Heute vor zehn Jahren immatrikulierte ich mich in München, was laut meines damaligen Blogeintrags und meiner verschwommenen, eher verdrängten Erinnerung ein größerer Stress war als erwartet. Eigentlich sollte es nur ein Bachelor werden, aber irgendwie bin ich dann eskaliert.
Meine Promotionsurkunde und ich weisen hiermit auf den prophetischen Satz „Ich gehöre hierher, ich bin sowas von Unimaterial München“ aus dem damaligen Blogeintrag hin. Enjoy and relive.
Unser letzter Wien-Urlaub war im April, und sobald wir wieder in München waren, wurde der nächste gebucht, denn weswegen wir eigentlich nach Wien wollten, war ein Besuch bei Mraz & Sohn. Die waren im April aber ausgebucht gewesen, also reservierten wir im September. Im Mai oder Juni, ich weiß es schon gar nicht mehr, war auch ein Besuch der Documenta in Kassel geplant, aber dann verschlechterte sich Papas Zustand sehr, also sagten wir Kassel ab und ich fuhr ohne Halt in Wilhelmshöhe in den Norden.
Stattdessen buchten wir Kassel für September und mit kleinem Abstand dann Wien, aber auch hier gab es Änderungen, denn ich wurde für einen Texterjob angefragt – der blöderweise genau die vier Wochen umfasste, in denen wir die Documenta geplant hatten (also Hotel und ein, zwei nette Restaurants), und auch noch Wien, wo inzwischen Mraz & Sohn gebucht waren sowie die Meierei und das Mast, das zu jedem Wien-Besuch gehört. Ich wollte schon jammernd alles absagen, als F. meinte: Ob du jetzt in Wien am Schreibtisch sitzt oder in München, ist ja eigentlich egal, dann reißen wir die geplanten Ausstellungen halt zackig am Wochenende runter und haben die schönen Restaurantsabende. Wir buchten also die Kassel-Termine erneut um, schoben sie vor meine Buchung und ich freute mich auf Wien in der letzten Woche meiner Buchung.
Aber auch das klappte nicht. Das Mütterchen musste ins Krankenhaus, weswegen ich etwas früher als geplant wieder im Norden war, und F. brachte sich Covid aus Wacken mit, das nach zwei Jahren Pause wieder stattfand. Dieses Mal buchten wir nicht mehr um, die Documenta fand ohne uns statt. Das Hotel, das wir eigentlich komplett hätten bezahlen müssen, weil wir es nicht rechtzeitig stornieren konnten (mit Covid hatten wir unglaublicherweise nicht gerechnet), war aber kulant und berechnete uns gar nichts. Daher: Falls Sie mal nach Kassel fahren, steigen Sie doch im Renthof ab, das scheint ein guter Laden zu sein.
Und schließlich starb mein Vater. Die Lieblingsagentur war sehr verständig, ich konnte entspannt Züge buchen und von Papa Abschied nehmen, ohne dass irgendwer was von mir wollte. (Einschub: Das kenne ich noch anders aus der Werbung. Als ich mit meinem zweiten Bandscheibenvorfall im Bett lag, wurde ich gefragt, ob ich nicht auch im Liegen tippen könnte. Wenige Monate später habe ich mich selbständig gemacht, damit ich derartige Diskussionen nie wieder führen muss.)
Die Trauerfeier für Papa war am Freitag vorletzter Woche, wir fuhren am Samstag zurück nach München und am Montag saß ich im Zug nach Wien. Ich hatte überlegt, ob das pietätlos oder doof war, jetzt so halb Urlaub zu machen, aber ich merkte schon am Samstag auf der Zugfahrt in den Süden, dass die nun abgeschlossene Zeit mit Papa alle Schleusen geöffnet hatte, die mich bisher noch zusammenhielten. Egal, ob wer im Großraumwagen guckte, ich ließ die Tränen fließen, die bei jeder Gelegenheit kamen. Und daher wollte ich nach Wien, weil es mir da eigentlich immer gut geht. Ob ich jetzt zuhause heule oder in Österreich, ist dann auch egal.
Um das vorwegzunehmen: Es hat sehr gut getan, es war sehr schön, und ich habe viel geheult. Und: Die Agentur hatte rein gar nichts mehr für mich zu tun, weswegen ich fast erleichtert auf meine vereinbarten Tagessätze verzichtete, die auf Twitter erfragten Coworking-Spaces nicht ausprobieren musste und einfach Urlaub machte. Wenn auch verheult.
Das meiste habe ich in der vergangenen Woche schon auf Twitter dokumentiert, daher hier nur ein paar Schnipsel.
Die Basquiat-Ausstellung in der Albertina ist leider nicht so gut wie die 2018 in der Schirn, aber jede Basquiat-Ausstellung lohnt sich auf ihre Weise. Mir fiel das Werk „Warrior“ erstmals richtig auf. Es zeigt eine Schwarze Figur, die ein Schwert hält, was ich so noch nicht von Basquiat kannte; ich kannte Figuren mit Knochen oder Keulen, aber keine mit einem so in der klassisch-westlichen Kunstgeschichte, Mythen- und Sagenwelt verankerten Objekt. Vor dem Werk stand ich recht lange, allerdings auch, um ständig mit den Augen zu rollen, wenn ich wieder das Schild streifte: „Property of a Distinguished Private Asian Collector“, so steht’s im englischsprachigen Katalog, den ich mir gönnte, ich weiß nicht mehr, ob es auch in genau dieser Formulierung auf dem Schild stand, aber ich dachte die ganze Zeit nur, kleiner Pimmel, aber nen Basquiat im Safe, ganz super, Kunstmarkt, danke.
F. kaufte mir einen Reader, den ich im Laufe der Woche nach und nach verschlang und nach dessen Lektüre ich ganz dringend den deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zum Künstler verbessern will. Aber dafür muss ich nochmal kurz ins ZI, ihr kennt das. Im Reader finden sich zeitgenössische Besprechungen sowie Essays, die erst nach Basquiats Tod erschienen sind, und es ist sehr spannend zu lesen, wie sich die Wahrnehmung verschiebt. Was ich auch nicht wusste und was den kleinpimmeligen Sammler erklärt, der total stolz auf sein Geld ist: Es gibt kaum Basquiats in öffentlich zugänglichen Sammlungen. Der größte Teil seiner Kunst hängt an privaten Wänden, weswegen sich auch die Forschung noch so schwer mit dem Mann tut, weil man sich schlicht keinen guten Überblick über sein Gesamtwerk verschaffen kann. Basquiats Wahrnehmung leidet außerdem bis heute darunter, dass (größtenteils weiße) Kunsthistorikerinnen, Kritiker und Kuratoren anfangs Probleme mit dieser Kunst hatten, weil der Markt Basquiat und seinen Celebrity-Status so toll fand. Es wurde die Kritik laut, dass man Basquiat nur kaufte, weil alle ihn kauften, nicht weil er gute Kunst produzierte. Sammler, die zu Basquiats Lebzeiten Werke großen New Yorker Museen anboten, wurden abgewiesen. Erst nach seinem Tod wurde der Branche klar, was sie verloren hatte und was jetzt zwischen Privatleuten für viel Geld rumgeschoben wird anstatt dass die Öffentlichkeit sich das einfach so in der Pinakothek angucken kann. (Ich empfehle den Reader sehr.)
Ein paar Tage später war ich erneut im Shop, weil ich noch Postkarten kaufen wollte, und erstand zusätzlich einen Katalog, über den ich seit dem ersten Besuch nachgedacht hatte. Aber Haring und Basquiat zusammen, das wollte ich dann doch haben und nicht dafür in die Bib müssen. Außerdem nahm ich den Dürer-Katalog vom letzten Besuch mit, der auf schlanke 15 Euro runtergesetzt war. Da sind die 50 für Basquiat/Haring ja quasi ein Schnäppchen. *hust*
Was ich an Basquiat (unter anderem) so mag, sind seine Wortwolken, durch die er in meinem Kopf Assoziationen und Bilder entstehen lässt. Mir ist ernsthaft erst jetzt aufgefallen, dass meine liebsten Werke von Anselm Kiefer genauso funktionieren.
Jean-Michel Basquiat: „Tuxedo“, 1983, Siebdruck auf Leinwand, 259,7 x 152,4 cm, Nicola Erni Collection. Mir ist schon klar, dass ihr kein einziges Wort entziffern könnt, aber jetzt könnt ihr danach googeln.
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In der Meierei von der kühlen Raumatmosphäre etwas enttäuscht gewesen und dann noch vom Blauschimmelkäse überfordert worden. Aber ansonsten ein schöner Abend, wenn auch etwas hektischer als in dieser Preisklasse gewohnt; einer der Kellner hatte laut Eigenaussage seinen ersten Tag und das merkte man auch. Egal, wir haben alle mal angefangen.
Erst vor dem Rebhuhn gesessen und Backhendl und Bier genossen, dann reingegangen, weitere Biere getrunken, ein ungeplant schöner Abend.
Alles Wurscht: Bosna mit allem (Petersilie, Currypulver, Senf, Zwiebeln) sowie Pommes mit Chipotle-Majo. Und Tirola Kola, deren toller Name mir erst auf dem Foto aufgefallen ist. Hatte anscheinend großen Durst und habe außerdem nicht darauf geachtet, auf was das iPhone fokussiert, aber so konnte ich auf Insta den Witz mit „unscharfer Bosna“ machen, ein Kracher.
Wiener Würstlstand: Salsiccia mit Rucola, geschmolzenem Raclettekäse und Oliventapenade sowie frisch gemachten Chips. Danke an Katha (wer sonst) für die Tipps.
Im Brösl wird für den ganzen Tisch bestellt und die Gerichte kommen dann, wenn sie fertig sind. War alles top, allerdings sind die Plätze in der Nähe der offenen Küchentür nicht ganz so empfehlenswert, wenn einem eh immer zu warm ist. (Mir.)
Im Mast am letzten Abend nach dem mehrgängigen Menü und der Weinbegleitung noch eine einzelne Flasche bestellt und eine weitere mitgenommen, weil wir so gar nicht gehen wollten.
Wovon ich hier keine Fotos poste: vom Mraz & Sohn. Der Abend war einer der besten in Sterneläden, die ich bisher hatte. Bei jedem ersten Bissen von jedem einzelnen Gang hatte ich ein debil-glückliches Grinsen im Gesicht. Ein total unprätentiöser Laden mit scheinbar simplen Dingen auf dem Teller, aber alles ganz großartig. Und man bekam beim Rausgehen neben Speise- und Weinkarte noch ein bisschen was zu essen mit. Davon gibt’s ein Foto.
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Im Stephansdom eine Kerze für Papa angezündet. Unser Running Gag in Wien war ja, dass wir in allernächster Nähe zum Dom im Lieblingshotel wohnen, aber noch nie in der Kirche waren. Jetzt haben wir den Gag wenigstens für etwas in meinen Augen Sinnvolles beendet.
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Im Wien-Museum, das sich eigentlich ohne Bindestrich schreibt, aber COME ON, eine Ausstellung mit alten Straßenfotografien angeschaut. Zusätzlich lief eine winzige Schau zu Parkbänken, in der auch auf die feindliche Stadtmöbelarchitektur hingewiesen wurde. Die Spikes auf allen Flächen, auf denen obdachlose Menschen schlafen könnten, kannte ich, aber dass man Sitzmöbel bewusst so konstruiert, dass nicht nur Schlafen, sondern bereits Sitzen nach einiger Zeit unbequem wird, fand ich dann doch bemerkenswert arschig.
Seit der Ausstellung sehe ich aber Parkbänke anders an. Auf deren Formgebung hatte ich bisher noch gar nicht geachtet. Museen sind super.
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Beim Lieblingstrüffelhöker mehrfach eingekauft (das muss so). Meist noch nebenan einen Kaffee getrunken. Bei einem unserer Besuche konnte ich mich kaum auf das Gespräch mit F. konzentrieren, weil am Nachbartisch eine junge Frau 20 Minuten lang Selfies, bewegt und unbewegt, produzierte. Ich hätte ihr gerne gesagt, Hase, du bist wunderschön, zwei Bilder reichen, das wird nicht besser, denn das muss nicht besser werden. Habe mich aber nicht getraut.
Buch- und Schokoladensammlung im heimischen Arbeitszimmer. Keine Ahnung, warum mir F. mit dem Koffer helfen musste. Auf der Hinfahrt habe ich den noch alleine in den Zug bekommen. Schwer zu erkennen, aber eine Tafel Schokolade ist aus philippinischem Kakao gefertigt (leider nicht online).
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Dieses Mal haben wir uns das mumok geschenkt und sind stattdessen ins Architekturmuseum nebenan gegangen. War arg textlastig, hatte aber bequeme Sitzmöglichkeiten. Außerdem, und das gebe ich ungern zu, war ich etwas überfordert. Das Museum scheint sich eher an Leute zu wenden, die einen gewissen Grundstock an Architekturtheorie im Gepäck haben. Ich hätte mir eine Reinkommerstation gewünscht mit totalen Naivdingen wie „Warum baut man was und wohin am besten?“
Dieser Urlaub war etwas ruhiger als unsere normalen Urlaube, weil wir beide ziemlich durch von allem waren. Daher rannten wir nicht wie sonst durch mindestens zwei Museen pro Tag, sondern nahmen uns nur eins vor, und konzentrierten uns vor allem auf Ausruhen, richtig gutes Essen, Schokolade kaufen und ein bisschen Spazierengehen (aka F. spaziert, ich schlafe). F. suchte trotzdem einfach mal so am Dienstag nach weiteren Dingen, mit denen man sich in Wien beschäftigen könnte und stieß auf eine kleine lokale Musikantentruppe, für deren Saison-Eröffnungskonzert am Samstag sogar noch wenige Karten vorhanden waren.
Es gab Schumann und Brucker, und ich zog eine Neuerwerbung von Frau Rinaldi an, mit der ich auch schon bei Mrazens gesessen hatte, denn auf diesen Termin war ich jetzt klamottentechnisch nicht vorbereitet gewesen, aber egal. Ich fühlte mich ganz hervorragend und werde weiterhin Geld in diesen Laden tragen.
F. und ich saßen zum ersten Mal im Musikverein. Der Saal ist von der Anlage her eine ähnliche Schuhschachtel wie der Münchner Herkulessaal, von dem ich nicht unbedingt Fan bin. Unten verwäscht der Klang manchmal, und oben hört man zwar gut, guckt aber entweder die ganze Zeit seitwärts oder ist sehr weit weg von der Bühne. Die Wiener Schuhschachtel ist deutlich schmaler, was vielleicht auch dafür gesorgt hat, dass es im Balkon bzw. in der Loge, in der wir saßen, gerade beim Bruckner ordentlich laut war. Einige der Zuschauer*innen auf der Bühne, die hinter dem Orchester sitzen, hielten sich sogar die Ohren zu, und ich muss sagen, bei einigen Stellen im ersten Satz konnte ich es ihnen nicht verübeln. Hören konnten wir also hervorragend, aber die Sicht war nicht ganz so optimal. Wir saßen in der dritten Reihe des Balkons an der Seite und konnten ungefähr ein Drittel der Bühne sehen. Leider nicht das Drittel, in dem der Flügel von Martha Argerich stand, und auch das Dirigentenpult von Zubin Mehta habe ich erst beim Schlussapplaus, wo ich mich stehend nach vorne beugte, sehen können. Das war etwas ungewohnt, in einem Konzert quasi Hörplätze zu haben, aber auch das war wirklich schön und hat sehr gut getan. (Geheult. Natürlich.)
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Am Sonntag, unserem letzten Tag, hatten wir außer der Reservierung im Mast keinen Progammpunkt mehr. Wir guckten halbherzig unsere „Wenn uns gar nichts mehr einfällt“-Museumsliste noch mal durch, fanden aber alles eher so meh und schlenderten schließlich ohne große Erwartungen in Kunsthistorische Museum, was wir natürlich schon kannten, aber da kann man ja immer wieder hingehen. Wir wollten uns die kleine Ausstellung zu Cranach anschauen, fanden sie aber nicht sofort, sondern gingen das gesamte Obergeschoss ab, in dem schon die nächste Sonderausstellung vorbereitet wurde. So landeten wir im großen Bruegel-Saal – und erlebten die Werke, für die wir beim letzten Mal angestanden und gedrängelt hatten, ganz in Ruhe und ohne große Menschentrauben vor, neben und hinter uns. Dieses Mal stand ich nicht so lange vor der „Kreuztragung“ von PB dem Älteren, sondern vor dem „Bethlehemitischen Kindermord“ von PB dem Jüngeren, denn bei jedem erneuten Besuch erwischt einen halt ein anderes Bild. Ich sagte wie üblich den Lottos Hallo und freute mich über Seehunde auf Fischmarkt-Stillleben von Frans Snyders. Das war überraschend schön und ein sehr passender Abschluss.
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Als Rausschmeißer noch einen kleinen Schlenker zur Realismus-Ausstellung, denn mir ist jedes Mittel recht, Werke von Wilhelm „The Boss“ Leibl abzubilden.
Im Wien saßen wir letzte Woche im Brösl und dippten wie wild ofenwarme Foccacia mit riesigen Luftblasen in sahnigen Labneh, der mit weich gebratetem Lauch, Chiliöl und ich meine gerösteten Nüssen serviert wurde, jedenfalls war es scharf und knusperte. Was Scharfes zum Knuspern habe ich gerade geordert, Lauch hatte ich nicht im Haus, aber alles andere war da, um wenigstens die Basis nachzubasteln. Das Labneh-Rezept stammt von Bistro Badia, meinem liebsten Anlaufpunkt für die libanesische Küche, die Foccacia ist ein Uralt-Rezept aus Nicole Stichs erstem Kochbuch. Und das Foto entstand zur doof-herbstlichen Dämmerung und wurde sehr hungrig gemacht, mpf.
Beide Rezepte kann man morgens ansetzen und hat abends was zu essen.
Für den babyeinfachen Labneh
500 g 10%-igen Jogurt (ich habe 3,8%-igen im Haus gehabt, ging auch) mit
1 dicken Prise Salz würzen.
Ein Sieb über eine Schüssel hängen, ein Mulltuch in das Sieb legen, den Jogurt ins Tuch spachteln, ganz vorsichtig ein bisschen Flüssigkeit rauspressen und dann einfach alles 12 Stunden lang im Kühlschrank rumstehen lassen. Bei den derzeitigen Temperaturen ging auch meine ungeheizte Küche.
Der Jogurt verwandelt sich durch Zauberhand in Frischkäse; je länger man ihn rumstehen lässt, desto fester wird er. Serviert wird er mit Olivenöl und allem, worauf ihr Lust habt, bei mir waren es Za’atar und Chilipulver.
Für eine Foccacia
20 g Frischhefe (oder 1 TL Trockenhefe) in
250 ml Wasser verrühren.
In einer Schüssel, in die viel aufgehender Teig passt,
250 g Mehl, Type 550 (405 geht notfalls auch) mit
1 TL Meersalz mischen.
Das Hefewasser dazugeben und mit einem Holzlöffel in wenigen Minuten zu einem glatten Teig verrühren. Der Teig ist sehr weich und hat mich an Spätzleteig erinnert. Glattrühren ist das Zauberwort, sonst hat die Foccacia nachher dicke Pickel. Die Schüssel abdecken und für fünf oder sechs Stunden in den Kühlschrank stellen (bis zu 12 sind okay, laut Buch). Eine Stunde vor dem Backen aus dem Kühlschrank nehmen und bei Zimmertemperatur weitergehen lassen. Ich hatte den Teig fünf Stunden in der Kühle, und das Brot kam mir ein winziges bisschen zu flach und fest vor, also stimmt die gute alte Bäckerinnenregel: Je mehr Zeit der Teig hat, desto besser wird das alles.
Ein Backblech gut ölen und den Teig gaaaanz vorsichtig aus der Schüssel aufs Blech fließen lassen, notfalls mit Teigschaber oder -karte nachhelfen. Je weniger der Teig angestupst wird, desto besser, denn so bleiben die schönen Luftblasen erhalten.
Im Kochbuch gibt es jetzt noch 12 Kirschtomaten und Rosmarin drauf, wollte ich nicht; ich hatte das Rezept schon einmal gemacht und fand das Brot durch die Tomätchen matschig. Die Finger gut in Olivenöl tunken und die charakteristischen Vertiefungen ins Brot tupfen. Die Oberfläche großzügig mit weiterem Öl begießen (war bei mir vermutlich ungefähr ein Esslöffel, hätte aber noch mehr vertragen) und im auf 230° vorgeheizten Ofen für circa 20 Minuten auf der zweiten Schiene von unten backen, bis die Oberseite nach eurem Geschmack gebräunt ist. Auf einem Gitter auskühlen lassen. Oder in meinem Fall: abkühlen lassen, bis man sie anfassen kann und dann sofort essen.
Papa war seit letztem August im Pflegeheim, weil seine Versorgung zuhause aus verschiedenen Gründen nicht mehr möglich war. Ich hatte immer das Gefühl, dass es ihm dort gut ging. Sein Zimmer ging nach hinten raus; vor dem Fenster waren nur hohe Bäume zu sehen, er konnte immer ins Grüne gucken und hörte das Rauschen der Blätter. Das Personal hat gerne die Gardine zurückgezogen gelassen, damit er das ganze Grün sehen konnte.
In den letzten Monaten konnte Papa sich kaum noch bewegen und wurde mehrfach am Tag umgebettet. Die Pflegekräfte haben an die Wandstellen, an die er dann so lange geschaut hat, wenn er das Fenster nicht sehen konnte, bunte Bilder von Pflanzen und Blumen aufgehängt, damit er weiterhin Natur um sich hatte. Wir hatten andere Bilder an die Wände gehängt: ein Foto seiner Mutter, sein Lieblingbild von Dürer (natürlich der Hase) und einen riesigen Druck von einem Gemälde, auf dem ein Segelschiff zu sehen ist. Das hing zuhause über seinem Pflegebett, das im ehemaligen Esszimmer stand (weil Erdgeschoss). Als Papa ins Heim kam, wurde aus diesem Zimmer wieder das Esszimmer, aber auf das Bild hatte er nun zweieinhalb Jahre geschaut, und immer wenn er fragte, wo er denn hier eigentlich sei, haben wir auf das Bild gezeigt und gesagt, du bist zuhause, Papa, guck, hier ist das Segelschiff, das haben Mama und du damals gemeinsam gekauft. Dann hat er genickt und ja gesagt. F. hatte das Bild zum letzten Weihnachtsfest in druckbarer Größe abfotografiert und das Foto auf Leinwand ziehen lassen, damit er auch im Heim sein Schiff hatte.
Das letzte Lied auf der Beerdigung war „Rolling Home“.
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Papa ist friedlich eingeschlafen und Mama war bei ihm und hat seine Hand halten können. Meine Schwester war zwei Stunden später im Heim und konnte Totenwache halten. Als der Bestatter kam, fragte er, ob er Papa seine Brille aufsetzen solle: „Ich kenne ihn doch nur mit Brille.“ Dorf halt.
Als ich das letzte Mal bei Papa war, gute zwei Wochen vor seinem Tod, hatte er gerade noch Ergotherapie bekommen und war von allem angenervt, wollte nicht reden und zugetextet werden. Also habe ich nur seinen Arm gestreichelt und stumm mit ihm ferngesehen. Am Tag zuvor war er ansprechbarer und hat auch noch auf Fragen reagiert: „Möchtest du was trinken?“ Ja. „Hast du Schmerzen?“ Nein. Als ich gegangen bin, habe ich so lange Tschüss zu ihm gesagt, bis er es zurückgesagt hat. „Tschüss.“
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Auch Dorf. Das Fachwerkhaus, das seit Jahren vor sich hinverfällt, verfällt jetzt ganz. Angeblich werden Balken und Steine für einen Neuaufbau gerettet, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Weihnachten hatte ich noch das Dach fotografieren können, inzwischen ist es abgetragen.
Die Bibliothek tröstet immer, auch nur von außen.
Und der Torpfeiler, der im Dorfwappen zu sehen ist. Keine Ahnung warum, aber ich freue mich immer, wenn ich ihn sehe. Er verortet mich irgendwie. Hier komme ich her.
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Wir konnten uns ab Ende Mai darauf einstellen, dass nun der letzte Teil von Papas Reise begonnen hatte. Die schwarzen Klamotten waren rausgelegt, das Bestattungsunternehmen informiert. Ich begann auf Mamas Wunsch, Traueranzeigen zu formulieren, suchte Zitate, verwarf welche, textete selbst. Eigentlich war auch schon alles entschieden, aber als es nun wirklich darum ging, sich auf einen Text zu einigen, entpuppte sich die Familie als Kunde: Jeder wollte etwas anderes, und zum Schluss nickte ich einfach irgendwas ab. Ich werde noch Jahre damit hadern, dass in der Anzeige nun „Du hast uns zum Lachen gebracht“ von „Wir sind traurig“ gefolgt wird, weil das in meinen Profiohren total clasht, aber bei meiner Schwester und mir war irgendwann der Punkt erreicht, an dem wir nur noch wollten, dass Mama zufrieden ist.
Wir hätten gerne ein Heinz-Erhard-Zitat untergebracht und wir sind uns sicher, dass das auch Papa gefallen hätte, aber das war schon in der ersten Abstimmungsrunde raus. Schade.
„Kaum dass auf diese Welt du kamst,
zur Schule gingst, die Gattin nahmst,
dir Kinder, Geld und Gut erwarbst –
schon liegst du unten, weil du starbst.“
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Womit Schwesterchen und ich uns allerdings durchsetzen konnten: dass ein Foto von Papa neben dem Sarg steht, was Mama partout nicht wollte. Wir hingegen wollten nicht die ganze Zeit auf die Holzkiste gucken, und nach der Trauerfeier meinten Schwester, Schwager und ich gleichzeitig, dass wir immer das Foto angesehen hatten, auf dem Papa lacht. So werde ich mich an ihn erinnern.
Was mir auch, für mich überraschend, klargeworden ist: Ich möchte doch nicht verbrannt werden. Eigentlich hatte ich das seit Jahrzehnten im Hinterkopf, weil ich irrationale Angst davor habe, lebendig in einer Holzkiste im Dunklen aufzuwachen, über mir zwei Meter Erdreich. Nun stand aber der Sarg meines Vaters vor mir, und ich konnte wenigstens diese Kiste nochmal umarmen, streicheln, sie anfassen, weil ich wusste, dass Papa noch da ist. Dieses Gefühl wird aufhören, sobald sein Körper zu Asche geworden ist, und ich glaube, das möchte ich für mich doch nicht. Ich möchte so lange wie möglich da sein, hier sein, körperlich anwesend sein. Und irgendwann dann halt Dünger, das ist in Ordnung.
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Wir hatten länger über eine Grabstelle auf dem Dorffriedhof nachgedacht. Der Bestatter meinte, die Urne könnte zu Papas Eltern ins Grab, genau wie die von Mama irgendwann und sogar wir Kinder würden noch in das Doppelgrab passen. Interessante Gesprächsführung; ich war glücklicherweise nicht dabei, sonst hätte ich genauso entgeistert geguckt wie jetzt beim Aufschreiben. Diesen Platz wollte Mama aber nicht, was wir nachvollziehen konnten, denn ihre eigene Mutter liegt auch auf diesem Friedhof, und wenn schon zu irgendwelchen Eltern, dann doch da hin, aber dann wäre sie halt nicht bei Papa, was wir alle doof fanden.
Also bot der Friedhofsgärtner weitere Plätze an, zum Beispiel im sogenannten Rhododendrongarten II. Der Garten I, in den nur Urnen kommen, ist schon belegt, der Garten III entsteht gerade. Im zweiten Garten waren aber nur noch Plätze direkt am Hauptgang frei, das Mütterchen so: „Da rennen dann dauernd Leute vorbei, da hat man nie seine Ruhe.“ Was sich für mich aus München am Telefon total albern anhörte, denn das dürfte Papa egal sein, ob da Leute an seiner Urne vorbeirennen, kam mir dann vor Ort total logisch vor: Da rennen halt wirklich dauernd Leute rum, da hat man nie seine Ruhe. Und Papa hatte sehr gerne seine Ruhe, das habe ich eindeutig von ihm geerbt.
Der Gärtner kennt uns schon lange und ich ahne, dass auch das damit etwas zu tun haben könnte, Dorf halt, denn nun wird Papas Grab das erste im Rhododendrongarten III. Dort sind fünf Plätze markiert, er bekommt den mittleren, zu dem schon ein Weg führt. Das erste Gras ist ausgesät und wir konnten am Freitag, am Tag der Feier, schon die ersten Halme und Grasflecken sehen, die bald dichter und grüner sein werden. Er liegt direkt unter zwei Eichen, die sich über der Grabstelle mit den Ästen berühren, und darunter wächst Rhododendron, die Pflanze, die auch unseren ganzen Garten zuhause überwuchert, weil er die nun einmal so gerne mochte. Es ist sehr still dort, meist schattig, und das ist ein wirklich schöner Platz. F. meinte, dass wegen der Eichen wohl auch öfter Eichhörnchen vorbeikommen würden, was für mich auch ein schöner Gedanke ist.
Nach der Trauerfeier hatte die Bestatterin das Sarggesteck schon auf das zukünftige Grab gelegt, damit wir es uns nach dem Leichenschmaus noch einmal anschauen konnten. Ich wollte gerade an der Grabstelle besinnlich werden, als mir einfiel, dass ich hier nur auf schöne Sonnenblumen und Physalis guckte, weil Papa ja noch im Sarg in der Kapelle war.
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Ich hatte ein bisschen Angst vor der ganzen Kondoliererei und dem Leichenschmaus gehabt, weil ich vom ganzen Dorf fast niemanden mehr kenne und auch dachte, dass ich nach der Feier nur noch alleine verheult in der Gegend rumstehen wollte. Aber das tröstete schon sehr, dass einige Menschen da waren und mir ihr Beileid aussprachen. Ich habe mich auch sehr über eure Karten oder Nachrichten auf anderen Wegen gefreut, so doof der Anlass auch ist.
Zum Leichenschmaus war auch der Ex-Kerl aus Hamburg gekommen, worüber ich mich ebenso freute. Die Stimmung war auch nur in den ersten Minuten besinnlich, dann machten die ersten Anekdoten von Papa die Runde – „Er hat immer zur Weihnachskollekte ein kleines Stückchen Käse in Alufolie gewickelt und mit dem Geldschein in den Klingelbeutel gelegt – für die Kirchenmaus“ – „Er hat auf alles Maggi gegeben, ohne zu probieren“ – „Die halbe Kühltruhe war voll mit Schinken, den er beim Preisskat gewonnen hatte“ –, und irgendwann redete man bei Blutwurst, Hack und Zuckerkuchen („Beerdigungskuchen“) über ganz andere Dinge, zum Beispiel Frauenrugby. Auch deswegen fand ich es schön, dass Kai den Weg auf sich genommen hatte. Schwesterchen und Schwager sind fest im Dorfleben verankert, die hatten 30 Gesprächspartner; ich hatte F. und Kai.
Und irgendwann zum Schluss noch ein paar Verwandte, die ich alle zehn Jahre mal sehe. Eine fragte mich dann auch, wo ich eigentlich gerade sei, Bremen? München. Ach, München. Und dann nach einer kleinen Pause: „Das ist hier alles nicht so deins, oder?“ Woraufhin ich, vermutlich zum ersten Mal, ehrlich meinte: „Nein.“ Ist es nicht. Es ist schön, hier zu sein, für wenige Tage, auf der elterlichen Terrasse zu sitzen und das ganze Grün und die ganze Ruhe und dass auf den Straßen nicht so viel los ist und die Gemeindebibliothek und der Wappenpfeiler. Aber dann will ich doch ganz dringend wieder in die Stadt, wo Busse nicht nur zu Schulzeiten fahren und ich nicht ins Nachbardorf pendeln muss, um zum Hausarzt zu kommen oder 20 Kilometer in die Großstadt zur Fachärztin. Landleben ist bestimmt schön, aber alt werden möchte ich dort nicht.
Aber Papa war dort immer gerne, und das freut mich, dass er das Leben leben konnte, was er sich vorgenommen hatte. Ich bin froh darüber, dass ich noch von ihm Abschied nehmen konnte; das hatte ich mir im Heim angewöhnt, ihm immer zu sagen, dass ich ihn liebhabe, weil ich nicht wusste, wie oft ich es ihm noch sagen werde können. Und deshalb halte ich mich auch an dem letzten Tschüss so fest, auch wenn es nicht die letzten Worte sind, die ich mit ihm gesprochen habe.
Ja, ich schreibe dafür ernsthaft das Rezept auf, denn das war das beste Rührei mit den besten Tomaten, das ich je produziert habe.
Das Rezept stammt von meiner Lieblings-Thai-Köchin Pailin Chongchitnant von Hot Thai Kitchen, hier in Schriftform, hier als Video, beides empfehlenswert. Ich verlinke aus Spaß noch meinen anderen Lieblingskoch, dem ich gerne auf YouTube zuschaue, James Kenji López-Alt, der vieles ähnlich macht, aber auch noch Stärke und Ketchup ins Ei wirft, warum auch nicht.
Das Verhältnis von Eiern zu Tomaten: 80 g Tomaten auf ein Ei, dazu ein halber Teelöffel Fischsauce, ein halber Teelöffel Sojasauce und eine gute Prise Zucker (optional). Lustiges Skalieren allerseits.
Die Tomaten können gerne Roma sein; sie sollten schon etwas weicher sein oder gerade superfrisch mitten in der Saison. Eier sind selbstverständlich Bio-Eier, aber das sollte klar sein.
Die Tomaten vom Strunk befreien, Haut kann dranbleiben, grob hacken.
Die Eier mit Fischsauce und einer guten Prise weißem Pfeffer mischen und verquirlen.
In einer beschichtete Pfanne oder einem Wok ein Esslöffel neutrales Öl erhitzen, die Tomaten hinzugeben und mit Sojasauce, Zucker und Frühlingszwiebel in Ringen würzen. Die Tomaten kochen lassen, bis deutlich Saft austritt, sie aber noch ihre Form behalten. Aus der Pfanne in eine Schüssel kippen, die Pfanne auswischen und wieder auf den Herd stellen.
Wieder etwas Öl und dann die Eier in die Pfanne geben und sofort mit einem Spatel oder Löffel umrühren. Das Ei sollte fast fertig gekocht, aber noch nicht ganz fest sein (das oben verlinkte Video von Chongchitnant ist hier hilfreich). Die Tomaten wieder hinzugeben, alles gut verrühren und ab auf den Teller damit.
Mit Jasminreis servieren (bei mir roter Thai-Reis). Fischsauce im Rührei. Wer hätte es gedacht.
F. weilte die letzte Woche auf Wackööön, weswegen ich seine Dauerkarte für den FCA auf dem Küchentisch liegen hatte. Meine eigene hatte ich zu dieser Saison abgegeben, wobei sie streng genommen nie meine eigene war, sondern dem ehemaligen Sitznachbarn von F. im Stadion gehörte, der inzwischen lieber in der Kurve steht und mir deshalb vor Jahren seinen Platz angeboten hatte. In den letzten zweieinhalb Jahren war mir Fußball immer egaler geworden, was aber sehr wahrscheinlich daran liegt, dass ich ihn wegen Corona nur noch im Stream verfolgte und nicht mehr vor Ort. Bei der EM der Frauen sind mir die tiefen Kameraperspektiven noch fieser aufgefallen als bei der Bundesliga der Männer, und auf die ewigen, ewigen Close-ups von verschwitzten Menschen sowie dem Publikum kann ich absolut verzichten. Ebenso auf die Unsitte, Spielsituationen in Zeitlupe zu wiederholen, während das Spiel schon weiterläuft. Ja, Kevin oder Alexandra wurden da böse gefoult, aber die stehen beide schon wieder, can I haz the game plz?
Ich muss zugeben, wenn das Wetter gestern in München so fies heiß gewesen wäre wie die ganze Woche, wäre ich schön zuhause vor dem Ventilator liegengeblieben, aber: Es war für mich perfektes Fußballwetter – gute 20 Grad (ich hätte die Jacke gar nicht mitschleppen müssen, aber ich bin aus der Übung), bewölkt (kein Cap und keine Sonnenbrille in der zweiten Halbzeit nötig, wenn die Sonne an den Platz kommt) und ein bisschen windig (Wind ist immer gut, nicht nur beim Fußball). Außerdem hatte ich schlicht nichts Dringendes zu tun und ein 9-Euro-Ticket, was auch das innere Gequengel über den Kauf eines Bayerntickets verstummen ließ, über den ich eigentlich nur meckere, wenn Augsburg verloren hat (wovon man grundsätzlich ausgehen muss).
Die Fanszene hatte zum Tragen von Weiß aufgerufen, ich holte also pflichtschuldig meine zwei in den letzten Jahren erworbenen Trikots aus der Schublade, die immerhin im Grundton Weiß haben, das von Finnbogason mehr als das von Max. Dann fiel mir aber ein, wie unangenehm Treffen mit Fans von 1860 München sein können, die dich deutlich als Augsburg-Fan erkennen, ich ergoogelte mir, dass die Herren gestern ein Heimspiel hatten, weswegen die Chance durchaus da war, einigen von ihnen in der U-Bahn oder am Bahnhof zu begegnen und hatte schon wieder keine Lust mehr auf den ganzen Rotz. Wieso nicht einfach bis September warten, bis die Bundesliga der Frauen losgeht und ich zum Bayern-Campus radeln kann, in total egalen Klamotten? Hrmpf.
Ich zog ein neutrales Shirt an und knotete aber wenigstens meinen Schal ans kleine Stadiontäschchen. Den stopfte ich mir dann unter die Jacke, als meine U-Bahn einfuhr und ernsthaft der komplette erste Waggon, in den ich eigentlich einsteigen wollte, mit Blauen voll war, weswegen ich doch lieber in den nächsten Waggon einstieg. Immerhin war der Regionalzug nach Augsburg pünktlich und absolut nicht voll, wenn ich auch weder lesen noch Musik hören konnte, denn meine Noise-Cancelling-Dinger passen nicht mehr ins Täschchen, wenn da schon Sonnenbrille und Cap drin sind (man weiß ja nie, blöde Sonne), und lesen ging nicht, weil sich hinter mir zwei junge Herren über ihre Jobs unterhielten, die sie beide gekündigt hatten, der eine bei einem Start-up, dessen Name leider nie fiel, der andere bei einem großen Elektronikhersteller, dessen Interna ich durchaus interessiert mitverfolgte.
Spätestens in Augsburg-Haunstetten verflog dann alle schlechte Laune, weil gut gelaunte Fans um mich herumstanden und mit mir auf die Tram warteten, auch die der Gäste, Freiburg-Fans sind entspannt, bei denen gibt’s nie Stress (looking at you, Frankfurt, für mich die unangenehmsten Gastmannschaftsfans, mit denen ich nie in einer Bahn stehen will). Auf der Tramfahrt zum Stadion (Sitzplatz, woo-hoo!) guckte ich erstaunt aus dem Fenster und hatte das Gefühl, dass sich in den letzten zweieinhalb Jahren die Hälfte der Gebäude verändert hatte, aber ich nehme an, das ist Blödsinn und ich googele das jetzt auch nicht nach. Was allerdings garantiert stimmt: Die Bäume an der Fußwegstrecke von der Tramhaltestelle zum Stadion sind deutlich sichtbar gewachsen; einige meiner gewohnte Fotopunkte hatten mehr Grün im Sucher als je zuvor, weswegen ich das Geknipse bleiben ließ. Ihr müsst mir einfach glauben, dass die WWK-Arena noch steht.
Im Vorfeld hatte ich auf der Vereinswebsite nachgeschaut, wie inzwischen das Bezahlen im Stadion funktionierte. Ich hatte noch meine alte FCA-Card, wusste aber überhaupt nicht mehr, ob darauf noch Geld war und ob sie noch als Zahlungsmittel akzeptiert wurde. Wird sie noch, wie ich erfuhr, aber ich lud mir trotzdem die empfohlene App aufs Handy, mit der man nun auch zahlen kann und die direkt vom Konto abbucht; man muss also nicht mehr im Vorfeld Geld ausgeben. Finde ich gut, Handy hat man eh immer dabei.
Der Einlass ging blitzschnell, das Scannen von F.s ausgedruckter Dauerkarte auch; der FCA hat inzwischen digitale Dauerkarten, kein Plastik mehr, was für Sammler und Sammlerinnen vermutlich doof ist, aber auch hier: hat man dann halt praktisch auf dem Handy. Ich hatte den Ausweis in meiner Apple-Wallet, nutzte aber, warum auch immer, den Ausdruck, den mir F. vorsichtshalber gemacht hatte, daher kann ich nicht berichten, ob die Karte in der Wallet funktioniert. Das teste ich beim nächsten Mal, wenn ich mir eine Einzelkarte gönne, denn das wurde mir gestern – leider? weiß noch nicht – klar: Ich würde schon gerne wiederkommen.
Aber erstmal erledigte ich die üblichen Gänge, die ich immer im Stadion mache: erstmal aufs Klo und Hände waschen. Die Tür stand groß offen, was ich sehr sinnvoll finde, das hat mich schon immer genervt, dass man mit frisch gewaschenen Händen wieder eine Türklinke anfassen musste (auch dazu ist der Schal super), das entfiel jetzt. Dann ging es an die Fresstheke, die App im Anschlag und zusätzlich meine FCA-Card, die ich auf den Scanner legte: Da waren noch 36 Euro drauf! Das war ein bisschen so, wie einen Fuffi in einem Blazer wiederzufinden, der jahrelang im Schrank gehangen hat. Milchmädchen Gröner glaubt daher, gestern umsonst eine Wurst gegessen und eine Apfelschorle getrunken zu haben, denn mit der Kohle hatte ich gar nicht mehr gerechnet.
Dann ging’s rein, und ich war gespannt, wieviele der Leute, an die man sich in den letzten Jahren als Dauerkartennachbarn gewöhnt hatte, noch da waren. Es war gerade einer übriggeblieben, den ich erkannte und der sich sichtlich darüber freute, dass ich kam. Vor uns saß sonst ein Vater-Sohn-Gespann, aber möglicherweise sind die im Urlaub. Drei Herren vor uns, mit denen wir nie sprachen, die aber immer da sind, waren auch da, die Meckerriege hinter uns ist immerhin noch in Teilen vorhanden, aber neben mir saßen Unbekannte, auch auf meinem Platz, der von einem Vater besetzt war, neben ihm sein circa sechsjähriger Sohn in voller FCA-Montur. Neue Dauerkarten-Inhaber? Ich hatte im Vorfeld spaßeshalber im Ticketing nachgeschaut, ob mein ehemaliger Stammplatz noch frei war, aber er war es gestern nicht und er ist es auch die zwei nächsten Spiele nicht, die schon im Vorverkauf sind. Meh.
Es war sehr schön, die Kurve wieder zu hören (ich hatte vergessen, WIE LAUT ES IM STADION IST), es war schön, den Kasperl bei seiner wie üblichen falschen Vorhersage um kurz nach 15 Uhr auf der Stadionleinwand zu sehen, und es war schön, dem Kids Club wieder winken zu können, während die Hymne läuft und man mitsingt. („SCHÖÖÖÖNEN STADT!“) Die Kinder durften, wenn ich mich richtig erinnere, zu Pandemiezeiten(TM) nicht mehr auflaufen, aber jetzt war alles wieder wie früher(TM). Leider auch das Spiel der Augsburger: Das war ein grauenhafter Grottenkick. In der ersten Halbzeit war ich noch damit beschäftigt, wieder alles toll zu finden, aber in der zweiten ging gar nichts mehr, da bekam Augsburg vier Tore eingeschenkt und das zu Recht. Das erste ausgerechnet (der musste sein) von Gregoritsch, der fünf Jahre beim FCA war und nun in Freiburg spielt; er wurde vor Spielbeginn mit Blumen und Applaus verabschiedet, und auch deswegen wollte ich ins Stadion, um ihm nochmal kurz Danke sagen zu können.
Ich erwischte wegen kurzer Kloschlange (und weil viele schon vor Schluss gegangen waren) eine frühe Tram und damit theoretisch einen frühen Zug nach München. Der war aber nicht in der üblichen Regionalbahnlänge unterwegs, sondern erinnerte eher an eine Tram und war brechend voll. Ich quetschte mich ohne groß nachzudenken trotzdem noch rein, dann stehe ich halt 40 Minuten, Hauptsache nach Hause, denn ich hatte mit Entsetzen festgestellt, dass die Schwarze Kiste nicht mehr am Haunstetter Bahnhof stand; das war mir auf der Hinfahrt gar nicht aufgefallen. Die Kiste ist ein Truck, an dem man sich nach den üblichen Spielen das dringend nötige Trostbier besorgt und sich damit die Heimfahrt etwas angenehmer gestaltet. Deswegen wollte ich schnell heim: Da lagen ein paar Augustiner im Kühlschrank.
Der Zug zuckelte nach Haunstetten durch Augsburg-Hochzoll und Kissing, aber in Mering, also ungefähr 50 Kilometer von München entfernt, kam dann die Ansage, dass der Zug absolut zu voll wäre und der Lokführer nicht weiterfahren würde, bis einige ausstiegen. Von Mering kommt man nicht so ohne Weiteres weg, daher gab es nicht viele, die dieser Bitte nachkamen, auch ich blieb erstmal stur im Zug, aber nach 20 Minuten dämmerte mir, dass sich wohl irgendwer bequemen müsste, auszusteigen. Es kamen keine Durchsagen mehr, der Lokführer und ein Kollege gingen nun von Tür zu Tür, baten, wiesen auf Folgezüge hin – „der nächste kommt in zehn Minuten, in dem ist Platz“ –, was von nicht allen geglaubt wurde, meine App half auch nicht weiter, aber irgendwann dachte ich, irgendwer muss aussteigen, also steige ich halt aus. Ich verstand allerdings das Grundproblem nicht recht: Gerade nach Fußballspielen waren die Regionalzüge des Öfteren richtig voll, man stand in den Gängen, es kam niemand mehr so recht durch. Gestern schafften es eine Mutter und ihre kleine Tochter noch mit Bitten und Anstupsen, zum Klo zu kommen, ohne Probleme, dauerte halt nur ein bisschen, bis man ein paar Körper umgeschichtet hatte. Das war laut Lokführer nämlich seine Messlatte: Die Gänge müssten frei sein. Als ob die jemals nach einem Fußballspiel frei gewesen wären. Aber nun gut.
Ich stand nun also draußen mit ungefähr 50 weiteren Menschen und schaute dem stehenden Zug zu, als mehrere Polizisten auf den Bahnsteig kamen. Die waren anscheinend etwas deutlicher in ihren Ansagen und so leerte sich der Zug schneller als in den vergangenen 20 Minuten. Dann durfte das Züglein fahren, ich winkte, drinnen wurde geklatscht. Die Polizei erklärte mehrfach und jedem, dass wir garantiert in den nächsten Zug kämen, in dem wäre locker Platz, alles kein Ding. Die Beamt*innen waren dabei stets super freundlich und ruhig, wobei von uns auch niemand Stress machte. Kurz bevor der dann wirklich ziemlich leere Zug kam, marschierte allerdings noch Verstärkung auf den Bahnsteig, mit Sturmhauben, Kameras und Hunden, womit ich hier im Niemandsland gefühlt mehr Polizei gesehen hatte als vorher im Stadion. Ein Polizist meinte, sie hätten seit Einführungs des 9-Euro-Tickets an jedem Wochenende solche Situationen, und anscheinend sind an manchen Tagen dann wohl auch Sturmhauben, Kameras und Hunde nötig. Ich empfand das als totalen Overkill und wie gesagt, nach Spielen sind die Züge immer voll, aber gut, was weiß denn ich vom schlimmen 9-Euro-Ticket, das ich als Ersatz für mein Semesterticket angesehen hatte und womit ich in den vergangenen Monaten entspannt U-Bahn und Bus gefahren bin.
Im neuen Zug bekam ich sogar einen Sitzplatz und war zu der Zeit zuhause, in der ich auch sonst zuhause gewesen wäre, hätte ich gleich den späteren Zug genommen, aber dann hätte ich keine tolle Geschichte zu erzählen gehabt.
In weiser Voraussicht hatte ich vor der Abfahrt zwei Scheibchen Brezn-Gugelhupf aufgetaut, die gab’s jetzt mit flugs zusammengeworfenem Salat. Und endlich Trostbier.
Ich bin selbst erstaunt darüber, dass ich eigentlich eine gute Zeit hatte. Ja, das Spiel war grauenhaft und die Rückfahrt etwas unentspanner als erhofft, aber ich war wieder im Stadion, die Wurst war super, die Leute um mich herum nett, und bis auf wenige Momente war ich ziemlich gut gelaunt. Ich ahne, dass ich der Dauerkarte nicht mehr hinterhertrauere, wenn es wieder kalt wird und Augsburg weiterhin Müll spielt, aber ich ahne auch, dass ich mir wohl in den nächsten Wochen ein paar Einzelkarten gönnen werde. Denn das war dann doch ein schöner Tag. (Bin immer noch erstaunt.)
Als ich vor 20 Jahren mit dem Bloggen anfing, war mein erstes Layout ein blaues. Aus dem Blau wurde irgendwann rot, das ist im Archiv noch zu bewundern. 2004 stellten freundliche Menschen mein bis dahin händisch mit GoLive gebasteltes Baby auf WordPress um, womit es seitdem läuft. Es bekam ein hübsches Spaltenlayout, das kann man noch im Artikel zum Holzklotz von Opa im Frankfurter Museum für Kommunikation sehen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, seit wann das Blog violett war, vermutlich ab 2008, denn da machte ich mich selbständig und ließ mir eine hübsche Corporate Identity basteln, schön mit Brief- und Rechnungspapier und Visitenkarten. Dort war violett die Layoutfarbe und so wurde auch mein Blog lila. Neuerdings habe ich allerdings blaue Visitenkarten, und deswegen macht auch mein Blog jetzt wieder blau. Das ist mir ehrlich gesagt erst vor wenigen Tagen aufgefallen, dass ich damit wieder am Anfang meiner launigen Farbexperimente im Blog angekommen bin, und ich weiß selbst nicht, ob das jetzt ein bewusster Rückschritt (back to the roots, früher war alles besser) oder nur eine Bestätigung meines schon immer hervorragenden Farbgeschmacks ist (bestimmt).
Heute ist in der FAZ meine kurze Nachlese zu einer für mich sehr spannenden Tagung zu 50 Jahren „kritische berichte“ des Ulmer Vereins erschienen. Der Artikel ist leider nicht online, aber im Twitter-Account der @AGkuwiki nachzulesen. Hier ein paar Ergänzungen, die ich wegen Platzmangel nicht unterbringen konnte. Die Redebeiträge werden in Essayform im ersten Heft des Jahres 2023 veröffentlicht, das dann – wie alle anderen Hefte auch – nicht mehr hinter einer „moving paywall“ verschwindet, sondern vollständig Open Access erscheint.
In jedem der Vorträge war die Frustration mit dem derzeitigen Stand unseres Fachs zu spüren. Das war auch bereits der Anstoß vor 50 Jahren für die damaligen Gründerväter der „kritischen berichte“, die das Fach von innen heraus reformieren oder weiterbringen wollten. 1976 kam mit Eva Maria Ziegler die erste Frau in die Redaktion, die, wie ich gerade feststelle, noch keinen Wikipedia-Eintrag hat, was sehr gut zum Thema passt. (*notier*) Horst Bredekamp erinnerte daran, dass in den „kritischen berichten“ aus der Kunstgeschichte schon eine Medienwissenschaft wurde, bevor sich der Begriff etabliert hatte. Auch das Thema feministische Perspektiven war früh präsent. Änne Söll (Ruhruni Bochum) hatte sich für ihren Kurzvortrag nochmal ins Archiv begeben, um feministische Texte erneut zu lesen und dabei ermüdet festgestellt, dass wir noch heute über die gleichen Fragen debattieren wie sie schon in den 1990er Jahren im Heft verhandelt worden waren. Außerdem fehlten ihr bis heute queere Themen. Hanna Steinert (Humboldt-Universität) wünschte sich mehr Vernetzung an der Uni, nicht nur unter Leuten, die Geschlechterforschung betreiben; Geschlechterforschung sollte selbstverständlich sein, genau wie die Colonial Studies. Söll regte an, den Kanon und die eigenen Auswahlkriterien für Seminare immer wieder zu überprüfen: „Was passiert, wenn ich Duchamp weglasse und stattdessen Elsa von Freytag-Loringhoven bespreche?“
Isabelle Lindermann (derzeit am ZI hier in München) forderte, dass kritische Kunstgeschichte auch als Kritik an Infrastrukturen gedacht werden müsse. Wie lassen sich tradierte Räume kapern, welche Akteure, Netze und Finanzierungsmöglichkeiten seien dafür nötig? Sie nutzte den schönen Begriff des „Drittmittelkapitalismus“, an dem das akademische System krankt. In vielen Vorträgen wurden die Arbeitsbedingungen, gerade im Mittelbau angesprochen, die man auf Twitter unter den Hashtags #IchbinHanna und #IchbinReyhan verfolgen konnte und kann. Tom Holert (Farocki-Institut Berlin) meinte, dass kritische Stimmen die Unis verließen, um endlich gehört zu werden, was ein Armutszeugnis sei. Es wurde mehrfach angemahnt, wie schwierig es sei, die Institution zu kritisieren, von der man abhängig sei.
Es wurde auch darüber gesprochen, wer sich überhaupt in unserem Fach bewegt, wer wahrgenommen wird und wer es sich leisten kann. Franziska Lampe (Ulmer Verein) ärgerte sich über die vielen Karrieren, die keine würden: „Wofür die ganze Ausbildung, wenn das alles ins Nichts führt? Wir vergeuden Ressourcen, wir haben vielfach abgebrochene Biografien, wegen denen spannende Forschungsfragen nicht beantwortet werden.“ Eva-Maria Troelenberg (Universität Düsseldorf), die als Erst-Promovierende in ihrer Familie gerne auch von außen als Vorbild präsentiert wird, meinte: „Aufsteiger-Biografien verfälschen das Bild. Mit jedem Schritt, den man vorankommt, wächst die Erkenntnis, das dieses System nicht für alle gemacht ist.“ Julian Blunk (Redaktion kb): „Wir müssen 150 Prozent liefern, wir müssen brennen für die Wissenschaft. Das spielt den Strukturen in die Hände, die wir bekämpfen sollten.“ Henrike Haug (Ulmer Verein): „Wer kann sich das leisten? Prekäre Stimmen werden derzeit durch uns vermittelt, weil die Betroffenen andere Sorgen haben. Wie weit sind wir denn wirklich von der ‚68er, weißen, männlichen Bio-Kartoffel‘ gekommen?“
Ich habe die gesamte Veranstaltung auch so empfunden. Es ist allen klar, dass dieses System weiterhin Stimmen reproduziert, die wir seit Jahrzehnten hören. Wer mal kurz darüber nachdenkt, weiß auch, dass sich die Strukturen in Forschung, Lehre und Publikation ändern müssen, aber es fehlen die Mittel, die Zeit und der politische und institutionelle Wille. Es läuft einfach weiter vor sich hin. Auch deswegen hatte ich im Artikel der Wikipedia so viel Raum gegeben, weil sie eine niedrigschwellige Art des Publizierens ist, wie ich ja selbst bei meinen ganzen Neu-Einträgen von Künstlern und Künstlerinnen meines winzigen Teilgebiets der großen Kunstgeschichte merke. Ja, es wird weiterhin im ersten BA-Semester allen beigebracht, dass man diese Website nicht nutzen sollte, aber – auch das bestätigten so ziemlich alle – natürlich guckt man da als erstes rein, und wenn es nur darum geht, Lebensdaten abzuklopfen. Bis ich die fürchterlich lahme – und nicht frei zugängliche – Seite des AKL aufgerufen habe, gucke ich halt in die Wikipedia.
Hanna Steinert beschrieb ihre ersten Gehversuche dort. Angetreten war sie mit der Idee, noch unbekannte Künstlerinnen neu einzutragen, was, wie im FAZ-Artikel beschrieben, gerne an fehlender Literatur scheiterte. Sie entschloss sich daher, eher bereits bestehende Artikel zu erweitern, zum Beispiel Leonardos „Abendmahl“ um die Arbeit von Lillian Schwarz. Hier die ausführliche Projektbeschreibung von „Representing Women“ am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Uni.
Wofür ich in der FAZ keinen Platz hatte, war der spannende Vortrag von Anh-Linh Ngo, Mitherausgeber von ARCH+. Dieses Medium versteht sich selbst als Agendasetter und stößt Forschungsvorhaben an. Ebenfalls nicht im Print, weil sinnlos, die Links zu der Ausstellung „Lebens-Wege“ des Focke-Museums, die sich mit den sogenannten Gastarbeiter*innen befasste und sie selbst zu Wort kommen ließ, sowie des Computerspiels „Forced Abroad“ des NS-Dokuzentrums. Außerdem möchte ich noch auf die Website bzw. das Projekt „Departure Neuaubing“ hinweisen.
Die letzten Wochen waren für mich anstrengender als erwartet, was an der Situation mit Papa liegt. Ich mache es sehr kurz: Ich habe dem Mütterchen Anfang Juni geholfen, eine neue schwarze Bluse zu kaufen und auch ich hatte meine schwarzen Klamotten schon in München rausgelegt, damit mir F. die von einem Tag auf den anderen mit dem Zug mitbringen könnte. Dazu kam es glücklicherweise nicht, aber das ist die Situation, in der wir uns seit Ende Mai befinden. Seitdem habe ich Angst vor jedem Anruf meiner Mutter und jeder WhatsApp meiner Schwester, was mich doch eher unentspannt sein lässt. Ich habe für alles gerne einen Plan, den ich strukturiert abarbeite, egal ob es um einen Job oder die Packliste für den Urlaubskoffer geht. Diese Situation ist für mich neu und belastet mich, und ja, mir ist klar, wie egozentrisch sich ein Jammern über persönliche Stresslevel anhört, weil jemand im Sterben liegt. Aber dafür ist mein Blog halt auch da: Dinge sortieren, die ich glücklicherweise so noch nie sortieren musste. (Und mir ist auch klar, wie sehr dieser erste Absatz mit der Überschrift clasht.)
Ein weiterer Stresspunkt war die Hochzeit, zu der F. und ich am vergangenen Wochenende eingeladen waren. Menschenmengen und Small-Talk-Obligationen sind nicht erst seit Corona für mich Stress, die Hitze ist auch nicht mein Freund, und generell bin ich vor solchen Veranstaltungen grundsätzlich schlecht gelaunt, weil ich, Achtung, erneute Egozentrik, nichts Vernünftiges anzuziehen habe. Trotz aller Body Positivity kaufe ich immer noch extrem ungern Kleidung und habe mich in den vergangenen Jahren mit der Kombi Jeans, Shirt, Sneakers arrangiert. Für Sterneläden und Konferenzen wird es die dunkle Stoffhose und die dunkle Bluse (und Sneakers), in die Oper und ins Theater gehe ich inzwischen auch so. Aber das ist halt keine feierliche Hochzeitsklamotte, um die gebeten wurde. Für die kleinere Hochzeit von F.s Bruder im vergangenen Jahr hatte ich mir eine türkise Leinentunika gekauft und dunkle Schuhe, damit die zur üblichen Opernhose passten. Das war irgendwie nett, aber gleichzeitig habe ich mich doof gefühlt, weil alles – wie immer bei mir – so okay passte, aber nicht richtig. Also richtig im Sinne von „sieht aus wie für mich und meinen Körper gemacht, will ich nie wieder ausziehen“ und nicht „hängt okay, nichts quillt über, kann man einen halben Tag lang ertragen“.
Und dann legte F. die Latte noch höher, indem er ein bisschen Geld in die Hand nahm und sich einen ungemein schönen Anzug kaufte, mit Einstecktuch, Fliege, dazu ein passendes Hemd, Manschettenknöpfe, neue Schuhe, was soll ich sagen, der Mann sah traumhaft aus. Ich beneide Kerle so dermaßen um Manschettenknöpfe! Alleine dafür habe ich mit dem Nähen angefangen, damit ich mir irgendwann ein Blusenhemd nähen kann, das verdammt nochmal mit Manschettenknöpfen zu schließen ist.
Neben diesem Traummann wollte ich jetzt nicht in okay hängender Tunika auflaufen. Ich erinnerte mich an einen dunkelblauen Anzug, der seit Jahren bei mir im Schrank hängt und viel zu weit ist (dass mir das mal passieren würde). Damit hätte ich jetzt zu einer Schneiderin gehen können, aber mein Nähehrgeiz war erwacht. Ich schaute diverse YouTube-Videos, wie man Hosen und Jacken kürzt und enger macht, öffnete Omas Nähkästchen und schnitt (schnitt! Ich habe noch nie Hosenbeine abgeschnitten, das war sehr aufregend) und nähte dann stundenlang per Hand an der Hose herum. Ja, per Hand, ich fühle mich damit sicherer als mit der Maschine. War vermutlich zu viel Arbeit, aber die hat mir sehr viel Freude gemacht.
Mit endlich passender Hose und zugegebenermaßen nur halbwegs passender Jacke, denn an die hatte ich mich dann doch nicht ganz so rangetraut, drehte ich ein kleines Video von mir. Ich habe seit einiger Zeit wieder einen Ganzkörperspiegel, aber der befindet sich am Schlafzimmerschrank, vor dem in nicht großer Entfernung das Bett steht, weswegen ich nicht weit genug zurückgehen kann, um wirklich zu sehen, wie ich aussehe. Also stellte ich mein Handy auf den Schreibtisch, startete die Aufnahmefunktion und ging durch zwei Zimmer, um mich von allen Seiten anzuschauen. Das war eine interessante Übung in Selbstwahrnehmung; ich sehe mich sehr selten selbst, aber das war durchaus in Ordnung. Ich wagte sogar den Irrsinn, meine Bluse in die Hose zu stecken, was in diversen Ratgebern für dicke Frauen als totales No-go beschrieben wird, denn das kaschiert ja um Gottes willen den Hüftspeck nicht, SCHLIMM. Ich fand es aber durchaus nett, meine Taille mal wieder zu sehen, auch wenn man sie etwas suchen muss.
In dunkelblauer Bluse und eben diesem Anzug ging es dann mit F. in die Tantris-Bar, ich schrieb darüber. Ich fühlte mich äußerst wohl, auch ohne kaschierende Jacke rumzusitzen oder aufs Klo zu gehen und war mit dem Look sehr zufrieden. Bis F. vorsichtig meinte, dass der Anzug doch eher nach schwarz als nach dunkelblau aussehe und das wäre für eine Hochzeit vielleicht doch eher doof. Ich musste auch zugeben, dass meine dunkelblaue Bluse etwas heller aussah als der Rest von mir, und so hängte ich den Anzug wieder in den Schrank und hatte wieder kein Outfit und war wieder genervt.
Meine üblichen Adressen für Kleidung haben nichts, was mir halbwegs gefällt, denn anscheinend tragen dicke Frauen nur Dinge mit Strassscheiß drauf, wenn es festlich sein soll. Ich weiß im Nachhinein nicht mehr, welche Google-Suche mich schließlich zu Marina Rinaldi führte, vermutlich irgendwas wie „elegante kleidung große größen münchen“. Jedenfalls sah ich auf der Website diverse Outfits, ich die ich mich schockverliebte (das hier zum Beispiel. Oder dieses). Da ich bei dieser Marke noch nie eingekauft hatte, wagte ich mich todesmutig sogar in einen Laden anstatt blind Dinge online zu ordern und sie dann frustriert wieder zurückzuschicken oder faul und noch frustrierter zu behalten. Und so betrat ich seit Jahren mal wieder einen Shop, in dem es Kleidung für mich gab, wurde hervorragend beraten, mir wurden Optionen gezeigt, es wurden eine Hose und ein Blazer umgesteckt und zur Änderung gegeben, und diese Tunika konnte ich sogar gleich mitnehmen, die passte einfach so.
Der Blazer ist im Ansatz auf meinem neuen Twitter-Profilfoto zu sehen oder auf Insta, wo ich das spontane Badezimmerselfie postete mit der Absicht, es recht schnell wieder zu löschen, was ich dann nicht tat, weil felt cute nicht wieder wegging. Er ist nicht mehr auf der Website, was schade ist, denn für den bekam ich auf der Hochzeit diverse Komplimente, weil er einen lustigen Plisseeeinsatz an den Seite und im Rücken hat, was ihn erstens interessant aussehen lässt und mich zweitens weniger schwitzen ließ. Wobei ich eh wenig schwitzte, was mich genauso glücklich machte wie die Tatsache, dass Menschen mir Komplimente für mein Outfit machten. Das kannte ich noch nicht. Ich war im Vorfeld etwas misstrauisch gegenüber dem Begriff „Triazetat“ gewesen, weil für mich Kunstfaser bedeutet, dass es heiß wird und unangenehm. Eigentlich sollte ich nach meinen Tights und mehreren BHs und -Tops aus Kunstfaser für den Wohnzimmersport schon verstanden haben, dass nicht alles, was Kunstfaser ist, auch gleich doof ist, aber mei, es ist zu warm für vernünftige Gedanken. Google sagt, dass Triazetat das hässliche Wort für Kunstseide ist, und letzteres klingt natürlich gleich viel besser. Sowohl Anzug als auch Tunika haben sich herrlich auf der Haut angefühlt, viel leichter als erwartet (Blazer und Tunika haben durchaus ein gewisses Gewicht), nach den Änderungen saß alles perfekt und ich trug beides am vorletzten Samstag glücklich aus dem Laden. Ja, das war mehr Geld als ich jemals für Kleidung ausgegeben habe, aber ich ahne allmählich, dass es das wert war und bleiben wird. Kein innerer Stress mehr, wenn die nächste Einladung ansteht, kein Underdressed-Gefühl mehr im Sterneladen, sondern stattdessen sogar ein „Ich bin nicht nur gut, sondern sehr gut angezogen“-Gefühl, das ich sonst schlicht nicht habe.
Das alleine hätte die Hochzeit schon zu einem tollen Event werden lassen, aber es waren dann doch eher die Menschen und die Stimmung, und auch davon war ich schlicht überrascht.
F. und ich sind in den letzten zweieinhalb Jahren zu kleinen Einsiedlerkrebsen geworden. Wir waren gerade zu Beginn der Pandemie quasi nirgends mehr, nicht mehr spontan in Ausstellungen, noch weniger in Theater oder Oper, äußerst selten in Restaurants und am allerwenigsten traf man sich mit Menschen. Nach diesen vielen Monaten ist uns irgendwann klar geworden, dass der politische Wille nicht da ist, alle zu schützen; es wird sehr wahrscheinlich keine Impfpflicht geben, mit der alles deutlich einfacher werden würde, und der Wille zur Eigenverantwortung, an den so gerne appelliert wird, ist anscheinend auch nicht bei allen gleich ausgeprägt. Wir müssen uns also irgendwann entscheiden, entweder das körperliche Risiko einer Infektion einzugehen oder das psychische, nämlich weiterhin alleine zuhause zu bleiben, mit Menschen nur über WhatsApp in Kontakt zu sein, Kunst und Kultur nur im Internet wahrzunehmen und dabei allmählich wunderlich oder irre zu werden. Ich persönlich trage weiterhin Maske, wo es nur geht, bin inzwischen viertgeimpft und verzichte weiterhin auf vieles, aber auch ich kann allmählich nicht mehr. Die wenigen Restaurantbesuche, die ich mir mit F. gönne, haben jedesmal sehr gut getan. Und so war auch die Teilnahme an der Hochzeit überhaupt keine Frage, selbst wenn es im Vorfeld für mich Stress war. Aber auch ich Soziophobikerin habe nach diesen Monaten verstanden, dass selbst ich ab und zu menschliche Kontakte brauche, die über meine Eltern, Schwester und Schwager und F. hinausgehen, um nicht in meinem eigenen Saft durchzudrehen.
Und genau das hat dann das Hochzeitswochenende so perfekt werden lassen. Ich traf Menschen wieder, die ich seit Monaten oder sogar Jahren nicht gesehen hatte, und wir sprachen sofort über spannende oder lustige Dinge anstatt uns mit dusseligem Smalltalk aufzuhalten. Ich glaube, die meisten von uns haben genauso wenig Energie dafür wie ich, und uns ist allen klar geworden, dass es keine Zeit mehr zu verschwenden gibt. Wo es ging, holte ich mir kleine Ruheinseln für mich alleine; so saß ich am Vorabend der Hochzeit zwar kurz mit im Biergarten, setzte mich dann aber lieber mit einem Buch auf eine Bank im Schlosspark, stand am Hochzeitstag selbst lieber alleine im Schatten als in der gut gelaunten Menschentraube in der Sonne vor der Kirche, und ging nach Sekt und Kuchen und vor dem Abendessen mal für ein Stündchen aufs Zimmer, auch um von Blazer und Top in die Tunika zu wechseln. Derartig gestärkt wollte ich dann auch nach dem Buffet nicht wieder gehen, wie ich das sonst auf den wenigen Hochzeiten gemacht hatte, auf denen ich bisher war, sondern blieb noch auf ein Bier und dann auf noch eins und unterhielt mich mit vielen Menschen und grölte schließlich zu schlimmen Partyhits der hervorragenden Band mit, die ganz genau wusste, welche Knöpfe sie drücken musste, um die Tanzfläche stets voll zu halten. Ich hatte Sonntag keine Stimme mehr, war aber so tiefenentspannt und eindrückesatt wie seit Monaten nicht mehr. Die Angst vor den Anrufen und WhatsApp-Nachrichten bleibt; eine erhielt ich auch auf der Rückfahrt mit einem Freund aus München, aber sie erwischte mich nicht ganz so fies wie ich erwartet hatte. Anscheinend brauche selbst ich Krebs mal ein paar Menschen, die meine Schale tätscheln, damit der Rest irgendwie einfacher zu überstehen ist. Viel gelernt in den letzten Wochen – wie gut unsere Familie inzwischen miteinander klarkommt, auch in sehr schwierigen Zeiten und Sitationen, über mich, meinen Körper und unerwartete Lösungen wie „passende Klamotten kaufen“. Und dass ich bei „Fürstenfeld“ auch nach diversen Oktoberfesten immer noch nicht textsicher bin.
Ach hier, komm, Bild aus dem Hotelaufzug, still feeling cute. Die Farbe stimmt nicht ganz, die auf der Website ist korrekt.
„Es kam Ulrich vor, daß er beim Beginn der Mannesjahre in ein allgemeines Abflauen geraten war, das trotz gelegentlicher, rasch sich beruhigender Wirbel zu einem immer lustloseren, wirren Pulsschlag verrann. Es ließ sich kaum sagen, worin diese Veränderung bestand. Gab es mit einemmal weniger bedeutende Männer? Keineswegs! Und überdies, es kommt auf sie gar nicht an; die Höhe einer Zeit hängt nicht von ihnen ab, zum Beispiel hat weder die Ungeistigkeit der Menschen der Sechziger- und Achtzigerjahre das Werden Hebbels und Nietzsches zu unterdrücken vermocht, noch einer von diesen die Ungeistigkeit seiner Zeitgenossen. Stockte das allgemeine Leben? Nein; es war mächtiger geworden! Gab es mehr lähmende Widersprüche als früher? Es konnte kaum mehr davon geben! Waren früher keine Verkehrtheiten begangen worden? In Mengen! Unter uns gesagt: Man warf sich für schwache Männer ins Zeug und ließ starke unbeachtet; es kam vor, daß Dummköpfe eine Führer- und große Begabungen eine Sonderlingsrolle spielten; der deutsche Mensch las unbekümmert um alle Geburtswehen, die er als dekadente und krankhafte Übertreibungen bezeichnete, seine Familienzeitschriften weiter und besuchte in unvergleichlich größeren Mengen die Glaspaläste und Künstlerhäuser als die Sezessionen; die Politik schon gar kehrte sich nicht im geringsten an die Anschauungen der neuen Männer und ihrer Zeitschriften, und die öffentlichen Einrichtungen blieben gegen das Neue wie von einem Pestkordon umzogen. – Könnte man nicht geradezu sagen, daß seither alles besser geworden sei? Menschen, die früher bloß an der Spitze kleiner Sekten gestanden haben, sind inzwischen alte Berühmtheiten geworden; Verleger und Kunsthändler reich; Neues wird immer weiter gegründet; alle Welt besucht sowohl die Glaspaläste wie die Sezessionen und die Sezessionen der Sezessionen; die Familienzeitschriften haben sich die Haare kurz schneiden lassen; die Staatsmänner zeigen sich gern in den Künsten der Kultur beschlagen, und die Zeitungen machen Literaturgeschichte. Was ist also abhanden gekommen?
Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinandergeraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es hätten sich schlechterdings keine Einzelheiten nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstellungen, deren Geltung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte. Schroffes milderte sich, Getrenntes lief wieder zusammen, Unabhängige zollten dem Zugeständnisse Beifall, der schon gebildete Geschmack erlitt von neuem Unsicherheiten. Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Menschen und Vorstellungen empor. Die waren nicht schlecht, gewiß nicht; nein, es war nur ein wenig zu viel Schlechtes ins Gute gemengt, Irrtum in die Wahrheit, Anpassung in die Bedeutung. Es schien geradezu einen bevorzugten Prozentsatz dieser Mischung zu geben, der in der Welt am weitesten kam; eine kleine, eben ausreichende Beimengung von Surrogat, die das Genie erst genial und das Talent als Hoffnung erscheinen ließ, so wie ein gewisser Zusatz von Feigen- oder Zichorienkaffee nach Ansicht mancher Leute dem Kaffee erst die rechte gehaltvolle Kaffeehaftigkeit verleiht, und mit einemmal waren alle bevorzugten und wichtigen Stellungen des Geistes von solchen Menschen besetzt, und alle Entscheidungen fielen in ihrem Sinne. Man kann nichts dafür verantwortlich machen. Man kann auch nicht sagen, wie alles so geworden ist. Man kann weder gegen Personen noch gegen Ideen oder bestimmte Erscheinungen kämpfen. Es fehlt nicht an Begabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebensogut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krankheit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit verzehrt, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schlechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen. […]
Während Ulrich sich mit Clarisse unterhielt, hatten die beiden nicht bemerkt, daß die Musik hinter ihnen zeitweilig aussetzte. Walter trat dann ans Fenster. Er konnte die beiden nicht sehn, aber er fühlte, daß sie knapp vor der Grenze seines Gesichtsfelds standen. Eifersucht quälte ihn. Gemeiner Rausch schwer sinnlicher Musik lockte ihn zurück. Das Klavier in seinem Rücken stand offen wie ein Bett, das ein Schläfer zerwühlt hat, der nicht aufwachen mag, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Die Eifersucht eines Gelähmten, der die Gesunden schreiten fühlt, peinigte ihn, und er brachte es nicht über sich, sich ihnen anzuschließen; denn sein Schmerz bot keine Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen. […]
Mit dieser Eigenschaft, geistige Selbstbeschäftigung zu verbreiten, hatte er auch Clarisse erobert und mit der Zeit alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen; er konnte, weil ihm alles zu ethischer Bewegung wurde, überzeugend von der Unmoral des Ornaments, der Hygiene der glatten Form und dem Bierdunst der Wagnermusik sprechen, wie es dem neuen Kunstgeschmack entsprach, und selbst seinen zukünftigen Schwiegerpapa, der ein Malergehirn wie ein Pfauenrad hatte, setzte er damit in Schrecken. Es stand also außer Zweifel, daß Walter auf Erfolge zurückblicken durfte. […]
Aber während sein Zustand im Lauf des letzten Jahres immer schlimmer geworden war, hatte er zugleich eine wunderbare Hilfe an einem Gedanken gefunden, den er früher nie genug geschätzt hatte. Dieser Gedanke war kein anderer als der, daß das Europa, in dem er zu leben gezwungen war, rettungslos entartet sei. In Zeitaltern, denen es äußerlich gut geht, während sie innerlich jenes Zurücksinken durchmachen, das wahrscheinlich jede Angelegenheit und darum auch die geistige Entwicklung erfährt, wenn man ihr nicht besondere Anstrengungen und neue Ideen zuwendet, müßte es wohl eigentlich die nächstliegende Frage sein, was man dagegen unternehmen könne; aber das Gewirr von klug, dumm, gemein, schön ist gerade in solchen Zeiten so dicht und verwickelt, daß es offenbar vielen Menschen einfacher erscheint, an ein Geheimnis zu glauben, weshalb sie einen unaufhaltsamen Niedergang von irgendetwas verkünden, das sich dem genauen Urteil entzieht und von feierlicher Unschärfe ist. Es ist dabei im Grunde ganz gleich, ob das die Rasse, die Pflanzenrohkost oder die Seele sein soll; denn wie bei jedem gesunden Pessimismus kommt es nur darauf an, daß man etwas Unentrinnbares hat, woran man sich halten kann.“
Ich bin gerade im „Mann ohne Eigenschaften“ in einem Abschnitt angekommen, den ich quasi komplett zitieren möchte. Lasse ich aber. Erster Teil der hier zitierten Zeilen, zweiter.
Vor einigen Wochen besuchte ich meinen neuen Hausarzt zum ersten Mal. Meine bisherige Hausärztin nimmt leider nur noch Privatpatient*innen an, zu denen ich bewusst nicht gehören möchte, obwohl ich es als Selbständige natürlich seit Jahren könnte. Ich finde diese Zwei-Klassen-Medizin aber dämlich und bin daher brav in der Kasse geblieben.
Es stand der übliche jährliche Check-up an, den ich in den letzten zwei Jahren etwas hatte schleifen lassen. (Ich wollte gerade „während der Pandemie“ schreiben, aber wir sind ja noch mittendrin.) Ich wollte also Blut und Urin loswerden und vereinbarte einen Termin – erstmals in meinem Patientinnenleben online. Dort wurde nicht nur nach Name und Terminwunsch gefragt, sondern auch nach Titel, und da ich ja seit Februar einen tragen darf, notierte ich den, ohne ernsthaft darüber nachzudenken. Als ich im Wartezimmer saß, wurde ich dann dementsprechend – aber für mich dann doch unerwartet – mit „Frau Doktor Gröner, bitte“ aufgerufen, ebenso als ich in den Raum sollte, wo (erfolgreich, schnell und schmerzfrei, yay!) nach meinen Venen gesucht wurde. Der Doc fragte sogar nach:
„Frau Doktor Gröner, guten Tag. Darf ich fragen: Kollegin?“
„Nee, Dr. phil.“
„Ah, der schöne Doktor!“
Damit hatte der gute Mann quasi schon gewonnen und auch sonst fand ich die Praxis sehr nett. Meinen Besprechungstermin vereinbarte ich gleich dort, den ich nicht handschriftlich auf einem Zettel mitbekam, sondern per E-Mail, was mich nochmals frohlocken ließ. Und als ob das nicht alles schon toll genug war: Auch meine Werte sind alle im grünen bis supergrünen Bereich, auch die, bei denen ich als hochgewichtiger Mensch immer Angst habe, Cholesterin, Fett, Zucker etc. Und meine Leber verarbeitet die ganzen schönen Premiumweine auch weiterhin absolut klaglos. Happy Anke.
Ein weiteres Gesundheitskapitel bearbeitete ich dann gestern, was zum heutigen Blogeintrag führte: Ich räumte den Badezimmerschrank auf und brachte es im Zyklustag 717 endlich über mich, die ganzen Tampons in den Flurschrank umzuräumen. Bis zum endgültigen Verklappen warte ich noch, bis in der App die 1000 auftaucht, aber dann kommt der Rotz endlich weg. Ich betrachte mich hiermit als launig menopausal und freue mich schon seit Monaten darüber, die beknackten Blutungen hinter mir zu haben. Scheiß auf Feier der Weiblichkeit, der Kram nervte einfach nur und ich vermisse ihn nicht die Bohne. Ich merke keine größeren Veränderungen an mir, vielleicht habe ich die auch WÄHREND DER PANDEMIE einfach übersehen, aber bis auf ein paar Hitzewallungen geht’s mir hervorragend, und gegen die hilft mein Fächer, den ich eh seit Jahren mit mir herumtrage, weil ich generell Hitze doof finde.
Meine Schwester hat sich das von mir abgeguckt und zückt inzwischen auch in Meetings und sonstwo den Fächer, wenn’s halt gut gut, und wenn ihre jüngeren Kolleginnen skeptisch gucken, meint sie freundlich: „Da kommt ihr auch noch hin.“ Schon ist Ruhe.
Noch bis zum 31. Juli läuft im Haus der Kunst eine Ausstellung der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya: Nebel Leben. Ich gönnte mir gestern endlich mal eine Jahreskarte, die sich schon bei vier Besuchen lohnt, weil die Einzelausstellungen so fies teuer sind. Ich ahne, dass ich für Nakaya nochmal die Karte zücken werde, weil die für das Haus konzipierten zwei Installationen (oder Dialoge, wie das hauseigene Video richtig meint) so viel Spaß machen. Ich habe bei beiden nicht darüber nachgedacht, was sie mir künstlerisch sagen – ich fand es einfach nur schön, im Nebel zu stehen.
Die große Installation befindet sich im Hauptraum, der nun fast vollständig unter Wasser steht. Man kann auf Holzbohlen außen an der Wand entlanggehen oder auf dem Holzsteg stehen, der in der Mitte des Raums ist. Von dort beginnt jeweils zur halben und zur vollen Stunde der Nebel aufzusteigen. Zunächst baut sich quasi eine Wolke in der Mitte des Raums auf, dann stoßen die lustig zischen Düsen an der einen Schmalseite Nebel aus, dann die auf der anderen, und wo man eben noch den Raum, das Wasser, die Menschen sehen konnte, ist nun plötzlich alles im Unsichtbaren vereint. Dann verzieht sich der Nebel nach und nach, je nachdem, wie viele Menschen durch ihn hindurchwandern anstatt rumzustehen, und ihn dabei verteilen. Ich habe mir den Spaß gestern dreimal gegönnt und bin mal fast komplett an einer Stelle geblieben und mal durch die Gegend spaziert. In der Mitte stand ich fast nie, ich fand es schöner, eher Zuschauerin als Akteurin zu sein. Nach gefühlt fünf Minuten ist der ganze Zauber wieder weg und man steht wieder ohne sphärische Musikbegleitung in einem Nazibau auf Holzbrettern. Menno.
Ich mochte das Licht im Raum sehr, den ich sonst als herrlich hohen und lichten Saal schätze. Jetzt war er dämmeriger, grünlicher, und mittendrin vergaß man, dass er da ist, weil man ihn schlicht kaum noch sehen konnte. Das fand ich gleichzeitig beängstigend und befreiend – mein Raumgefühl zu verlieren, ist unheimlich, aber man konzentriert sich eben kurz auf andere Dinge; gucke ich halt an die Decke anstatt auf meine Füße wie sonst.
Sobald der Raum wieder nur noch der Raum war, ging ich durch weit geöffnete Türen an der Ostseite des Hauses nach draußen, wo alle zehn Minuten die zweite Nebelwolke erscheint. Durch die heißen Temperaturen entsteht hier derzeit nicht wirklich eine Wolke, die sich in den Bäumen neben dem Museum hält, die zum Eisbach hin stehen, wie im Video zu sehen ist. Stattdessen fällt minutenlang ein hauchfeiner Nebel auf die Rumstehenden, und wenn der Wind gut steht, fühlt es sich an wie eine Dusche, ohne nass zu werden. Diese Installation ist auch ohne Eintritt zu erleben, vielleicht ein Tipp für die nächsten Tage.
Ich hatte nach gefühlt ewigen Zeiten mal wieder die Videofunktion meines Handy aktiviert, aber die Aufnahmen sind nur für mich, jedenfalls landen sie nicht im Blog. Auf meiner To-Do-Liste (oder eher der Könntest-du-auch-endlich-mal-machen-Liste) steht noch mein Video über Essen, das bisher aus einem Gigabyte Film besteht, aber noch keine Ordnung hat und keine Musik. Text steht, Bilder fehlen noch, weil ich bei jeder Aufnahme denke, nee, das geht noch besser, das Thema ist zu wichtig, um da Grütz drunterzulegen. Das könnte also noch dauern.
Jedesmal wenn ich derzeit den Videoknopf drücke, denke ich an den Kurs von Casey Neistat, den ich im Januar absolvierte, und für den ich nachträglich sehr dankbar bin. Weil ich im Januar eben wissen musste, was mein iPhone so kann, drehte ich im Dezember im Norden einen kleinen Weihnachtsfilm. Da ist auch Papa drauf, und er erkennt mich noch.
„I have never heard a Filipino say “I am tired of Filipino dishes,” but have often heard Pinoys claim to be tired of hamburgers, fast food, bread, etc. Can we ever really tire of our native food, of the dishes that we ate as children, which formed our tastes and our idea of good food?
Perhaps not, but this does not mean that we cannot make any changes in them – experiment, invent, create. Food, like language, is living culture, and as such, changes with times. The old ways are tested and true; the new ways are not neccessarily betrayals, if they are appropriate and result in good food.“
(Doreen G. Fernandez: Tikim: Essays on Philippine Food and Culture, Leiden/Boston 2020, Erstausgabe 1994, S. 40.)
„Having read hundreds of emails from Hot Thai Kitchen Fans, I’ve discovered that there are two main reasons why people are reluctant, or even scared, to cook Thai or any ethnic cuisine. The first is that they don’t know where to start. This is an issue of knowledge, which is easily fixed. Reading this book is a great start.
The second, and most important, reason is the fear of making it “wrong.” This isn’t as simple a fix, as it’s not a technical issue but rather a matter of mindset. People are afraid that, after all their efforts, they’re not making “real Thai food.” So, they postpone it until they feel “confident enough,” or they decide to “leave it to the experts.”
I get it. I remember feeling the same way when I startet cooking Western food. I wanted to make the most authentic Bolognese sauce, so I searched for recipes written in Italian because, after all, they MUST be more authentic!
Maybe it’s out of respect for the culture or from a belief that the “right” way tastes better, but whatever the reason, it’s holding us back from taking that leap into the exciting world of an ethnic cuisine. […]
Our pantries and fridges determine our dinner. […] Thai people are constantly creating new dishes, adding new twists to old classics, or simply throwing random stuff together … but can you call that “real Thai food” or even “authentic Thai food”? Or course you can. If what Thai people regularly eat at home isn’t authentic, then I don’t know what is. The thing is, most of what we eat isn’t what you find in restaurants, isn’t half as complicated, and may not even have a name.“
(Pailin Chongchitnant: Hot Thai Kitchen: Demystifying Thai Cuisine with Authentic Recipes to Make at Home, Vancouver 2016, S. 22/23.)
Und noch eins aus dem ersten Buch, an das ich oft denke, wenn ich mir mal wieder vornehme, wenigstens ein Adobo, ein Pancit im Repertoire zu haben von tausend. Es geht um die Geschichte der Nudeln, die von China aus in den Philippinen landeten. Die Autorin erzählt, wie vermutlich chinesische Handelsreisende in den Philippinen strandeten, während sie auf Ware warteten.
„If our lonely Chinese merchant eventually married a Filipina – many did, since the wait for merchandise could be long, and many transients eventually made home here – she probably learned to cook the dishes he liked, but again only made fair approximations, because not only were her ingredients Philippine, but so was her taste, a panlasa born of her own growing up and traditions.
The noodle dishes became indigenized – acculturated, adapted to local ingredients, tastes, occasions. Eventually every region developed its own versions: fishing towns added oysters and squid, as in Pancit Malabon; rice-growing areas putting in a kind of crumbled okoy as in Pancit Marilao; inland und upland towns using sausages and available vegetables, etc. Eventually every cook, chef, housewife, developed his/her own signature version, thus all the noodles of our lives.
Pancit also adjusted itself to the occasions of our communal lives. On an ordinary day, it could be very simple – garlic, onions, tomatoes, sauteed with a bit of shrimp and pork or whatever vegetables were available, and whatever noodle is in the pantry. Or it could be cooked in the market and eaten off a banana leaf, as is the Pancit Habhab of Lucban, Quezon. Or it could be bought from the neighborhood panciteria and come wrapped in a cone of paper lined with banana leaf. […]
But if it is for a feast, then we gather oodles of makings, flake the tinapa, crumble the chicharron, pound the shrimps for the sauce, slice thin the kamias, soak the noodles in chicken broth and other condiments, etc. Or we order from the community’s beste pancit-maker, or from the aunt or lola who has made it her specialty. For pancit is as versatile and as flexible as Filipino lives are.“
(Fernandez 2020, S. 35/36.)
Vielleicht ändern sich unsere Essgewohnheiten nicht nur aus persönlichen Vorlieben oder Umzügen, sondern auch wegen des Klimawandels. Ein Forschendenteam aus Kanada hat sich dafür alte Speisekarten angeschaut. Der Artikelteaser nimmt die traurige Pointe schon vorweg: „In the 1880s, Vancouver’s seafood joints served lots of salmon. These days they serve squid.“
„Climate change is an intensifying reality for the marine species that live near Vancouver and for the people who depend on them. In a new study, a team from the University of British Columbia (UBC) shows one unexpected way that climate effects are already manifesting in our daily lives. To find it, they looked not at thermometers or ice cores, but at restaurant menus.
“With a menu, you have a physical and digital record that you can compare over time,” explains William Cheung, a fisheries biologist at UBC and one of the study’s authors. […] The team gathered menus from hundreds of restaurants around the city, as well as from restaurants farther afield in Anchorage, Alaska, and Los Angeles, California. Current menus were easy to find, but digging into the history of Vancouver’s seafood proved a bit trickier. Doing so required help from local museums, historical societies, and even city hall—which the researchers were surprised to learn has records of restaurant menus going back more than a century—to compile their unusual data set. In all, they managed to source menus dating back to the 1880s.
Using their records, the scientists created an index called the Mean Temperature of Restaurant Seafood (MTRS), which reflects the water temperature at which the species on the menu like to live. Predictably, they found that the MTRS of Los Angeles was higher than that of Anchorage, with Vancouver falling in the middle. But by analyzing how the MTRS for Vancouver has changed over time, they found a significant trend of warmer-water species becoming more common on restaurant menus. In the 1880s, the MTRS for Vancouver was roughly 10.7 degrees Celsius. Now it is 13.8 degrees Celsius.“