Das Buch „Das einfache Leben“ von Ernst Wiechert ausgelesen. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir (zum allergrößten Teil) gefällt, aber ich wurde überrascht. Ich zitiere die Wikipedia, auch wenn ich den Begriff der „Inneren Emigration“ nicht mehr gelten lassen kann:
„Wiechert schrieb dieses Buch unmittelbar nach seiner Haft im KZ Buchenwald im Sommer 1938, um sich die erlittenen Leiden „von der Seele zu wälzen. … Mit ihm spülte ich mir von der Seele, was sie beschmutzt, befleckt, erniedrigt, entwürdigt und zu Tode gequält hatte. Mit ihm baute ich noch einmal eine Welt auf, nachdem die irdische mir zusammengebrochen oder schrecklich entstellt worden war.“ Erst nach dem Verfassen dieses Buches war Wiechert seelisch in der Lage, seinen Bericht über die Leiden im KZ, „Der Totenwald“, niederzuschreiben. Für Wiechert bedeutete Das einfache Leben die psychische Genesung und zugleich ein Weg, nach den gemachten Erfahrungen seinen Lesern den Ausweg in die Innere Emigration zu weisen.“
(Einschub: Den „Totenwald“ las ich vor dem „Einfachen Leben“.)
Bereits im ersten Kapitel war ich kurz davor, das Buch wegzulegen, als aus der Zeit gefallen, gestrig, zu behäbig. Ich haderte auch sehr mit den Beschreibungen der Großstadt, vermutlich Berlin:
„Und weshalb wartete er nur auf einen dieser Züge? Auf diese donnernden Ungetüme mit ihrem grellen Licht, ihrer verbrauchten Luft und den verwüsteten Gesichtern, die geradeaus ins Leere starrten? Weshalb wartete er fast jeden Abend auf sie, um ziellos und sinnlos durch diese Stadt zu fahren, die er haßte? Stunde für Stunde, kreuz und quer? Mit der Stadtbahn, dem Autobus, der Straßenbahn? Durch die Elendsviertel und die Paläste (aber sie waren elender als jene), die Augen von Gesicht zu Gesicht wendend, als suchten sie etwas schrecklich Verlorenes? Konnte er nicht mehr ertragen, allein zu sein, oder tat er es gerade, um allein zu sein, hoffnungslos allein unter Verfluchten und Verlorenen? Die anderen kauften Rauschgifte; an dunklen Straßenecken, finsteren Torwegen konnte man sie haben. Und er fuhr und fuhr, stieg aus und fuhr wieder weiter, berauschter als sie alle, aber doch mit der eiskalten Angst im Herzen, es könnte ihm entgehen, es könnte nicht gefunden werden, was er suchte: ein Gesicht, eine Erkenntnis, der Friede … er wußte es nicht.“ (S. 17)
Die Hauptfigur Thomas von Orla, Kapitän im Ersten Weltkrieg, entzieht sich dieser Stadt, seiner Ehe mit einer Frau, die er in den letzten Kapiteln „dieses Kind“ nennt (uah) und seinem Sohn, der anscheinend bei seiner Gouvernante eh besser aufgehoben ist, indem er nach Osten wandert. Bei der Beschreibung der sich ändernden Landschaft gruselte es mich auch kurz, weil ich derartige Beschreibungen (über die von der Wehrmacht eroberten Ostgebiete) aus anderen Zusammenhängen kenne. Hier Wiechert, etwas unschlüssig, ob die für ihn neue Landschaft jetzt gut oder schlecht ist:
„Indes er fast geräuschlos dahinglitt, von einem sanften seitlichen Winde je nach der Biegung der Straße gehindert oder getrieben, versuchte er zu ergründen, weshalb sein Atem leicht zu gehen schien in dieser Landschaft, obwohl sie doch im ersten Anschauen streng, weit und nicht ohne Düsterkeit sich ihm darbot. Er bemerkte, daß die Luft rauher ging, daß Wachstum und Feldbestellung gegen seine Heimat weit zurückgeblieben waren, daß Häuser und Dörfer ärmlicher, fast liebloser in den umgebenden Raum gebettet waren. Doch schienen wiederum Straßen und Pfade menschenleerer, alles Gerät einfacher und verbrauchter, ja auch alle Ansprüche bescheidener, als ob die Erde noch unbedingter hier herrsche, den Forderungen des Menschen noch widerwilliger verschlossen als in anderen Bezirken des Reiches, und als ob der Mensch hier mehr auf eigener Kraft und im eignen Inneren beruhen müsse, ohne die gedankenlose Unterstützung der Masse, die ihm woanders, zumal in den Städten, so leicht und so verhängnisvoll zufalle.“ (S. 36/37)
Und hier ein kleiner Ausschnitt aus meiner Diss, in der ich drei Vorworte zu den Katalogen „Deutsche Künstler sehen das Generalgouvernement“ von 1941 bis 1943 zitiere:
„Im Vorwort schrieb Ernst Jaenicke über die vergangenen Ausstellungen und ihre Zielrichtungen. 1941 hatte seiner Meinung nach das „aufbaubildnerische Element“ in den Kunstwerken vorgeherrscht, das entstanden war, während deutsche Soldaten, „die als Ordner und Gestalter in das ihnen vielfach neue und fremde Land gekommen waren und nun daran gingen, ihren neuen Wirkungskreis mit erfrischender Schöpferfreudigkeit zu erfüllen“, einen gnadenlosen Angriffskrieg führten. Jaenicke verbrämte diese Tätigkeiten äußerst euphemistisch: „So entstanden großzügige Neu- und Umbauten, deutsche Häuser und Gaststätten, so kam Ordnung in das Landschaftsbild, und die Einrichtung der neuen Häuser erfüllte die Atmosphäre deutscher Wohnkultur. Die künstlerische Arbeit stand überwiegend im Zeichen des Neuaufbaus und war hauptsächlich von diesen praktischen Gesichtspunkten bestimmt.“
1942 hatte Jaenicke „Neuland“ gesehen, das die deutsche Kunst hier gefunden hätte, und bestätigte erneut den Anspruch der Deutschen auf diese Gebiete: „In der Landschaft stand neben der trostlosen Weite, Planlosigkeit und Verkommenheit des Ostens die Entdeckung weiter Gebiete mit heimischen Charakterzügen.“ 1943 nun zeigte sich laut Jaenicke in den ausgestellten Bildern „eine stärkere Geschlossenheit, die, ohne einseitig zu werden, gerade in der Vielfalt der Themen und der Farbgebung kühn die Gestaltung des Neuen versucht und damit den alten Lebenskreis erweitert.“ (Gröner 2022, S. 262/263)
Mitten in den Sätzen von Wiechert kommen dann auch noch Bemerkungen, die mich kurz innehalten ließen, Hervorhebung von mir:
„Ja, er sei zur See gefahren, sagte Thomas auf die erste ungeschickte Frage hin, sein ganzes Leben lang, als Steuermann auf einem großen Dampfer. Aber da es nun damit zu Ende sei, es ihm auch in den engen Städten nicht gefiele, wo der Wind nur Staub und Papierfetzen vor sich hertreibe statt des salzigen Schaumes der See, so habe er beschlossen, sich in dieser Landschaft umzutun, ob er nicht etwas wie eine Fischereipacht fände, von der man bei harter Arbeit doch sein Brot habe und zum mindesten sein Essen, wenn das bedruckte Geld schon immer schneller in den Rauchfang stiege.
Das könne wohl möglich sein, meinte der Mann langsam, und wenn er auch hier in der Gegend nichts wisse, vielmehr alles in festen Händen sei, so könne er ihm doch hier und da einen Namen an den Seen sagen, wo er Bescheid und wohl auch Rat finden werde. Denn es sei viel Unruhe in der Landschaft, nicht nur wegen der Angst vor den Polen, sondern es sei überall auch wie bei ihnen selbst, daß die jungen Leute den Dienst aufsagten, nicht nur, weil es ihnen zu einsam sei, sondern auch weil sie meinten, die Arbeit werde nun abgeschafft oder mindestens denen aufgelegt, die bisher nach ihrer Meinung nicht gearbeitet hätten. So seien auch sie allein geblieben, und Knecht und Magd seien des Weges gegangen, in die Hauptstadt der Provinz, wo sie nun wahrscheinlich schon auf einem goldenen Throne säßen. (S. 41/42)“
Orla findet seine Fischereipacht und ab dort hat das Buch auf mich einen völlig unerwarteten Sog entwickelt. Ich kopiere mal einen Teil der Inhaltsbeschreibung aus der Wikipedia, weil ich sie gelungen finde:
„Fünf Jahre nach Kriegsende ist Thomas immer noch mit der Verarbeitung der Kriegsereignisse beschäftigt. In dieser Situation hat er ein Schlüsselerlebnis, als er den Psalm 90 von der „Zuflucht in unserer Vergänglichkeit“ verinnerlicht: „wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.“ Der 45-jährige Offizier entschließt sich daraufhin, der quirligen Großstadt und seiner Familie den Rücken zu kehren, durchquert Polen und geht nach Ostpreußen. „Auf dem Wege der Arbeit als der einzigen Erlösung des Menschen“ beginnt Thomas eine jahrelange Suche nach dem Sinn seines Lebens. Dabei gerät er zufällig in eine scheinbar heile preußische Welt, die in der Zeit der Weimarer Republik ihren alten Charakter bewahrt hat. Die wichtigsten Beziehungen knüpft Thomas zu dem bärbeißigen General von Platen, zu dessen Enkelin Marianne, dem Förster Gruber sowie zu dem Nachbarn Graf Natango Pernein, einem jungen, zurückgezogen lebenden Schöngeist und Liebhaber naturwissenschaftlicher Experimente. Die Landbevölkerung bleibt dagegen weitgehend konturlos.“
Die Beschreibungen Wiecherts vor allem der Landschaft, Orlas körperlicher Arbeit und im Gegensatz dazu seine inneren Monologen über Wissenserwerb, Gott, die Schöpfung, unseren Platz darin, was war und was bleibt, haben mich eigentümlich angerührt. (Ich stutze gerade über „eigentümlich“ und frage mich, ob ich das Wort vor einer Woche auch getippt hätte.) Wiecherts Sprache hat bei mir den Effekt einer langen Medidation gehabt, ich habe mich mit dem Buch in der Hand entschleunigt gefühlt, wie behutsam in eine völlig andere Welt gesetzt und dort einfach mal mir selbst überlassen. Ja, ich habe einiges angestrichen, was mir verdeutlich hat, dass das Buch 1939 erschienen ist, aber es gab deutlich mehr Passagen, die ich als zeitlos empfunden habe.
Am Ende kann Wiechert sich anscheinend selbst nicht so ganz von seiner Welt trennen, die letzten drei Kapitel waren etwas mühsam, und eine Stelle hat mich ganz persönlich etwas angefasst, weil man inzwischen weiß, was nach 1939 und dem Erscheinen des Buchs passiert und weil meine Mutter aus Ostpreußen stammt und es immer noch ihre Heimat nennt, obwohl sie seit 1946 (oder 1947?) nicht mehr dort lebt.
„Bergengrün war fertig mit seiner Gottesgelehrtheit und sollte nun mit dem Gottesdienst beginnen und zu Pfingsten seine erste Predigt von der Kanzel halten, die der General ihm versprochen hatte. »So lange ist es her, Kind«, sagte Thomas, »seit ich auf der Treppe stand, und ihr kamt mir entgegen. Eine goldene Krone habe ich dir versprochen, aber sie liegt noch immer auf dem Grunde, und nur manchmal ist mir, als scheine sie über das Wasser hin.«
»Du trägst sie ja, Thomas«, erwiderte sie, »du siehst es nur nicht.«
Aber er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich will schon zufrieden sein, wenn ich meinen Helm in Ehren tragen und ihn am Abend ein bißchen abnehmen kann. Es ist schon recht in der Welt, wenn die Männer den Helm und die Frauen die Krone tragen.«
Sie standen am Walde der guten Hoffnung und sahen auf die jungen Pflanzen nieder, die in langen Reihen hügelauf und hügelab liefen. Der Kuckuck rief, aber sie zählte nun nicht mehr. Sie glaubte zu wissen, daß sie lange leben würde. Ihre Kinder würden Erdbeeren unter diesen Gräsern sammeln und groß werden und mit der Büchse über den Knien hier auf das ziehende Wild warten, wenn das Haus auf der Insel schon leer stehen würde. Niemand sollte dort mehr wohnen als sie selbst, wenn sie alt geworden war. Und dort wollte sie auch begraben werden. – »Er wird wachsen, gleichviel, was wir tragen«, sagte sie auf dem Heimweg. (S. 377/378)
„Das einfache Leben“ ist schon gemeinfrei; beim bösen Online-Händler kann man es sich umsonst auf den Kindle holen, oder ihr lest bei Gutenberg. Gebt dem Buch ruhig mal eine Chance. Vielleicht werdet ihr ähnlich überrascht werden. Ich frage mich immer noch, ob ich das Werk vor fünf, zehn, 20 Jahren gelesen hätte – und glaube es nicht. Aber jetzt passte es gerade.