Dienstag, 25. Oktober 2022

Grippeimpfung abgeholt. Im Asiashop gewesen, Vorräte an vorgekochten Udon-Nudeln und Kewpie wieder aufgestockt. Im Biomarkt Backmalz bekommen, ich plane den Test eines neuen Bagel-Rezepts. Gearbeitet, Zeit für ein Mittagsschläfchen aka Power-Nap gehabt (beste Tage). Franzbrötchen geschenkt bekommen. Mit Hamburg telefoniert.

Joel schreibt über Parfums:

„Ich kannte den italienischen Künstler Filippo Sorcinelli überhaupt nicht. Seine neue Serie Sex wagt es in andere Richtungen zu gehen. Slightly Bitch zum Beispiel riecht sehr stark nach Leder mit einem Hauch von Nagellack. Wenn ich ihn dann länger auf der Haut habe, wird er sehr weich und dunkel und erinnert mich an eine holzgetäfelte Cigarillo Bar mit großen Ledersesseln. Das ist meine letzte Erungenschaft und der extremen Düfte die neue Richtungen wagen die mich sehr reizen, weitere zu probieren. Ein anderes Parfum aus der gleichen Serie, das ich aber nicht gekauft habe, geht noch einen Schritt weiter. Cyber Sex riecht wie ein parfümiertes und verschwitztes T-shirt nach einer durchtanzten Nacht.“

Isabella schreibt über „Stripped“:

„2002 waren Konzeptalben gerade völlig out, es musste ja auch alles auf eine CD passen. Kleine Spielerein, versteckte Songs oder Interludes – sowas machten nur noch die Bands, die Väter hören. Mir doch egal sagt Christina und gibt ein Mission-Statement ab. Das Album beginnt mit einem Mix aus fremden Stimmen, Carson Daily, Fred Durst, Reporterinnenzitaten zum angeblichen Beef mit Britney. Wir starten also mit einem Eff You. Mal ganz abgesehen davon, dass man heute erst recht nochmal anders auf die schizoide Bewertung von weiblichen Popstars in den frühen 200ern schaut, weiß bis heute fast jede junge Frau wie es ist, sich von Gerüchten und Kommentaren verfolgt zu fühlen. Ob Schulhof oder Instagram. Die folgenden 19 Songs sind auch ein Tagebucheintrag.“

Sonntag/Montag, 23./24. Oktober 2022

Sonntag im Museum gewesen und einen langen Blogeintrag verfasst. Montag wieder im Werbemodus gewesen. Abends Blumenkohl mit Misodip gemacht, den ich vergaß zu fotografieren. War gut. Länger mit F. gesprochen, ihm von der Konferenz erzählt. Eine Bluse mit der Hand gewaschen, man wird ja vorsichtig im Alter.

„Kunst und Leben 1918 bis 1955“, „Mix & Match“ und die Tagung zu Fritz Bayerlein

Im Lenbachhaus wurde vor Kurzem die Ausstellung „Kunst und Leben 1918 bis 1955“ eröffnet, ich sah sie am vergangenen Donnerstag. Freitag und Samstag war ich dann in Bamberg auf einer Tagung zum Maler Fritz Bayerlein (1872–1955) und hielt einen kurzen Vortrag zu Protzen bzw. dem Thema Autobahnmalerei. Und noch eine dritte Ebene für diesen Eintrag: In der Pinakothek der Moderne wurde die Sammlung umgehängt (Mix & Match) und kontrastiert nun eher anstatt brav chronologisch Dinge abzuarbeiten.

Ein Werk entzündet gerade die Leserbriefspalten oder alte Männer wie Georg „Frauen können nicht so gut malen“ Baselitz, dem ich seit dieser Bemerkung nicht mehr so richtig zuhöre. Inmitten von Werken moderner Künstler zeigt die Pinakothek weiterhin das Gemälde „Die vier Elemente“ (vor 1937) von Adolf Ziegler, das tausendfach auf Postkarten zur NS-Zeit Verbreitung fand und im sogenannten „Führerbau“ in München im Kaminzimmer hing. Baselitz fordert die Abhängung und unterstellt der Pinakothek eine „ns-propagandistische Wirkung“ durch die Hängung (Zitat aus dem SZ-Artikel, hier über archive zu lesen).

In Bamberg wurden vier großformatige Gemälde vom überzeugten Nationalsozialisten Bayerlein nach jahrzehntelanger Diskussion endlich aus dem Rats- und Trauungssaal der Stadt abgehängt. Hier möchten diverse Leserbriefschreiber*innen, dass die Werke wieder aufgehängt werden, in München sollen andere Werke aber abgehängt werden. Und auch dem Lenbachhaus wird von einigen Besuchern und Besucherinnen der Ausstellung zugetragen, dass die Hängung von NS-Tätern und -Opfern nebeneinander nicht angemessen sei. Wie denn nun?

Die drei Schauplätze machen den schwierigen Umgang mit sogenannter NS-Kunst gut deutlich. Bayerleins Landschaften mögen zunächst einfach nur heimelig sein, aber die Abbildung einer stillenden Mutter und eines Mannes, der seine Sense schärft, im Bild „Arbeit, Heimat, Familienglück und Fruchtbarkeit“, 1944 aufgehängt, weist dann doch auf staatlich sanktionierte Geschlechterentwürfe bzw. ihre Darstellung in der Kunst hin, und ob das noch zeitgemäß ist, darf bezweifelt werden, vor allem wenn der Maler überzeuger Nazi und Antisemit war wie Bayerlein. Es ist fast peinlich, dass erst 30 Jahre darüber diskutiert werden musste und es einen Aufsatz eines Historikers brauchte (ist im Wiki-Artikel aufgeführt), der Bayerleins Lebensaufzeichnungen im Stadtarchiv Bamberg transkribierte und dabei Dinge zitierte wie „Dann folgte die sogenannte Entnazifizierung, für die ich 7000 M zahlen mußte, aber trotzdem kein Demokrat wurde. Man kann seine Gesinnung nicht von heute auf morgen wechseln wie ein Hemd.“

Dass ein Werk von Ziegler in der Pinakothek hängt, ist jetzt auch nicht gerade neu. 2016 wurde der Saal 13 komplett mit Bildern aus der NS-Zeit gestaltet, was damals eine kleine Revolution war: Die Pinakothek der Moderne war das erste Kunstmuseum in Deutschland, das derartige Werke als Teil der Dauerausstellung präsentierte. 2018 wurde der Saal umgestaltet, nun hingen nur noch zwei Werke von Ziegler und ja, genau, Carl Theodor Protzen im Saal und wurden als „NS-Kunst“ präsentiert. Schon damals gab es Diskussionen, aber die Bilder blieben hängen. 2020 wurde zumindest Protzens „Donaubrücke bei Leipheim“ (1936) entfernt, bei Ziegler bin ich mir nicht sicher, aber ich glaube, auch er verschwand wieder im Depot oder war, wie seit Jahren, auf Sonderausstellungen unterwegs.

Seit Kurzem hängt nun die neue Sammlungspräsentation, wo die Räume nach Themen oder Überbegriffen geordnet sind und nicht mehr nach Stilen oder Epochen. Ziegler hängt im Saal mit dem in meinen Augen unglücklichen Titel „Panoptikum“ – unglücklich, denn neben ihm hängen und stehen unter anderem zwei Werke von Picasso, Henrik Olesen, der sich mit Theorien von Magnus Hirschfeld befasst, sowie eine große Skulptur von Otto Freundlich, dem Künstler, dessen Werk „Großer Kopf“ in bewusst verzerrter Perspektive fotografiert das Titelbild der Feme-Ausstellung „Entartete Kunst“, München 1937, zierte. Freundlich wurde 1943 im Konzentrationslager ermordet. Ich habe noch keine finale Meinung zu diesem Raum, aber gerade der Kontrast mit Freundlich tut schon weh. Die hohe, massige, tiefschwarze Skulptur kann den zarten nackten Damen von Ziegler sehr souverän Kontra geben, aber ich hadere trotzdem. (Die Pinakothek hat über die Kontroverse gebloggt.)

Ich war gestern zum ersten Mal in der Neuhängung und lungerte recht lange beim Ziegler rum, einfach um zu schauen, wie Menschen darauf reagieren; bei einigen hörte ich nur zu, was sie so sagten, zwei Frauen sprach ich einfach mal an. Die meisten waren eher verständnislos, warum dieses Werk nun so ein Skandal sei, es sei doch eher langweilig, und wenn sie nicht in der „Süddeutschen“ was über Baselitz gelesen hätten, wären sie vermutlich daran vorbeigegangen. Die beiden Damen unterhielten sich recht lange mit mir; sie meinten, die Infos, die ich ihnen noch zum Werk gegeben hätte – hing im Führerbau, war als Wandteppich 1937 im Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung – hätten sie gerne im Wandtext gelesen. Dort wird das Werk zwar deutlich als systemkonforme Kunst des NS positioniert, aber es wird nicht ganz klar, warum nun ausgerechnet dieses Bild und nicht eins der anderen, ich meine mich zu erinnern, knapp 900 Bilder aus ehemaligem Staatsbesitz im Depot hier hängt.

Womit ich gestern auch haderte, war ein launiger älterer Herr, der seiner vielköpfigen Familie oder Freundesschar den Picasso präsentierte mit den unsterblichen Worten: „Man sagt ja auch, lieber vom Leben gezeichnet als vom Picasso gemalt, jaha, Panoptikum, das trifft’s, haha.“

Ich ging dann dringend weiter, sah meine geliebten Grossbergs, vermisste Herrn Lachnit und überhaupt die gesamte Neue Sachlichkeit, sah dann in einer Raumflucht den von mir verehrten „Gestürzten“ von Lehmbruck – und dahinter Protzens „Donaubrücke“. Das wusste ich nicht, dass die wieder hängt, und meine erste Reaktion war, das muss ich leider zugeben: „Diese verdammte Autobahn IN EINEM RAUM MIT LEHMBRUCK!“

Lehmbrucks „Kniende“ wurde 1937 auf der Schau „Entartete Kunst“ verhöhnt und stand 1955 auf der ersten documenta recht zentral, quasi als winzige Wiedergutmachung. Protzens Gemälde wird übrigens im Wandtext nicht so exorbinant als NS-Kunst ausgewiesen, da steht im Kleingedruckten nur was von „ehemaligem NS-Besitz“, aber das war’s. Neben ihm hängt noch eine Landschaft von Radziwill, passt wunderbar, aber was der Raumtitel „Continuous Fire Polar Circle“, in dem ein Komma nach „Fire“ fehlt und der sich auf das gleichnamige Werk von Lewis Baltz im Raum bezieht, mit Lehmbruck oder Protzen zu tun hat, weiß ich nicht. Die wenigen anderen Besucher*innen anscheinend auch nicht; wo bei Ziegler eigentlich immer wer stand und sprach oder mindestens ein Handyfoto machte, gingen am Protzen die meisten einfach vorbei, da wunderte sich niemand, auch Herr Baselitz vermutlich nicht, dass da ein ausgemachtes NS-Propagandabild hängt.

Ich finde es im Prinzip in Ordnung, dass diese Werke hängen, denn ein Museum ist etwas anderes als ein Trauungszimmer oder gar ein Ratssaal eines demokratischen Staates, wo wirklich, wirklich kein Nazischeiß hängen sollte. Ich muss aber auch zugeben, dass die Kombinationen etwas schmerzhaft sind. Wobei, und mit dem Gedanken bin ich immer noch nicht fertig: Vielleicht sorgen genau diese Schmerzen dafür, dass die Werke wahrgenommen werden und man endlich über sie spricht. Es bringt niemanden weiter, die NS-konforme Kunst weiter in Depots vergammeln zu lassen. Sie gehört leider zur deutschen Kunstgeschichte, also gehört sie auch in ein Museum. Aber vielleicht braucht es da noch größere Tafeln, noch mehr Erklärungen, noch mehr Einordnungen? Ich weiß es selbst nicht.

In der Ausstellung „Kunst und Leben 1918 bis 1955“ hat mich die Hängung ähnlich überrascht wie die Neuhängung in der Pinakothek: Auch sie ist nicht chronologisch oder sortiert brav in Nazikunst und Nicht-Nazikunst – was bei den vielen, teilweise ambivalenten Biografien auch schwierig geworden wäre –, sondern hängt ernsthaft alphabetisch. Das hat mich zwei Minuten lang sehr irritiert, weil man eben nicht mal nach Zusammenhängen suchen konnte wie in der Pinakothek mit der thematischen Hängung (oder ihrem Versuch). Nein, man stolpert kreuz und quer durch Jahrzehnte, Nationen, Stile und Biografien – aber nach diesen zwei irritierenden Minuten passt das komischerweise. Eben weil die erste Hälfte des Jahrhunderts ein einziges Chaos war, in dem vielleicht das Alphabet eine der wenigen Konstanten blieb. Beim Tippen dachte ich allerdings an die Buchstabiertafel, bei der die Nationalsozialisten aus „David“ „Dora“ und aus „Samuel“ „Siegfried“ machten. Ziehe hiermit das Alphabet als Konstante auch zurück.

Trotzdem fand ich die Ausstellung gelungen, eben weil sie zunächst so willkürlich wirkte. Man war schlicht gezwungen, die Texte zur Biografie zu lesen, um zu verstehen, wen und was man da vor sich hat. Man traf auf bekannte Namen (auch hier sind Otto Freundlich und Franz Radziwill zu sehen), aber eben auch auf viele eher Unbekannte (Protzen). Den Katalogtext zu ihm und seiner Frau Henny Protzen-Kundmüller durfte ich schreiben, und direkt nach dem Ausstellungsbesuch bzw. nachdem ich den Katalog nach Hause trug, erweitere ich meinen Wiki-Eintrag zu Henny noch um ein paar Details; die hatte ich bewusst dort noch nicht veröffentlicht, damit es nicht so aussieht, als hätte ich für den Katalog aus der Wikipedia abgeschrieben. Es ist kompliziert.

Auch hier sind, wie in der Pinakothek, Werke von NS-Tätern neben denen von NS-Opfern zu sehen, was ähnlich schmerzhaft ist wie Freundlich und Ziegler in direkter Nachbarschaft. Ich persönlich fand den Kontrast hier nicht so anstrengend oder moralisch problematisch wie in der Pinakothek, weil alleine der Zeitrahmen der Ausstellung einen schon ahnen lässt, auf was man trifft. Ich kann aber auch hier absolut nachvollziehen, wenn Besucher*innen es unangemessen finden, diese Werke auf gleicher Augenhöhe und ohne Wertung nebeneinander zu zeigen. Aber auch hier gilt: Es öffnet den Raum für Diskussionen. Wir können über diese Kunst und diese Künstler*innen nur angemessen sprechen, wenn die Werke zu sehen sind. Ich glaube, die Diskussion ist eher im Lenbachhaus möglich, auch weil dort ein Glossar ausliegt, das NS-Terminologie erklärt und Hintergründe zur Kunststadt München aufzeigt. Man erspart sich damit schlicht 1000 Zeilen Text neben jedem Bild, aber wer will, kann sich durchaus gründlich mit dem ganzen Komplex befassen. Das sprach auch ein älteres Ehepaar an, dem ich ein bisschen durch die Ausstellung gefolgt bin. Die Dame meinte: „Ich finde die Ausstellung gut – man versteht die Geschichte.“ Ein großes und in meinen Augen korrektes Lob: Die vielen Biografien machen sehr deutlich, dass es eben kein Schwarzweiß gibt, sondern ein fast unübersichtliches Grau an Lebensläufen und politischen Einstellungen.

Auf der Bayerlein-Tagung waren übrigens auch nicht alle einer Meinung, auch hier gab es deutliche Ablehnung der Hängung in der Pinakothek wie auch Zustimmung. Es sind sich also nicht einmal die Fachleute einig darüber, wie genau man diese Kunst jetzt präsentiert oder in welchen Werken oder Hängungen. Wir werden wohl noch länger darüber reden.

Samstag, 22. Oktober 2022

Die Damen und Herren vor mir auf der Bamberger Tagung überzogen launig bzw. ließen ewig Fragen zu, so dass ich sehr spät dran kam und mir auch nahegelegt wurde, möglichst durchzusprinten. Ja, nee. Brav langsam abgelesen, mich aber innerlich sehr gefreut, dass ich handgestoppte 17 Minuten Vortragszeit eingeplant hatte von meinen zugeteilten 20, ich braves Hascherl. Es kamen auch nur zwei Fragen, wobei ich jetzt nicht beurteilen kann, ob ich alles gesagt habe, was zu Protzen und den Autobahnen zu sagen ist oder einfach nur alle nach Hause bzw. ihren Zug kriegen wollten (ich war die vorvorletzte Rednerin). Ich behaupte Möglichkeit 1.

Nach der Tagung sprach mich eine Studentin (?) an und meinte, sie sei keine Kunsthistorikerin, höre sich aber gerne mal fachfremde Vorträge an. Sie wollte mir sagen, dass sie meinen Vortrag sehr gut fand und sie alles verstanden habe. Ich behaupte weiterhin Möglichkeit 1.

Dann wollte ICH aber dringend nach Hause, denn ich wollte endlich die Maske abnehmen. Nach zwei Tagen Rund-um-die Uhr-Maskentragen mit kurzen Pausen vor der Tür oder halt für einen dreiminütigen Kaffee im Vorraum des Hörsaals habe ich noch mehr Respekt vor Menschen in Krankenhäusern oder der Pflege.

Wir waren gegen halb vier fertig mit allem, also pünktlich. Ich hatte eigentlich den Zug um 19 Uhr gebucht, weil ich noch auf den Friedhof wollte; Protzen ist in Bamberg bestattet und ich wollte ihm kurz Tschüss sagen. Das war mir gestern aber arg egal, ich ging von der Uni zum Hotel zurück, wo noch mein Koffer stand, fluchte über die unsägliche App, mit der man sich durch Bamberger Busabfahrten navigiert, fand aber einen Bus, der mich zum Bahnhof brachte und bedauerte es, den ICE um 16.17 Uhr nicht mehr zu kriegen. Also wurde es ein Regionalzug um 17 Uhr nach Erlangen, von wo ich umsteigen würde. Ich kam gegen 16.20 Uhr am Bahnhof an und sah missmutig, dass der RE ausfiel – aber der ICE um 16.17 Verspätung hätte und erst gegen 16.40 in Bamberg wäre. Ha! Mein Ticket galt für jeden ICE, also ging ich zum entsprechenden Gleis und versuchte noch einen Sitzplatz zu buchen. Das ging nicht mehr, alles dicht, aber ich dachte, knappe zwei Stunden kann ich notfalls auch im Türbereich auf dem Boden sitzen. Als der Zug dann kam, war natürlich noch was frei, ich plumpste erschöpft, aber zufrieden auf einen Sitz und guckte dann zwei Stunden aus dem Fenster oder auf den kicker-Ticker des FCA-Spiels, was ich hätte bleiben lassen sollen.

Freitag, 21. Oktober 2022

Es regnete in Bamberg, was mein Outfit etwas ruinierte, ich rannte in Hoodie und mit Schirm anstatt im kleidsamen Konferenzblazer von Bushaltestelle zu Bushaltestelle. Ansonsten hatte ich die ganze Zeit während der Tagung das Gefühl, das ich früher auf der republica hatte: Endlich normale Leute. Die allerdings fast alle keine Masken mehr tragen, ich war ein Alien. Aber anscheinend auch als Bisher-Nicht-Infizierte ein Einhorn. Habe wegen dieses Einhorn-Status auf das gemeinsame Abendessen verzichtet. Schade um die guten Gespräche, aber ich bin doch noch vorsichtig.

Heute zweiter Tag mit meinem Vortrag. Den dann ohne Maske, wir sitzen in einem großen Hörsaal, das war nett, mal wieder ein Tischchen runterzuklappen, um das Moleskine auszubreiten.

Donnerstag, 20. Oktober 2022

Im Museum gewesen und eine sehr gute Ausstellung gesehen. Empfehle ich hiermit schon mal weiter, bevor ich den Eintrag im Laufe des Tages noch verlängere. Oder im Laufe des nächsten Tages. Oder Sonntag. Ich bin heute und morgen etwas eingespannt und quasi auf dem Weg zum Bahnhof.

Mittwoch, 19. Oktober 2022

Übers Wochende Karen Duves Sisi durchgelesen. So nett ich das fand, die österreichische Kaiserin mal nicht als liebenswertes, edelmütiges Naturkind und armes Opfer des Wiener Hofzeremoniells zu sehen (Sissi-Filme) oder als magersüchtige, bedauernswerte Laienpoetin (Brigitte Hamanns sehr gute Biografien von Elisabeth und ihrem Sohn Rudolf), sondern als privilegierte, unreflektierte und kindische Meisterreiterin, so sehr haben mich die irrsinnig vielen Fehler im Buch genervt.

Von meiner Lektorin weiß ich, dass es total billig ist, auf dem Lektorat rumzuhacken, weswegen ich jetzt auf dem Korrektorat rumhacke, falls es eins gegeben haben sollte. Ich habe allein beim lesenden Lesen – im Gegensatz zum korrigierenden Lesen – satte 128 Fehler oder Unstimmigkeiten gefunden (Tiernamen mal in Anführungszeichen, mal ohne, „Münchener“ versus „Münchner“, einfache Anführungszeichen, wo doppelte hinmüssten, fehlende Kommata hier, dafür woanders siebzehn zu viel etc.). Ja, ich habe die Fehler irgendwann angestrichen, weil es mich so genervt hat, und ja, ich habe meine Striche ernsthaft für diesen kurzen Blogeintrag gezählt. Schlampigkeit erschwert das Lesevergnügen. Meins jedenfalls.

Dienstag, 18. Oktober 2022

Habe in der letzten Woche meinen Vortrag gekürzt, ohne ihn mir selber vorgelesen zu haben, aber ich war mir sicher, sechs einzeilig beschriebene Seiten passen nicht in 20 Minuten. Passen sie, wie ich jetzt weiß, sie passen sogar in 15, obwohl ich beim Lesen deutlich langsamer rede als beim freien Sprechen, weswegen ich das inzwischen leider lasse, auch wenn es mich selbst nervt. Es nervt mich aber mehr, wenn die Leute mir nicht folgen können, weil ich wegen der Begeisterung über mein Forschungsfeld wieder hektisch vor mich hinsprinte und niemand hinterherkommt.

Jedenfalls habe ich gestern den Vortrag wieder um drei Minuten verlängert, die Folien finalisiert, heute gibt’s noch einen Durchgang und dann reicht’s.

Montag, 17. Oktober 2022

Die lustigen Herren vom Glasfaserkabel waren da und bohrten sich durchs Haus. Gestern war die Seite dran, auf der ich wohne, und ich musste laut Schreiben der Hausverwaltung nicht nur meine Fernsehdose freiräumen, sondern auch noch mein Kellerabteil offenlassen, denn dort wollten die Jungs als erstes hin. Ab 8 bitte.

Ich war gestern sehr früh wach, stand dann einfach auf, ging frisch geduscht in den Keller, um mein Vorhängeschloss abzunehmen und einen Zettel aufzuhängen: „Falls noch etwas aus- oder umgeräumt werden muss, bitte melden.“ Name, Stockwerk, Handynummer. Dann setzte ich mich mit Kaffee aufs Sofa und war daher halbwegs wach, als es um viertel nach 7 klingelte; die Jungs waren etwas früher da, meinten, sie müssten nur ein Regal verschieben, nein, dafür müsste ich nicht runterkommen, alles klar.

Dann ging ich an den Schreibtisch und wurde im Laufe des Tages, wenn ich mich richtig erinnere, viermal in Abständen unterbrochen. Zuerst musste ein Loch gebohrt werden. Aber nicht da, wo die alte Fernsehdose war, sondern am Kamin, weswegen auch mein Kellerabteil nötig gewesen war, denn von dort aus ging der Strang los.

Ich hatte am Sonntag abend noch panisch gegoogelt, ob nur die eine Fernsehdose, aus der ich ein dickes Kabel nach draußen kommen sehe und die noch zwei Nachbarn hat, freiräumen müsste oder alle Fernsehdosen in dieser Wohnung. Da ich keinen Fernseher habe, steht natürlich vor allen was rum, mal ein Rollcontainer mit Drucker drauf (kein Problem), mal eine breite Wäschekommode (totales Problem, die könnte ich nicht mal im Raum rumschieben, weil im Raum kein Platz mehr für sie ist). War aber alles egal, die Fernsehdose war nicht das Ziel der Herren, sondern eben der Kamin.

Als die beiden (mit Maske, YES) in meine Wohnung kamen, gingen sie, für mich irritierend, in die Küche, denn anscheinend hatten sie da in den Stockwerken unter mir gebohrt. Der Kamin verbindet quasi Küche und das Balkonzimmer, bei mir das Arbeitszimmer, bei anderen vermutlich das Wohnzimmer. An beiden Kaminseiten hängen aber Heizungen, jedenfalls bei mir; anscheinend wurde bei den anderen in der Küche gebohrt, wo keine Heizung ist. Seitdem nöle ich noch mehr über meine sinnlose Küchenheizung, die ich nie anstelle – weil eh immer zu warme Küche – und die auch dutzende von total cleveren und praktischen Einrichtungsideen zerschossen hatte, einfach weil sie halt da und im Weg ist. Mistvieh. Auf einem anderen Stockwerk hätte ich dieses Problem anscheinend nicht gehabt.

Ich bekam also statt einer planen Bohrung in der Küche eine seitliche Bohrung im Arbeitszimmer, wofür ich mal eben Sofa, Tischchen und Stehlampe verräumte. Dann arbeitete ich wieder, dann wurde ein Plastikrohr eingefügt, ich arbeitete, dann wurde das Rohr verputzt, ich usw., und dann kam endlich die Dose. Beim letzten Durchgang, dem Festschrauben der Dose und dem Testen ihrer Funktionsfähigkeit, war es schon nach 15 Uhr. Ich bot zwischendurch mal Tee an (leider kein Gebäck im Haus), was aber freundlich abgelehnt wurde. Eigentlich wollte ich erst kochen, wenn alles durch war, aber so gegen halb 3 hing mein Magen dann doch sehr in den Kniekehlen, und so bastelten die Jungs im Arbeitszimmer und ich am Herd.

Jetzt habe ich Glasfaser, was ich gar nicht brauche oder will, und höre nun die weiteren Tage gespannt den Bohrgeräuschen auf der anderen Hausseite zu. Und mein Keller ist gesaugt, das haben die Herren sehr ordentlich hinterlassen.

Sonntag, 16. Oktober 2022

Im Zug nach Süden gefahren.

In einem sehr lauten Zug nach Süden gefahren. Fürs nächste Mal zu zweit verreisen merken: Lieber getrennt im Ruheabteil sitzen als zusammen im Lärm. Wir reden eh so gut wie nie miteinander während der Fahrt, sondern lesen, hören Zeug oder dösen. Das geht auch in unterschiedlichen Sitzreihen. Hauptsache keine Schnackenden mehr in der Nähe, die auch die Noise-Cancelling-Dinger irgendwann nicht mehr canceln konnten.

Musste wieder sehr laut Dvořák hören.

Okay, das war nicht so schlimm. Höre ich eh auf fast jeder Rückfahrt zum Runterkommen. Aber meist nicht so laut.

Bonus-Elterngarten. (Hatte kurz überlegt, „Mutterns Garten“ zu schreiben. Bleibe bei „Elterngarten“.)

Samstag, 15. Oktober 2022

Dinge fürs Mütterchen erledigt: knapp 50 Umschläge mit Adressen beschriftet, um die Dankeskarte zu verschicken an viele Menschen, die uns eine Trauerkarte zukommen ließen oder für die Langenhagener Tafel gespendet hatten. Einige Karten schrieb ich selbst, bei anderen half ich bei der Formulierung.

Die übliche Kürbiscremesuppe im Riesentopf angesetzt, die mag sie so gerne, und deswegen muss ich sie jedesmal kochen, wenn ich hier bin. Sie wird in diverse Gläser abgefüllt und eingefroren.

Honig-Senf-Salatdressing angerührt, siehe Suppe. Nur ein Glas, für die nächste Woche.

Kuchen gebacken. Den hatte ich im Sommer mal gemacht, und der schmeckte allen so gut, dass ich ihn bitte nochmal backen sollte. Das Schwesterchen bot an, mir ihre Küchenmaschine zu leihen, was ich gerne annahm. Ich selbst besitze immer noch keine, sondern nur einen Handmixer, aber ich backe so oft und so gerne, dass ich seit Ewigkeiten mit einer liebäugele. Ich hatte gehofft, dass die Maschine nur riesiger teurer Schnickschnack sei, aber ich musste leider feststellen, dass sie die Arbeit wirklich erleichtert und ich selten einen Kuchen so schnell im Ofen hatte – einfach weil sie Zeug nebenbei erledigt wie Butter und Zucker ewig schaumig zu schlagen, während ich alles andere machen konnte: Kakaocreme anrühren, Mehl und Backpulver mischen, Eier trennen, Eischnee mit dem Handmixer schlagen, Milch abmessen, Kuchenformen fetten. Dann alles mischen und ab in den Ofen. Verdammt. Muss nun überlegen, ob ich die MUM 5 möchte oder, natürlich, die wunderschöne Kitchen Aid.

Am späten Nachmittag fuhren wir noch einmal auf den Friedhof, auf dem am Vortag die Urnenbeisetzung stattgefunden hatte. Inzwischen war das Grab mit Erde bedeckt und unser Kranz lag darauf. Wir hatten vorgestern nicht nur Erde und Blütenblätter zur Urne geworfen, sondern auch noch ein paar Handvoll Eicheln, weil Papa die so mochte und sie gerade in Massen von den Bäumen fallen, die um sein Grab stehen. Gestern lagen bereits weitere auf Kranz und Schleife und den beiden Gestecken, die von der Trauerfeier stammten.

Danach testeten wir die neue Kaffeemaschine vom Schwager an, und ich bekam gleich mal ein Päckchen örtlichen Stoff mit.

Abends Brotzeit und Sekt. Fotos angeschaut. Nicht ganz so traurig gewesen wie bei der Trauerfeier, die eher ein Abschied gewesen war als nun die Urnenbeisetzung.

Mama hat Papa immer von dem einen roten Apfel erzählt, der im Garten als Solitär vor sich hinwuchs (der alte Baum trägt quasi nie und nichts), und dass sie ihm den dann ins Heim mitbringen würde, wenn er reif sei. Papa hatte leider nicht mehr so viel Zeit. Jetzt liegt der Apfel an seinem Foto.

Freitag, 14. Oktober 2022

Donnerstag, 13. Oktober 2022

Im Zug nach Norden gefahren.

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Vegetarisch essen gewesen. Leider zum ersten und letzten Mal im Tian München, es schließt zum Jahresende. Müssen wir halt in das in Wien gehen.

Karotte in diversen Aggregatzuständen und mit unterschiedlichen Techniken verarbeitet. Das Grüne ist natürlich das Karottengrün, das ich hier erstmals als nussig wahrgenommen habe. Der kleine Klecks rechts war eine Creme aus Sonnenblumenkernen, und in die Buttersauce hätte ich mich reinlegen wollen.

Kohlrabi, eins meiner liebsten Gemüse. Selbst der olle Dill hat mir gefallen, den ich sonst eher als nervig empfinde. Er brachte eine gewisse Erdigkeit mit, die mich überrascht hat. Außerdem auf dem Teller: unglaublich aromatische Haselnüsse und eingelegte Fichtensprossen. Nochmal Erdigkeit plus Säure.

Roscoff-Zwiebel, mild und gleichzeitig souverän, darunter lagen noch Steinpilze voller Umami. Neben dem ganzen Kartoffelflausch (zur Hälfte aus Butter, würde ich schätzen) irgendwas Gepopptes zum Knuspern. Sieht so harmlos aus, hätte ich aber in einem Wirtshaus als „deftig“ auf die Karte gesetzt.

Zum Dessert gab’s Birne auf einem Financier, in einigen Komponenten war Bienenwachs, von dem ich nicht wusste, dass man es für irgendwas in der Küche verwenden kann. Hatte einen Hauch Honignote, war aber glaube ich eher Mundgefühl.

Das waren nicht alle Gänge und Reinkommer und Erfrischer und Rausschmeißer, ich habe oft vergessen zu fotografieren oder fand jetzt das Foto nicht adäquat zum wirklich tollen Abend. Die Weinbegleitung war auch hervorragend, besonders gefallen hat uns der Pet Nat zum Dessert, der die ganzen Teile auf dem Teller quasi in den prickeligen Arm genommen hat.

Für den Hin- und Rückweg trug ich einen pinkfarbenen Blazer, den ich zusammen mit dem grünen Anzug zur Hochzeit gekauft hatte. Bisher war es zu warm für ihn – und so ganz habe ich mich nicht getraut, in ihm rauszugehen, denn er ist nicht pink, sondern PINK. Ging dann aber doch.

Am Finger trage ich einen Ring, den Papa Mama aus dem Iran oder dem Irak mitgebracht hatte, das wusste das Mütterlein nicht mehr so genau. Papa war Exportkaufmann und in seiner Firma für den Nahen Osten zuständig – und die Philippinen, was F. und ihm selbst in seinem geistig nicht mehr ganz so fitten Zustand noch Anknüpfungspunkte gegeben hat. Den Ring habe ich mir erst vor dem Restaurant an den Finger gesteckt, der kam mir total overdressed für die U-Bahn vor.

Ungewohnter, aber extrem toller Nebeneffekt der im Juni aufgestockten Garderobe: Ich stand gestern erstmals vor dem Kleiderschrank und hatte wirklich Auswahl an eleganter Kleidung für eine elegantere Umgebung. Das war neu und ich habe mich stundenlang darüber gefreut.

Dienstag, 11. Oktober 2022

Mein erster Kinobesuch seit Beginn der Pandemie führte mich ins Isabella, eine kleine Schachtel, in die ich zu Fuß eilen konnte, als ich spontan Lust auf „No Fear“ hatte, eine Dokumentation über Igor Levit. Das klangtechnisch besser ausgestattete City hätte ich nicht mehr geschafft, aber ich ahne, dass ich den Film noch einmal sehen möchte, dann vielleicht eher im Surround Sound. Denn auch mit dem zu leisen Ton aus den Boxen neben der Leinwand hat mir der Film sehr gefallen.

Er beginnt Ende 2019, und wie im Trailer schon angedeutet wird, war das Jahr 2020 eigentlich mit Konzerten so richtig schön vollgepackt. Wir wissen alle, wie 2020 aussah, und ich mochte es sehr, dass der Film darüber fast nonchalant weggeht, keine Aufnahmen von leeren Straßen, es wird irgendwann mal „ein Virus“ erwähnt und dann beginnen schon die Hauskonzerte, die Levit mit dem Handy streamt. Ich ahne, dass man einiges von Levit in den vergangenen Jahren mitbekommen haben muss, um zu verstehen, was da passierte, aber vielleicht unterschätze ich das Publikum auch. Wobei ich glaube, dass den Film nur Menschen sehen werden, die Levit auch sonst verfolgen. So kam mir jedenfalls das Publikum gestern abend vor: fast alles Menschen, die ich sonst im Herkulessaal für klassische Konzerte sehe, nur wenige unter 60. Diese Aufmerksamkeit für konzertante Musik schlug sich im seltsamen Kinoverhalten nieder: Während auf der Leinwand Interviews zu sehen waren oder Szenen, in denen Levit nicht am Klavier sitzt, wurde sich gerne mal unterhalten oder das Handy gecheckt. Aber sobald Klaviermusik ertönte, waren alle mucksmäuschenstill. Und nach dem Abspann wurde geklatscht, wie man das halt so macht nach Musik.

Ich habe einen guten Einblick erhalten in die Arbeit einen klassischen Pianisten und fand vor allem die Szenen aufschlussreich, in denen Levit eine CD einspielt. Das Arbeiten mit dem Toningenieur (ich hoffe, das ist die korrekte Bezeichnung), die Diskussionen, das gemeinsame Abhören fand ich sehr spannend. Gleichzeitig haben sie mein Bild von Levit, das hauptsächlich durch die sozialen Medien geprägt ist, verändert: Wo ich ihn online immer sehr stark und forsch wahrnehme, sah ich hier einen durchaus anlehnungsbedürftigen und manchmal unsicheren Menschen. Es wurde eine Zartheit sichtbar, die ich zwar während seines Spiels wahrnehme, die ich aber komischerweise noch nie mit seiner Nicht-Pianisten-Person verbunden habe.

Unerwartet gerührt hat mich eine Aufnahme eines Hauskonzerts, das er in München einspielte. Die Kamera fokussiert auf ihn am Flügel, im Vordergrund ist unscharf das übertragende Handy zu sehen, auf dem wir aber die ganzen Herzen und Kommentare erahnen können, die sekündlich aufpoppen. Dann fokussiert die Kamera auf das Handy, und wir können die Kommentare lesen: Danke. Danke. Danke. Ich erinnere mich an diese Dankbarkeit, die ich auch gespürt habe, als ich fast jeden Abend um 19 Uhr auf Levits Aufführung wartete. Ich spürte sie gestern wieder, denn seit den Hauskonzerten habe ich ihn ein-, zweimal live gesehen und mich seitdem auch durch fast seine gesamten Aufnahmen gehört. Er hat mir persönlich die Welt des Klavierkonzerts eröffnet, die ich vorher als zu anstrengend und sperrig und piepsig im Vergleich zum fetten Orchester empfunden habe. Wie falsch ich damit lag, weiß ich erst, seitdem ich ihm mit miesen Sound am heimischen Schreibtisch zugehört habe, mitten in einer Pandemie, die ich kurz vergessen konnte, weil er mich so fesselte, mit Stücken, die ich größtenteils nicht kannte.

Levit erzählt, dass die meisten Reaktionen auf eher herausfordernde Stücke kamen wie Ronald Stevensons „Passacaglia on DSCH“ oder Morton Feldmans „Palais de Mari“. „Die Leute sind offen für sowas.“ Ja!

Direkt nach dem Kinobesuch (mit Maske) hatte ich das Gefühl, dass der Film mit seinen zwei Stunden einen Hauch zu lang gewesen war, aber auch heute morgen weiß ich nicht, was man hätte schneiden sollen. Überhaupt: Weswegen ich alleine schon den Film noch einmal sehen möchte, war der ewig lange Ausschnitt aus der „Waldstein-Sonate“. Ich meine, das war der komplette dritte Satz, bei dem wir Levit arbeiten und schwitzen sehen und ja, ein bisschen schnaufen hören, weil es offensichtlich echt anstrengend ist, was er da so tut. Das fand ich äußerst souverän, das einfach zehn Minuten lang laufen zu lassen anstatt nach 45 Sekunden rauszugehen. Und wie schon erwähnt: mucksmäuschenstill im Saal. Das war schön.