. Dazu gab’s – natürlich – österreichischen Rot- und Schaumwein, den weißen, der zum Salat möglich gewesen wäre, ließen wir allerdings aus, das schien uns für zwei ein bisschen Overkill zu sein.

Das jeweilige Wochen-Menü steht auf der Website vom Broeding und muss bis Donnerstag vorbestellt und dann am bestellten Tag in einem großzügigen Zeitfenster von, wenn ich mich an F.s Beschreibung richtig erinnere, 90 Minuten abgeholt werden. Es ist alles vorverpackt, man muss nicht nach Hause hetzen, damit nichts kalt wird, weil es eh zuhause nochmal in den Ofen kommt. Eine genaue Anleitung liegt bei. Gerne wieder!

Apropos essen: Samin Nosrat, Köchin und Kochbuchautorin, schrieb gestern auf Instagram, dass sie in diesem Jahr weitaus weniger Fotos von ihren Mahlzeiten gepostet hatte:

„If people were like trees and after I die you were to cut me open and examine me, my 2020 ring would consist mainly of whole grain peanut butter toast. This is one of the main reasons why I haven’t posted many photos of my cooking this year — there honestly hasn’t been much. Lots of peanut butter toast, lots of rice and beans, lots of rice and broccoli. And when I have had the energy or good fortune to cook something lovely, it’s often felt wrong to post a picture of it when I know so many other people have nothing to eat, or are just struggling so hard to keep it together right now. I don’t know. This year is just such a pile of dung. This week has been particularly hard. I hope everyone is staying safe and taking care of yourselves and your loved ones.“

Das passte in meine schon länger vertretene Grundaussage, dass wir bitte alle etwas netter zu uns selbst sein sollten. Niemand muss im Lockdown zwei Fremdsprachen und Jonglieren lernen, man darf auch in seinem Job etwas weniger produktiv sein, es ist verdammt nochmal Pandemie und Ausnahmesituation.

Der Post passte aber auch zu einem anderen Post, nämlich von Vinoroma, der bei einer Mahlzeit die Tränen kamen. Ich musste an meinen durchgeflennten zweiten Gang im Tantris denken, wo der Wein mich schlicht nicht aufhören ließ zu weinen. Manchmal reichen auch die kleinen Dinge, um uns daran zu erinnern, dass wir noch hier sind.

„I still can’t tell you what exactly happened to me as i was eating this. It was October 8th, during a relative lull in the pandemic numbers in our area, when restaurants were allowed to be open and we enjoyed the still warm weather sitting outside on the makeshift patio of our favorite restaurant. ⁣

I took my first forkful and it just hit me. I couldn’t hold back the tears. I ate the whole plate while tears were streaming down my face, that had never happened to me before. I had found dishes amazing and orgasmic and unforgettable and even proposed marriage to a cook once or twice…. but had never cried before. ⁣[…]

And that might be the best way to describe why i love SantoPalato so much. Other than the tangible superiority in product quality, the finest palate in combining and balancing flavors, the surest hand in executing elevated techniques for seemingly simple dishes, it is the love and passion of the whole team led by Sarah, evident in everything even during this time of uncertainty as to safety, lacking social interactions and failing businesses. It is how they still say: “We love you. We will keep on cooking and serving as long as we can. This is what we do.”⁣“

Was schön war, Donnerstag, 19. November 2020 – Erfolgreich verteidigt, Pizza und Champagner (Und dann noch einen) ((Ach, weil’s grad so nett ist))

Die Mail vom Doktorvater kam vorgestern abend noch: Bitte um 9.45 Uhr zur lauschigen Zoom-Konferenz einwählen, damit wir notfalls noch an der Technik rumzuppeln und dann um 10 starten können. Sine tempore! Das dürfte der einzige Termin in acht Jahren Uni sein, der nicht c. t. losging. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Ich war seit fünf Uhr wach, keine Ahnung, warum, haha, kochte Kaffee, verbrachte nutzlos viel Zeit im Bad, warf mich in anständige Klamotten anstatt der üblichen Leggings und bestaunte mein sehr leergeräumtes Arbeitszimmer. Die Uni hatte mir mitgeteilt, dass man bei Zoom-Konferenzen erstmal seinen Ausweis in die Kamera halten müsse, man weiß ja nie, wer da einen Doktortitel haben will, und dann sollte man der Kommission einen 360-Grad-Rundumblick seiner Umgebung gönnen, damit da niemand unter dem Schreibtisch hockt, der mir Spickzettel zusteckt. Glaube ich jedenfalls, dass das der Grund ist, mir fällt sonst keiner ein außer alle Uni-Menschen gucken sich wie ich gerne fremde Wohnungen an, aber dafür gibt es ja Instagram.

Ich hatte vorgestern also brav nicht nur in allen Ecken staubgesaugt und -gewischt, sondern auch die Yogamatte ins Schlafzimmer getragen, die plüschigen Simpsons-Schuhe nach nebenan gebracht, das Stofftier vom Sofa genommen und, vermutlich in einer irren Übersprungshandlung, das deutlich am Rücken zu erkennende Buch des Drittprüfers hinter mir aus dem Regal gezogen und es in meine Nicht-Arbeits-Bibliothek nebenan gebracht, damit nicht der Eindruck einstehen könnte, ich würde mich irgendwie einschleimen wollen.

Donnerstag morgen tigerte ich dann sinnlos in der Gegend rum, ging nochmal meine Karteikarten durch, schlug noch eine Sache in der Diss nach, die mir im Bad eingefallen war, und natürlich kam quasi nichts von dem dran, was ich gelernt hatte. Fast nichts, ein paar Statistiken und Fun Facts konnte ich unterbringen, aber vermutlich dienten diese Karten eh nur dazu, meine eigene Nervosität zu bekämpfen. Ich habe noch nie eine Dissertation verteidigt, ich wusste schlicht nicht, was auf mich zukommt.

Um 9.44 Uhr saß ich aufgehübscht am Rechner, LMU-Studiausweis und Perso neben mir, ich hatte gerade noch das Post-it auf dem Schreibtisch befolgt – „Handy in Flugmodus, alle Programme außer Mail aus“ und das dann bei beginnender Prüfung auch, weil Mails bei mir sichtbar auf dem Bildschirm aufploppen und ich nicht wollte, dass bei freigegebenem Bildschirm blöder Spam auftauchte, den mein Filter nicht erwischt hatte. Vergaß ich natürlich, aber so sah ich immerhin mitten in der Prüfung (ohne freigegebenen Bildschirm) eine freundliche PayPal-Spende, dankeschön!

Ich loggte mich um 9.46 ein, man will ja nicht übereifrig erscheinen, Papi war schon da, der Rest ließ sich noch etwas Zeit, was meinem Doktorvater die Gelegenheit gab, mir noch einen Tipp mitzugeben. Seine Doktormutter hätte ihm nach der Prüfung gesagt, er habe wie ein Tagesschausprecher gewirkt – ich könne ruhig so locker sprechen wie immer. Gut, dass ich das nur halb beherzigt habe, denn auch durch das Blog habe ich mir in den letzten Jahren einen gewissen Plauderton angewöhnt, wenn es um schlimme Nazikunst geht. Dem versuchte ich bewusst in den letzten Tagen gegenzusteuern und redete selbst mit mir, als ob ich vor einem Uni-Seminar stände und ich meine, das war eine gute Idee. Ein paar Flapsismen sind mir durchgerutscht, aber das schien die Note nicht beeinträchtigt zu haben.

Wir warteten zu fünft (drei Prüfer:innen, die Protokollantin, icke), bis es Punkt 10 war, dann sollte ich mit meinem Vortrag anfangen. Ich fragte, ob ich nicht noch den Ausweis zeigen und den Schwenk machen … aber alle winkten nur amüsiert ab, nee, Quatsch, geht los jetzt. UMSONST STAUBGEWISCHT!

Ich überzog meine 15 Minuten etwas, was aber auch daran lag, dass sich das Internet bei einem Prüfer verabschiedete und dann auch kurz bei mir, supi, war aber alles kein Beinbruch. Generell war es eine äußerst entspannte Geprächssituation, aber ein paar Fragen brachte mich dann doch ins Schwitzen. Schon beim Doktorandenkolloquium wurde ich gefragt, ob man einen Künstler, der sich in den Dienst des NS-Systems gestellt hätte, genauso wissenschaftlich aufarbeiten sollte, dürfte, müsste wie jeden anderen. Vor vier Wochen bejahte ich das, aber als die Frage gestern noch einmal kam, ahnte ich, dass es noch eine andere Antwortmöglichkeit geben müsste, die mir blöderweise nicht einfiel. Ich begründete meine Antwort damit, dass die Damen und Herren auf der GDK größtenteils ausgebildete Künstler:innen gewesen seien (auch Protzen hat hier in München studiert), die Werke wurden als Kunst produziert und als Kunst gehandelt – dass Teile meines Fachs sie als „Unkunst“ bezeichnen, zum Beispiel Max Imdahl, halte ich für falsch. Dementsprechend würde ich auch die Handelnden nicht anders aufarbeiten als Künstler:innen aus anderen Epochen. Es muss allerdings immer der Kontext gegeben werden, in dem ihre Werke entstanden; deswegen sind die Werke zur Reichsautobahn auch keine Industrieabbildung oder eine Landschaftsdarstellung, sondern Teil einer politischen Inszenierung. Aber da die Frage bereits zum zweiten Mal kam, werde ich über diese Aussage bis zur Drucklegung der Diss noch weiter nachdenken.

Auch andere Fragen ließen mich ahnen, an welchen Stellen ich noch nacharbeiten muss – oder sollte: Ich kann das Ding jetzt sofort auf den Uniserver stellen und dann darf ich mich „Doktor“ nennen, ich nehme die Pointe des Eintrags mal total vorweg. Ich kann das ganze aber auch noch überarbeiten und erst dann veröffentlichen, bis dahin darf ich mich laut meiner Prüfungsordnung Dr. des. nennen. (Ich habe gerade aus dem verlinkten Artikel gelernt, dass die weibliche Form dieses Titels „Doctrix designata“ lautet, was für mich wie eine finnische Heavy-Metal-Band klingt and I think that’s beautiful.)

Mein Vortrag war übrigens abgelesen. Acht Uni-Jahre lang habe ich immer bequengelt, wenn Leute vorlesen und nicht frei sprechen, aber ich wollte meine Punkte exakt und sauber rüberbringen und das ging am besten mit Ablesen. Ich ahne, dass ich so sogar langsamer spreche als normal, was nie ein Fehler ist.

Weitere Fragen bezogen sich auf meine inhaltliche Anordnung – ob ich auch über eine andere als über die chronologische nachgedacht hatte? (Ja, sogar ausprobiert.) Es wurde nach einer speziellen Einordnung gefragt, über die ich lustigerweise gerade einen Abstract für einen Vortrag geschrieben hatte, das schien also eine gute Idee gewesen zu sein. Es ging um bildwissenschaftliche Fragen, bei denen ich immer glaube, keine Ahnung zu haben, weil ich mich eher als Kunst*historikerin* sehe anstatt als Bildwissenschaftlerin. Generell gaben mir die Fragen eine Ahnung davon, was der Arbeit gefehlt hatte bzw. welche Gedanken sie noch besser machen könnten, was ich sehr hilfreich fand. Auch wenn ich mir innerlich ständig an die Stirn schlug, so nach dem Motto „Da hättest du auch selbst drauf kommen können.“

Natürlich hatte ich die 45 Minuten nach dem Vortrag das Gefühl, nur Quatsch zu reden, aber es schien okay gewesen zu sein. Nach gut einer Stunde wurde ich per Zoom in den Warteraum geschubst, saß sinnlos vor dem Rechner, wagte es nicht, aufs Klo zu gehen und wurde schließlich nach 15 Minuten wieder reingebeten. „Frau Gröner, die gute Nachricht vorneweg: Sie haben bestanden.“ Ich machte anscheinend ein Idiotengesicht, alle freuten sich mit mir. „Die Diss haben wir mit magna cum laude bewertet, die Verteidigung ebenso, daher ergibt sich eine Gesamtnote von … “ Schon klar, aber schön, es zu hören. Ich machte weiter mein Idiotengesicht, bemühte mich, total professionell nicht zu heulen, weil dann doch arg viel Spannung abfiel, es ging noch um ein paar Formalitäten und dann war ich Doktor (des.).

Normalerweise hätte ich dann den Raum in der Uni oder im Zentralinstitut für Kunstgeschichte verlassen, F. und vielleicht noch ein paar andere Menschen hätten draußen auf mich gewartet, möglicherweise mit Sekt und einem gebastelten Doktorhut, aber das fiel gestern leider alles aus. Ich klappte den Rechner zu und guckte, wie ich mich so als Doktor fühlte und dann fing ich endlich an zu heulen.

Nachdem die Tränen getrocknet waren, wurde das Mütterchen angerufen, dann bekam F. eine DM, wir verabredeten, wann er rumkommen sollte, danach empfingen die beiden Hamburger Damen gleichzeitig eine WhatsApp mit dem Doktorhut-Emoji, woraufhin ich mit gifs überschüttet wurde, anschließend bekam Schwesterherz eine WhatsApp und dann twitterte ich.

Und dann stand ich weiter sinnlos im Arbeitszimmer rum und wusste nichts mit mir anzufangen. Das war doch ein arg antiklimaktisches (vorläufiges) Ende von drei Jahren Promotion. Ich schlüpfte in die Bequemklamotten, aber das kam mir sofort falsch vor, also zog ich das Verteidigungs-Outfit wieder an und behielt es auch bis nach der letzten Flasche Champagner an, wie sich das am Tag der Disputation gehört.

F. kam netterweise recht schnell vorbei und überreichte mir das passendste Geschenk aller Geschenke:

Dann öffneten wir die erste von drei Flaschen Champagner bzw. Schaumwein und ließen es uns gutgehen. Mittendrin trudelte das Gutachten der Zweitprüferin ein, das mich sehr freute und an dem ich auch sehen konnte, wo meine eigenen Zweifel an der Arbeit (leider) berechtigt gewesen waren. Sehr gute Denkanstöße, die ich vermutlich alle umsetzen werde. Außerdem stand da auch die Note von 1,0 für die Diss, was mich außerordentlich freute. (Gutachten von Vati ist noch nicht da.) Edit: Auch vom Doktorvater gab’s eine 1,0, auf die ich mir durchaus etwas einbilde.

Irgendwann wurde Pizza bestellt, ich sah die vielen, vielen Glückwünsche auf Twitter (DANKESCHÖN!) und begann mich so langsam zu freuen. Das fehlte nämlich irgendwie, ich war so angespannt, dass ich mich erst allmählich an den Titel gewöhnte. Seit Jahren hatte ich ihn haben wollen und jetzt, wo er quasi da ist, war es eher so „Okay then. Next!“

Da wir bereits um 13 Uhr mit dem lustigen Trinken begonnen hatten, lagen wir um 22 Uhr äußerst erschöpft im Bett. Eine Reservierung im Lieblingsrestaurant zum Feiern war, genau wie die Prüfung vor Ort an der Uni, aus bekannten Gründen nicht möglich, aber das holen wir heute so halbwegs nach: Das Broeding bietet Menüs to go an, die F. uns heute abend anschleppen wird.

2020 mag ein richtiges Scheißjahr sein, aber es ist jetzt auch das, in dem ich meinen Doktortitel bekam. Frau Dr. des. ruht sich nun erstmal ein paar Tage aus.

Tagebuch seit irgendwann, ich zähle nur noch die Tage runter

Morgen wird die Dissertation verteidigt. Montag war ich noch einmal im ZI und las ein paar grundlegende Texte durch, die ich zwar alle kenne, aber man weiß ja nie. Weiß ich übrigens wirklich nicht, ich habe keine Ahnung, wie eine Verteidigung abläuft. Die Promotionsordnung sagt folgendes:

„Die Disputation ist hochschulöffentlich und soll mindestens 60 Minuten und höchstens 90 Minuten dauern. Die Doktorandin oder der Doktorand hält ein 15-minütiges Referat zu Thesen, die überwiegend ihre oder seine Dissertation betreffen. Die anschließende Fachdiskussion geht vorwiegend auf Themen und Fragen ein, die sachlich oder methodisch mit der Dissertation zusammenhängen, und soll sich auch auf das Fach der Promotion erstrecken.“

(Ich meine ja, dass der Begriff „Doktorand:innen“ diesen Block viel lesbarer gemacht hätten, aber das ist eine andere Baustelle.)

Mein 15-minütiges Referat dauert nach dem gestrigen Durchgang 16 Minuten, das nehme ich so. Ich habe nicht alle Thesen und Fragestellungen meiner Diss drin, aber dann würden auch 30 Minuten nicht reichen. Vor den Themen und Fragen, die sich sachlich und methodisch auf meine Diss beziehen, fürchte ich mich nicht, denn ich glaube, über NS-Kunst habe ich in den letzten Jahren oft genug gebloggt, das habe ich drauf. Außerdem: yes, please, fragt mich nach meinen Methoden! Ich plaudere so gerne aus Archiven.

Was mich nervös macht, sind die Fragen zum Fach allgemein. Was fragt man denn da? „Frau Gröner, wie halten Sie’s denn mit der Kunst?“ „Hm? Was?“ Keine Ahnung. Ich habe in den letzten Tagen neben der Diss und den Texten zur NS-Kunst nochmal die Autobahngeschichte aufgefrischt, obwohl dazu vermutlich nichts kommen wird, was total schade ist, weil ich jetzt NOCH MEHR weiß als das, was schon in der Diss steht. Ich bin nicht wegen der Prüfung nervös, sondern weil ich auf kaum etwas vernünftig lernen kann. Lernen beruhigt mich immer.

Stattdessen ein paar Folgen „The Crown“ geguckt und nicht Fußball. War wohl eine gute Entscheidung.

Gestern außerdem den Kopf durch einen Spaziergang zur Bibliothek freigemacht. Normalerweise radele ich zum Buchabgeben nur flink hin, aber dieses Mal nahm ich den für mich beschwerlicheren Fußweg auf mich. Das war schön. Beim Überqueren des Alten Nordfriedhofs sah ich drei Menschen, die Fitnessübungen vollführten, auf einer Decke mit Gerätschaften. Ich weiß selber nicht, warum mich das deutlich mehr störte als die joggenden Menschen zwischen den Gräbern. War der englische Garten zu voll?

Vorgestern holte ich ein Päckchen aus dem Briefkasten, in dem sich zwei Masken von FaceIt befanden. Die hätten eigentlich schon vor zwei Wochen hier sein sollen, aber ich Depp hatte mich bei der Postnummer für die Packstation verschrieben. Also schrieb ich eine Mail und bat um erneute Zusendung, falls das Päckchen (aka der dickere Briefumschlag, der auch in meinen Briefkasten passt, worüber ich auch nicht nachgedacht hatte) schon per Retoure wieder in Berlin wäre. Fünf Minuten nach der Mail klingelte mein Handy, FaceIt war dran und bedauerte die Umstände, obwohl das ja alles meine Schuld gewesen ist. Ich hoffte darauf, dass die Sendung noch retour ging, denn wenn man sieben Tage nichts aus der Station holt, geht es ja zurück. Mir wurde zugesichert, dass man das nochmal verschicken würde, so passierte es auch, und so sah das vorgestern aus:

Das fand ich sehr nett. Und die Maske trägt sich auch gut: Der höhere Nasensteg ist für mich als Brillenträgerin praktisch, einen Alu-Bügel zum Zurechtklemmen gibt’s auch, die Ohrschlaufen kann man in der Weite verstellen und überhaupt gibt es verschiedene Größen für die Masken, was ich auch gut finde mit meinen dicken Bäckchen. Außerdem kann man die Weite zusätzlich mit einer Perlenschnur am Hinterkopf feststellen. Und wenn man die Maske nicht auf der Nase trägt, baumelt sie an dieser Schnur um den Hals. Top! Der Tipp für die Maske kam vom @frequenzfisch, dem ich als Brillenträger gleich geglaubt habe.

Ein säuerliches Dankeschön …

… an Jakob, der mich mit meinem zweiten Brotbackbuch überraschte, nämlich Brot backen in Perfektion mit Sauerteig von Lutz Geißler, den wir alle vom Plötzblog kennen und schätzen. Sein Hefebackbuch wird hier brav durchgebacken, gerade vor einigen Wochen standen mal wieder Baguettes auf dem Speiseplan. Jetzt habe ich auch eine idiotensichere Anleitung für verschiedene Sauerteige.

Einen hatte ich zu Beginn der Pandemie schon mal nach Ratschlägen aus dem Interweb angesetzt, merkte aber, dass ich doch nicht so oft Brot backe wie mit Hefe, was möglicherweise auch am damals eingeschränkten Mehlangebot lag. Nebenbei ließ die Triebkraft des Ansatzes doch ziemlich nach, vermutlich hatte ich irgendwas falsch gemacht, so dass ich irgendwann Hefe beimischte und mich schließlich fragte, warum ich dann nicht gleich nur mit Hefe backe. Weil ich aber weiß, wie gut Sauerteigbrot schmeckt, starte ich gleich mal ein neues Gläschen im Kühlschrank anstatt wie in der letzten Zeit dauernd zum tollsten Bäcker Münchens zu rennen. Vor allem, weil jetzt, im Gegensatz zum Beginn der Pandemie, auch anscheinend genug Mehl im Handel ist, so dass ich lustige Dinge wie Roggenvollkorn Type 1150 einkaufen kann, das ich bisher noch nicht im Schrank hatte. Vielen Dank für das Geschenk (und die vielen anderen vorher sowie die PayPal-Spenden, much appreciated gerade!), ich habe mich wie immer sehr gefreut.