Ich löse seit jetzt fast zwei Jahren täglich das Kreuzworträtsel der NYTimes. Am Anfang ging recht wenig, dann nur mit Autocheck, also der Funktion, die einem sofort anzeigt, ob ein Buchstabe richtig oder falsch ist. Inzwischen versuche ich immer, ohne Autocheck das Rätsel zu lösen, was in den meisten Fällen auch klappt. Irgendwann weiß man halt, welche Worte sehr oft vorkommen, weil sie so schöne viele Vokale haben (Aloe, Acai, Etta, Ado usw.), mit der amerikanischen Popkultur bin ich auch halbwegs genug vertraut, um Songzeilen oder Filmtitel hinzukriegen, und wenn ich irgendwen nicht kenne, wird er oder sie ergoogelt, da bin ich äußerst schmerzfrei.
Die Rätsel werden im Laufe der Woche immer schwieriger; die von Montag bis Mittwoch bekomme ich inzwischen fast immer hin und brauche dafür irgendwas zwischen zehn und 20 Minuten. Freitag und Samstag kommen in den Rätseln viele schlaue Vokabeln vor, für die ich meist Hilfe brauche, aber netterweise bietet die Times zu jedem Rätsel einen begleitenden Artikel an, wo „tricky clues“ aufgelöst werden und ein großes Forum debattiert, so dass man auch da ein, zwei Lösungen abgreifen kann. Ich fühle mich immer irre schlau, wenn ich alle „tricky clues“ wusste. Hier das Rätsel von diesem Montag, leider hinter der Paywall, hier die Kolumne dazu, die ohne Paywall zu lesen ist. Nur damit ihr wisst, wovon ich spreche.
Der Donnerstag ist meist eine Herausforderung, weil dort mit Rebussen gearbeitet wird. (Erstmal gegoogelt, ob es nicht doch Reben oder so heißt.) Man muss hier also damit rechnen, dass in einem Feld nicht nur ein Buchstabe untergebracht werden muss, sondern eventuell mehrere. Oder dass Worte ab einem Buchstaben nach oben oder unten in andere Felder übergehen. Oder dass irgendeine Abkürzung sich immer wiederholt. Rebusse sind grundsätzlich unterhaltsam, aber manchmal so beknackt umständlich, dass auch das eben erwähnte Forum 300 nölige Kommentare hinterlässt, was dieser Eierkopfquatsch denn sollte.
Am letzten Donnerstag war das Rebus aber toll, und ich habe es ohne Spicken verstanden. In einem Clue ist immer eine Art Auflösung versteckt, hier war es „One of a pair at the dinner table … or a hint to this puzzle’s theme.“ Lösung: Salt Shaker. Ich wusste also, dass irgendwo bei den Rebus-Lösungen Buchstaben durcheinander gewürfelt werden. Erste Idee: überall, wo SALT vorkommt, vielleicht wird es zu SLAT oder TALS oder was auch immer. Aber es war noch ein Eckchen komplizierter und gleichzeitig beglückender: Es ging um die Buchstaben NACL, die chemische Formel für Salz. Ein Hint war: „H. S. course that might have a unit on the Harlem Renaissance“, wo ich dringend „American Literature“ vermutete, aber hier waren nicht genügend Felder vorhanden. Es wurde gekreuzt von „Papal collection overseen by a bibliothecarius“, was natürlich nur die „Vatican Library“ sein konnte, aber auch das passt nicht. Erst als ich die Salz-Lösung (see what I did there) vor Augen hatte, guckte ich genauer: Die Buchstaben für SALT waren nicht da, aber eben die für NACL, geschüttelt zu CANL, das bei beiden vorkam. Das fand ich sehr clever und trotzdem lösbar.
F. und ich sprachen am Freitag bei der Date Night darüber, wie gut wir beide diese Idee fanden. Und heute im Sonntagspuzzle, das bei mir immer ewig dauert, weil es so groß ist, war wieder eine kleine Extrawurst versteckt. Dieses Mal nicht so kompliziert wie ein Rebus, der einem auch am Sonntag manchmal über den Weg läuft, aber hier gab es mehrere Lösungshinweise, die einem entgegenlachten: FLOOR FLOOR FLOOR. Oder wenige Zeilen darunter: GRIZZLY GRIZZLY GRIZZLY. Oder mein bisheriger Favorit: COMMERCIAL COMMERCIAL COMMERCIAL. Die Lösungen haben alle nichts miteinander zu tun, aber ich mag derartige optische Spielchen. (Lösungen: Neverending Story, Bears Repeating und Ad Infinitum.)
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Ich lese weiterhin in der Martinů-Biografie, habe aber nebenbei nun einen Aufsatzband in der Hand, der für mich persönlich anscheinend sinnvoller ist, denn die biografischen Daten kann ich mir auch in der Wikipedia durchlesen, aber ich möchte ja mehr zu Martinůs Musik wissen. Gleich die Einleitung schubste mich in mehrere spannende Richtungen.
„Bohuslav Martinů wird oft ein naives unreflektiertes ‚Vorwärtskomponieren‘ im Sinne eines nicht näher definierten Neoklassizismus vorgeworfen. […] [Diese Anschauung] steht allerdings in einem eklatanten Widerspruch zu seinem eigenen kompositorischen Selbstverständnis, wie es sich sowohl in seinen Schriften als auch (und vor allem) in seinen Werken manifestiert. So zeigte sich Martinů spätestens seit Beginn seiner Pariser Zeit in den frühen 1920er Jahren offenkundig darum bemüht, seine Kompositionsästhetik wie auch seine technischen Mittel unablässig zu erweitern.“ (S. 13)
Der Aufsatz zitiert Texte von Martinů, in denen er Mitte der 20er Jahre zwei Ausdrücke benutzte, die für ihn den Neoklassizismus ausmachten: Disziplin und Beherrschung. Seinen eigenen Worten zufolge beginnt man als Komponist mit einer Phase der Experimente, durch die man nach und nach einen eigenen Stil entwickelt. Dieses Ankommen an einem Punkt muss zwangsläufig eine Gegenreaktion hervorrufen. Erst aus diesen beiden Phasen forme sich schließlich eine Synthese aus dem Alten und dem Neuen, was schlussendlich eine Vollendung bedeute. (S. 14) Zwei Texte Martinůs vom Anfang der 1940er Jahre sowie Mitte der 1950er Jahre lassen den Schluss zu, dass er selbst immer noch auf der Suche nach diese Synthese war. Im Text von 1941 benennt er einige seiner kompositorischen Stationen, die er ausprobiert habe: „Folkloretexte und volkstümliche Bräuche, Tänze, Legenden, Jahrmarktgeschichten und Kinderspiele, mittelalterliche Mirakelspiele, die tschechische Commedia dell’arte, Rundfunkopern (‚fast für Amateurenensemble komponiert‘) bis hin zur abendfüllenden Oper Juliette H.253 (1937) – einem ‚großen symphonischen Gedicht‘, in welchem er ‚den regionalen und folkloristischen Ausgangspunkt‘ verlässt.“ (S. 16) Anfang 1956 führte er in einem Gesucht an die Guggenheim Foundation seinen bisherigen Weg erneut auf und erwähnt hier einen „Plan“, dessen Beginn er auf 1926 datierte. „Diese beiden Texte lassen Martinůs scheinbar disparates Bühnenschaffen in einem ungewöhnlich planmäßigen Licht erscheinen und zeugen gemeinsam mit den betreffenden Werken von der gestaltenden Persönlichkeit eines Komponisten, der zwar allem gegenüber offen stand, sich jedoch nicht – wie oft kolportiert – primär durch äußere Umstände – seien es die verschiedenen Wirkungsorte oder die zahlreichen Kompositionsaufträge – lenken ließ.“ Ich kann nicht beurteilen, ob sich dieser Plan eher retrospektiv erschließt oder ob er wirklich vorhanden war; ich habe aus diesem Abschnitt mitgenommen, dass man durchaus Linien ziehen kann.
„Eine eigentliche Phase des Experimentierens kann bei Martinů erst nach seiner Übersiedlung nach Paris festgestellt werden. Er selbst stellte in seiner Autobiographie von 1941 fest, bis 1923 ‚nur aus seiner Begabung heraus komponiert‘ zu haben, ‚ohne durch bewusste und harte Arbeit etwas Neues hervorgebracht‘ zu haben. Seine Kompositionsversuche aus Prag und Polička lassen in der Tat keine systematische Entwicklung erkennen: Sie erscheinen vielmehr als unmittelbare Reaktionen auf das von Martinů erkundete Repertoire, das etwa im Fall französischer Werke sehr verspätet und oftmals erst zu einem Zeitpunkt nach Prag gelangte, als es – wie beispielsweise bei Debussys Pelléas et Mélisande – längst nicht mehr den aktuellen Stand repräsentierte. Werke deutscher und österreichischer Komponisten, allen voran der Komponisten der ‚Zweiten Wiener Schule‘, fanden zwar in der Regel viel schneller den Weg nach Prag, doch Martinů vermochte sich bei aller Wertschätzung für Schönberg nicht richtig dafür zu interessieren.“ (S. 19)
Direkt nach seiner Übersiedlung nach Paris erhielt Martinů privaten Kompositionsunterricht bei Albert Roussel. Dieser riet ihm angeblich, den Kontrapunkt in seinen Werken anzuwenden, womit sich Martinů selbst schon befasst hatte. „Von da an bildete die lineare Polyphonie eine Konstante in Martinůs Tonsprache vom Klavierkonzert Nr. 1 H. 149 (1925) und vor allem vom Streichquartett Nr. 2 H. 150 (1925) über die Concerto-Grosso-Trilogie von 1937–38 [hier H. 263 von 1937] bis zu seinen letzten großen Orchester- und Chorwerken.
Gleichzeitig mit der freien Polyphonie entdeckte Martinů die Dissonanz als zentrales Mittel der zeitgenössischen Musik. Zu verweisen ist dabei ebenfalls auf das Streichtrio Nr. 1, das die erste konsequente Dissonanzverwendung im Schaffen Martinůs darstellt. Eine ‚logische und überlegte‘ Dissonanz wird zu einem der wesentlichsten Elemente seiner Werke, wobei er sie äußerst differenziert einsetzt. Die Palette reicht vom Nebenprodukt einer strikt linearen Stimmführung (1920er Jahre) über form- und strukturbildende Funktionen (1930er Jahre) bis zur Klangfarbe und Klangfarbenpolyphonie (1940er und 50er Jahre).“ (S. 20/21)
Und da hatte ich schwarz auf weiß, warum ich an Martinů so hänge: Bei keinem anderen Komponisten spüre ich so stark das Sehnen und Drängen hin zu einer Auflösung, also aus einer Dissonanz in einen klaren Akkord. Eins der wenigen Dinge, die aus meinen lausigen zwei Semestern Musikwissenschaft hängengeblieben ist, ist, dass Tonfolgen immer irgendwo hin möchten, die wollen nicht sinnlos im Raum rumwabern, sondern haben ein Ziel. Das dauert manchmal fünf Stunden wie bei Wagner und manchmal nur drei Takte. Ich ahne, dass Musik daher so gut geeignet ist, Sehnsucht spürbar zu machen, den Wunsch, irgendwie anzukommen, einfach nur zu sein. (Ich möchte hier einfach nur sitzen.) Und wie eben erwähnt: Ich verspüre bei niemandem anders als bei Martinů dieses Sehnen in quasi jeder seiner Tonfolgen. Und bei keinem ist das Ankommen süßer und brutaler und beeindruckender. Mein Lieblingsbeispiel ist der zweite Satz im Cellokonzert Nr. 1 H. 196 (1930, 1955 überarbeitet). Das war auch gleichzeitig das erste Stück von Martinů, das ich jemals bewusst gehört habe.
(Zitate aus: Aleš Březina: „Von ‚Experimenten‘, ‚Synthesen‘ und ‚definitiven Werken‘“, in: Ders./Ivana Rentsch (Hrsg.): Kontinuität des Wandels. Bohuslav Martinů in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bern 2010, S. 13–38.