Leseliste 2023

2022, 2021.

Bücher, die ich euch empfehlen möchte, haben einen Stern (kann man gut machen) oder zwei Sterne (kann man sehr gut machen).

1. Han Kang (Ki-Hyang Lee, Übers.): Die Vegetarierin *
Ein anstrengendes Frauenbild, was aber Sinn ergibt, denn genau das wird angeprangert. Faszinierend zu lesen, aber definitiv kein Gute-Laune-Buch.

2. Max-Jacob Ost: Aus Liebe zum Spiel. Uli Hoeneß, das Geld und der deutsche Fußball **
Auch wenn man sich wie ich null für Hoeneß interessiert, sehr spannend und lesbar. Viel über die Bundesliga und ihre Entwicklung in den letzten 50 Jahren gelernt.

3. Don DeLillo: White Noise *
Erste Hälfte fand ich großartig, auch die Schilderung des Chemieunfalls und die unmittelbaren Folgen auf einzelne Figuren. Dann glitt es für mich ab in zu viel Gequatsche und ab da hatte mich das Buch verloren. Die letzten 40 Seiten quergelesen.

4. Barbara Bloemink: Florine Stettheimer. A Biography *
Bisschen viel erklärbärig, was die Werkbeschreibungen angeht, zu viel Poesie. Aber: tolle Abbildungen, schöner Gesamtbogen.

5. Karl Jakob Hirsch: Kaiserwetter *
Schöne moderne Sprache (1931), leider aber, wie zu erwarten gewesen war, zu viele männliche Figuren. Mich hätten ein paar der Damen mehr interessiert, die einfach so aus dem Plot fielen.

6. David de Jong (Michael Schickenberg/Jörg Pinnow, Übers.): Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien *
Spannend erzählt, mir manchmal zu journalistisch und zu wenig akademisch-historisch, aber das will das Buch ja auch gar nicht sein. Macht logischerweise nie gute Laune.

7. Joseph Roth: Die Kapuzinergruft **
Roth halt. Roth geht immer.

8. Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus **
Bin über den maskulinen Untertitel gestolpert, konnte aber befriedigt feststellen, dass es auch Schriftstellerinnen gab, mit denen es sich zu beschäftigen lohnt. Sehr lesbares Kompendium, sehr viele Schlaglichter, sehr viele Fäden, die man auch nach dem Buchende verfolgen möchte.

9. Margret Greiner: Charlotte Salomon *
Nerviger Stil, zu viel Roman, trotzdem die Geschichte mitgenommen, lese aber doch deutlich lieber Sachbücher zu Künstler*innen.

10. Joseph Roth: Die Legende vom heiligen Trinker **
Roth halt. Roth geht immer.

11. Hans Fallada: Der Trinker **
Fallada halt. Fallada geht immer.

12. Sayaka Murata (Ursula Gräfe, Übers.): Das Seidenraupenzimmer **
Von Murata hatte ich im letzten Jahr Die Ladenhüterin gelesen, was zu meinen Lieblingen gehörte. Das hier fängt etwas behäbig an und dreht dann völlig durch.

13. Clemens Meyer: Als wir träumten **
Die NZZ meinte, 300 Seiten zu lang, ja, vielleicht, aber ich habe auch diese 300 Seiten gerne gelesen.

14. Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach? *
In sich und die eigene Stimme total verknallt , aber dann doch so verführerisch runtergeschrieben, dass ich es in einem Zug durchgelesen habe.

15. Joseph Roth: Hiob **
Ihr wisst schon.

16. Anne Enright: The Green Road **
Verschiedene Personen erhalten verschiedene Stimmen, um sich im letzten Kapitel zusammenzufinden. Gerade das letzte Kapitel fand ich am beliebigsten, aber für alle anderen lohnt es sich.

17. Lipika Pelham: Jerusalem on the Amstel *
Sehr viel gelernt über die jüdischen Einwander*innen aus dem Spanien und Portugal der Inquisition und wie diese mithalfen, das Goldene Zeitalter der Niederlande zu begründen. Manchmal wiederholt sich einiges, manche Abzweigungen habe ich nicht verstanden. Trotzdem eine Empfehlung.

18. Jörg Johnen: Warhol und das schreckliche Kind **
Johnen erzählt, wie er als schwuler Mann in der alten Bundesrepublik aufwuchs und wie Kunst und Literatur ihn nicht am Leben verzweifeln ließen. Außerdem ein bisschen Kunstmarkttratsch. Runtergelesen.

19. Wolfgang Koeppen: Eine unglückliche Liebe *
Von Koeppen habe ich bisher alles verschlungen und geliebt, mit diesem schmalen Band von 1934 habe ich gehadert. Vielleicht weil es noch nicht nach dem Koeppen klang, den ich so mag.

20. Franny Moyle: Turner. The Extraordinary Life and Momentous Times of J.M.W. Turner **
Wurde mir von einer Kuratorin aus dem Lenbachhaus geliehen, weil ich für das Museum einen Newsletter und einen Blogeintrag über den Maler schreiben sollte. War manchmal sehr kleinteilig, was für die Kuratorin natürlich toll war, für mich, die eher einen Überblick suchte, der über die Wikipedia hinausgeht, war es irgendwann etwas zu viel. Trotzdem klare Empfehlung für alle, die mehr über den Maler wissen möchten.

21. Gregor Hofmann: Mitspieler der „Volksgemeinschaft“. Der FC Bayern und der Nationalsozialismus **
Große Empfehlung, nicht nur für Fans dieses Vereins. Ja, es geht um Fußball und Trophäen, aber noch mehr geht es um den nationalsozialistischen Staat bzw. die „Hauptstadt der Bewegung“ München und wie man sich beidem anpasst oder verweigert. Sehr detailreich und für ein wissenschaftliches Buch sehr lesbar geschrieben.

22. Michiko Aoyama (Sabine Mangold, Übers.): Frau Komachi empfiehlt ein Buch *
Keine große Literatur, aber ein charmantes kleines Buch, das mich ein paar Tage begleiten konnte. Ich habe die Story der Bibliothekarin, deren Buchempfehlungen weit mehr sind als nur Lesetipps, gerne verfolgt.

23. Alena Schröder: Bei euch ist es immer so unheimlich still **
An einem Vormittag runtergelesen. Wie Schröders erstes Buch sehr dicht geschrieben, wenn mir auch manche Klischees der Dorfbewohner*innen zu klischeeig geworden sind.

24. Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere **
Zu Recht ein Klassiker. Teilweise anstrengend, wenn es um Schilderungen einer Schwarzen Person geht, und dicke Menschen mochte Mann wohl auch nicht, aber das nehme ich in Kauf.

25. Ernst Wiechert: Das Totenhaus **
Wiechert war 1937 für einige Monate in Buchenwald interniert. Nach seiner Entlassung schrieb er den Roman Das einfache Leben, was ein großer Erfolg in Deutschland wurde, bevor er die Kraft hatte, im Totenwald über Buchenwald zu schreiben. Er vergrub das Manuskript; das Buch wurde erst 1946 veröffentlicht. Es kolportiert etwas Sprache und Inhalt der NS-Zeit, es hat kaum Abstand zu den Geschehnissen, wie denn auch, und das kann man ihm durchaus vorwerfen. Mich hat das Buch verstummen lassen. Absolute Empfehlung.

26. Colson Whitehead: The Nickel Boys **
Die Geschichte über einen Schwarzen Jugendlichen, der in einer Besserungsanstalt im Florida der 1960er Jahre landet, beruht auf einer wahren Begebenheit. Ähnlich hervorragend lesbar wie Whiteheads The Underground Railroad. Wichtige Details der Geschichte des Schwarzen Amerikas, die ich so noch nicht kannte oder wahrgenommen habe.

27. Ernst Wiechert: Das einfache Leben **
Überrascht gern gelesen und hier verbloggt.

28. Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft **
Sehr viel gelernt, sehr viel nachgedacht.

29. Bov Bjerg: Der Vorleser *
Schöne Grundidee, aber hört für mich irgendwie mittendrin auf. Trotzdem gern gelesen.

30. Michael Wildt: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte **
Aufsatzsammlung, weswegen sich manches wiederholt. Trotzdem sehr aufschlussreich.

31. Jörg Skriebeleit: Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder **
Sehr vieles über die Orte von Konzentrationslagern nach 1945 gelernt. Auch noch nie darüber nachgedacht, was nach der Befreiung mit diesen Stätten, Häusern, Geländen passierte.

32. Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie **
Viel über Herrndorfs Kunst erfahren, bevor es zur Literatur ging. Macht eine schöne Schleife ums Gesamtwerk.

33. Ina Seidel: Das Wunschkind *
Halb gelesen, halb quergelesen, weil man nach 300 Seiten irgendwann ahnt, wie es endet und das macht es dann nach weiteren 300 Seiten auch.

34. Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern *
Klingt nach Anfang der 2000er, ist okay gealtert, aber mein Liebling von Herrndorf ist es nicht geworden. Und Anfang der 2000er kam halt auch Kracht, und von dem liebe ich alles.

35. Ernst Wiechert: Die kleine Passion *
Angelehnt an die Passion Jesu und ein bisschen zu sehr ins Leiden der Hauptfiguren verliebt. War mir fast unangenehm, ihnen beim Schmerz zuzusehen.

36. Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur **
Hätte ich mich an das Buch oder das Blog, das ich regelmäßig las, vor drei, vier Jahren erinnert, wäre mir Papas Zustand vielleicht verständlicher gewesen. Nach der Veröffentlichung hatte ich mich gefragt, wieso man das Blog als Buch rausgeben muss – jetzt weiß ich es: Es liest sich auf Papier, geringfügig lektoriert und vor allem mit einem Nachwort versehen, doch anders. Oder ich habe inzwischen viel dazugelernt, das mag auch immer sein.

37. Keiichirō Hirano (Nora Bierich, Übers.): Das Leben eines Anderen *
Tolle Idee, für mich zu schwafelig umgesetzt.

38. Matthew Perry: Friends, Lovers and the Big Terrible Thing *
Lag ewig auf der „Lese ich irgendwann“-Liste, dann las ich es an Perrys Todestag komplett durch. Hat mich in seiner Schonungslosigkeit und mit den ewigen Wiederholungserscheinungen seiner Sucht, der Perry nicht entrinnen konnte, etwas verstört. Goodbye, Mr. Bing. We’ll try to keep it down.

39. Bernardine Evaristo: Girl, Woman, Other **
Toller Stil, spannende Geschichte, mich hat das Buch sehr abgeholt und mir gesagt, dass ich nicht alleine bin.

40. Emma Cline: The Guest **
Mochte ich noch lieber als den Erstling The Girls von Cline. Ich fragte mich zwar zwischendurch, warum ich mich für die Hauptfigur interessieren sollte, aber genau das hat mich dann am Buch gereizt.

41. Gabriele Tergit: So war’s eben *
Anstrengend, weil kaum lektoriert, aber genau deshalb hat man die Möglichkeit, der Autorin sehr nahe zu kommen. Wenn man sich ein bisschen in der Zeit auskennt, kann man zwischen den Zeilen viel entdecken.

42. Christoph Zuschlag: Einführung in die Provenienzforschung **
Einführung halt. Kommt in das Fach mit den Überblickswerken.

43. Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen **
Fing toll an, hing im Mittelteil etwas durch, hatte mich zum Schluss aber wieder. Eine wilde Mischung aus historischem Roman und totalem Spinnertum, was ich eigentlich überhaupt nicht mag, aber hier hat es funktioniert. Muss jetzt alles andere von Edelbauer lesen.

44. Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller: Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund **
Neumahr hangelt sich an der Chronologie der Nürnberger Prozesse entlang und schreibt über die Schriftsteller*innen, die den Prozess beobachteten. Jede*r kriegt ein Kapitel; manche habe ich verschlungen, andere waren mir im Nachhinein komplett egal. Trotzdem sehr interessiert gelesen.

Nicht beendet:
– Tom Drury: Hunts in Dreams. Will clever sein, nervt aber nur.
– Mithu Sanyal: Identitti. Zu drei Vierteln durchgehalten, obwohl ich es schon nach 100 Seiten weglegen wollte. Das Nachwort habe ich lieber gelesen als den Rest des Buchs. Identitätspolitik bleibt für mich eher ein Sachbuchthema.
– Charles Frazier: Thirteen Moons. Sein Cold Mountain fand ich großartig, das hier hatte mir zu viele Kerle, die mich nicht interessiert haben.

„In jener Zeit erließ Kaiser Augustus den Befehl an alle Bewohner seines Weltreichs, sich in Steuerlisten eintragen zu lassen. Es war das erste Mal, dass solch eine Erhebung durchgeführt wurde; damals war Quirinius Gouverneur von Syrien. So ging jeder in die Stadt, aus der er stammte, um sich dort eintragen zu lassen.

Auch Josef machte sich auf den Weg. Er gehörte zum Haus und zur Nachkommenschaft Davids und begab sich deshalb von seinem Wohnort Nazaret in Galiläa hinauf nach Betlehem in Judäa, der Stadt Davids, um sich dort zusammen mit Maria, seiner Verlobten, eintragen zu lassen. Maria war schwanger. Während sie nun in Betlehem waren, kam für Maria die Zeit der Entbindung. Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen.

In der Umgebung von Betlehem waren Hirten, die mit ihrer Herde draußen auf dem Feld lebten. Als sie in jener Nacht bei ihren Tieren Wache hielten, stand auf einmal ein Engel des Herrn vor ihnen, und die Herrlichkeit des Herrn umgab sie mit ihrem Glanz. Sie erschraken sehr, aber der Engel sagte zu ihnen: „Ihr braucht euch nicht zu fürchten! Ich bringe euch eine gute Nachricht, über die im ganzen Volk große Freude herrschen wird. Heute ist euch in der Stadt Davids ein Retter geboren worden; es ist der Messias, der Herr. An folgendem Zeichen werdet ihr das Kind erkennen: Es ist in Windeln gewickelt und liegt in einer Futterkrippe.“ Mit einem Mal waren bei dem Engel große Scharen des himmlischen Heeres; sie priesen Gott und riefen: „Ehre und Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Frieden auf der Erde für die Menschen, auf denen sein Wohlgefallen ruht.“

(Neue Genfer Übersetzung)

Ich wünsche euch allen ein friedliches, fröhliches, besinnliches, schönes, gesegnetes Weihnachtsfest. Danke fürs Lesen, auch wenn es derzeit eher mein Mastodon-Account ist.

Ein anderes Dankeschön …

… an eine*n unbekannte*n Schenker*in, denn dem geöffneten Bücherpaket lag kein Zettel mit Absender oder Grußbotschaft bei – ob das nun Absicht war oder der Zettel beim Transport verloren gegangen ist, kann ich leider nicht sagen. Aber immerhin ist das Buch unbeschadet bei mir angekommen, und ich kann nun „Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ von Shulamit Volkov lesen (übersetzt von Ulla Höber). Vielen Dank für die Überraschung, ich habe mich sehr gefreut!

Nebenbei kann ich Volkovs hebräischen Namen schon ansatzweise in der Wikipedia entziffern; ich hatte vor wenigen Wochen die brillante Idee, mit Duolingo Hebräisch zu lernen. Mehr als die Hälfte des Alphabets kann ich noch nicht, aber das macht bisher großen Spaß. Und wenn man in der Provenienzforschung unterwegs ist, kann es (leider) nicht schaden, ein paar hebräische Buchstaben lesen zu können.

Edit, 30 Minuten nach Veröffentlichung: Schenkerin hat sich gemeldet. Internet ist super.

Ein vorderasiatisches Dankeschön …

… an Sonja, die mich mit „Yerevan. Die armenische Küche“ von Marianna Deinyan und Anna Aridzanjan überraschte. Da ich derzeit kaum schreibe, habe ich mich doppelt gefreut, dass sich noch jemand an den vollgeballerten Wunschzettel erinnert. Beim ersten Durchblättern des Buchs und beim Nachkochen, naja, -basteln eines schlichten Bohnensalats bemerkte ich zufrieden, dass die armenische Küche anscheinend recht korianderlastig ist. Das ist ja genau meins. Vielen Dank, ich habe mich sehr gefreut.

Warum ich derzeit so wenig schreibe, hat mehrere Gründe. Ich mache derzeit einiges, das nicht ins Blog gehört, dann mache ich einiges, das nicht ins Blog soll, außerdem nähern wir uns dem Jahresende, das ich extrem herbeisehne, weil dieses Jahr unerwartet anstrengend war. Ich dachte, nach den letzten Jahren mit Corona und Papas Pflege könnte mich nichts mehr umhauen, aber haha, nein, da geht noch was, ein Schippchen passt noch auf die Schultern. Tut es wirklich, aber ich merke, dass ich davon nicht so recht was erzählen möchte.

Ich habe überrascht festgestellt, dass Insta-Storys mein neuer Lieblingsort geworden sind. Was ich früher auf Twitter rausgehauen habe – die Fotos aus der Bib des ZI, was esse ich gerade, was freut mich gerade, oh, ein Eichhörnchen –, landet jetzt da und ist nach 24 Stunden wieder verschwunden, was total in Ordnung ist. Festhalten möchte ich gerade nur weniges und wenn, dann halt für mich alleine. Ich ahne, dass meine Plauderlaune irgendwann wiederkommt, wenn der Schreibtisch leer ist, die Reisepläne durch sind und die große Idee für die nächsten Lebensjahre mal eine Form gefunden hat, aber bis dahin bleibt das hier vermutlich eher ein Kleckertext. Muss auch mal sein. Nach über 20 Jahren Dauerschreiben sind ein paar Wochen ohne Öffentlichkeit sehr nett und anscheinend mal nötig.

Was war – Oktober 2023

Gelesen: Herrndorfs „In Plüschgewittern“, schön aus der Stadtbibliothek geholt, gleich „Arbeit und Struktur“ mitbestellt. Ich lernte in den letzten Monaten, dass ich Sachbücher nicht leihen sollte, weil ich in denen mit Bleistift rummalen will, aber Romane dürfen jetzt nur noch zeitweilig mir gehören, die allermeisten von ihnen werde ich nie wieder lesen, die müssen nicht meine eh zu vollen Regale noch voller machen. Diese schöne Idee klappt natürlich nicht immer, denn manchmal gehe ich halt an Buchläden vorbei und mich lacht etwas an, das mir „KAUF MICH“ entgegenbrüllt und dann kann ich leider auch nichts machen.

Gelesen:

Jörg Skriebeleit: „Erinnerungsort Flossenbürg. Akteure, Zäsuren, Geschichtsbilder“ **
Sehr vieles über die Orte von Konzentrationslagern nach 1945 gelernt.

Tobias Rüther: „Herrndorf. Eine Biographie“ **
Viel über Herrndorfs Kunst erfahren, bevor es zur Literatur ging. Macht eine schöne Schleife ums Gesamtwerk.

Ina Seidel: „Das Wunschkind“ *
Halb gelesen, halb quergelesen, weil man nach 300 Seiten irgendwann ahnt, wie es endet und das macht es dann nach weiteren 300 Seiten auch.

Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern“ *
Klingt nach Anfang der 2000er, ist okay gealtert, aber mein Liebling von Herrndorf ist es nicht geworden. Und Anfang der 2000er kam halt auch Kracht, und von dem liebe ich alles.

Ernst Wiechert: „Die kleine Passion“ *
Angelehnt an die Passion Jesu und ein bisschen zu sehr ins Leiden der Hauptfiguren verliebt. War mir fast unangenehm, ihnen beim Schmerz zuzusehen.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur **
Hätte ich mich an das Buch vor drei, vier Jahren erinnert oder das Blog, wäre mir Papas Zustand vielleicht verständlicher gewesen. Nach der Veröffentlichung 2013 hatte ich mich gefragt, wieso man das Blog als Buch rausgeben muss – jetzt weiß ich es: Es liest sich auf Papier und nochmal geringfügig lektoriert und vor allem mit einem Nachwort versehen doch anders.

Keiichirō Hirano (Nora Bierich, Übers.): Das Leben eines Anderen *
Tolle Idee, für mich zu schwafelig umgesetzt.

War wählen. War anscheinend eher egal. Stupid Bayern.

Im Konzert gewesen. Geweint.

Die Wiener Philharmoniker eröffneten im ollen Herkulessaal die Saison. Das Konzert stand nicht auf unserem Plan, aber F. hatte tollerweise zwei Freikarten dafür gewonnen. Damals, in grauer Vorzeit im März 2020, spielten die WienPhils nämlich alle Beethoven-Sonaten in München. Jedenfalls wollten sie das, aber dann kam ein Virus, und sie schafften nur die ersten fünf. Das Geld gab’s natürlich für F. und sein Mütterchen zurück, die Karten für den kompletten Zyklus gehabt hatten. Aber weil München Musik nett ist, verlosten sie unter den damaligen Käufern einfach mal mehrere Karten für dieses Konzert, quasi als Entschädigung. F.s Mütterchen wollte nicht mit, weswegen ich natürlich ganz dringend mitwollte, denn das Orchester spielte neben einem, wie ich inzwischen weiß, eher nicht so meins seiendem Elgar auch noch Dvořáks 9. Sinfonie. Mein liebster Dvořák.

Das Stück hatte ich auf diversen Rückfahrten aus dem Norden in den Süden im Zug gehört, wenn wieder mal eine Woche Pflege bei Papa vorbei war. Meist klickte ich es kurz hinter Nürnberg auf Spotify an und fuhr dann fast mit den letzten Klängen in München ein. Meist war ich dabei aber so erschöpft und traurig, dass ich nicht wusste, was das Stück mit mir machen würde, wenn ich es erstmals live hörte.

Es machte dann genau das, womit ich gerechnet hatte: So ziemlich den ganzen ersten Satz heulte ich meine Maske durch, die ich seit einigen Wochen wieder trage, aber dann ging’s. F. drückte mir das Händchen und ich sah tränenverhangen, dass auch die Schultern einer älteren Dame vor mir bebten. Bin also nicht die einzige Dvořák-Memme.

Nach dem Konzert wurden die Tränen passenderweise im Waltz getrocknet. Champagner, Rotwein, gutes Essen, wie immer freundlichstes Personal. Ein guter Laden halt.

Am Montagmorgen half eine Leberkässemmel.

Wenige Tage später wurde ich ins Tantris DNA ausgeführt, dem wir beim bisher einzigen Besuch verfallen waren: Es ist dort hinten bei einem Stern schlicht etwas gemütlicher und lockerer als vorne in der Zwei-Sterne-Bude. Jedenfalls war es das beim letzten Mal; inzwischen ist die Köchin aber wieder nach Frankreich gezogen und dasselbe Team, das für das Stammhaus zuständig ist, kocht nun auch fürs DNA. Das merkte man leider. Wein und Champagner waren hervorragend, logisch, und das Essen war natürlich sehr gut, aber es fehlte der Überschwang, die Üppigkeit, oder wie ich meinte, bei Frau Protat hätte an alles noch 200 Gramm Butter gepasst. Damit ist neben dem Alois mein zweiter Liebling in der Stadt nicht mehr ganz so weit vorne auf der Liste, was mich etwas traurig hat werden lassen. Denn seit der Pandemie sorgen die wenigen Restaurantbesuche immer verlässlich für Glücksgefühle bei F. und mir, und das ist sehr schade, dass die Zahl der Lokale, die diese Gefühle erweckt, immer geringer wird.

Aber immerhin weiß ich jetzt, dass Froschschenkel gut schmecken, die hatte F. bestellt, ich hatte mich nicht überwinden können, aber ich durfte probieren.

Ich hätte gerne mehr vegetarische Sternerestaurants, bitte.

Nach einem Abend zu viert kann ich auch das Martinelli empfehlen. Sehr entspannte italienische Küche.

Ich spiele neuerdings PastPuzzle.

Unser kleiner Kunstpodcast hat seinen Twitter-Account gelöscht und ist nun auf Mastodon unterwegs. Ich überlege, ob ich mir selber einen meiner Bluesky-Einladungscodes schicken sollte und auch dort einen Fehlfarben-Account eröffne, aber man kommt ja zu nichts.

Zwei Wochen nach den Wiener Philharmonikern gab es in der viel schöneren Isarphilharmonie unter anderem ein launiges Stück von Erich Wolfgang Korngold, genauer gesagt, sein Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35, dessen dritten Satz ich seitdem dutzendfach gehört habe.

Auch hier trug ich meine liebste Konzertkombi: schwarze Hose und Bluse, brachial aufgepeppt durch den barbiepinken Blazer sowie den Klunker, den Papa dem Mütterchen vor Jahrzehnten mal aus dem Nahen Osten mitgebracht hat. Sie hat ihn einmal pflichtschuldig getragen und dann nie wieder, weil er halt so ein Klunker ist (alles Glasbausteine, nix Echtes). Ich hingegen trage ich genau deshalb total gern.

Die „Kunstchronik“ gibt es ab Januar 2024 endlich Open Access.

Die FU Berlin hat mir netterweise einen Platz in einer vierteiligen Forbildung zum Thema Provenienzforschung gegeben. Der erste Block fand an drei Tagen in Berlin statt, einmal an der FU, einmal auf der Museumsinsel, einmal im Stadtmuseum. Wir hörten viele spannende Vorträge, beschäftigten uns mit nationalem und internationalem Eigentumsrecht, blätterten in Akten und durften selbst auf die Suche nach Provenienzen gehen.

Gleich am ersten Tag begeisterte Bénédicte Savoy mit ihrem Vortrag; ich behaupte, zwanzig leuchtende Augenpaare gesehen zu haben. Sie stellte unter anderem das Monsterwerk „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“ vor, das Open Access verfügbar ist.

Am zweiten Tag blätterten wir im Archäologischen Zentrum der Staatlichen Museen zu Berlin in diversen Akten; ich hatte zum ersten Mal eine Akte zu Wiedergutmachungsforderungen in der Hand. Wir sollten uns für eine Übung zu zweien zusammentun, und meine Kollegin und ich wollten danach die Akte, in die wir nur reinblättern sollten, gar nicht wieder hergeben. Das war schön zu merken, dass ich nicht als einzige völlig fasziniert von dem alten Papierkram bin.

Und so nett der Tag auch war – nach seinem Abschluss war ich der Meinung, mir ein bestimmtes Denkmal anschauen zu wollen, das ich bisher noch nie besucht hatte.

Am letzten Tag durften wir im Stadtmuseum in die unterschiedlichen Depots. Dabei wurden wir mit Gegenständen konfrontiert, die aus der Silberabgabe stammen, die Juden und Jüdinnen 1939 entrichten mussten. Das war ein besonderer und besonders schmerzhafter Moment, und ich war nicht die einzige, die mal kurz die kühle Wissenschaftsperspektive verließ und sehr nah am Wasser war. Mir ist NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut (richtiger Begriff für „Raubkunst“) vom Kopf her natürlich klar, aber ein Kunstwerk, ein Gemälde, eine Grafik kommt mir nie so nah wie Messer und Gabeln, die ich täglich im eigenen Gebrauch habe, die deutlich mehr „Familie“ oder „Alltag“ sagen als ein Rembrandt. Das Eindringen des NS-Staats in jeden noch so kleinen Bereich des individuellen Lebens sowie seine Unmenschlichkeit kann man gut im NS-Dokuzentrum in München nachvollziehen, und ja, natürlich habe ich das in den Jahren der Diss dauernd irgendwie auf dem Schirm gehabt, aber so richtig klargeworden ist es mir erst im Metalldepot des Berliner Stadtmuseums.

Auch in München gibt es Silberstücke, bei denen Erben gesucht – und manchmal gefunden – werden.

Und in der NYT war ebenfalls gerade ein Artikel zum Thema, ist ohne Paywall für euch lesbar. Ein Enkel sucht seit über zehn Jahren nach der 160-teiligen Silbersammlung seines Großvaters. Bisher hat er einen einzigen Becher wiedergefunden.

Endlich mal die richtige Hotelseite erwischt. Allerdings auch gemerkt, dass ich mein Fenster im 32. Stock nicht nur kippen, sondern ganz öffnen konnte. Daraufhin war mir etwas schlecht – die Anziehungskraft des Abgrunds –, und ich habe das Fenster nicht mehr angerührt.

Nebenbei: Ja, tolle Aussicht, nette Leute, gut geschlafen, aber das Frühstück war direkt nach dem kleinen Hotel in Bamberg im letzten Jahr das mieseste, das ich je hatte. Und ich bin nach unbefriedigenden Hotelfrühstücken sehr cranky.

Das neue Semester hat begonnen, und ich unterrichte wieder lustig und für viel zu wenig Geld akademisches Schreiben an der Uni Düsseldorf. Der Raum ist nicht so schön wie im Sommersemester, aber die Studis genauso nett. Auf der ersten Rückfahrt nach der ersten Sitzung den ersten Pumpkin Spice Latte der Saison getrunken. Wird wohl auch der letzte bleiben. Ich falle immer nur einmal auf das Zeug rein.

Meine Hefeteige ruhen derzeit color-coordinated, weil das Bett halt der wärmste Platz in der Wohnung ist und ich gerne das blaukarierte Handtuch zum Schüsselabdecken benutze, das meine Schwester mir mal mit irgendwas mitgeschickt hat. Die Schüssel ist von Mama und quietschorange und zufällig unsichtbar, wie mir erst nach dem Foto aufgefallen ist.

Die Turner-Ausstellung im Lenbachhaus ist endlich eröffnet worden. Es gibt bei den Eröffnungen erstmal Reden und dann geht man Kunst gucken, wie ich nach den paar Monaten im Haus weiß. Vorher war ich nie bei Eröffnungen, weil ich ahnte, dass es da immer voll ist und mir die Reden auch meist egal sind, ich will halt nur Dinge anschauen. Aber inzwischen kann man bei diesen Veranstaltungen ja Kolleg*innen treffen, weswegen F. und ich dann auch letzte Woche um kurz vor 19 Uhr vor Ort waren. Die Reden fanden im Atrium des Haupthauses statt, die Ausstellung war währenddessen schon im Kunstbau geöffnet. Das Haupthaus war aber um kurz vor sieben so dermaßen überfüllt, die Leute kamen schon gar nicht mehr rein, dass wir schlauerweise dachten, ach, dann gehen wir halt erst Bilder gucken und suchen dann Kolleg*innen.

Das war ein hervorragender Plan, denn wir kamen gerade noch so rein in den ebenfalls sehr gut gefüllten Kunstbau. Ich traf immerhin einen anderen Kunsthistoriker, den ich letztes Jahr in Bamberg gesehen und gehört hatte, F. und ich schlenderten gute 30 Minuten durch die Ausstellung, freuten uns nicht nur über die Werke, sondern auch die Raumgestaltung und das Licht – und als ich fragte, ob wir noch eine Runde drehen sollten nach dem ersten Eindruck, wies mich F. auf die lange Schlange von Menschen hin, die am Eingang auf Einlass wartete. Wir gaben also unsere Plätze frei und ich sah zum ersten Mal eine Schlange, die sich vom unterirdischen Kunstbau die Treppe hoch quer über den Platz bis zur Ampel vor den Propyläen schlängelte. Das hat mich sehr fürs Haus gefreut. Und für die charmante Kollegin, die als Kuratorin für die Ausstellung verantwortlich ist (und die mich letztes Jahr für den Job im Haus empfohlen hat), denn das 19. Jahrhundert ist normalerweise nicht unbedingt ein Garant für einen Blockbuster; wir scherzen gern, dass außer uns niemand mehr das 19. Jahrhundert spannend findet.

Am gestrigen Dienstag hatte ich die brillante Idee, mir eine neue Jahreskarte fürs Lenbachhaus zu holen, denn die war am Wochenende abgelaufen. Brillant, denn zwei Tage nach Ausstellungseröffnung in den Herbstferien vor dem Feiertag will natürlich niemand ins Museum. Ähem. Die Kassenschlange war 30 Meter lang, aber nach einer halben Stunde hatte ich eine neue Jahreskarte und tollerweise noch ein spontanes Ticket für Turner, für den man nur Zeitfensterkarten erwerben kann. Logisch. Könnte voll werden.

Beim zweiten Anschauen konnte ich mich auf die Werke konzentrieren bzw. die paar, die ich mir für diesen Besuch ausgesucht hatte, denn ich komme noch zehnmal wieder. Ich mag an Turner, wie man am letzten Satz meines Blogeintrags zu seinen Reisen ahnen kann, seine Art, Licht einzufangen und abzubilden. Und so versank ich, ohne groß auf Titel und Entstehungsjahre zu achten, in seinen Farbflächen, ging so nah ran wie möglich, um die von ihm teilweise ruppig bearbeiteten Leinwände zu betrachten, stellte fest, dass man manchmal sogar die Leinwand noch durchschimmern sah, was mich eigentümlich anrührte, weil es mir so modern vorkam, so sehr anders als die zugepuderte, überirdisch schöne französische Landschaftsmalerei, mit der ich etwas auf Kriegsfuß stehe, weil sie halt so überirdisch ist. Ich mochte die Stofflichkeit, die Nähe, die der Maler zuließ, die Offenheit seines Arbeitsprozesses. Deswegen freute ich mich auch über die Skizzenbücher, die ich ebenfalls im Blogeintrag erwähnt hatte. Vor allem das nassgeregnete Büchlein mochte ich sehr gern, auch weil mich sein größeres Format überraschte; ich hatte beim Schreiben darüber nie auf die Maße geachtet. Auch die Seite rührte mich an, weil ich es spannend finde, mal eben einen Regenschauer aus dem 19. Jahrhundert vor mir zu sehen.

Turner kam mir moderner vor, als ich es bei seinen Seestücken erwartet hatte. Dass ich das flirrende Venedig (die Brücke links im Bild!) und die fast farblose Ansicht von einem Schweizer Gipfel mögen würde, war mir klar, die fand ich schon als digitales Abbild toll. Wie toll, überraschte mich dann erneut. Vor einigen Bildern gelang es mir, die vielen Stimmen auszublenden, die zu laut eingestellten Audioguides, die Nervensägen, die ihr Handy nicht mit Kopfhörern benutzten, die wenigen Führungen, in die ich geriet, das Handyklingeln, was anscheinend nirgendwo abzuschalten ist. Vor einigen Bildern, meist, wenn ich die Nase 30 Zentimeter vor dem Glas über der Leinwand hatte, sah ich nur noch Farbe und Struktur, Schichten und Material. Und dann wieder Farbe. Und noch mehr Farbe. 100 Jahre vor Rothko hatte ich plötzlich das Gefühl, Rothko anzuschauen und zu versinken. Ich war auch nicht darauf vorbereitet, dass mich ausgerechnet ein Seestück kurz zu Tränen rührte, aber ein winziger Fleck blauer Himmel, wie hingehaucht zwischen Wind, Wasser, Wolken und dem aufgewühlten Meer, auf dem Boote darum kämpfen, nicht unterzugehen, war für mich das Sinnbild der ganzen Ausstellung.

Große Empfehlung.

Matthew Perry ist gestorben. Ich schrieb schon einmal darüber, was diese Serie für mich bedeutet (hat?) und ich denke öfter an diesen mir unbekannten Mann, als ich erwartet habe.

Ein Thema, um das ich mich anfangs in den sozialen Medien gedrückt habe, war der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober, weil ich dachte, wen interessiert es, was Klein-Anke zum Nahostkonflikt zu sagen hat. Die Reaktionen darauf haben mich allerdings verstört. Die Blogeinträge, Instagramkacheln, Toots und Posts, in denen das Massaker verurteilt wurde – und dann irgendwann ein „Ja, aber“ kam. Was zum Teufel.

Es gibt kein „Ja, aber“. Die Hamas ist eine Terrororganisation. Ihr Ziel ist es nicht, ein lebenswertes Palästina zu schaffen oder gar an einer Zwei-Staaten-Lösung zu arbeiten, ihr Ziel ist es, so viele Juden und Jüdinnen wie möglich umzubringen. Abzuschlachten, wie wir inzwischen wissen, medial aufbereitet, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, die sich nicht mal bei dieser so eindeutigen Lage zu einer eindeutigen Meinung zusammenfinden kann. Die Hamas ist kein Vertreter, mit dem man Politik machen kann, man kann mit ihr nicht planen, man kann ihr nicht vertrauen, man kann mit ihr so wenig zusammenarbeiten wie man mit dem Islamischen Staat zusammenarbeiten kann. Und jedes „Ja, aber“ ist antisemitische Scheiße, die mich einfach nur noch fassungslos macht. „Free Palestine from German guilt“? „From the river to the sea“? Geht weg, folgt mir nicht mehr, lest mich nicht mehr, genau so wie ich euch nicht mehr folge und lese. Es gibt kein „Ja, aber“ nach einem Terroranschlag. Es gibt keine zwei Seiten.

What Hamas wants(Archive-Link, ohne Paywall.)

„Many got Hamas wrong. But they shouldn’t have. Again and again, people say they intend to murder Jews. And yet, century after century, the world produces new, tortuous justifications for why anti-Jewish bigots don’t really mean what they say—even though they do.“

The Decolonization Narrative Is Dangerous and False (Atlantic-Gift-Link.)

„In a further racist twist, Jews are now accused of the very crimes they themselves have suffered. Hence the constant claim of a “genocide” when no genocide has taken place or been intended. Israel, with Egypt, has imposed a blockade on Gaza since Hamas took over, and has periodically bombarded the Strip in retaliation for regular rocket attacks. After more than 4,000 rockets were fired by Hamas and its allies into Israel, the 2014 Gaza War resulted in more than 2,000 Palestinian deaths. More than 7,000 Palestinians, including many children, have died so far in this war, according to Hamas. This is a tragedy—but this is not a genocide, a word that has now been so devalued by its metaphorical abuse that it has become meaningless.

I should also say that Israeli rule of the Occupied Territories of the West Bank is different and, to my mind, unacceptable, unsustainable, and unjust. The Palestinians in the West Bank have endured a harsh, unjust, and oppressive occupation since 1967. Settlers under the disgraceful Netanyahu government have harassed and persecuted Palestinians in the West Bank: 146 Palestinians in the West Bank and East Jerusalem were killed in 2022 and at least 153 in 2023 before the Hamas attack, and more than 90 since. Again: This is appalling and unacceptable, but not genocide.“

Warum ich doch noch die wenigen Zeilen schreibe? Weil es anscheinend nötig ist.

F. ist noch auf Facebook unterwegs, vor allem, weil er so mit seinen ehemaligen Kommiliton*innen aus den USA in Verbindung bleibt. Letzte Woche setzte er ein „Like“ unter einen Post, in dem ein Bekannter von ihm schrieb, dass er als Alumnus seine Alma Mater weiterhin finanziell unterstützt, er seine Spenden jetzt aber dezidiert an die dortigen jüdischen Einrichtungen anweist. Der Autor des Posts bedankte sich ernsthaft für dieses Like – was F. dazu brachte, auch einem jüdischen Freund von uns beiden per WhatsApp eine Nachricht zu schicken.

Ich hatte mich seit Tagen gewundert, dass prominente jüdische Menschen in den sozialen Medien sich beklagten, dass alle so still seien. Ich dachte, ich muss nicht aktiv darauf hinweisen, dass ich das Existenzrecht Israels als nicht verhandelbar ansehe, dass Antisemitismus absolut zu verurteilen ist, dass jüdisches Leben (glücklicherweise) zu Deutschland gehört. Aber unser Freund wusste es zu schätzen, dass man es aktiv tut. Er fragte sich, warum das von so vielen nicht einfach ausgedrückt werden könne. Alle Posts in Richtung „Wehret den Anfängen“, „Je suis Paris“, „Nie wieder“ seien nichts wert, wenn jetzt alle schwiegen.

Deswegen wollte ich das hier einmal deutlich sagen. Ja, ich ahne, dass ihr wusstet, was ich denke, aber jetzt habt ihr es schriftlich. Ohne Aber.

Tagebuch Samstag, 30. September 2023 – Herrndorf

„Aber was er trotzdem in dieser Phase ein für alle Mal für sich organisiert, ist ein Lebensstil, den er bis zu seinem Tod beibehalten wird: mit wenig auskommen, zu Hause arbeiten, solange es geht. Ewig rennt er mit den gleichen weißen Turnschuhen mit hohem Schaft in Nürnberg herum, bis die Sohlen wie Krokodilsmäuler herunterklappen. Wenn er bei seinen Eltern in Norderstedt ist, will seine Mutter mit ihm unbedingt neue Klamotten und Turnschuhe kaufen, aber Wolfgang weigert sich, und wer verstünde das nicht, er ist fast Ende zwanzig. Eines Tages aber klingelt in Norderstedt das Telefon, und Wolfgang erzählt seinen Eltern eine Geschichte: dass er mit seinen Turnschuhen durch die Fußgängerzone von Nürnberg gelaufen sei und ihn ein Mann angesprochen habe. Er arbeite beim Sportartikelhersteller Adidas in Herzogenaurach, habe der Mann gesagt, ob er Herrndorf dessen Turnschuhe für das Adidas-Archiv abkaufen könne? Für hundert Mark?

Mag sein, dass Herrndorf seinen Eltern nur eine gute Geschichte erzählt hat, um sie zu beruhigen. Mag aber auch sein, dass sie stimmt. Dass er seine zerfledderten Sneaker direkt dort in der Fußgängerzone ausgezogen und dem Mann von Adidas für hundert Mark in die Hand gedrückt hat, um danach barfuß nach Hause zu laufen: Das ist nicht ganz unwahrscheinlich. Herrndorf fuhr ia auch mit Calvin barfuß in die Uni nach Erlangen. Und die Firma Adidas in Herzogenaurach, eine halbe Stunde nördlich von Nürnberg, unterhält tatsächlich eine historische Sammlung der Sportartikel aus ihrer Produktion: unter anderem mit sechzehntausend Schuhen, die sorgfältig konserviert werden. Bei der Abteilung für ‚History Management‘ in Herzogenaurach können sie das Rätsel aber nicht lösen: ‚Wir haben eine intensive Recherche bei uns im Archiv durchgeführt, müssen Ihnen aber leider mitteilen, dass wir keine Aufzeichnungen über diesen Vorgang in unseren Akten finden konnten.‘ Ohne den Namen des Schuhmodells oder des Adidas-Mitarbeiters sei es schwierig, noch weiter zu forschen, das Archiv sei auch erst 2009 professionalisiert worden.“

Tobias Rüther: „Herrndorf. Eine Biographie“, Berlin 2023, S. 76/77.

Tagebuch Freitag, 29. September 2023 – Brainstorm

Ein längeres kunsthistorisches Gespräch gehabt, sehr spannend. Wir sehen uns in drei Wochen wieder, und ich schreibe weiter an einem Antrag.

Das Mütterchen meinte, ich solle mir einen Trostblumenstrauß kaufen wegen Flossenbürg. Hab ich gemacht.

Diesen Super-Salat zusammengeworfen aus Edamame und Rotkohl. Sah bei mir nicht ganz so hübsch aus, weil ich das Tahini-Dressing schon vor dem Foto über das Gemüse gekippt habe, ich Anfängerin.

Falls ihr das Ding nachbasteln wollt: Ich habe die Kokosflocken weggelassen, weil warum? und Ahornsirup statt Agave benutzt, würde ich beim nächsten Mal auch weglassen. Ich musste die Limettensaftmenge verdoppeln, um die Süße wieder wegzukriegen. Aber bis auf diese Kleinigkeit war der Salat top. Bei mir gab’s noch Räuchertofu aus der Pfanne dazu, und das Dressing reicht, um es über beide Elemente zu kippen.

Tagebuch Donnerstag, 28. September 2023 – Gelöscht

Schreibtischtag, viel gelesen, wie immer.

Die neue Dauerausstellung auf dem Obersalzberg ist seit gestern geöffnet. Hier drei Minuten des Bayerischen Fernsehens.

Es gibt zwei neue Bücher zu Ilse Koch.

„Die sich bis heute um Ilse Koch rankenden Horror-Geschichten verstellten oft den Blick auf die historische Person. Wie schwierig es ist, ein Urteil über sie zu fällen, spiegeln die gegen sie geführten Gerichtsverfahren wider, die mal mit langen Haftstrafen, dann wieder mit Freispruch endeten. Welche Rolle besonders ihr Geschlecht bei der historischen Bewertung und Einordnung ihrer Person spielte, untersuchen die beiden hier besprochenen Bücher.“

Rezension beider Werke bei hsozkult.

Ich wollte gerade die Literatur in der Wikipedia nachtragen, aber die steht natürlich schon drin. Gestern wollte ich die NSDAP-Mitgliedsnummer von Fritz Todt eintragen, die mir im Buch „Builders of the Third Reich. The Organisation Todt and Nazi Forced Labour“ über den Weg gelaufen ist, aber die passte vom Datum her überhaupt nicht in die Reihe. Seitdem frage ich mich natürlich, woher diese Info im Buch kommt und wie sehr ich dem Rest trauen kann. Das ist leider des Öfteren so, wenn ich zu diesem Thema Details finde, die nicht so recht stimmig zu sein scheinen – ich kann meistens nicht einfach in 17 anderen Büchern nachschlagen, weil es diese 17 Bücher nicht gibt.

Der einmillionste Kriegstote wurde identifiziert.

„Ein Anwohner hatte den Sanitätsgefreiten und zwei weitere Soldaten gefunden und begraben. Seine Familie umzäunte die Grabstätte und pflegte sie bis heute.“

Gelacht, wenn auch unter Schmerzen, von Henrik Solf auf Mastodon:

(Referenz, falls die unklar sein sollte.)

Tagebuch Mittwoch, 27. September 2023 – Meh

Eine Sonderausgabe des RIHA Journals, dem Onlinejournal der International Association of Research Institutes in the History of Art, befasst sich mit „The Fate of Antiquities in the Nazi Era“. Alle Artikel sind offen zugänglich und lesbar.

Amnestie von NS-Tätern – Das “Dreher-Gesetz” von 1968

Die BPB schreibt:

„In Justiz und Ministerien der jungen Bundesrepublik konnten schon wenige Jahre nach dem Krieg viele NS-belastete Staatsanwälte, Richter und Beamte ihre berufliche Laufbahn fortsetzen. In Leitungspositionen des Justizministeriums waren beispielsweise 1963 55 Prozent des Personals ehemals Mitglied der NSDAP und 22 Prozent der SA gewesen. Mehr als 15 Prozent waren vor 1945 im nationalsozialistischen Reichsjustizministerium selbst tätig gewesen. Inwiefern diese persönlichen Verstrickungen bei der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen eine Rolle gespielt haben, untersuchte 2012 ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Auftrag des Bundesjustizministeriums. […] Federführend bei der Änderung des § 50 Abs. 2 StGB war im Bundesjustizministerium der Unterabteilungsleiter Eduard Dreher, der als Staatsanwalt im NS-Regime für einige Todesurteile mitverantwortlich war. Inwiefern zumindest Dreher sich über die Konsequenzen der Neufassung im Klaren war, lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht mehr gänzlich rekonstruieren.“

Ansonsten ein eher doofer Tag. Zuerst ewig unkonzentriert, weil ich auf einen Anruf gewartet habe, dann traurig, weil der Anruf kam, aber nicht den Inhalt hatte, den ich mir gewünscht habe. Ihr könnt das Daumendrücken kurzfristig wieder einstellen. Ich werde leider nicht für drei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg tätig werden.

Tagebuch Dienstag, 26. September 2023 – Alles gesagt

Mely Kiyak reißt in ihrer Kolumne fürs Gorki-Theater so viele Themen an, dass ich mich kaum für eins entscheiden kann. Das hier war beim Posten auf Masto mein Favorit:

„Gegen Radikalisierung von Rechts in diesem Stadium hilft nur Radikalisierung von Links. Man muss den Faschisten das Leben so schwer machen, dass sie die ganze Zeit damit beschäftigt sind, sich anzubiedern und Naziforderungen in demokratische Programmatik umzuwandeln. Es funktioniert aber genau andersherum. Die demokratischen Parteien suchen die parteipolitische Anschlussfähigkeit an die Faschisten.“

Gestern (?) meinte jemand dort drüben, dass wir schon wieder damit beschäftigt seien, uns selbst in die Depression zu schreiben. Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, weil ich beim Beginn auf Masto erstmal alles abonniert hatte, was nach guter Laune aussah: die Hashtags mastoart und bloomscrolling, zum Beispiel. Mastoart ist inzwischen wieder de-abonnniert, weil mir da zu viele, äh, Heimarbeiten ankamen, die aussehen wie meine eigenen halbgaren Versuche mit Wasserfarben und von denen muss ich nicht mehr anschauen als die, die vor mir auf dem Block ineinanderlaufen. Blümchen gehen gerade saisonbedingt irgendwie zur Neige, und daher fiel es mir gestern auch erstmals deutlich auf: Meine Timeline ist schon wieder arg schlecht gelaunt und zynisch. Ich versuche, das wenigstens an meinen Posts mal wieder zu ändern, aber gleichzeitig macht mir das politische Klima halt große Sorgen. Können die bitte mal von der Politik ernstgenommen werden?

Ansonsten war gestern Schreibtisch- und Bratkartoffeltag. Aber: Mich erreichte eine äußerst unerwartete Mail von jemandem, den ich seit über 30 Jahre nicht gesehen habe. Er saß gerade im Zug und hatte, warum auch immer, meinen Namen ergoogelt und mir das gleich mal gemailt. Das war nett.

In der Datenbank der Hamburger Kunsthalle die Sammlung für ausgesonderte („vergangene“) Werke entdeckt. Nachdem ich mich über die latent unkomfortable Sortierung aufgeregt hatte (jedes Jahr einzeln anklickbar anstatt vielleicht erstmal Jahrhunderte oder Dekaden), lungerte ich bei den Werken rum und klickte durch die Gegend. Dabei gefiel mir eine Bildbeschreibung besonders: „Eine Jungfrau mit Diadem auf einem Einhorn sitzend kommt aus der Tiefe des Tannenwaldes nach vorn. Rechts Blick in die Ferne.“ Natürlich.

Tagebuch Montag, 25. September 2023 – Disziplin

Ich lese gerade Ina Seidels „Das Wunschkind“, in dem mir eine für mich neue Formulierung unterkam. Wir befinden uns gerade in Mainz, kurz nach der Französischen Revolution, und die Hauptfigur Cornelie, so halb adelig, aber mindestens begütert, denkt über ihre Verantwortung den Armen gegenüber nach:

„Wie sie es von ihren eigenen Untergebenen zu erwarten gewohnt war, so nahm sie von allen Armen der Welt an, daß sie irgend jemand untertan und zu Gehorsam und Leistung verpflichtet seien, wie brave Kinder ihren Eltern, auch wenn diese von gerechter Strenge waren. Bibel, lutherischer Katechismus, preußische Staatsräson und fritzische Disziplin waren die Pfeiler dieser Überzeugung, die sich bisher restlos bewährt hatte. Daß nun auf einmal eine andere Anschauung der Weltordnung, daß eine Beleuchtung von unten her sich durchsetzen wollte, ohne daß Gottes Weisheit den rebellischen armen Leuten sogleich mit Blitz und Donner kräftig die Köpfe klärte, dies war verwirrend.“

Ina Seidel: „Das Wunschkind“, Stuttgart 1955 (Erstausgabe 1930), S. 67.

„Fritzische Disziplin“ war mir neu und ist mir sofort unsympathisch.

Das Buch strengt etwas an, aber ich werde es mit fritzischer Disziplin weiterlesen, denn ich bin doch neugierig, wo es noch mit mir hinmöchte. Und meist mag ich die vielen Adjektive von Frau Seidel. Ihre Formulierungsfreude, die Themen gerne über mehrere Seiten ausführt, erinnert mich an Thomas Mann, bei dem ich mich auch des Öfteren nach 30 Sätzen frage, wann Er denn mal zum Punkte kommen wolle, aber Seidel schreibt, zumindest in den ersten Kapiteln, eher über duftende Kinder, die Natur und Zuneigung zu anderen Menschen, während Mann weltmännisch (see what I did there?) vor sich hinphilosophiert, und momentan finde ich duftende Kinder interessanter, auch überraschend für mich.

Eben habe ich die Aussprache der Hauptperson gegoogelt: Auf den ersten 50 Seiten hatte ich sie im Kopf immer CorneLIE ausgesprochen, bis mir einfiel, dass es ja auch CorNElie wie Cornelia ausgesprochen werden kann. Das nehme ich jetzt. „Cornelie“ war mir auch neu. Ich lerne so viel in diesem alten Ding!

Tagebuch Donnerstag bis Sonntag, 21. bis 24. September 2023 – I’m on a train

Eigentlich wollte ich vier Tage im Norden verbringen, aber aus Gründen musste ich die Zeit dort verkürzen. Ich kam also Donnerstag abend nach guten fünf Stunden im immerhin gemütlichen und nicht übervollen ICE in Hannover an, kaufte ein, kochte dem Mütterchen Abendessen und öffnete spätabends eine Sektflasche (und nippte immerhin daran, aber der ganze Burgunder hat mich endgültig von Discounter-Alkohol entwöhnt). Dazwischen zupfte ich drei Wassereimer voll Weintrauben von ihren Rispen, damit wir davon Marmelade kochen konnten. Nachts lag ich in Papas altem Bett (dort schlafe ich seit Jahren, mein Kinderzimmer nervt) und hörte bei offenem Fenster dem Rauschen der riesigen Bäume zu, das fehlt in der Stadt doch ein bisschen oder wird von Autos übertönt.

Freitagvormittag spülte und trocknete ich 50 Marmeladengläser, wusch anderes Zeug ab, saugte ein bisschen Staub, wo ich welchen sah und kochte Mittagessen, als langsam klar war, dass ich früher wieder abreisen musste. Ich erwischte noch den ICE um 17.26, jedenfalls buchte ich den, sah aber dann den von 16.26 noch im Gleis stehen, der halt Verspätung hatte, wie auch meiner, von dem die App sagte, dass er frühestens 17.50 fahren würde, ich ignorierte also die Zugbindung und nahm Platz in einem fast völlig leeren Wagen der 1. Klasse, während die App mir die 2. Klasse als „außergewöhnlich hoch ausgelastet“ angezeigt hatte. Bis München wollte mich niemand kontrollieren (schön), aber einen Keks gab’s halt auch nicht (Hunger!).


(Screenshot am Samstag morgen gemacht, schon auf Masto gepostet. Daher das „gestern“.)

Auf dem Heimweg noch Kunst geguckt.

Den Koffer, den ich gerade erst eingepackt hatte, also nach nicht mal einem Tag wieder ausgepackt. Mit dabei: zwei weitere Wiecherts, die noch beim Mütterchen im Regal standen. In der „Passion“ liegt eine Karte von „den Kollegen“ zu ihrem Geburtstag von 1963.

Außerdem lache ich seit Tagen über Mark.

I Was Wrong About the Death of the Book

Jeff Jarvis über Bücher.

„Fifteen years ago, in What Would Google Do?, I called for the book to be rethought and renovated, digital and connected, so that it could be updated and made searchable, conversational, collaborative, linkable, less expensive to produce, and cheaper to buy. The problem, I said, was that we so revered the book, it had become sacrosanct. “We need to get over books,” I wrote. “Only then can we reinvent them.”

I recant.

Umberto Eco was right when he said, “The book is like the spoon, scissors, the hammer, the wheel. Once invented, it cannot be improved.”“

Diesen Absatz fand ich sehr auf mich zutreffend, was ich vor dem Studium und der Bibliothek als Bällebad aber auch noch nicht wusste:

„In What We Talk About When We Talk About Books, the founder of the Initiative for the Book at Rutgers University noted that in the years after the book had been declared dead, sales of printed books rose as those of electronic books drooped. “When we mourn the book, we’re really mourning the death of those in-between moments,” she wrote. Worry for the book is a proxy for other fears. “We may be seeking refuge from technological and commercial upheavals, from the people and places that crowd in on us, or from our own sickness and weakness.“

Und das hier noch, denn natürlich sind das Internet und eBooks und Open Access genauso super wie Papierstapel. Nur halt anders:

„We do not yet know what the internet can or will be. But we do know what the book is. We have it as our standard to judge against. Let the book be the book.“

Tagebuch Mittwoch, 20. September 2023 – Wildt, Friedländer

„Als [Saul Friedländer] 2007 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, erklärte [er] am Schluss seines Vortrags, in dem er vor allem auf persönliche Dokumente seiner eigenen Familie Bezug genommen hatte: ‚Sechzig Jahre sind vergangen, seit diese und zahllose ähnliche Stimmen zu vernehmen waren. Und doch berührten sie uns, mag auch lange Zeit verstrichen sein, mit einer ungewöhnlichen Stärke und Unmittelbarkeit, die weit über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus fortwirkt und die große Teile und mehrere Generationen der abendländischen Gesellschaft bewegt hat. Wenn wir diesen Schreien lauschen, dann haben wir es nicht mit einem ritualisierten Gedenken zu tun, und wir werden auch nicht durch kommerzielle Darstellungen des Geschehens manipuliert. Vielmehr erschüttern uns diese individiuellen Stimmen infolge der Arglosigkeit der Opfer, die nichts von ihrem Schicksal ahnten, während viele rings um sie das Ergebnis kannten und manchmal an seiner Herbeiführung beteiligt waren. Vor allem jedoch bewegen uns die Stimmen der Menschen, denen die Vernichtung bevorstand, bis auf den heutigen Tag gerade wegen ihrer völligen Hilflosigkeit, ihrer Unschuld und der Einsamkeit ihrer Verzweiflung. Die Stimmen der Menschen bewegen uns unabhängig von aller rationaler Argumentation, da sie den Glauben an die Existenz einer menschlichen Solidarität stets von Neuem einer Zerreißprobe aussetzen und in Frage stellen.‘

Die Geschichte der Shoah ist auch eine Geschichte des Verlustes an Gewissheit. Mit Auschwitz zerstob die Verheißung der Moderne auf historischen Fortschritt und Selbstvervollkommnung und wurde offenbar, wozu Menschen in der Lage waren und sind. All die zivilisatorischen Standards, auf die die bürgerliche Gesellschaft zu Recht stolz war, wie Recht, Vernunft, Moral, Autonomie, Selbstbestimmtheit haben in dem Moment, in dem es im 20. Jahrhundert darauf angekommen wäre, versagt. Nicht eine einzige zivilisatorische Grenze hat dem Massenmord eine Schranke setzen können; allein die Schwierigkeiten, die die Nationalsozialisten selbst schufen, sorgten hier und da einmal für eine Verlangsamung der Radikalisierung. Nicht einmal mehr die Religion war imstande, in der Apotheose der Rassetäter eine ungeheuerliche Gotteslästerung zu erkennen, die entschlossenen Widerstand geradezu zur Christenpflicht gemacht hätte.“

Michael Wildt: „Raul Hilberg und Saul Friedländer – Zwei Perspektiven auf den Holocaust“, in: Ders.: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019, S. 387–404, hier S. 402/403.

Betroffenen von Gewalt, Ausgrenzung und ihrer Aufarbeitung wird gerne der Vorwurf gemacht, dass sie nicht objektiv über die sie betreffenden Themen schreiben könnten. „Warum, fragte [Friedländer], sollten Historiker, die zur Gruppe der Verfolger gehören, befähigter sein, distanziert mit der Vergangenheit umzugehen als diejenigen, die zur Gruppe der Opfer gehören?“ (S. 395)

Generelle Leseempfehlung für den Band.

Tagebuch Dienstag, 19. September 2023 – 500 miles

Okay, es waren nur 500 Kilometer, aber ein Lied namens „500 kilometers“ kenne ich halt nicht.

Ich hatte einen Termin, der gute 250 Kilometer von München weg war, und aus Gründen (zweimal umsteigen, wenige Verbindungen, zu wichtiger Termin) buchte ich nach Ewigkeiten mal wieder einen Mietwagen anstatt mich gemütlich in den Zug zu setzen.

Ich bestellte das Fahrzeugmodell, das das Mütterchen fährt, denn so, dachte ich, wüsste ich immerhin halbwegs, wie die Karre funktioniert. Aber weil man ja weiß, dass das Leben kein Wunschkonzert ist, guckte ich ernsthaft am Vorabend ein paar YouTube-Videos über Navigationssysteme der verschiedenen Hersteller – wie gehen die an, wo ist das Radio, muss man den Autoschlüssel irgendwo einstecken oder liegt der nur rum; halt den ganzen modernen Schnickschnack, von dem ich keine Ahnung habe. Wir erinnern uns: Das neueste Auto, das ich je selbst besessen habe, war ungefähr Baujahr 1992, weiß ich nicht mehr genau, und mein letztes, das ich immer noch vermisse, war sogar noch älter.

Es kam wie erwartet: „Mein“ Wagen war nicht da und so erhielt ich einen, dessen Marke ich nicht mal kannte. Ich bin noch weiter raus aus der ganzen Autogeschichte als mir bisher bewusst war. Vom letzten Mal Mietwagen hatte ich mir immerhin gemerkt, dass das Navi erst funktioniert, wenn ich nicht mehr in der Parkgarage stehe. Also ließ ich die gefühlt riesige Karre todesmutig an, erschrak ob es äußerst hässlichen Displays (Star Trek für Arme in der chinesischen Fake-Version), erklomm die Auffahrt zur Ausfahrt sehr entspannt (ich hatte neben den YouTube-Videos auch „Anfahren am Berg Automatik“ ergoogelt, weil ich wusste, dass mein Zielgebiet quasi nur aus Hügeln besteht) und fuhr draußen sofort wieder rechts ran, um das Navi anzuwerfen.

Es kannte natürlich die Adresse nicht, aber ich wusste eine, die reichen würde, um in die Nähe zu kommen. Das Radio fand ich eher durch Raten und wildes Rumtippen und weil die Göttinnen nett sind, war schon eine 80er-Jahre-Station eingestellt, die mir die Fahrt versüßen würde. Beim Losfahren merkte ich dann, dass das Navi englisch mit mir sprach, aber das war okay, ich hatte keine Lust, mich in die Tiefen der Bedienung zu stürzen, um auf Deutsch umzustellen.

Ich war nervöser wegen der Fahrt als wegen des Termins an sich, weil ich schlicht schon ewig nicht mehr lange Strecken gefahren bin. Aber das ging alles wunderbar, das Körpergedächtnis wusste noch, wie sich eine Autobahn anfühlt, und ich behaupte, die Leute rasen nicht mehr so wie früher. Ja, es gab die wenigen Fahrzeuge, die sehr plötzlich sehr nahe hinter mir waren, aber ansonsten zuckelte ich mit 120 bis 130 vor mich hin und alle anderen taten das auch. Geht doch. Tempolimit jetzt, hallo FDP, es scheinen nicht viele Menschen etwas dagegen zu haben.

Mir fiel auch wieder auf, wie wenig moderne Autos mir als Fahrerin übermitteln, wie schnell ich gerade bin, ich musste dauernd auf den Tacho gucken. Für mich fühlten sich 80 und 120 nicht großartig anders an, was mich etwas unruhig machte. Das ist zwar nett, wie wenig man Geschwindigkeit spürt, aber eben auch sehr verführerisch und gefährlich. (Oma Gröner möchte wieder in ihren ICE, wo sie bewundernd auf die Anzeige „300 km/h“ guckt.)

Die Autofahrt hatte noch andere Vorteile neben der kürzeren Fahrtzeit verglichen mit ICE, Regio und Bus, die meine Alternative gewesen wären, sowie der Flexibilität: Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als die Fahrt (und die Texte der 80er-Songs, die ich mitsang). Daher war ich halbwegs entspannt beim Termin, aber abends dann auch komplett platt. Nach Zugfahrten bin ich nicht so matschig, wobei mich da allerdings die anderen Menschen im Waggon stressen könnten. Private Salonwagen jetzt, hallo FDP, das müsste doch genau euer Ding sein.

(Sie dürfen gerne Daumen drücken für das Ergebnis des Termins.)

Tagebuch Samstag, 16. September 2023 – Editiert

Bov Bjergs „Der Vorweiner“ durchgelesen und gemocht. (Perlentaucher-Rezensionen)

Mich vor der Arbeit gedrückt und einen Hauch in der Wikipedia editiert. Der Eintrag zu Ignacio Zuloaga müsste mal komplett überarbeitet bzw. übersichtlicher werden, meiner bescheidenen Meinung nach. Mache ich, wenn ich mich vor größeren Aufgaben drücken will.

Bei Überarbeitungen und Neuanlagen von kunsthistorischen Themen hilft das Kuwiki-Handbuch.

F. per DM durch Wiener Ausstellungen begleitet – und abends dann bei der Rückfahrt nach München, die von Oktoberfestbesucher*innen unfreiwillig verlängert wurde; er hing zeitweilig in Rosenheim fest, weil der Münchner Hauptbahnhof komplett gesperrt war, Personen im Gleis, wer kennt es nicht.

Äußerst kochfaul gewesen, Pizza bestellt, musste auch mal wieder sein.