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2018 revisited
(2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2011, 2010, 2009, 2008, 2007, 2006, 2005, 2004, 2003.)
1. Der hirnrissigste Plan?
Den Nachlass eines Malers in die eigene Dissertation einzuplanen, ohne vorher mal die Erben zu fragen, ob die mich da reingucken lassen.
2. Die gefährlichste Unternehmung?
Für meine Handgelenke: Ikeamöbel ohne Akkuschrauber aufbauen.
3. Die teuerste Anschaffung?
Ich wäre froh, wenn es bei den sehr glücklich machenden Noise-Cancelling-Kopfhörern für 250 Euro geblieben wäre, aber nein, Frau Kaffeetante musste sich auch noch eine Espressomaschine für 1000 Euro kaufen. Die macht zwar auch sehr glücklich, aber hätte ich gewusst, dass ich drei Wochen nach ihrem Kauf eine neue Wohnung mit höherer Miete haben würde, hätte ich sie mir verkniffen.
4. Das leckerste Essen?
Im Juli war ich im dringend nötigen Spontanurlaub in Lindau im wunderbaren Villino, im November konnte mich dann Konstantin Filippou in Wien sehr erfreuen. Und jedes Caesar Dressing mit selbstgerührter Majo gehört auf diese Liste.
5. Das beeindruckendste Buch?
Comic: Shit is real von Aisha Franz. Runner-up: Ein Sommer am See von Mariko und Jillian Tamaki; darüber habe ich hier kurz geschrieben.
Sachbuch: Ganz vorne liegt Philipp Bloms Die zerrissenen Jahre, weil ich sehr viel davon mitgenommen habe und es dauernd im Blog zitieren kann. Direkt danach kommt Petra Terhoevens Die Rote Armee Fraktion: Eine Geschichte terroristischer Gewalt, die ich im Blog nicht besprochen, aber mit großem Gewinn gelesen habe. Und einen Ehrenplatz gibt’s für Salz, Fett, Säure, Hitze von Samin Nosrat, weil ich endlich wieder mit viel Lust und Vergnügen und Neugier und Tatendrang am Herd stehe.
Fiktion: Da gab es dieses Jahr einen klaren Sieger, weil es ein völlig neues Leseerlebnis war: der Ulysses von James Joyce. Über den Tweet des James Joyce Centre aus Dublin freue ich mich immer noch. Und über diesen einer Joyce-Doktorandin, der ich seitdem folge.
Deutlich bekannteres Leseerlebnis, aber Feuchtwanger geht ja immer: Exil hat mich fertiggemacht. Auch kein Spaß, aber wichtig: Menschen im Krieg von Andreas Latzko. Ich habe bestimmt auch zeitgenössische Fiktion gelesen, aber da war anscheinend nichts Überwältigendes dabei. Die Klassiker wissen schon, warum sie Klassiker sind.
6. Der ergreifendste Film?
Ich war nur einmal im Kino und habe Ex Libris gesehen und gemocht. Dafür war ich öfter im Theater, wo mir besonders Alles klappt und Philipp Lahm gefallen haben. Bonuspunkt für den Räuber Hotzenplotz in der Augsburger Puppenkiste!
7. Die beste CD? Der beste Download?
Ha, kurz vor Jahresende wirklich mal wieder eine CD gekauft bzw. sogar gleich zwei, und zwar von Bohuslav Martinů. Die waren dann wohl auch die besten.
Runtergeladen habe ich keine MP3-Sammlung, aber dafür versacke ich dank Amazons Prime Video, das ich als Studi für ein Jahr gratis bekommen habe, nicht mehr ausschließlich vor Netflix. Slow clap.
8. Das schönste Konzert?
Da kann ich mich nicht entscheiden. Die 100 Metronome im Januar waren toll, genau wie Sol Gabetta im März (daher die Begeisterung für Martinů) und die Nachtmusik der Moderne mit Helmut Lachenmann erst vor wenigen Wochen im Dezember. Hat alles meinen Horizont sehr erweitern können.
9. Die tollste Ausstellung?
Auch gut für den Horizont (und die Diss, falls ich jemals an ihr weiterarbeiten sollte): die Neuhängung der Kunst aus den 1930er Jahren in der Moritzburg in Halle. Sehr gefreut habe ich mich über Basquiat in der Schirn in Frankfurt, weil ich mir erst durch diese Retrospektive sein Schaffen und seine Bedeutung etwas klarer wurden, genau der gleiche Effekt wie vor ein paar Tagen bei Jörg Immendorff in München. Die Videoausstellung Generations – Künstlerinnen im Dialog im Haus der Kunst hat mir gezeigt, dass ich anscheinend doch mit Videos klarkomme, um die ich mich sonst gerne drücke. Und die Bruegel-Ausstellung in Wien war schlicht einmalig. Das werde ich so nie wieder sehen können.
10. Die meiste Zeit verbracht mit …?
Darüber zu staunen, dass dieses Werbeding, von dem ich quasi fünf Jahre Pause gemacht habe, nach kurzem Anlaufstottern wieder ziemlich gut läuft – und vor allem auch wieder richtig Spaß macht.
11. Die schönste Zeit verbracht mit …?
Die neue Wohnung schönzupuscheln, jedenfalls gefühlt. Das hat mich die Monate seit September doch mehr in Beschlag genommen als ich dachte. Aber jetzt ist alles wunderhübsch.
So ziemlich jede Zeit mit F. ist die schönste. Und die alleine auf dem Sofa mit dem Laptop oder in der Bibliothek mit den Büchern auch.
Ich habe mich außerdem darüber gefreut, dass meine Eltern mich mal hier unten besucht haben, und habe auch dabei viel gelernt.
12. Vorherrschendes Gefühl 2018?
Geht doch.
13. 2018 zum ersten Mal getan?
Im Burgtheater Wien gewesen. In Halle gewesen. F. die Wedemark gezeigt. Alleine in einem Sternerestaurant gegessen. Eine Wohnung mit einem benutzbaren Balkon besessen. Ein Special-Interest-Haushaltsgerät gekauft, das mehr gekostet hat als die meisten meiner Autos, siehe oben. Die Augsburger Puppenkiste besucht. Die Fuggerei besichtigt. In Hamburg an der Texterschmiede gelehrt. An einem Doktorandenseminar teilgenommen. Wildschwein gegessen. Eine Fußballdauerkarte besessen. Okay, immer noch keine mit meinem Namen drauf, aber im Gegensatz zur letzten Spielzeit, wo ich sie nur halb hatte, gehört sie mir gerade für die ganze Saison.
14. 2018 nach langer Zeit wieder getan?
Regelmäßig mit Werbung Geld verdient. Wieder im eigenen Bett geschlafen und nicht auf einem Bettsofa. Ein eigenes Arbeitszimmer gehabt; das ist wirklich lange her, dass ich schon mal eins hatte, ich glaube, so um die 20 Jahre. Im Sprengel-Museum und den Herrenhäuser Gärten in Hannover gewesen. Durch die wiedereröffnete Hamburger Kunsthalle gesprintet. In einem Planetarium gestaunt. Den (fast) kompletten Ring gesehen; beim Siegfried war ich leider krank.
Zählt Wahldienst nach einem Jahr? Zählt in Wien gewesen zu sein nach zweieinhalb Jahren? Ein Umzug nach drei? Wann ja, dann das auch.
15. Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Alte Dämonen. Die AfD in allen Länderparlamenten. Die Absage der Grossberg-Erben.
16. Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
So schnell renne ich nicht weg.
17. Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Nicht wegzurennen.
18. Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Ungefähr 800 Flughafentoblerones und geduldiges Lampenandübeln.
19. Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
„Weil du da bist.“
Runner-up: „Brauchst du Hilfe beim Umzug?“
20. Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
„Ich hol dich nicht vom Flughafen ab.“
21. 2018 war mit einem Wort …?
Gut.
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What Anke Ate in 2018
(2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2011, 2010)
Mein Foodcoaching war 2009, ich ruiniere mir hier also gerade selber einen schönen Jubiläumseintrag fürs nächste Jahr. Aber ich möchte einen einzigen Neujahrsvorsatz fassen, der sich in den letzten Wochen immer mehr manifestiert hat: Ich möchte Kochen ein weiteres Mal neu lernen.
2009 habe ich quasi essen neu gelernt: weg von dem kalorienreduzierten Fertigmüll, der nach nichts schmeckt, ran an den eigenen Herd, um überhaupt mal rauszufinden, was mir eigentlich schmeckt außer Schokolade. Ich betrachte diese Phase als äußerst erfolgreich, aber noch lange nicht abgeschlossen. Ich habe mich mit großer Begeisterung auf Kochbücher und Kochblogs gestürzt, habe versucht nachzukochen, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Daraus ist ein kleiner Grundstock an Rezepten geworden, die ich inzwischen selber hinbekomme, manche auch aus dem Handgelenk, bei anderen lese ich immer wieder nach – auch deswegen verblogge ich Rezepte. Das hier ist meine Sammlung an Dingen, die ich mag.
Mir fiel aber immer öfter auf, dass ich weiterhin nur nachkoche – im Sinne von: Ich befolge Rezepte, weiß aber gar nicht warum. Daher ist das jetzt mein erster Schritt vor dem zweiten, den ich schon gemacht habe: Ich möchte die Basics lernen. Das heißt zum Beispiel, mal zu lernen, wie man einen Fisch filetiert, um nicht wie gestern zum hundertsten Mal an der Fischtheke zu stehen und irgendein Filet zu kaufen, sondern einen ganzen Fisch, dessen Teile werde ich dann verwerten und aus dem Rest wird ein Fond gekocht. Das habe ich nämlich auch bis heute nicht gemacht, nicht mal aus Gemüse, was allen Kochblogs zufolge echt nicht so schwierig sein sollte.
Generell werde ich weiterhin wenig Fleisch und Fisch essen, ich möchte aber nicht ganz darauf verzichten. Und auf Milchprodukte schon gar nicht. Ich will aber selber schweren Herzens von meinem bequem zu erreichenden Metzger nebenan Abschied nehmen und zum Biometzger gehen, der mir vermutlich eher sagen kann, wo die hoffentlich glückliche Kuh gelebt hat und wo sie möglichst schonend geschlachtet wurde, bevor aus ihr mein Bratenstück wurde. Neulich lästerte ich über den Menschen, der mir eventuell die Zeitung klaut, dass, wer sich die Miete hier leisten kann, sich auch die FAZ kaufen könne. Das gilt auch für mich: Ich kann mir das teure Fleisch leisten. Und wenn es mir zu teuer ist, dann esse ich es eben nicht. Das ist der einzige Zwang, den ich mir beim Essen wieder auferlegen will. Allen anderen Zwängen und Vorschriften, was meine Ernährung angeht, habe ich 2009 abgesagt, und es hat mein Leben wie keine andere Entscheidung sehr zum Positiven verändert.
Und jetzt schmökere ich weiter in meinem neuen Kochbuch, aus dem ich mir gleich drei Dinge fürs Silvestermenü ausgesucht habe. Die Vorbereitungen gestern haben mir schon viel Freude gemacht, und ich weiß, dass ich mich mit der gleichen Freude immer wieder an den Herd stellen werde. Ich kann der Frau Lu gar nicht oft genug dafür danken, was sie alles in einer Woche im August 2009 in mir angestoßen hat.
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Was schön war, Montag, 24. bis Mittwoch, 26. Dezember 2018 – Weihnachten (ach was)
Den Sonntag, 23. Dezember, mit dem grauenhaften Spiel in Augsburg und der Niederlage in der letzten Minute lasse ich einfach mal weg. Immerhin gab’s abends noch Geschenkeaustausch zwischen F. und mir. Very happy!
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Montag am späten Vormittag in der S-Bahn zum Flughafen gesessen. Lufthansa war günstiger als die Deutsche Bahn, daher gönnte ich mir den zweiten innerdeutschen Flug in diesem Jahr. Der erste war im Januar gewesen, und mit dieser CO2-Bilanz kann ich als autofreier Mensch leben.
In der S-Bahn glotzte ich möglichst unauffällig die zwei Herren an, die mir gegenüber saßen. Beide schienen asiatische Wurzeln zu haben, kannten sich nicht, saßen nur zufällig nebeneinander, aber ich mochte an beiden so viele kleine Details, dass ich hoffentlich nicht zu aufdringlich geschaut habe. Der eine Herr hatte schon leicht ergraute Haare, eine runde Brille mit sehr dicken Bügeln, was sehr gut zusammenpasste. Unter seiner schwarzen Hose zeichneten sich kräftige Oberschenkel ab, die deutlich nach Muskeln und nicht nach Fett aussahen (nicht, dass letzteres nicht auch völlig okay gewesen wäre). Vielleicht ist er ein leidenschaftlicher Fußballspieler. Der zweite Herr trug einen hellbraunen Wollmantel über schmalen schwarzen Hosen und einem schwarzen Pullover; seine halblangen Haare fielen ihm dauernd in die Stirn, was ich gut beobachten konnte, weil er meist die Augen geschlossen hatte, als er seinem Handy per In-Ears lauschte.
Ich vermisste an mir mal wieder die Fähigkeit, schlichte Klamotten so zu kombinieren, dass sie effektvoll aussahen und nicht nur langweilig – oder generell die Fähigkeit, Kleidung für mich auszusuchen, die etwas über mich aussagt anstatt dass sie einfach nur halbwegs passt. Dafür muss ich als dicker Mensch ja schon dankbar sein, weswegen ich mir mehr gar nicht zutraue. An den meisten Tagen im Jahr ist mir Kleidung egal, weil ich für sie einfach kein Händchen habe, an manchen finde ich es schade, dass eben das so ist. Aber so wichtig, dass ich mir dabei Hilfe holen möchte, ist es dann auch wieder nicht.
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Ein pünktlicher Flug nach Hannover. Der Kapitän ließ den Kindern an Bord ausrichten, dass das Christkind erst abends käme, wenn es dunkel ist, was niedersächsische Kinder vermutlich eher verwirrt hat, denn bei uns bringt der Weihnachtsmann den Krempel und nicht das Christkind. Schwesterchen und Schwager holten mich und mein bewusst sparsam gepacktes Köfferchen ab, wir tranken bei ihnen noch zwei Kannen grünen Tee, bevor sie mich zu meinen Eltern fuhren. Dort gab es die ersten Kekse von gefühlt zwei Kilo, die ich in den letzten Tagen zu mir genommen habe, und alles war gut.
Mein pragmatischer Papa hatte den Baum geschmückt, der ein Ast einer riesigen Weißtanne war, die im Niemandsland zwischen unserem und dem Nachbarsgrundstück wächst, weswegen sich die Gröners und die Nachbarn den teilen.
Um 18 Uhr ging’s in die Kirche, wo mich der glockenhelle Sopran meiner Schwester überraschte, die sonst immer eine Oktave tiefer bei den Liedern mitbrummt.
Für ein Tomatensüppchen, das ich am Mittwoch zum Mittagessen kochen sollte, hatte meine Mutter Gin besorgt. Gin? Wir haben doch nie Gin im Haus! Und dann natürlich kein Tonic Water. Und auf dem Dorf keine Tanke, bei der man eben mal vorbeikann. Großstadtvermissung! Aber wozu habe ich das Internet? Gefragt, was ich aus Gin und nix mixen kann und viele gute Tipps gekommen. Es ist dann die Kreation Gin, Ananassaft (siehe einen Absatz weiter unten), Triple Sec und Mineralwasser geworden, und aus Verbundenheit zu meinen ostpreußischen Vorfahren habe ich den Drink „The Schlubberche“ getauft. Ostpreußen, Ananas, das drängt sich ja geradezu auf.
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Keiner hatte Lust auf ein großes Festmahl gehabt, ich auch nicht, also hatte der kochbegeisterte Schwager Toast Hawaii vorbereitet – natürlich nicht einfach nur Kochschinken und Gouda, sondern drei verschiedene Schinkenarten plus drei verschiedene Käsesorten. Ich hatte nachmittags schon den Tipp für Estragonsenf weitergegeben, und so fand sich auf einigen Toasts auch ein bisschen Senf. Bitte mal merken: Wacholderschinken mit Gruyère! Der Knaller! Zugegebenermaßen ohne Ananas noch besser.
Als Nachtisch gab’s den traditionellen Nachtisch, mit dem meine Schwester und ich großgeworden sind: Milchreis auf Schälchen verteilt, in zwei Schälchen am Tisch verstecken sich jeweils eine Haselnuss und eine Mandel, und wer eine von beiden findet, bekommt ein kleines Geschenk. In diesem Jahr waren Mama und Papa die glücklichen Gewinner. Neulich las ich irgendwo, dass man als Erwachsene bitte aufhören sollte, die Eltern mit derartigen Kosenamen zu bezeichnen, das mache man doch nur als Kind. Sehe ich ganz anders. Meine Mutter bleibt immer meine Mama, außer wenn es im Blogeintrag zuviele Wortwiederholungen gibt, und ich werde auch als fast 50-Jährige nicht anfangen, zu meinem Papa „Vater, gibt’s du mir bitte mal die Butter?“ zu sagen.
Nach dem Essen brachte ich das Gespräch unvorsichtigerweise auf meine Diss und die Malerei zur Reichsautobahn, woraufhin Mama einfiel, dass es in der Wedemark auch noch Reste von Brücken gibt, aus denen nie eine Straße geworden war, was dazu führte, dass die ganze Familie um Landkarten der Umgebung rumsaß, man Artikel aus Lokalblättchen vorlas und ich ein Spontanreferat über die künstlerische Begleitung des Propagandaprojekts in Form von Gemälden, Romanen und Filmen sowie die regional unterschiedlichen Bauweisen von Brücken und Raststätten hielt.
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Kurze Bescherung, wir schenken uns seit Jahren nichts bzw. immer das gleiche. Dieses Mal hatte ich immerhin eine kleine Überraschung dabei, denn F. hatte mir Pralinen aus einem Kaffeehaus in Augsburg mitgegeben, in dem wir im Oktober alle gemeinsam gewesen waren, worüber sich alle sehr freuten. Mir hatte er vorher schon eine kleine Auswahl an Nougats mitgebracht, und seitdem ich die genossen habe, will ich den Onlineshop leerkaufen. So gut!
Danach standesgemäßes stundenlanges Doppelkopfspielen mit Sektbegleitung. Ich habe haushoch verloren.
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Am Dienstag literweise gemeinsamer Tee mit den Eltern, ewig den Vögeln vor dem Küchenfenster zugeguckt, die sich in ihrem Bad vergnügten oder die Meisenknödel leerfutterten. Rumgelungert, angenehme Gespräche geführt, dem im 15-Minuten-Abstand folgenden Dialog meiner Eltern zugehört – „Legst du bitte noch was aufs Feuer?“ „Hab ich grad.“ –, Nachmittagsschläfchen gemacht im alten Kinderzimmer, mich über meine eigene Wohnung gefreut, abends zum Schwesterchen spaziert und dort Salat, Wildschweinbraten und natürlich Welfenspeise vorgesetzt bekommen. Wildschwein war der Wunsch meiner Mama, ich wollte das noch nie essen und weiß jetzt auch, dass einmal reicht. Aber die Preiselbeeren waren super.
Standesgemäßes stundenlanges Doppelkopfspielen mit Sektbegleitung. Ich war bis zum letzten Spiel Vorletzte, aber dann hat Papa mich noch überholt.
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Mittwoch die alten Bilder im Bettkasten durchgewühlt, weil ich wusste, dass da das alte Foto meiner Oma gerahmt lag. Das hatte ich in Hannover in meiner Wohnung in der Küche hängen gehabt, beim Umzug nach Hamburg kam es dann wieder zu meinen Eltern und da lag es jetzt 20 Jahre. Gestern wickelte ich es dick in die FAZ ein, die ich aus München hergeschleppt hatte (ich wusste gar nicht, dass am 24. noch eine Zeitung kommt), verstaute es zwischen zwei Lagen Klamotten im Koffer, darauf kamen acht Kilo Kekse und Süßigkeiten und noch vier Süßweingläser, ca. Jahrhundertwende, die meine Mutter loswerden wollte. Ich hatte noch keine Süßweingläser, ich nahm die mal fürsorglich unter meine Fittiche. Danke FAZ, danke Klamotten, alles heile in München angekommen.
Das Bild ist von 1935. Ja, wir können über Motiv und Bildauffassung reden. Für mich ist es zuerst ein Foto meiner Oma und dann erst ein kunsthistorisches Zeugnis seiner Zeit. Aber ja, wir können über Motiv und Bildauffassung reden.
Dann wühlte ich mich durch Mamas Rezeptbox, in der sich Zeitungsausschnitte aus 40 Jahren wiederfinden mit Rezepten, die sie nie gekocht hat. Aber auch selbstgetippte oder beschriftete Karteikarten. Ich ärgere mich seit Jahren, dass ich die Rezepte von Omi nicht mehr erfragen kann, also bat ich um alles, was vielleicht noch da war. Ich fand immerhin den Biskuitteig und die Buttercreme, woraus ich Omis Frankfurter Kranz nachbauen kann. Und diese Karte mit ihrer Handschrift, von Mama mit halbwegs korrekten Mengen- und Zeitangaben ergänzt, denn Omi kochte eben aus dem Handgelenk. Auf Instagram haben andere Anmerkungen ihrer Großmütter angelegt.
Ich habe keine Ahnung, was eine Trappertorte ist und Google weiß es auch nicht. Ich werde das einfach mal backen.
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Pünktlicher Flug nach Hause. Wie auch auf dem Hinflug war der bewusst gebuchte Platz in der letzten Reihe eine gute Wahl, denn ich hatte beide Male zwei freie Sitze neben mir. Auf dem Weg nach Hannover war ich noch mit Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914 beschäftigt, seinem Vorgängerwerk zu Die zerrissenen Jahre: 1918–1938; letzteres habe ich im Blog schon mehrfach empfohlen und es wird euch auch im Jahresrückblick wieder begegnen. Der Kontinent eher nicht, das war noch nicht so schön geschlossen wie der Nachfolger. Es war mir zuviel Klein-Klein, jedes Kapitel franste völlig aus, auch wenn Blom es auf der jeweils letzten Seite wieder zusammenfasste, aber ich habe mir weitaus weniger gemerkt oder merken wollen als bei Jahre. Trotzdem gern gelesen.
Auf dem Rückflug las ich bereits mein Weihnachtsgeschenk an mich und an F.: Stefan Zweigs Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, das 1942 posthum erschienen ist. Aus diesem Buch hatten wir bei der Diskussion im Burgtheater im November einen kleinen Ausschnitt gehört, und seitdem wollte ich es lesen. Schon das Vorwort beschreibt in wenigen Sätzen sehr deutlich, worum es geht:
„Ich bin aufgewachsen in Wien, der zweitausendjährigen übernationalen Metropole, und habe sie wie ein Verbrecher verlassen müssen, ehe sie degradiert wurde zu einer deutschen Provinzstadt. Mein literarisches Werk ist in der Sprache, in der ich es geschrieben, zu Asche gebrannt worden, in eben demselben Lande, wo meine Bücher Millionen von Lesern sich zu Freunden gemacht. So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkrieg.“
(Hoch die Republik!)
Ich las also, bis ich mein Getränk und meinen Snack hatte, dann stöpselte ich die geliebten Noise-Cancelling-Kopfhörer ein (totale Empfehlung – und gerade über 100 Euro günstiger als im Februar, als ich sie gekauft habe, na danke auch) und hörte Klassik, was mit normalen Kopfhörern im Flugzeug nie möglich gewesen war, zu laut alles.
Seit ich im März Sol Gabetta ein Cellokonzert von Bohuslav Martinů habe spielen hören, habe ich den Mann dauernd auf den Ohren. Den Namen kannte ich vorher nicht, aber er ist seit Monaten die Go-to-Playlist, wenn ich Klassik hören will. So auch gestern. Ich guckte dem dramatischen Sonnenuntergang zu, den ich niemals vernünftig fotografieren könnte. Kurz vor München ging das Flugzeug dann in eine satte Kurve, und genau in dem Moment, in dem die Tragfläche wieder parallel zum Horizont stand, erklang ein majestätischer Dur-Akkord im zweiten Satz und das war wieder einer dieser Momente, wo man total pathetisch denkt, wie großartig doch alles sein kann. (War’s halt.)
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In der S-Bahn gab’s dieses Mal nichts zu gucken, aber dafür auf Instagram. Ich liebe solche Clashes. Die untere Welle ist bekanntlich die von Hokusai.
Ich hörte Spotify, weil ich wieder Internet hatte, und freute mich auf zuhause. Dort packte ich meinen Koffer aus, brauchte gefühlt 20 Minuten, um das ganze Zuckerzeug wegzuräumen, freute mich über Omas Bild und stellte es erstmal auf den Fußboden im Flur, wo es bald neben Leo von Welden hängen wird. Dann kochte ich mir Tee in Omis Teekanne, dachte über Familie nach und wie nett die letzten Tage waren und wie froh ich bin, dass unser Verhältnis inzwischen gut ist und nicht nur irgendwie auszuhalten, wickelte mich in meine Kuscheldecke, vermisste F., las, trank Tee, klickte im Internet rum und war’s zufrieden.
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Tagebuch Mittwoch, 12. Dezember 2018 – Schöner Alltag
Gemeinsam aufgewacht. Den ganzen Tag am Schreibtisch verbracht und konzentriert gearbeitet. Mich dabei über guten Tee, die schöne Sternenlichterkette im Fenster, das winzige Weihnachtsbäumchen auf dem Tisch (Gastgeschenk vom Samstag) und viele Ideen gefreut. Davon hätte ich heute gerne nochmal dasselbe. Das gemeinsame Aufwachen hat schon mal geklappt. Gib alles, Universum!
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In der Mittagspause meine Alugrafie von Leo von Welden vom Rahmen abgeholt. Ich beschrieb letzte Woche das ausführliche und kenntnisreiche Beratungsgespräch, und jetzt wo ich den Welden gerahmt vor mir sehe, kann ich den Laden sehr weiterempfehlen: Das war die winzige Werkstatt Bild & Rahmen in der Schleißheimer Straße (keine Website, daher die eher unaussagekräftige Yelp-Seite).
Gestern war es schon zu dunkel, um es anständig an der Wand zu fotografieren, an der es demnächst hängt, deswegen steht es hier auf einem Stuhl im Flur und kriegt künstliches Licht ab. Das Hintergrundpapier ist dunkelgrau, nicht schwarz, was das Schwarz der Alugrafie noch dunkler wirken lässt, und ich bin wirklich froh über die Rahmenwahl. Der ist zwar brandneu, sieht aber nicht so aus, und das passt gut zum Stil des Bildes. Auch dass man die nicht gerade untere Kante sieht, weil die Rahmerin mir ein Passepartout ausgeredet hat, gefällt mir außerordentlich gut. Ich habe für die Arbeit mit Material und allem 159 Euro bezahlt und finde das sehr gerechtfertigt.
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Ich wartete den ganzen Tag auf ein DHL-Paket, das nicht in eine Packstation geliefert werden konnte. Erst als ich um 19 Uhr fettglänzend am Herd stand, klingelte es. Dafür dass der Lieferant vermutlich schon sehr lange unterwegs war, hatte er bemerkenswert gute Laune. Dankeschön!
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Abends hatte sich F. zum gemeinsamen Essen angekündigt. Inzwischen habe ich mich in Salz. Fett. Säure. Hitze weiter vorgearbeitet – okay, und ein bisschen vorgeblättert – und halte mich seit einigen Tagen an die simple Regel: Vertrau deinen Kocherfahrungen mehr als Minutenangaben in Rezepten. Außerdem hatte ich von Samin Nosrat auch in ihrer Netflix-Serie gelernt: Fleisch ewig früh salzen.
Ich dachte gestern über bayerische Küche nach und dann über spanische, weil mir F. das Kochbuch Basque von José Pizarro geschenkt hatte. Im bayerischen Kochbuch fand ich, dass man Fleisch auch mal fünf Minuten vor dem Braten salzen könne, während Nosrat dafür plädiert, es einen Tag früher zu salzen als es in die Pfanne kommen soll. Ich kaufte zwei Rumpsteaks mit ordentlichem Fettrand und salzte sie, direkt nachdem ich wieder zuhause war, gut zwei Stunden, bevor ich sie braten wollte. So konnte ich beobachten, dass das Fleisch dunkler wurde bzw. sein Rotton ging ins Burgunderrot über, wo er vorher frisch rot, fleischigrot halt gewesen war. Die Oberfläche wurde glänzender und weniger definiert. Ich weiß noch nicht genau, welche chemische Reaktion da stattgefunden hat, aber das Endergebnis überzeugte mich sehr vom frühen Salzen.
Das Rezept in Basque wollte T-Bone-Steak, aber daran traue ich mich noch nicht heran. Überhaupt habe ich mich ewig nicht mehr an kurzgebratenes Rindfleisch gewagt, weil ich in den letzten Jahren diverse Stücke ruiniert hatte. Egal ob ich nach Gefühl oder Minutenangaben kochte und briet, egal wie oft ich bei Masterchef sehen konnte, was Köche und Köchinnen mit Steaks machen, damit sie gut werden – ich selbst habe noch nie ein gutes hinbekommen. Meist waren sie zu durch und schmeckten nach nichts. Gut, letzteres kann am Fleisch selbst gelegen haben. Erst seit ich ein bisschen darauf achte, was ich so in mich hineinwerfe, gebe ich ordentliches Geld für ordentliches Fleisch aus. Aber Steaks habe ich, wie gesagt, ewig nicht mehr gemacht, weil ich davon ausgegangen bin, das Geld zum Fenster rauszuschmeißen, weil ich das Fleisch nicht vernünftig braten kann.
Ein Nebeneffekt des Buchs von Nosrat ist, mir selber wieder zu trauen, eher auf Erfahrungswerte zu setzen, auf Geruch und Optik, auf die gute alte Fingerprobe beim Steak und nicht auf meinen iPhone-Timer. Also gab ich anständig Geld aus, salzte die dicken Steaks und ließ sie dann bei Raumtemperatur rumliegen, während ich eine Salsa zubereitete, die Basque dazu vorschlug. Dazu eine Schalotte in richtig viel Olivenöl sanft anbraten, dann zwei gehackte Knoblauchzehen dazu, 300 g grob gehackte Cherrytomaten, 6 Anchovis (einfach so, wie sie sind) und die abgeriebene Schale einer Zitrone. Die Kochanweisung dazu lautete, ganz im Sinne von Nosrat: so lange braten, bis die Tomaten weich, aber noch nicht matschig sind und die Anchovis zerfallen. Ich wusste gar nicht, dass Anchovis in der Hitze zerfallen, aber Überraschung, genau das taten sie. Ich kostete brav mehrfach die Salsa und salzte nur wenig nach, weil das die Anchovis schon gut erledigt hatten, und freute mich über den irre frischen Kick durch die Zitrone. Erst abends am Tisch fiel mir auf, dass die Salsa von Pizarro alles verband, was Nosrat predigt: Salz, Fett, Säure und Hitze.
Aus Nosrats Buch hatte ich auch gelernt: Wenn du keinen Profigrill zuhause hast, aber eine richtig heiße Pfanne brauchst – wie für Steaks zum Beispiel –, dann stell sie doch einfach in den heißen Ofen, bevor du sie auf den Herd packst. Genau das tat ich. Ich habe immer noch keine gusseiserne Pfanne, weil ich ja immer dachte, die brauche ich nur für Steaks und die kann ich ja nicht, aber die kommt jetzt sofort auf den Weihnachtswunschzettel. Gestern nutzte ich wie immer meine Edelstahlpfanne, Hauptsache, nichts Beschichtetes, soviel wusste ich auch schon. Der Ofen lief auf 200 Grad, die Pfanne blieb 15 Minuten drin, ich legte die Ofenhandschuhe sehr, sehr sichtbar in meine Augenlinie, um sie bloß nicht zu vergessen, wenn die Pfanne auf dem Herd stand, schloss die Küchentür, öffnete das Küchenfenster sehr weit, warf die Abzugshaube an und betete zu den Rauchmeldergöttern, mich zu verschonen. Ich salzte das Fleisch noch einmal, kein Pfeffer, Sonnenblumenöl in die Pfanne, das quasi sofort zu rauchen begann, ich wartete trotzdem noch ein winziges bisschen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es echt in Millisekundenschnelle heiß genug für das Fleisch war, ich probierte es mit einem Holzstäbchen, das sofort Blasen warf und ergab mich in mein Schicksal: Fleisch in die Pfanne! Ahoi!
Man konnte der Maillard-Reaktion quasi zugucken! Es roch von Anfang an deutlich anders als sonst: kräftiger, fleischiger, würziger, aber nicht verbrannt oder rauchig. Ich guckte nicht auf die Uhr, sondern auf die Oberfläche des Fleischs. Als ich der Meinung war, ich könnte es wenden, tat ich genau das, freute mich über eine herrliche Unterseite, guckte dem Fleisch weiter zu, wagte es irgendwann, den Finger aufs Fleisch zu drücken, um zu prüfen, ob es medium war, meinte medium zu spüren, und stellte die Pfanne in den weiterhin auf 200 Grad bullernden Ofen.
Währenddessen schraubte ich einen Tempranillo auf und ließ F. schon mal das Salatdressing kosten. Natürlich hatte ich wieder eine Majo gemacht und das Caesar-Dressing, weil ich dachte, wenn in der Salsa Anchovis und Zitrone drin sind, dann passt das Dressing zum grünen Salat ja super. Tat es auch. Gestern brauchte ich allerdings vier Versuche für die Majo; das erste Mal letzte Woche war anscheinend pures Anfängerglück. Gestern verbanden sich Eigelb und Öl zunächst nicht, die Majo blieb viel zu flüssig. Keine Ahnung, ob man das noch hätte retten können, aber ich stellte die Schüssel weg, nahm eine neue, schlug ein neues Eigelb auf und gab Öl dazu. Das klappte ganz gut, dann kippte ich zuviel Öl auf einmal zur Masse und sofort geronn alles. Aber ich hatte ja schon gelernt: Das kriegt man wieder hin! Die dritte Schüssel aus dem Schrank geholt, einen halben Teelöffel sehr heißes Wasser dazu, die kaputte Majo tropfenweise dazugeben und schlagen, bis der Arm abfällt! Das klappte so gut, dass ich auch hier plötzlich zu viel Masse dazugab, worauf wieder alles geronn. Die vierte Schüssel aus dem Schrank geholt, alles nochmal, mein rechter Arm ist inzwischen doppelt so dick wie mein linker, aber ich hatte endlich perfekt cremige Majo, die ich mit Zitrone, Essig, Anchovis, Parmesan, Knoblauch und Worcestersauce abschmeckte. Sie brauchte kein Extrasalz mehr, weil ich mich inzwischen traue, von allem anderen Salzigen genug in die Fett-Ei-Mischung zu werfen.
Das Steak war meiner Meinung nach fertig, keine Ahnung, wie lange es im Ofen gewesen war, darauf könnte ich vielleicht beim nächsten Mal achten; nun hob ich es aus der Pfanne und ließ es zehn Minuten lang rumliegen. Nach der Ruhezeit kam es mit Salat und Salsa auf den Teller, ich fotografierte, ohne wirklich auf Winkel und Bildausschnitt zu achten, denn OMG Hunger! und schnitt das Fleisch an. Eine herrliche Kruste, nicht zu fest, nicht zu nachgiebig. Das Fleisch war ein winziges bisschen über Medium drüber, aber noch deutlich rosa, und es schmeckte herrlich. F. meinte, das sei das beste Steak, was er je außerhalb eines Restaurants aus einer Pfanne und nicht vom Grill gegessen habe und nein, das liegt nicht daran, dass der Mann mich toll findet! Glaube ich jedenfalls, ich wollte nicht nachfragen, sondern nur stumm mein Fleisch genießen. Die Salsa dazu war hervorragend, die kann ich hiermit auch locker weiterempfehlen. Stelle ich mir zu Fisch fast noch besser vor. Sogar der Fettrand, den ich vorher eingeschnitten hatte, war knusprig geworden, wie beim guten alten bayerischen Schweinebraten! Very happy Anke.
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F. guckte noch das Bayernspiel auf meinem Laptop, ich räumte die Küche wieder in einen menschenwürdigen Zustand und fiel dann sehr müde ins Bett. Eigentlich nur ein normaler Alltag, Arbeiten, Einkaufen, Kochen, aber er hatte sich sehr gut und rund und voll angefühlt.
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Tagebuch Donnerstag, 6. Dezember 2018 – Krampus und Caesar Salad
Der Tag begann damit, dass ich überrascht und freudig feststellte, dass in meinen Sneakers an der Eingangstür ein Schokonikolaus steckte, der seinen Kumpel Krampus aus Wien mitgebracht hatte. Also eigentlich hatte F. beide aus Wien mitgebracht, der kleine Racker, und von mir unbemerkt in meinen Schuhen deponiert. Das war ein schöner Tagesanfang.
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Gearbeitet, rumgepuzzelt, in Salz. Fett. Säure. Hitze. das Salz-Kapitel zuende gelesen, das ich vorgestern begonnen und in dem ich bereits mein Mittagessen für gestern gefunden hatte.
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Caesar Salad ist mein absoluter Lieblingssalat. Ich glaube, ich habe kein Essen, auch wenn es noch so unfotogen ist, so oft geinstragrammt wie diesen Salat, weil er einfach immer gut ist, egal wie huschig ich ihn zubereite. Okay, eigentlich ist er eine Entschuldigung, um einen Berg Knoblauchcroutons zu essen, aber das behalten wir einfach mal für uns.
Im Salz-Kapitel tauchte nun genau dieser Salat als Lernvorlage auf: Man sollte an ihm bzw. seinem Dressing ausprobieren, wie man Salz schichtet, also wie man verschiedene salzige Zutaten zusammen verwendet und wie anders alles wird, je nachdem was man hinzufügt. An diesem Dressing sollte man auch Abschmecken üben.
Ich koche jetzt seit fast zehn Jahren halbwegs regelmäßig – oft genug reicht auch ein Sandwich zum Abendessen, das ist nicht Kochen –, aber ich habe immer noch das Gefühl, keine Intuition für die Sache entwickelt zu haben. Ich befolge Rezepte ziemlich sklavisch, weil ich meist nicht wüsste, was ich ändern sollte außer vielleicht Dinge wegzulassen, die ich nicht mag oder die ich gerade unnötig finde (meistens Fleisch). Ich behaupte, ich habe mir gewisse Grundfertigkeiten beigebracht, aber ich koche sehr oft das Gleiche, weil ich weiß, dass es funktioniert. Mir fehlt (noch?) die Fähigkeit, aus dem Gelernten etwas Neues zu machen. Also anders als an der Uni, wo einem auch niemand die Hausarbeiten schreibt, man aber die Grundfertigkeiten beigebracht bekommt (wo ist die Bibliothek, wie funktioniert sie, wie finde ich einen Aufsatz). Da habe ich recht schnell kapiert, wie ich aus Bauklötzen ein Haus bauen kann, vor allem, weil ich so viele andere Aufsätze lesen musste, um selber welche zu schreiben.
Genauso habe ich eigentlich gewisse Grundlagen beim Kochen drauf, aber ich bekomme die Einzelteile noch nicht selbständig zu etwas Neuem gepuzzelt. Deswegen gucke ich so gerne Kochshows wie Masterchef, wo die Kandidat*innen beispielsweise eine Grundzutat vorgegeben bekommen und daraus was zaubern müssen. Ich bin jedesmal wieder davon erstaunt, was man alles aus, keine Ahnung, Tomaten machen kann außer Suppe, Salat und dem Klassiker „zwei Scheiben davon aufs Käsebrot“. Deswegen habe ich mich gestern so über die verkohlten Zwiebeln gefreut: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, sie bewusst anzubrennen, weil ich die Grundfertigkeit „mit starken Aromen arbeiten“ schlicht noch nicht drauf habe.
Auch von Masterchef gelernt habe ich solche simplen Dinge, über die alle geübten Köch*innen vermutlich gutmütig mit den Augen rollen, wie: Jedes Gericht sollte verschiedene Texturen haben oder unterschiedliche Aggregatzustände, damit der Mund sich nicht langweilt. Also knackig plus schmelzig. Oder fest und weich. Oder auch mild und scharf sowie heiß und kalt. Ich habe mal als Schreibtipp gelesen, sich seine Lieblingsbücher analytisch vornzunehmen, um herauszufinden, warum genau sie die Lieblingsbücher sind, damit man daran seine eigenen Geschichten orientieren kann. Das versuche ich seitdem auf meine Lieblingsgerichte anzuwenden: Warum schmecken mir manche Dinge besser als andere? Ich mag zwar die mummelige Gleichförmigkeit von Spaghetti Carbonara (gleiche Temperatur und Mundgefühl aller Zutaten, alles recht salzig), aber ich mag genauso die Wundertüte Salade niçoise (warm und kalt, weich und fest, Geschmäcker von mild bis salzig). Generell war ich erstaunt darüber, dass ich beim Nachdenken über Lieblingsgerichte doch eher an salzige als an süße dachte – vermutlich weil letztere einfach nur das sind: süß. (In diesem Zusammenhang: Hände weg von Schokolade, die ist perfekt so wie sie ist! Das Grauen von Chili-Schokolade!)
Zusammengefasst: Ich würde gerne etwas strukturierter meine Kochfähigkeiten ausbauen. Da ich körperlich keine Kochausbildung mehr hinkriege und ich auch keine Lust auf VHS-Kurse mehr habe, erhoffe ich mir von Büchern wie Salz. Fett. Säure. Hitze. ein bisschen mehr Grundwissen, das ich schlicht übersprungen habe beim Rezeptekochen, und damit verbunden mehr inneres Handwerkszeug, um nicht immer das Gleiche einzukaufen und daraus immer das Gleiche zu kochen.
Deswegen fand ich es reizvoll, einen Caesar Salad neu zu lernen, gerade weil ich den schon so oft gemacht habe – so konnte ich vergleichen. Es ging im Buch nicht darum, die Romamasalatblätter besonders schick zu schneiden oder wie man aus Brot Croutons macht, das habe ich so gemacht wie immer. Es ging stattdessen darum, das Dressing von Grund auf zu verstehen. Das Buch gibt keine Mengenangaben vor (wieviel Worcestersauce, wieviel Parmesan, wieviele Sardellen?), sondern sagt nur: Probier mal aus, davon was zur Majo zu geben. Dafür gab es eine Mengenangabe, die mir auch noch nicht bekannt war: 175 ml Öl auf ein Eigelb. Ich hatte gefühlt nur recht kleine Eier und benutzte daher erstmal 150 ml, aber das war zuwenig, wer hätte es gedacht. Mayonnaise habe ich bisher mit dem Pürierstab gemacht und mich auch da an Rezepte gehalten. Dieses Mal griff ich zu Schüssel und Schneebesen. Alleine das war toll, weil es sich danach angefühlt hat, Grundlagen zu erlernen. Erstmal die Basics verstehen, dann kannst du immer noch zum Zauberstab greifen.
Ich begann also mit dem Mise en Place (auch so eine schöne Grundfertigkeit), was auch im Buch beschrieben wird: Parmesan reiben, Sardellen zerdrücken, Knoblauch mit einer Prise Salz zerreiben, Salz in ein Gefäß schütten, aus dem man mit den Fingern salzen kann, Worcestersauce aufschrauben (das letzte fand ich besonders schnuffig). Für die Majo: eine Zitrone auspressen und Essig bereitstellen. Ich wunderte mich, dass kein Senf verlangt war und googelte erstmal nach: Nein, es muss kein Senf in eine Majo, aber der gibt von Anfang an etwas Säure und Schärfe dazu. Genau das wollte ich ja aber selbst in der Hand haben. Also: Senf wieder in den Kühlschrank stellen, aus dem ich ihn schon vor längerer Zeit geholt hatte, denn immerhin wusste ich schon, dass alle Grundzutaten die gleiche Temperatur haben sollten. Und da ich Eier und Öl nicht im Kühlschrank aufbewahre uswusf.
Ein Salztöpfchen habe ich mir schon vor längerer Zeit angewöhnt, die anderen Handgriffe kannte ich auch, wobei ich das Zerreiben des Knoblauchs mit meinem großen Kochmesser sehr genoss. Auch eine Sache, die bei mir ein bisschen gedauert hatte: mich an große, scharfe (teure) Messer ranzutrauen und nicht immer das kleine Supermarktmesser für alles zu benutzen.
Jetzt aber: ein Eigelb in eine breite Schüssel aufschlagen, das Sonnenblumenöl abmessen und in ein Gefäß umsiedeln, aus dem man kontrollierter gießen kann als aus der wabbeligen Plastikflasche. Aus einem feuchten Handtuch einen Ring basteln, auf dem die Schüssel fest steht (schon was gelernt!). Und dann ganz langsam Öl zum Ei geben und mit dem Schneebesen zügig verschlagen. Das ging besser und schneller als ich dachte! Als ich eine schöne Masse vor mir hatte, ging es ans Abschmecken. Zum ersten Mal schmeckte ich ungewürzte Majo, die quasi nur aus Mundgefühl besteht (Fett halt). Ich gab vorsichtig Zitronensaft hinzu und wusste sofort: Da geht noch was. Noch ein bisschen Saft für die Frische, dann ein bisschen Essig für eine kleine saure Schärfe. Und jetzt das Salz.
Zunächst gab ich den Knoblauch dazu und schmeckte seine ziepende Schärfe sowie das Salz, mit dem ich die Zehe verrieben hatte. Dann die Sardellen, die deutlich weniger fischig waren als ich sie erwartet hatte. Sie gaben der Masse eine gewisse fleischige Tiefe. Vor der Worcestersauce hatte ich vermutlich zuviel Respekt, mit der koche ich nie, das war die einzige Zutat, für die ich gestern einkaufen gehen musste, Rest war im Haus. Deswegen war ich bei ihr sehr memmig und habe sie auch nicht wirklich herausgeschmeckt. Nächstes Mal. Der Parmesan kam extrem geschmeidig und mit winzigen Salzspitzen dazu, und erst zum Schluss gab ich reines Tafelsalz in die Masse. Ich wollte noch ein bisschen mehr Parmesan und dann war ich zufrieden und von dieser simplen Tätigkeit schon sehr beeindruckt. Alleine bewusst zu merken, wie unterschiedlich salzig salzige Dinge schmecken, fand ich spannend und hoffentlich für die Zukunft hilfreich.
Der letzte Test aus dem Buch: ein Salatblatt durchs Dressing ziehen und gucken, ob alles zusammenpasst. Das passte so gut, dass ich gleich den ganzen Romanakopf in die Schüssel tunken wollte, aber ich beherrschte mich brav und zerschnitt den Kopf, während die Croutons in der Pfanne rumknisterten. Der fertige Salat war dann wie immer ein Genuss, und damit verbanne ich mein bisheriges Dressing aus Crème fraîche, Olivenöl und Zitronensaft nach Sibirien.
Die Mayonnaise steht da nur, damit ich mit ihrer perfekten Konsistenz angeben kann. In die habe ich abends einfach Weißbrot gestippt, so lecker war sie (die Majo, nicht die Konsistenz).
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Tagebuch Samstag, 24. November 2018 – Fuppesfrust
Morgens bei F. konnten wir nicht so lange rumlungern, wie zumindest ich es gerne gehabt hätte, weil der Herr einen Termin hatte. Also ging ich einkaufen, dann erst nach Hause, kochte Tee und las auf dem Sofa vor mich hin, bevor ich mich in den Zwiebellook fürs Stadion zwängte. Unter Shirt und Pulli kam das Thermooberteil, in dem ich walke, denn das speichert Wärme ganz ausgezeichnet, unter die Jeans kamen die Thermotights, bei denen „tight“ wirklich „tight“ meint. Falls ich jemals wieder eine lange Flugreise machen werde, gehen die bestimmt auch als Kompressionsstrumpf durch. Sind aber trotzdem top bequem. (Ich verlinke mal wieder Nike, die gute Sportbekleidung auch für dicke Menschen anbieten und dafür auch etwas kräftigere Damen als Models engagiert haben.)
Gestern fuhr ich ausnahmsweise ohne F. nach Augsburg ins Stadion, hatte also keinen Gesprächspartner für die 40-minütige Zugfahrt. In meine dicke Winterjacke passt zwar ein Taschenbuch in die Innentasche, ich lese aber nun mal gerade den dicken Feuchtwanger und hatte keine Lust auf alle meine eBooks, die ich auf dem Handy mit mir rumtrage. Also stopfte ich mir 800 Seiten große Literatur in die Seitentasche und in die andere meinen eingerollten FCA-Schal. Der bleibt bis Augsburg in der Jacke, seit ihn mir in München mal ein schlecht gelaunter Blauer wegreißen wollte. Ich war netterweise in breitschultriger Begleitung und habe daher meinen Schal noch. Aber ganz ehrlich: Wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich ihn locker hergegeben. Wenn dem Idioten dabei einer abgeht, ein Stück Textil zu klauen, dann bitte. Meine Verachtung für sein armseliges Leben ist ihm sicher, und ich kaufe mir einfach einen neuen Schal. (Fußballrituale können so erzdämlich sein.)
Auf der Fahrt selber saß ich dann quasi inkognito hinter einigen Herren, die sich teilweise als Eintracht-Frankfurt-Fans zu erkennen gaben (oder an ihren schwarzweißen Schals erkennbar waren), teilweise als Bayernfans, die die Karten fürs Spiel #FCASGE gewonnen hatten. Der Frankfurtfan meinte, sie hätten Augsburg in zehn Spielen nie schlagen können; wenn nicht heute, mit dieser Mannschaft, wann dann? Die Bayernfans beglückwünschten ihn bzw. seine Mannschaft nochmal zum Pokal, und alle waren nett zueinander. Ich kannte die Statistik der letzten zehn Spiele gar nicht und war von Augsburg beeindruckt.
Leider nicht sehr lange.
(Hinter meiner Hand oben links im Bild geht gerade die Sonne hinter dem Stadion unter. Ich habe die mal nicht weggeschnitten, damit ich mich selber daran erinnere, dass ich im Winter keine Sonnenbrille im Stadion brauche, weil die Sonne pünktlich zum Anpfiff nicht mehr blendet.)
Der Kids Club drehte vor dem Spiel seine übliche Ehrenrunde, wie immer auch mit Kindern der Gastmannschaft, was netterweise stets dazu führt, dass die sonst unerbittlich pfeifenden Gegnerfans mal drei Minuten Ruhe geben und kleinen Kindern winken, wie der Rest des Stadions auch. Ich mag das sehr.
Dann gab’s allerdings kaum noch was, was ich mochte. Der FCA kassierte nach 51 Sekunden das erste Gegentor, nach 46 Minuten das zweite, an das dritte kann ich mich nicht erinnern, und bis auf die zwei Minuten nach dem 1:3 in der 91. Minute hatte ich auch nie das Gefühl, dass Augsburg Herr auf dem eigenen Platz war. In der ersten Halbzeit ließ ich mich ab und zu zum Pöbeln hinreißen, weil ich so stinkig war, in der zweiten saß ich nur ergeben in unser Schicksal rum und wartete, bis endlich der Abpfiff kam. Nach dem 0:3 dachte ich ganz kurz darüber nach, schon zu gehen und einen früheren Zug zu nehmen, aber das macht man ja bekanntlich nicht. (Fußballrituale können so erzdämlich sein.) So sah ich immerhin noch ein Tor vom FCA, wollte aber nach dem Spiel wirklich dringend nach Hause. Das war extrem anstrengend beim Zugucken, weil der Mannschaft quasi alles fehlte, was sie beim Spiel gegen zum Beispiel Dortmund noch so aufregend gemacht hatte. Gefühlt kam ein Pass von zehn an, alle wollten es wieder irre kompliziert machen, und wenn es jemals eine Vereinsgeschichte geben sollte, müsste ihr Titel „JETZT LASST DOCH MAL DIE SCHEISS QUERPÄSSE!“ lauten. Die Statistik weist Augsburg leider als Kloppertruppe aus, aber nicht mal diese *hust* Stärke konnten sie gestern aus*hust*spielen, weil Frankfurt cleverer foulte und der Schiedsrichter für mein Gefühl irre viel durchgehen ließ (aber für beide Mannschaften – auch nur gefühlt).
Immerhin war ich schnell bei und in der Tram und schaffte es noch zum frühen Zug um 18.08 Uhr anstatt auf den um 18.42 warten zu müssen. Der Zug war leider ein kurzer und dementsprechend voll, aber netterweise bot mir ein FCA-Fan seinen Sitzplatz an. Sehe ich schwanger aus? Hat Dicksein ungeahnte Vorteile? Oder war der Kerl einfach nur nett? Egal, ich saß. Die ältere Dame neben mir meinte weise: „Wenn die Fans so leise in den Zug kommen, ahnt man immer schon, wie das Spiel war. Verloren?“ Ich berichtete und grinste innerlich darüber, dass die Dame anscheinend die Horde grölender Eintrachtfans zwei Wagen hinter uns nicht gehört hatte. Vor denen hatte ich auf dem Bahnsteig ein bisschen Angst gehabt. Ich mag größere Männergruppen generell nicht, noch weniger mag ich sie bei Fußballspielen (sorry, Jungs) und am allerwenigsten, wenn sie auch noch Bier intus haben. Ich verstehe nicht, dass beim FCA nicht nur alkoholfreies Bier ausgeschenkt wird. Klar tanken alle vorher schon, aber das wäre immerhin eine kleine Möglichkeit, Dinge etwas besser im Griff zu haben.
Neben mir im Zweiersitz hatte es sich ein Frankfurtfan mit seinem kleinen Sohn bequem gemacht, der den umstehenden FCA-Fans begeistert erzählte, dass er vier sei und heute zum ersten Mal im Stadion und wie toll alles gewesen wäre und so weiter und so fort. Die FCAler klönten gemütlich mit, und so fand dann doch eine kleine Fanverbrüderung statt und ich konnte einfach nicht mehr stinkig sein.
Das wurde ich dann in der U-Bahn vom Bahnhof nach Hause, als ernsthaft wieder jemand über den FCA-Schal lästerte, den ich vergessen hatte, wieder in die Tasche zu stecken. Irgendein Trottel textete erst mich und dann seine immerhin komplett unbeeindruckte Freundin voll, dass ich mich wohl verfahren hätte, Augsburg würde hier nicht spielen, was für eine Scheißstadt und er hätte mal einem FCA-Fan in München den Schal geklaut und yadayadayada und dann ging ich einfach weg, weil ich gerade wieder gute Laune gehabt hatte. Vollpfosten. Kein Wunder, dass so viele Leute Fußballfans scheiße finden. Ich finde uns manchmal auch scheiße.
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Was irgendwie schön war, auch wenn das Thema fies ist, Donnerstag, 22. November 2018 – Rumlesen und rumgucken
Nach den ein, zwei langen Wien-Einträgen hatte ich keine Lust mehr auf den dritten, der ebenfalls so lang geworden wäre, weswegen euch leider die schöne, zweistündige Diskussion im Burgtheater entgangen ist, falls ihr vorletzte Woche nicht schon meinem Link auf Twitter gefolgt seid. Die Veranstaltung „Aufbruch in die Zukunft. 1918 und heute – Matinee zum Ende des Ersten Weltkriegs und zur Ausrufung der Republik“ wurde nämlich live auf Ö1 übertragen und ließ sich auch eine Woche lang nachhören. Jetzt ist der Link leider tot.
Ich fand es sehr spannend, das Ende des Weltkriegs aus österreichischer Perspektive besprochen zu hören. Zum einen musste ich danach erstmal Daten googeln, weil ständig vom 26. Oktober als Feiertag gesprochen wurde und ich schlicht nicht wusste, was da passiert war. (Jetzt weiß ich’s.) Peinlicherweise wusste ich nicht, dass auch Österreich von den Alliierten besetzt war, genau wie Deutschland. Überhaupt weiß ich viel zu wenig über unser Nachbarland, weswegen ich das Buch von Philipp Blom ja so spannend fand. Ich weiß, ich verlinke neuerdings dauernd zu meinem Blogeintrag zum Buch, aber das lohnt sich wirklich; hier halt der Absatz über Österreich bzw. das letzte eingerückte Zitat, in dem beschrieben wird, wie aus dem Riesenreich Österreich-Ungarn das kleine Ding wird, was es heute noch ist und was es vorher nie war. Während der Veranstaltung fiel die Bemerkung, dass für die 1918 ausgerufene Republik 22 Dynastien auf ihre Kronen verzichteten. Das ist doch mal schöner Partysmalltalk.
Zum anderen habe ich von dieser Veranstaltung außer dem gesprochenen Ohrwurm „Hoch die Republik“ noch die Würdigung der unglücklicherweise so bezeichneten Zwischenkriegszeit mitgenommen. So geht es mir selbst auch, vor allem im Hinblick auf meine Diss: Für mich sind die 20er Jahre nur ein Zwischenspiel oder eine böse Ouvertüre zum noch böseren Stück. Ich vergesse selbst gerne, wie unglaublich revolutionär (im wahrsten Sinne des Wortes) diese Zeit gewesen ist und welche Umwälzungen in sehr kurzer Zeit passierten. Errungenschaften wie die erste Republik (Volksgewalt statt Monarchie, kein Gott mehr in der Verfassung), die erste Demokratie auf deutschem Boden, das Frauenwahlrecht etc. werden auch in meinen inneren Zeitläuften verdrängt von Inflation, Wirtschaftskrise und drohendem Nationalsozialismus. Gleichzeitig ist mir bewusst, warum die 20er auch die Goldenen Zwanziger genannt werden: neue Musik, Film als Massenmedium, Bauhaus-Architektur, mehr Freizügigkeit, der Bubikopf (um mal ein Beispiel der neuen Mode zu nennen). Ich fand es spannend, diese Zeit gewürdigt zu sehen und versuche mich seitdem selbst immer wieder daran zu erinnern.
Die Diskussion drehte sich dann auch um die heutige Zeit; es wurde gefragt, warum nicht wieder der 12. November gefeiert werde, an dem 1918 die erste Republik Österreich ausgerufen wurde. Es wurde mehr Verfassungspatriotismus gefordert, mehr Stolz auf demokratische Errungenschaften und mehr Ächtung von Antidemokraten, von denen Österreich leider auch genug hat (der Seitenhieb auf die AfD blieb nicht aus). Es wurde auch betont, dass manche Dinge schlicht nicht verhandelbar seien (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit, Individualrechte, die Versorgung Schwächerer), weswegen es auch nichts bringe, mit Rechten zu reden, die genau diese Dinge verhandeln wollten. Großer Applaus, auch von mir.
Neben der Diskussion gab es Ausschnitte aus Texten, die von Schauspieler*innen des Burgtheaters gelesen wurden. Einen der Herren sahen wir abends übrigens in der spannenden Inszenierung von Glaube Liebe Hoffnung von Ödön von Horváth wieder, und seitdem wir Karten für dieses Stück hatten, erzählte mir F. von einem dreiminütigen Ausschnitt aus einem alten Programm von Josef Hader, der in Paris den Ast trifft, der 1938 Horváth erschlagen hatte.
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Einige der Texte las ich gestern in der Stabi nach. Besonders beeindruckt hatte mich K. u. K. Geflüster von Andrzej Stasiuk, eine Rede, die der Verfasser am Burgtheater 2008 (?) gehalten hatte und die in Lettre abgedruckt ist (leider online nicht vollständig). Das Magazin gibt es seltsamerweise auch in Unibibliotheken nicht online, weswegen ich gestern mit dem dicken Jahresband im Lesesaal saß. Der Erzähler besucht an Allerheiligen einen Friedhof, auf dem Gefallene des Ersten Weltkriegs liegen, die miteinander sprechen. Ich hatte mir von der Lesung den Begriff der „mineralischen Knochen“ gemerkt, die der Regen zerfrisst, genau wie „die Reste von Metall, die Schnallen, die Knöpfe mit den Regimentsnummern, die Plomben in den Zähnen, die Nägel in den Stiefeln. Wenn sie in Stiefeln bestattet wurden. Da bin ich nicht sicher.“
„„Wer spricht?“
„Der Gemeine Jussuf Kusturic, 4. Bosnisch-Herzegowinisches Infanterieregiment, Friedhof in Przyslup. Sammelgrab, das erste links vom Eingang.“
„Wann bist du gefallen?“
„Am 2. Mai in der Früh’. Am ersten Tag der Schlacht von Gorlice. Ich stieg aus dem Graben und war tot. Ich war aus der Gegend von Mostar. Ich bin hierhergekommen, um zu sterben.“
„Aber du hast vier Monate länger gelebt.“
„Ja. Aber im Mai zu sterben, das tut weh. Ich weiß nicht einmal, was es war. Ich war einfach plötzlich tot. Die Buchen trieben kleine grüne Blätter. Ich lag auf dem Rücken, bis schließlich alles still wurde und erlosch. Im Winter hört man hier keine Geräusche. Dann rufe ich mir in Erinnerung, wie Mostar im Dezember duftete, wie Travnik duftete und Sarajevo. Sie dufteten nach Eichenrauch.“
„Mein Dorf roch nach Kiefern- und Birkenrauch. Der Frost kam im Oktober, tausend Werst östlich von Moskau. Doch der Zar hat’s befohlen, deshalb kam ich hierher, um von einem Mannlicher Kaliber 8 zu sterben.“
„Und unser Kaiser ließ uns rote Feze tragen, darin gingen wir zum Angriff. Wir trugen rote Feze und waren durch die Bäume meilenweit zu erkennen, denn der Kaiser wollte in seinem Reich kaiserliche Türken haben, deshalb liefen wir mit diesem Rot auf den Köpfen herum wie die Hähne, wir brachen aus Mostar, Tuzla und Sarajevo auf, um auf den Hängen von Magura zu fallen. Wir trugen hellblaue Uniformen, und man sah sofort, wer sich in die Hosen geschissen hatte.“
„Süß und ehrenvoll ist es, sich für den Kaiser in die Hosen zu scheißen.“
„Wer spricht denn da?
„Schütze Mendel Brod. 4. Feldschützenbataillon. Friedhof in Magura. Grab 51. Auch am 2. Mai, so wie der muslimische Kollege. Vermutlich ein Schrapnell.“
„Woher?“
„Bircza bei Przemysl.“
„Garnison?“
„Braunau am Inn.“
„Mach keine Witze.“
(Andrzej Stasiuk (Olaf Kühl, Übers.): „K. u. K. Geflüster“, in: Lettre International 88 (2010), S. 94–97, hier S. 94.)
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Ich hatte mir außerdem das Buch Menschen im Krieg (1918) von Andreas Latzko herauslegen lassen, das in der Stabi nur in alter deutscher Schrift zu finden war; ein Exemplar stammt von der Ordensburg Sonthofen, was mich etwas erstaunte, denn der kurze Ausschnitt, den wir hörten, beschrieb die Heimkehr eines kriegsversehrten Soldaten. Ich las die Geschichte gestern zuende und möchte nun das ganze Buch lesen, worauf ich gestern im Lesesaal aber keine Lust hatte.
Ausgeliehen habe ich mir den Sammelband Hungern – Hamstern – Heimkehren: Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921 (Inhaltsverzeichnis), aus dem wir einen kleinen Ausschnitt von Lotte Pirker gehört hatten.
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Mein Nachhauseweg führte mich am Bayerischen Hauptstaatsarchiv vorbei, wo ich ein Plakat für die Ausstellung Getroffen. Gerettet. Gezeichnet – Sanitätswesen im Ersten Weltkrieg sah, die thematisch natürlich hervorragend passte, weswegen ich gleich hineinging. Das könnt ihr auch noch bis zum 30. November tun, und ich empfehle das sehr. Ist nur ein Raum plus ein Vorraum. In dem steht als zentrales Ausstellungsstück ein durchschossener Stahlhelm, was äußerst plakativ klarmacht, worum es geht.
Ich fand es bemerkenswert, wieviele originale Stücke aus der Zeit ausgestellt waren: Verbandsmaterial, medizinisches Werkzeug, wobei mich ein dreistöckiger Koffer mit Operationsbesteck sehr beeindruckte; ein Morphium-Spritzbesteck, dessen Leihgeber „Privatbesitz“ mich auch kurz stutzen ließ – die meisten Stücke kamen aus militärhistorischen oder medizinischen Sammlungen. Wie im verlinkten Flyer zu sehen ist, ging es auch um die Nachkriegszeit und wie mit Versehrten umgegangen wurde. Ich lernte, dass die Deutschen als erste Giftgas einsetzten, dass es Gasmasken für Pferde gab und Hunde zur Rettung von Verwundeten genutzt wurden. Es gab Prothesen zu sehen und zerschossene Knochen, was alles nicht wirklich Spaß macht, aber ich fand es sehr eindringlich, ohne sensationsheischend zu sein.
Und seit den Fotos weiß ich auch, dass die Soldaten in ihren Stiefeln bestattet wurden.
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Tagebuch Freitag, 16. November 2018 – Lesetag
Gestern war ein bisschen Urlaub-vom-Urlaub-Tag. Seit unserer Rückkehr hatte ich lauter Kleinkram zu erledigen, aber gestern war mal nichts. Niemand wollte was, ich wollte auch nichts, also las ich viel. Zum Beispiel den Newsletter von Austin Kleon, der mich auf einen alten Artikel (2014) von Rob Walker aufmerksam machte: How To Pay Attention: 20 Ways To Win The War Against Seeing.
Walker beschreibt eine Aufgabe, die er seinen Design-Student*innen stellte: Sie sollten in der Woche bis zur nächsten Sitzung üben, aufmerksam zu sein. Das war’s. Teil der Übung war zu sehen, wie genau nun Menschen versuchen, aufmerksam zu sein bzw. mit welchen Methoden sie Dinge fanden, die man normalerweise übersieht. Der Artikel fasst 20 Tipps zusammen, die ich alle spannend fand für einen neuen Blickwinkel für die eigene Umgebung oder als Ausgangspunkt für einen neuen Blogeintrag, ein Kunstprojekt, gegen die Langeweile auf dem Weg zur Arbeit usw.
Ein paar Tipps darunter bezogen sich auf Kunstbetrachtung. Der Slow Art Day (kannte ich auch noch nicht) findet jedes Jahr im April statt: Dabei trifft man sich in Museen, schaut sich fünf Werke für jeweils zehn Minuten an und spricht danach darüber. Es müssen anscheinend nicht die gleichen Werke sein, es geht, glaube ich, gar nicht darum zu vergleichen, wer jetzt was gesehen hat, sondern es geht darum, sich aufmerksam einem Werk zu widmen und wahrzunehmen, was man sieht, was man dabei vielleicht fühlt, welche Assoziationen man hat.
So ähnlich ist übrigens unser Podcast entstanden: Wir wollten alle den Cremaster-Cycle von Matthew Barney sehen, der 2014 netterweise umsonst an drei Abenden in der Hochschule für Film und Fernsehen gezeigt wurde. Nachdem alle fünf Filme durch waren, wollten wir natürlich dringend darüber sprechen, wobei wir spaßeshalber ein Smartphone mitlaufen ließen. Als wir uns unsere Diskussion – die alleine durch das offene Mikro etwas strukturierter und wohlformulierter ablief als die üblichen Klönabende – noch mal anhörten, fanden wir das gut genug, es auch anderen vorspielen zu wollen, und schon hatten wir einen Kulturpodcast. Aber auch ohne einen Podcast kann man sich mal im Museum verabreden und danach bewusst darüber reden. Wer das lieber alleine macht, kann sich nach fünf Werken ins Museumscafé setzen und aufschreiben, was er oder sie gesehen und gefühlt hat. (Zack, Blogeintrag fertig! Merke ich mir für Tage, an denen ich auf nichts Lust habe.)
Eine weitere Art des Kunstguckens ist das richtig lange Kunstgucken. Ich zitiere aus dem Artikel:
„Educator Jennifer L. Roberts has described an assignment she’s used in art history classes as making students regard a single work for “a painfully long time.” This seems to mean three hours, which does sound like a challenge (…). The task — “noting down his or her evolving observations as well as the questions and speculations that arise from those observations” — is meant to be the first step in a research process. But Roberts argues, persuasively, that it’s a highly useful step. Students resist, but eventually find that looking really slowly forces them to notice things they had initially missed. “What this exercise shows students,” Roberts writes, “is that just because you have looked at something doesn’t mean that you have seen it.”
Ich habe noch nie so lange vor einem Werk gesessen, aber es erschließt sich mir sofort, dass man immer mehr sieht, je länger man hinguckt. Das merke ich bei jedem Werk, über das ich bisher eine Hausarbeit geschrieben habe – man denkt immer, man hat es gesehen, aber es verändert sich bei jedem erneuten Draufschauen, eröffnet neue Perspektiven oder zwingt zu neuen Fragestellungen. Das merkte ich besonders bei meiner Masterarbeit, bei der sich meine ursprüngliche Forschungsfrage nicht mehr halten ließ, je länger ich auf Lüpertz guckte – aber gerade dieses Mehrfachschauen ließ mich dann andere Dinge fragen.
Was mich zur dritten Art des Sehens führt, die auch im Artikel beschrieben wird: mehrfach gucken. Walker verlinkt einen Artikel aus der New York Times, in dem der Autor Randy Kennedy beschreibt, dass er sich nun schon seit Jahren den selben Caravaggio im Met anschaut. Schon seinen Weg zum Bild fand ich lesenswert (vermutlich weil ich genau die gleichen Bilder mag oder nicht):
„Curators have long lamented how little time museum patrons spend in front of works; a 2001 study by the Met found the median viewing time to be only 17 seconds. And so I would love to say that I formed a conviction to make the Caravaggio my pilgrimage site in order to nobly embody the pre-Internet virtues of long looking, of allowing meaning to accrue over time. The truth is that my job as an art reporter takes me to the Met with great (and pleasing) regularity, and every time I make my way through the European galleries, I seem to end up passing the painting and stopping short in front of its pile of shadows.
Eventually I came to remember exactly where the painting was, and after an interview, before heading to the subway, I got into the habit of making a beeline for it, almost sheepishly, like somebody at a party snubbing all the guests except the one he really wants to talk to. I’d shoot painfully past Hans Memling, one of my favorites, past Bosch and past Bruegel’s stout harvesters, eternally eating their lunchtime porridge. I’d hang a left at van Dyck’s foppish blond duke, ignore Rubens altogether, and by the time I got to Guercino’s Samson and his gloriously torqued back, I’d know I was almost there.“
Der Bruegel hängt da übrigens immer noch, der ist leider gerade nicht in Wien bei seinen Kumpels vom Jahreszeiten-Zyklus, nur so nebenbei. Kennedy verweist auch auf das wunderbare Buch Alte Meister von Thomas Bernard, das ich euch ebenfalls empfehlen kann.
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Ich begann den Artikel mit dem Hinweis auf Austin Kleons Newsletter. Daraus möchte ich noch schnell einen Eintrag vom Verfasser selbst zitieren: We are verbs, not nouns. Er beschreibt ein Interview mit Stephen Fry, in dem dieser die folgenden schlauen Sätze sagte:
„Oscar Wilde said that if you know what you want to be, then you inevitably become it – that is your punishment, but if you never know, then you can be anything. There is a truth to that. We are not nouns, we are verbs. I am not a thing – an actor, a writer – I am a person who does things – I write, I act – and I never know what I am going to do next. I think you can be imprisoned if you think of yourself as a noun.“
Das hat mich seltsam berührt, weil ich mich sofort über mein Schreiben definieren konnte, aber auch sofort wusste, wie oft sich dieses Schreiben geändert hat. Mir ist erst Mitte meiner Dreißiger aufgefallen, dass ich schon immer geschrieben habe. Ich habe als Kind bereits Tagebuch geführt, ohne es so zu nennen, ich habe halt immer irgendwo irgendwas hingeschrieben, bis ich mit 12 mein erstes Büchlein bekam, in das ich schrieb. Eine meiner deutlichsten Kindheitserinnerungen ist eine Szene, wie ich mit dem Fahrrad von Oma zurück nach Hause fahre und dabei über die Blumen am Weg nachdenke. Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wie ich über sie nachdachte, weil ich wusste, dass ich genau diese Gedanken danach aufschreiben wollte – was ich auch tat.
Ich habe mir den Eintrag gerade durchgelesen, weil ich aus ihm zitieren wollte, aber den verschweige ich der Nachwelt besser. Ähem. Immerhin kommt direkt nach dem arg simplen Vergleich von schönen Blumen und schlichten Menschen noch eine knallharte Analyse zu Ingeborg Bachmanns Gedicht Herbstmanöver: „Es ist einfach irre!“
Mir ist beim Tagebuchlesen eben auch bewusst aufgefallen, dass ich recht früh damit begonnen habe, mir über Dinge klar zu werden, indem ich sie aufschreibe – so wie ich das heute noch mache. Ich erwähnte das im Blog vermutlich schon mal: Ich habe Schreiben nie als ein Talent oder sogar als eine Grundlage für einen Beruf gesehen, einfach weil ich es schon immer gemacht habe. Ich war also schon immer ein Verb – „schreibend“ statt „Schriftstellerin“, als was ich mich nie bezeichnet habe – , bevor ich eine Journalistin wurde, eine Bloggerin, eine Werbetexterin, eine Buchautorin, eine Kunsthistorikerin (wenigstens für zwei Kataloge).
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Nachtrag: Tagebuch Samstag, 10. November 2018 – Vier Ausstellungen und ein Todesfall (meine Füße)
Im mumok waren wir noch nie, daher suchten wir uns im Vorfeld eine Ausstellung raus, die wir anschauen wollten – und lungerten dann ungefähr fünf Stunden im Haus rum und besahen uns im Endeffekt jedes Stockwerk. So kann’s gehen, wenn Ausstellungen Spaß machen. (Oder man sie einfach recht schnell durchschreitet. Ähem.)
Eigentlich wollten wir zu Doppelleben, begannen aber einfach mal im Untergeschoss bei 55 Dates, denn das klang für mich spannend: „Die Ausstellung präsentiert eine Mischung aus Bekanntem und weniger Bekanntem, zeigt Künstler_innen, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind, sowie andere, die es noch zu entdecken gilt. In der unkonventionellen Ausstellungsgestaltung des österreichischen Künstler Hans Schabus ermöglicht 55 Dates Lesarten jenseits konventioneller Erwartungshaltungen an eine lexikalische Überblickssammlung zum 20. und 21. Jahrhundert.“ Oder anders: Das mumok hat einfach mal 55 seiner Werke auf Bauzäune anstatt an edle Stellwände gehängt bzw. mitten in den Raum gestellt und lässt uns als Publikum ohne Absperrseile durchlaufen. Das hätte genauso beliebig werden können wie die olle Spitzmausmumie von Wes Anderson, über die ich gestern nörgelte, war aber stattdessen meiner Meinung nach eine schöne Punktlandung.
An den ersten Werken schlenderte ich noch etwas zweifelnd vorbei: Cosima von Bonins Stofftiere mochte ich zwar gerne, konnte aber nicht so recht etwas mit ihnen anfangen. Die Bilderserie Wiener Spaziergang von Günter Brus kannte ich teilweise schon, aber eigentlich guckte ich gar nicht so richtig hin, sondern im ganzen Raum herum, denn auch das fand ich spannend: Man konnte durch die Gitterwände eben fast die ganze Austellung sehen und schlängelte sich nicht unwissend von Raum zu Raum. Eine große Halle mit einer einzigen festen Stellwand in der Mitte, die von beiden Seiten behängt war, ansonsten nur Gitterzäune und halt viel Kunst. Ich mochte das sehr.
Nach den Stofftieren und den Fotos stand ich vor einem groben Podest aus Holzpaletten und Metall, auf dem vier Skulpturen, unter anderem von Dieter Roth standen. Am Bauzaun nebenan lehnte eine verkohlte Holztür von Beuys, auf der anderen Seite hingen lässig ein paar Warhols. Auf meiner jetzigen Seite hing allerdings eine Fotocollage von jemandem, den ich bisher noch nicht kannte. Bzw. die ich bisher noch nicht kannte, was mir aber auch erst F. in der Wikipedia vorlas. Friedl Dicker-Brandeis‘ Collage So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt von 1933 ruiniert einem ziemlich den Tag, weckt aber auch gut auf. Der Text über der Collage ist auch auf der mumok-Seite (neben weiteren Beschreibungen) lesbar:
„So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt,
Da wirst du hineingeboren,
Da gibt es welche, zum Scheren bestellt
Und welche, die werden geschoren.
So sieht es aus, mein Kind, in der Welt
In unsern und andern Ländern,
Und wenn dir, mein Kind, diese Welt nicht gefällt,
Dann musst du sie eben ändern.“
Das klingt jetzt vielleicht arg zusammenhangslos, obwohl beim Entstehungsdatum 1933 klar ist, worum’s geht, und die Bildbeschriftung auch schlicht erwähnt, dass Dicker-Brandeis 1944 in Auschwitz starb (ich übersetze mal: ermordet wurde), was dann endgültig jede gute Laune vertreibt. Ich erwähne das Werk nur deshalb so explizit, weil es gut in den restlichen Wien-Aufenthalt passte. Am Sonntag hörten F. und ich eine Lesung mit Texten zum Ende des Ersten Weltkriegs und was wir heute noch davon mitnehmen können. Seitdem trage ich den Satz „Hoch die Republik“ mit mir herum, und das mag man total albern finden, aber ich habe mich selten so in meinem bürgerlichen Verfassungspatriotismus bestätigt gefühlt wie in den letzten Tagen (und Monaten), in denen ich geistig ständig in irgendwelchen Nachkriegs- oder NS-Zeiten rumgehangen habe. Sich ab und zu mal zu vergewissern, wie großartig Demokratie und eine Republik sind, tat ganz gut. Ich kartoffeldrucke mir den Satz jetzt auf ein Shirt, ich kriege den echt nicht mehr aus dem Kopf.
(Kleiner Einschub: der New Yorker erklärt unter anderem Herrn Trump den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus.)
Der Bogen zur Kunst zurück: Ich fand es äußerst spannend, diese politische Kunst fast direkt neben Roths Quick-Wurst oder Geschichte zu sehen. Zu sehen, welche Art politische Kunst möglich ist oder möglich sein musste oder irgendwann aus politischen Gründen eben nicht mehr möglich war. Diese wenigen Meter Luftlinie zwischen einem Werk von 1933 und zweien von 1968 haben meinen Kopf schön aufgeschraubt.
Dann schlenderte ich an der mittigen Stellwand entlang, die im Bild 1 zum Ausstellungslink gut zu sehen ist, wobei bei unserem Besuch ein Bild fehlte, wenn ich mich richtig erinnere. Aber auch so: Was für eine Kombi! Ed Paschkes schrille Jeanine (1973) hängt neben Maria Lassnigs introspektivem Pfingstselbstporträt (1969), dann kommt ein Picasso, an dem ich einfach vorbeigegangen bin, kennste einen, kennste alle (ich übertreibe, sorry, Pablo), dann kam der abstrakte Rote Turm von Johannes Itten (1917/18), dazu passte ein futuristischer Balla von 1914, und schließlich hatte mich die Ausstellung total im Sack mit den beiden letzten Werken der Wand: zunächst Kupkas Nocturne (1910/11), das aus blauen Farbflächen besteht – und dann das Bild Tina im Kupkakleid und ich mit Pinsel (2017) von Ashley Hans Scheirl. Das Kupkakleid ist genau das, wonach es sich anhört: ein Kleid, das mit ähnlichen blauen Farbflächen gestaltet ist wie das Bild, das direkt neben diesem Bild hängt. So simpel, so toll.
Einschub: Freut ihr euch eigentlich auch so darüber, dass ihr die ganzen Bilder sehen könnt, weil das mumok sie tollerweise auf seiner Website hat? Ansonsten lege ich euch den kleinen Katalog ans Herz, der kostet nur 15 Euro und wiegt auch nix. Das freut den Touri. Einschub Ende.
Nach der langen Wand schlenderte ich an Konzeptkunst vorbei und freute mich über alles, weil einfach alles Spaß machte. Die Kombinationen ließen jedes Werk für sich leuchten, keins überstrahlte ein anderes, und alle ergänzten sich lustigerweise, auch wenn sie in ihrer Entstehungszeit 50 Jahre auseinanderlagen. Das fiel mir besonders auf der Rückseite der eben angesprochenen Wand auf. Dort hatte ich vorher nicht die ganze Seite überblickt, sondern brav mit dem ersten Bild links angefangen (Bild 3 zeigt die Raumsituation gut). Ich sah also einen Delaunay von 1936, den ich aber in seiner grafischen Schlichtheit im Kopf in die 60er Jahre packte, dann kam Niki de Saint-Phalle von 1961, passte, aber dann ein Bild, das mich an die klassische Moderne erinnerte, und mein Kopf fragte sich, ob da ein Künstler aus den 60ern einen bewussten Rückgriff gemacht hatte, wie lustig, oh, direkt daneben hängt ein Jasper Johns, Ende 60er, wer war denn der schlaue Rückgreifer? War natürlich keiner: Gerstls Porträt der Familie Schönberg ist von 1908, und ich bin fett in die kleine kunsthistorische Falle gelaufen, die ich mir selber aufgestellt hatte.
Das meinte ich gestern beim Meckern über Anderson: Er stellte in seinen großen Setzkästen nirgends solche Fallen auf, er brachte nie zum Stolpern oder Innehalten. Hier war ich dauernd damit beschäftigt, mein eigenes Wissen zu überprüfen oder neu zusammenzusetzen oder einfach beglückt festzustellen, dass man die ganze Kunstgeschichte auch anders präsentieren kann als nach Schulen, Ländern, Stilen oder Zeiten geordnet. Spontan möchte ich jetzt eine Ausstellung haben von Künstlerinnen, die mit F anfangen, denn ich ahne, dass selbst so eine komplett sinnfreie Katalogisierung Überraschungen bereithält bzw. Kunstgeschichte aus einem anderen Blickwinkel zeigt. Wobei die Hängung hier alles andere als sinnlos war. Die Depotsituation nimmt der Kunst nichts von ihrer Aura und sie erzeugt Kontext auf kleinstem Raum – man kapiert kunsthistorische Positionen, ohne durch 70 Ausstellungen rennen zu müssen. Tolles Ding.
Ich erspare euch den weiteren Rundgang, der Blogeintrag wird eh schon wieder zu lang, aber das wäre für meine Wiener Timeline ein dringender Ausstellungstipp. Man kann in einer Stunde durchhuschen, hat viel zu gucken, und das Ganze läuft netterweise noch bis Februar.
PS: Louise Lawler <3
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Ein Stockwerk höher hängt ebenfalls bis Februar die Fotoausstellung Photo/Politics/Austria, deren Plakat uns schon draußen am modernen Gebäude angefixt hatte. Simple Idee: Für jedes Jahr von 1918 bis 2018 ein Foto aus der Nationalbibliothek oder einem der Archive, ein kurzer Text, vielleicht noch ein bisschen Kontext in Form von Plakaten, Büchern oder Zeug dazu, und das war’s. Die Bilder waren thematisch sehr breit gefächert, nicht nur politische Ereignisse, sondern auch kulturelle von Sissi bis Falco waren dabei, es gab Werbung oder Aufregung, und F. und ich mussten einiges aus der österreichischen Geschichte nachgoogeln, denn so bewandert waren wir dann doch nicht, wie wir etwas nölig feststellen. (Ich freute mich, dass ich mir aus Philipp Bloms Buch den Justizpalastbrand von 1927 gemerkt hatte.) Beim Googeln merkten wir immerhin, dass es im mumok WLAN gab, wie es sich gehört und wie sich das deutsche Museen bitte bitte bitte endlich auch einmal anschaffen mögen.
Ich mache diese Ausstellungsbesprechung ganz kurz und gehe nur auf ein Foto ein: Heimkehrer (1947) von Ernst Haas, auf dessen Site gleich das erste Bild der Vienna-Reihe. Wenn man im mumok die Bilderreihe chronologisch abschreitet, geht man logischerweise durch das ganze beknackte Jahrhundert, man gleitet so eklig in die NS-Zeit rein, plötzlich sind da die Hakenkreuze, ich sah einige Bilder, die mich an meine Dissertation erinnern, und dann ist es auf einmal 1947 und aus der großen Politik werden wieder kleine Menschen wie diese Mutter auf dem Bild, die einem vermutlich völlig Fremden das Bild ihres Sohnes (?) vor die Nase hält, ob er ihn vielleicht kennen würde. Ich habe eine leise Ahnung, warum dieses Bild mich komplett geschmissen hat; mir stiegen im Museum ernsthaft die Tränen in die Augen, und auch jetzt beim Bloggen, wofür ich mir das Bild nochmal angeschaut habe, muss ich mal kurz zum Taschentuch greifen. Ich spare mir jetzt jede brave kunsthistorisch sinnvolle Bildbeschreibung. Guckt euch einfach das Bild mit seinen vielen Ebenen an.
(Hoch die Republik.)
Das Bild von 2018 war übrigens ein iPhone, auf dem Instagram zu sehen war, das fand ich einen cleveren Rausschmeißer, so nach dem Motto, jetzt macht ihr doch mal Bilder. Kennengelernt: die Pressofotografin Barbara Pflaum, die quasi die halbe Fotoleiste von den 50ern bis in die 70er bestritt.
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Nach den zwei intensiven Ausstellungen brauchten wir ein bisschen Pause und setzten uns ins winzige Museumscafé, wo ich, wie immer in den Tagen in Wien, Sachertorte aß. Danach versuchte ich ein zweites Mal nach dem Stockwerk mit den Schließfächern, ins Damenklo zu kommen, aber auch auf diesem Stockwerk gab es gerade eine Kabine und die war besetzt. Auf dem Schild am Fahrstuhl hatte ich aber gesehen, dass im Stockwerk bei der Ausstellung von Ute Müller ein Kloschild war, weswegen wir uns dorthin tragen ließen. Im gläsernen Aufzug, bei dem ich mich die ganze Zeit festhielt und mir einen Katalog vor die Augen hielt. Dazu passen auch die Übergänge vom mittig platzierten Fahrstuhl nach rechts und links in die Ausstellungsräume bzw. die Treppenhäuser: ein milchig-halbtransparenter Gitterboden, auf dem ich meine Schritte sehr beschleunigte, um wieder von ihm runterzukommen. Architektur, die Menschen hasst. Jedenfalls die mit wackeligen Füßen oder Höhenangst.
Im Müller-Stockwerk (das zweite von unten) scheint das Hauptklo zu sein (Tipp für alle Touris), da war Platz und Ruhe und ich konnte die Melange loswerden, die ich zur Sachertorte genossen hatte. Und wenn man schon mal da ist, guckt man sich halt auch an, was Frau Müller so gemacht hat. Gefiel mir gut. Ich habe nicht wirklich über ihre raumfüllende Installation nachgedacht, fand sie aber schön. Kopf war noch in der Pause. Sachertorteundmelange-Speicher gingen schon wieder zur Neige.
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In den beiden obersten Stockwerken blieben wir ähnlich kurz, denn in der Ausstellung Klassentreffen standen und hingen diverse Werke aus einer Privatsammlung herum, die uns nicht ganz so begeistern konnten. Ich entdeckte allerdings Silke Otto-Knapp für mich und lachte sehr über das Real Painting (for Aunt Cora), 2013, von John Baldessari und Meg Cranston.
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Und dann kam die Ausstellung, wegen der wir eigentlich hier waren: Doppelleben. Ich zitiere von der Website: „Die Ausstellung Doppelleben rückt bildende Künstler_innen in den Fokus, die Musik geschrieben, produziert oder öffentlich aufgeführt haben beziehungsweise Mitglieder von Künstler_innenbands waren oder sind.“ Das sah dann so aus:
In insgesamt drei großen Räumen auf zwei Stockwerken hingen in verschiedener Höhe Leinwände, auf die Videos projiziert wurden. Vor jedem Video hingen zwei Kopfhörer von der Decke, netterweise mit einem Pfeil auf dem Fußboden, der in die Richtung des jeweiligen Videos zeigte. Das war manchmal wirklich nötig, weil alles kreuz und quer ausgerichtet war, was aber für ein spannendes Raumgefühl sorgte. Es fühlte sich schlicht nicht ganz so kreuzbrav museal an. Ich hätte allerdings gerne ein paar kreuzbrave Bänke oder Sitzgelegenheiten gehabt (die Faltstühle an der Wand entdeckte ich deutlich zu spät). Ich hatte kein Programm oder ein bestimmtes Video, was ich sehen wollte, ich guckte einfach das, was da war. Vielleicht war Laibach nicht unbedingt der beste Einstieg, gerade wenn man an mein Geheule beim Foto denkt, aber nun gut. Laibach halt.
Als ich vor Laibach stand, musste ich immer auf eine Leinwand gucken, die weiter weg war, weil mir die Laibach-Bilder so auf den Zeiger gingen. Deswegen hörte ich danach auch das lustige Lied von Trabant gerne an, dessen Bilder ich durch den ganzen Raum gesehen hatte. Link geht zur Ausstellungswebsite, die auch auf den gefühlt hundertfach ausliegenden iPads voreingestellt war.
Viele längere Videos guckte ich nur in Ausschnitten, klassische Musik, Jazz, Die tödliche Doris, Laurie Anderson, und bei dem 47-minütigen von Alva Noto notierte ich mir beim Zuhören den Künstlernamen und hörte dessen faszinierende, elektronische Musik im Zug auf der Rückfahrt nach München.
Bei den 80 Minuten von Hanne Darboven hätte ich wirklich gerne eine Sitzgelegenheit gehabt, denn das Ding war total hypnotisch. Ich glaube, ich hörte zehn Minuten zu, aber dann musste ich mich dringend bewegen. (File under: warum Stehplätze in der Oper nix für mich sind und wie ich Leute bewundere, die Wagner stehend gucken.) Was ich faszinierend fand: Die Komposition hört sich wirklich an wie das Bildwerk von Darboven. Toll. Und seltsam. Toll seltsam.
Mein persönlicher Rausschmeißer war John Cage, mit dessen Water Walk (1960) das Publikum anscheinend noch nicht so recht etwas anzufangen wusste. Die Quietscheente!
Ich schaffte es so gerade noch ins Hotel zurück, wo ich dringend meine Museumsfüßchen ausruhen musste. Abends rafften wir uns noch zu einem Schnitzel auf (was sonst) und bestaunten dann beim Verdauungsspaziergang die Ankeruhr, von der ich vorher noch nie gehört hatte, nun aber dringend stehenbleiben musste (schon wieder stehen!), um den Figuren beim Weiterrücken zuzugucken.
Die Uhr ist übrigens direkt am Vermählungsbrunnen, den gerade ein interessantes Graffiti ziert.
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Nachtrag: Tagebuch Freitag, 9. November 2018 – Bruegel, Spitzmaus, Merchandise
Wir logierten in Wien für ein paar Tage im gleichen Hotel wie vor gut zwei Jahren, als die Albertina mich eingeladen hatte. Ich hatte mir gemerkt, dass es recht zentral lag, man zu Fuß zu den wichtigen Museen kommt und dass das Frühstücksbuffett keinen Wunsch offen ließ. Ich hatte allerdings vergessen, wie warm die Bettdecken sind und dass es in einem sehr alten Bauwerk nie Steckdosen am Nachttisch gibt. Da ich Matschbirne aber mein iPhone-Ladedings eh vergessen hatte, brauchten wir nur die eine (!) Steckdose, die am Schreibtisch frei war. Für weitere Stecker wie zum Beispiel fürs Macbook stöpselte ich die Schreibtisch- oder die Stehlampe am anderen Ende des Zimmers aus. F. bestaunte die Deckenhöhe und bedauerte, sein Lasermessgerät nicht mitgebracht zu haben. So mussten wir schätzen und einigten uns auf „auf jeden Fall höher als vier Meter“.
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Im Kunsthistorischen Museum läuft noch bis Januar eine Bruegel-Ausstellung, die anscheinend eine kleine Sensation ist, ich zitiere aus dem Link:
„Because Bruegel was only in his forties at the time of his death, there are only about 40 paintings, 60 drawings, and 80 prints known to be by his hand. His works on panel are the most rare and the most celebrated, so museums lucky enough to own one are loathe to part with them. […]
Believe it or not, this is the first time a museum has managed to organize a monographic exhibition of the Dutch artist—and the show also marks the 450th anniversary of the Old Master’s death! It’s not that no one has tried, either: A half century ago, a planned exhibition marking 400 years since Bruegel’s death was cancelled when the necessary loans could not be secured. […]
Remarkably, the Kunsthistorisches has brought together almost three quarters of the artist’s extant works, with about 90 in total spanning the full length of his career. Some of the pieces on loan for the occasion have never left their home institutions, so it’s easy to understand why no one has been able to pull off a major Bruegel show before.“
Ich hatte beim letzten Besuch die drei Bruegels bestaunt, die an den Wänden hingen, durfte aber am vergangenen Freitag feststellen, dass das KHM noch deutlich mehr als die drei in seinem Besitz hat; der zitierte Artikel nennt zwölf Bilder von Pieter Bruegel dem Älteren, womit das KHM die meisten Ölbilder dieses Malers weltweit besitzt. Vor einem stand ich ewig, nachdem ich ebenso ewig warten musste, bis ich endlich in der ersten Reihe angekommen war. Die Ausstellung hat festgelegte Einlasszeiten, damit es nicht so irre überlaufen ist, aber es ist natürlich trotzdem sehr voll. Und es passiert das, was bei allen Blockbustern passiert: Man steht hinter Leuten, die gleichzeitig dem Audioguide zuhören und versuchen, ein sinnloses Foto vom Bild zu machen. Ich möchte ihnen immer zuraunen, dass die Dinger 400 Jahre alt und damit total gemeinfrei sind und dass man alle Werke per Google vermutlich in deutlich besserer Qualität findet als sie das wackelige Digifoto hergibt, das sie gerade versuchen zu machen. Mein liebster Hasskunde, der sich auch genau vor dem Bild befand, das ich so lange bestaunte, guckte sich das Werk nicht mal an, sondern hörte dem Audioguide zu, während er sich im ganzen Raum umschaute und in der ersten Reihe mit dem Rücken zum Bild stand.
Aber irgendwann war der Typ dann weg und auch der alte Rollstuhlfahrer, der einem einfach über die Füße fuhr, um nach vorne zu kommen, war weitergezogen, und ich stand endlich mittig vor der Kreuztragung Christi (1564), die ich seit Minuten von der rechten Seite aus schräg bewundert hatte. Dort war mir die trauernde Maria als erstes aufgefallen, ich bestaunte die Kleidermassen der Dame im roten Umhang, wunderte mich über den Tierschädel, dachte dann aber, ach, beim Bruegel liegt ja immer viel rum, und guckte dann erst weiter. Als nächstes fiel mir die Windmühle in der Bildmitte auf, die sinnlos auf einer schmalen Felsnadel hockte, und zu der mein Blick immer wieder zurückging, weil es so irrwitzig aussah. Erst dann fiel mir der kreuztragende Christus inmitten einer Menschenmenge auf. Ich hatte den Bildtitel nicht lesen können und kannte das Bild auch nicht, daher wusste ich überhaupt nicht, auf was ich schaue, aber jetzt ahnte ich, worum es ging, nachdem ich zunächst davon ausgegangen war, dass ich eine Szene betrachte, die nach der Kreuzigung stattfand, daher die trauernde Maria. Wie ich nachher aus dem Katalog erfuhr, trauerte die Mutter aber schon während des Kreuzwegs: „[A]ußerbiblische Quellen“ berichten, dass Maria „beim Anblick ihres Sohnens bewusstlos geworden“ sei. (Quelle: Bruegel – Die Hand des Meisters. Kunsthistorisches Museum Wien, Oktober 2018 bis Januar 2019, Brügge 2018, S. 197.)
Ich begann den Rest des Bildes nach Hinweisen abzusuchen: Ah, da rechts sind die aufgerichteten Kreuze, ganz hinten im Bild steht auch noch ein Galgen, und was sind diese Räder auf Stangen? Sind das auch Folterinstrumente? (Natürlich.) Ich verlor mich wie immer bei Bruegel in den vielen Details, der dunstigen Stadt, den Menschen, die Jesus begleiten, verspotten oder ihm helfen, bewunderte die Pflanzen im Vordergrund und die Wolken im Hintergrund und konnte mich überhaupt nicht von diesem Bild trennen. Das KHM instagrammte eine Raumansicht und die vermittelt ganz gut, warum ich mich nicht davon trennen konnte. Das dunkle Raumlicht ließ das Bild geradezu strahlen.
Neben mir war übrigens der einzige Mensch in der ganzen Ausstellung, der genauso still vor dem Bild stand wie ich. Keine Ahnung, ob der Herr vom Fach war oder einfach ein Riesen-Bruegel-Fan, aber er schaute einfach nur, minutenlang, konzentriert, ging vermutlich wie ich das Bild mit den Augen in Abschnitten ab, beugte sich leicht vor, um genauer hinschauen zu können. So ungefähr gucke ich auch, wenn mir ein Bild gefällt bzw. es mich interessiert. Wenn ich auch vermutlich in den nächsten Jahren alles vergessen werde, was ich im Studium gelernt habe – wie man guckt, merke ich mir, denn das mache ich inzwischen automatisch. Das hört sich vielleicht blöd an, aber manchmal ist man ja gerne überfordert, gerade bei so detailreichen Bildern wie die von Bruegel.
Ich freue mich sehr darüber, dass das Wort „Wimmelbild“ Einzug in die kunsthistorische Literatur findet. (Ausstellungsführer Bruegel im @KhmWien) pic.twitter.com/9a1vKQg4Nh
— Anke Gröner (@ankegroener) 9. November 2018
Also fängt man einfach in einer Ecke an zu gucken und beschreibt sich ganz simpel selbst, was man sieht. So wie ich hier eben mit der trauernden Frau in der unteren Ecke angefangen habe. Das weiß ich inzwischen, dass das Maria ist, aber selbst wenn man das nicht weiß, kann man damit weiterstöbern: Warum weint die Frau? Was könnte passiert sein? Sehe ich das irgendwo im Bild? So kann man übrigens auch abstrakte Bilder anschauen: einfach in irgendeiner Ecke anfangen. Linien folgen, Formen oder Farben suchen, was auch immer. Ich brauche immer irgendetwas zum Festhalten; bei gegenständlicher Darstellung sind das gerne Personen, bei abstrakten Bildern ein Detail, von dem ich mich weiter vorwage.
Zurück zum Bruegel. Ich kann euch gar nicht alle Bilder aufzählen, die mich so begeistert haben. Es war großartig, beide Darstellungen des Turmbau zu Babel in einem Raum zu sehen; den Wiener Turm kannte ich ja bereits vom letzten Besuch, den Rotterdamer nur von Bildern. Alleine für den lohnt sich die Ausstellung. Er ist im Original deutlich bedrohlicher und düsterer als in den lustig-bunten Abbildungen. Und wie einem der Katalog verrät und was mir wirklich nicht aufgefallen ist: Er ist komplett von Menschenhand gebaut, während der Wiener Turm aus einem riesigen Felsen herausgeschlagen wird. So oberflächlich kann ich nämlich auch gucken, dass mir ein derartig wichtiges und eigentlich offensichtliches Detail entgeht.
Bei einigen Bildern konnte ich an Dinge anlegen, die ich im Lieblingsmuseum, dem Prado, gelernt hatte. Bei der Anbetung der Könige (1564) entdeckte ich nämlich Kleidungsdetails am schwarzen König, die ich schon bei einer Bosch-Darstellung in Madrid gesehen hatte. Auch bei der Dulle Griet findet man diverse Bosch-Zitate. Die Anbetung der Könige fand ich auch noch aus anderen Gründen spannend: Die Könige sehen alle ziemlich runtergerockt aus anstatt majestätisch, und im Hintergrund stehen nicht die üblichen Bauern oder Hirten, sondern Soldaten mit Lanzen und Hellebarden. Der Katalog fasst das Gefühl gut zusammen, was man vor diesem Bild hat: „In ihrer Gesamtheit verleihen all diese Details dem Werk etwas zutiefst Verstörendes, ein bis dato in der niederländischen Kunst bei der Darstellung der Anbetung der Könige nicht gekanntes Gefühl von Bedrohung.“ (Kat. Ausst. Wien 2018, S. 191.)
Direkt neben dieser Darstellung hing übrigens eine weitere, Die Anbetung der drei Könige im Schnee (1563, nicht 1567, wie die Wikipedia behauptet; das Bild wurde von Bruegel datiert, was aber, laut Katalog, erst vor Kurzem entziffert wurde). Wieder war die Szene nach Flandern verlegt worden, und auch hier musste man die titelgebenden Menschen erstmal suchen. Sie kauern sich links unten an den Bildrand und sind kaum zu sehen durch die dicken Schneeflocken. Der kleine Ausstellungsführer, den ich im obenstehenden Tweet erwähnte, meint, dieses Bild könne eine der ersten Darstellungen von fallendem Schnee gewesen sein.
Etwas ganz Besonderes waren die vier Tafeln zu den Jahreszeiten. Der einzige gesicherte Gemäldezyklus Bruegels entstand 1565 und besteht aus sechs Bildern (darunter Vorfrühling, Frühling, Frühsommer und Hochsommer). Der Frühling ist seit längerer Zeit verschollen und wir wissen nicht, was abgebildet war. Im Katalog lernte ich, dass dieser Zyklus vermutlich mal ein größeres Zimmer geziert hatte – allerdings nur für fünf Jahre, dann wurde er schon wieder auseinandergerissen. Wir sehen diese Bilder zum ersten Mal seit 350 Jahren im Zusammenhang, wie die Website erklärt.
Ein bisschen stinkig bin ich auf die Alte Pinakothek, denn die hat das bekannte Schlaraffenland nicht für die Ausstellung rausgerückt, dabei hätte es so schön in den letzten Saal gepasst, wo auch die Bauernhochzeit hängt. Und: der Bauerntanz, den ich noch nicht kannte und den ich großartig fand. Die Bewegungungen des Paares vorne rechts, das flatternde Kleid der Frau, der Gesichtsausdruck der beiden! Die Kinder vorne links, die trinkenden Menschen. Es sieht auf den ersten Blick – gerade im viel zu dunklen Link – alles sehr grobschlächtig aus, aber wenn man länger hinschaut, fällt einem die schlichte Freude auf, die das Bild trägt. Ich fand es generell spannend, dass Bruegel diesen einfachen Darstellungen ein ordentliches Großformat gönnte; der Bauerntanz ist 114 x 164 cm groß. Dass ein einfaches Volksvergnügen im gleichen Format dargestellt wird wie die Anbetung des Jesuskinds, fand ich bemerkenswert.
An den Grafiken und Stichen bin ich eher vorbeigegangen, ich wollte nur die Gemälde sehen, Druckgrafik ist so gar nicht meins. Ja, ich habe bestimmt was versäumt, aber ich kann eh nie alles gucken, also gucke ich das, was ich wirklich anschauen möchte und nicht das, was ich irgendwie anschauen sollte, weil es halt da ist. Und genau das habe ich dann auch gemacht. Man kommt mit einem sehr satten, zufriedenen Gefühl wieder aus den vielen Räumen – und landet natürlich sofort im Museumsshop, den ich dort noch eilig durchschritt. Unten im regulären Shop war ich länger, ich komme gleich darauf zurück.
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Denn wir hatten ja noch eine Ausstellung vor uns. Die war eher ein Goodie, weil die Eintrittskarte fürs ganze Haus galt und nicht nur für den Blockbuster. Nach Bruegel gingen wir relativ zügig durch den Rest des Museums, das ich ja schon kannte, aber hey, gerade Lorenzo Lotto kann man sich ja immer angucken. Dann schritten wir die breite Prachttreppe hinab zu Spitzmaus Mummy in a Coffin and Other Treasures, eine kleine Ausstellung, die von Wes Anderson und seiner Partnerin, der Autorin und Illustratorin Juman Malouf, kuratiert wurde.
Mir war das Ding von Anfang an egal, weil mir auch die meisten Filme Andersons egal sind – der einzige, den ich durchgehalten habe, war Grand Budapest Hotel. Das Publikum war ein sehr anderes als das bei Bruegel – deutlich jünger, mehr Wollmützen – und ich ahne, dass auch das ein Grund dafür gewesen war, den beiden die Schlüssel für die Depots in die Hände zu drücken. Das macht das Endergebnis aber nicht besser.
Anderson und Malouf haben meiner Meinung nach rein auf Ästhetik hin kuratiert. Sie werfen wild Objekte aus allen Sammlungen des KHM sowie des Naturhistorischen Museum durcheinander und nichts ist beschriftet. Die acht Räume haben meist ein leicht erkennbares Thema (Kinder als Erwachsene; Tierdarstellungen; Menschenfiguren; die Farbe Grün usw.), sind aber in sich eine sinnlose Wunderkammer. Nein, nicht mal das: Die Wunderkammern des Barock – mit einem Bild einer solchen beginnt die Ausstellung – hatten als Ziel einen Erkenntnisgewinn und waren zudem meist thematisch geordnet bzw. beschränkten sich in Bereichen auf Exponate eines Typs; sie warfen nicht wild bildende Kunst, Kunsthandwerk, ausgestopfte Tiere und Kleidungsstücke durcheinander. Genau das machen Anderson und Malouf und verlieren damit jeden Kontext, den die ausgestellten Dinge haben. Die Ausstellung wird dadurch total beliebig und verkommt zur reinen Oberfläche. Das ist alles hübsch, was da rumsteht und das ist auch ebenso hübsch kombiniert und ergibt ein schönes Gesamtbild, aber eben nichts weiter als das. Es kommt keinerlei Spannung auf, es gibt keine Brüche, es macht nichts neugierig. Man läuft mit einem Folder durch die Gegend, auf dem die einzelnen Exponate immerhin namentlich genannt werden (plus Herkunft und Alter), aber nach dreimaligem Nachschauen hatte ich schon keine Lust mehr. Man konnte nirgends weiterdenken, weil alles so hübsch zusammengesetzt wurde und irgendwie fertig aussah. Man konnte sich an nichts reiben, nichts hinterfragen, man stand rum und fand’s niedlich, aber den Effekt kriegt man auch mit einem Teddybär und einem warmen Kakao hin. Die Ausstellung könnt ihr euch meiner Meinung nach getrost schenken.
Die NYT fand’s auch doof, aber im Artikel könnt ihr ein paar Bilder sehen. Und wenn ihr euch bis morgen geduldet, wo (hoffentlich) ein Blogeintrag zu einer anderen Ausstellung kommt, die ebenso wild durcheinanderwürfelt, aber so, dass man was davon hat, werdet ihr Andersons und Maloufs Versuch noch alberner finden.
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Eher unbeeindruckt verließen wir die Ausstellung, die keine war, und gingen zum Museumsshop. Nach längerem Nachdenken wollte ich nämlich doch den Bruegel-Katalog erstehen, den ich oben nicht gekauft hatte. Im Shop stellte ich fest, dass die Merchandise-Menschen wirklich ganze Arbeit geleistet und so ziemlich alles mit Wimmelbildern oder ähnlichem bedruckt oder ausgestattet hatten, was nicht weglaufen konnte. Manchmal war das ziemlich klasse: So gab es Servietten, auf denen der Bildausschnitt aus der Bauernhochzeit abgedruckt war, in dem zwei Männer die vielen Suppenschüsseln tragen. Leider zu klein, sonst hätte ich sie gekauft, einfach weil es so clever war: eine Schneekugel, in der ein Bilddetail aus Jäger im Schnee den Unter- und Hintergrund bildete. Die üblichen Bleistifte, Taschen, Tassen, Kissenhüllen. Und dann etwas, bei dem mir fast ein Entsetzensschrei entfuhr: zwei Bruegel-Bären, die mit Motiven Jäger im Schnee und Kinderspiele bedruckt waren.
Mal abgesehen davon, dass die Bären bescheuert aussehen, weil es scheint, als hätte man einfach eine Farbwalze über sie rollen lassen, ohne darauf zu achten, wo jetzt Farbe oder Motiv landen – der Bär ist der gleiche, den ich als Van-Gogh-Bär im Schlafzimmer sitzen habe! (Hier das zweite Bild von oben.) Mein toller Mandelblütenbär ist nur ein variables Massenprodukt! Waaaahh!
Ich musste mich einen halben Tag lang beruhigen und viel Backhendl essen und Bier trinken, aber jetzt im Nachhinein bedauere ich es, nicht doch einen Bären mitgenommen zu haben. Ich könnte eine Sammlung von Museumsbärchen starten, die mit völlig beliebigen Werken bedruckt sind. Und dann kommt irgendwann ein lustiger Regisseur und stellt sie in neue Zusammenhänge. Okay, vielleicht nicht.
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Tagebuch Sonntag, 28. Oktober 2018 – „Ex Libris“
Gestern war für mich seit ewigen Zeiten mal wieder Kinotag. Um kurz nach 11 Uhr saß ich in den City-Kinos und schaute mir Ex Libris an, einen Dokumentarfilm über die New York Public Library (Trailer). Das Ding dauert fiese dreieinhalb Stunden, aber ich fand, das war gut verbrachte Zeit.
Bei mir hatte der Film von vornherein gewonnen, weil ich ein Fan von Bibliotheken bin. Ich kenne allerdings nur die alte Gemeindebibliothek, die ich als Kind leergelesen habe, und seit ein paar Jahren die vielen Unibibliotheken bzw. die Stabi, in denen ich zu wissenschaftlichen Zwecken sitze. Was die NYPL leistet, hat mich sehr oft überrascht. Ich wusste nicht, dass es dort Jobmessen gibt, Tanzstunden, Lesezirkel, Poetry Slams und Konzerte. Der Film kommt ohne jeden Kommentar aus, er zeigt einfach nur die überbordende Vielfalt, die die Bibliothek und ihre vielen Zweigstellen anbieten – und vor allem die Menschen, die all das benutzen. Im Trailer wird es angesprochen: „Viele Menschen glauben, Bibliotheken seien nur Lagerräume für Bücher.“ Das sind sie anscheinend nicht, obwohl ich schon sehr darüber gestolpert bin, dass man extrem selten Menschen Bücher lesen sieht, womit ich gerechnet hatte. Stattdessen sitzen Menschen vor Laptops, Tablets und Smartphones, vor Mikrofiche-Geräten, in Archiven, blättern Bilderberge durch oder digitalisieren Landkarten.
Ich gebe zu, beim fünften Schnitt zu einem der gefühlt dauernd stattfindenden Staff Meetings wurde ich ein bisschen ungeduldig, aber selbst die hatten natürlich immer eine Art Pointe für mich als Zuschauerin. Mal ging es schlicht um Budgetfragen, dann um den Umgang mit Obdachlosen, die schließlich auch zur community gehören und für die sei eine Bibliothek nun mal da, es ging um Lizenzen für eBooks, weil dort die Nachfrage viel höher sei als nach Papierbüchern und generell um die Digitalisierung. Es wurden auch einige Projekte angesprochen, die sich intern dafür einsetzten, Frauen oder Minderheiten zu fördern, wenn ich mir das richtig gemerkt habe. Das Fiese: Der Film wurde bereits 2015 gedreht, bevor er ab 2017 auf Festivals und ab 2018 auch in den Kinos gezeigt wurde. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie es dem Budget, das teilweise auch aus Bundesmitteln kommt, und diesen speziellen Projekten jetzt wohl geht, seitdem jemand Präsident ist, der gefühlt nicht mal den Teleprompter lesen kann – oder will. Einmal wurde ein Projekt der First Lady erwähnt, das sich mit mental health befasste – das dürfte jetzt vermutlich auch Geschichte sein.
Für mich spannend war die Kooperation mit der Gemeinde, um die ich mir noch nie Gedanken gemacht hatte. Es wurden Pakete für Lehrer*innen erwähnt, die von den Bibliotheken auf den Unterricht zugeschnitten wurden, so dass Kinder und Eltern damit arbeiten können (die Lehrer*innen sowieso). In einem Stadtteil wurden auf einmal viel mehr Mathebücher ausgeliehen als in anderen Teilen, weswegen jetzt überlegt wurde, aktiv auf Schulen zuzugehen, um zusammenzuarbeiten.
Generell fand ich es interessant zu sehen, welche Angebote da waren, die eher Lebenshilfe waren als Hilfe bei der Suche nach einem bestimmten Medium oder einer Information. Die Jobmesse hatte ich angesprochen, aber es gab auch Ausschnitte von Vorträgen über Hilfe für behinderte Menschen, besonders bei der Wohnungssuche. Es wurde Unterricht in Braille-Schreiben und -Lesen gezeigt. Menschen, die sich um fremdsprachige Besucher*innen kümmerten und teilweise Dinge wie USB-Sticks erklärten, während nebenan jemand einer Ahnenforscherin Anknüpfungspunkte zur Datenbank von Ellis Island vorschlägt. Es war schön zu sehen, wie nah hochspezialisiertes, akademisches Arbeiten am kindlichen Lesen- und Schreibenlernen ist, wo ein Mädchen mit einer Betreuerin an einem Lückentext überlegt, ob man nun Steine oder Fische in einer Tierhandlung kauft; beides findet in der gleichen Institution statt.
Im Abspann versuchte ich noch Namen zu entziffern, aber es gelang mir nicht bei allen. Einige Prominente bei Podiumsdiskussionen hatte ich erkannt, zum Beispiel Elvis Costello oder Te-Nehisi Coates, aber auch Patti Smith, die über Jean Genet sprach, bei dem ich sofort an Anselm Kiefer denken musste, der sich in einigen seiner Werke auf Genet bezieht, und schon fiel Kiefers Name, und nach dem Film musste ich dringend googeln, was Patti Smith 2015 für ein Buch geschrieben hat (M Train). Außerdem stellten zwei Akademiker Thesen oder Bücher vor, deren Namen ich in der IMDB nicht finden konnte, deren Bücher ich aber sofort lesen wollte. In einem Gespräch ging es um den Sklavenhandel im Senegal, in den auch der Klerus verwickelt wurde, der bisher von Sklavenhändlern verschont geblieben war. Google findet zwar nicht direkt ein Buch dazu, aber, noch besser, die Aufzeichnung des Gesprächs in der NYPL mit dem Historiker Rudolph Ware. Toll. Ein weiterer ungenannter Herr stellte ein Buch vor, in dem die Geschichte von Delis aufgearbeitet wurde und was diese für die jüdische Gemeinde von New York bedeutet haben. Immerhin das konnte ich herausfinden: Pastrami on Rye: An Overstuffed History of the Jewish Deli von Ted Merwin.
Das Rumgoogeln war zwar lehrreich, aber das wäre mein einziger Kritikpunkt am Film: Manchmal hätten ein paar Einblendungen ganz gut getan. An der Länge des Films kann ich leider nicht rummeckern, denn mir fällt keine einzige Szene ein, die ich hätte weglassen wollen. Ex Libris ist ein Hauch education porn und man klopft sich als Bildungsbürger vielleicht ein bisschen zu sehr auf die Schulter, aber ich fand den Film wirklich sehenswert. Vielleicht gerade für Leute, die sonst nicht in Bibliotheken rumsitzen. Guckt mal, was die alles können!
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Wer keine Zeit für den Film hat, liest vielleicht einfach diesen Artikel: To Restore Civil Society, Start With the Library.
„Libraries are being disparaged and neglected at precisely the moment when they are most valued and necessary. Why the disconnect? In part it’s because the founding principle of the public library — that all people deserve free, open access to our shared culture and heritage — is out of sync with the market logic that dominates our world. But it’s also because so few influential people understand the expansive role that libraries play in modern communities.
Libraries are an example of what I call “social infrastructure”: the physical spaces and organizations that shape the way people interact. Libraries don’t just provide free access to books and other cultural materials, they also offer things like companionship for older adults, de facto child care for busy parents, language instruction for immigrants and welcoming public spaces for the poor, the homeless and young people.
I recently spent a year doing ethnographic research in libraries in New York City. Again and again, I was reminded how essential libraries are, not only for a neighborhood’s vitality but also for helping to address all manner of personal problems.“
(via Bingereader)
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Was schön war, Samstag/Sonntag, 20./21. Oktober 2018 – Wochenende
Den Vormittag verbrachte ich dankbar im Internet, denn das erzählte mir, wie man ein Bügeleisen entkalkt. Meins ist mindestens zwanzig Jahre alt und ich ahne, dass es auch so lange schon Kalk ansetzen kann. Da ich aber Mittags einen wichtigen Termin hatte, wollte ich endlich mal wieder Bügelwäsche ohne weiße Krümelchen darauf produzieren und füllte deshalb mein Bügeleisen mit einem Wasser-Essig-Gemisch (ich innerlich so: „DER GUTE WEISSWEINESSIG VON GÖLLES!“), ließ es rumdampfen und einwirken und dann nochmal rumdampfen und bügelte erst nach gefühlt zwei Stunden die erste dunkle Bluse – aber ohne weiße Krümel, ha! Danke, Internet.
Vor dem Mittagstermin war ich etwas nervös, denn ich war erstmals auf einer Feier von F.s Familie. Solche Veranstaltungen sind nie meins – zu viele Leute, zu viel Small Talk –, aber das war entspannter als ich dachte. Wir aßen und tranken sehr gut im Aumeister (ich Apfelschorle, ich war noch nicht in Stimmung für Helles oder Wein), dann gingen wir im Englischen Garten spazieren, und zum Abschluss gab es natürlich noch Kaffee und Kuchen, wie sich das halt gehört. Beim Spaziergang war ich vom Herbstlaub sehr fasziniert (#nofilter) und hätte dieses Motiv jetzt gerne als Bettwäsche.
Ich fand die Gegensätze zwischen den Feiern meiner Familie und dieser hier sehr spannend, traf nette Menschen und fühlte mich auch rundum wohl. Als ich aber zuhause ankam, wurde ich von einer Sekunde auf die andere bleiern müde; nach gut sechs Stunden bestem Benehmen in Kundenklamotten wollte ich nur in Schlumpfklamotten bierrülpsend auf der Couch wegdämmern. Aber ich guckte stattdessen die Sportschau, weil ich das Heimspiel von Augsburg gegen Leipzig leider versäumen musste; die SMS von einer unserer Mitstadiongängerinnen an F: „Habt nix verpasst“ half aber bei der Trauerarbeit. Direkt nach der Sportschau kam F. vorbei, und ich schloss für zehn Minuten die Äuglein, bevor ich mich aufraffte, um vielleicht noch ein kleines Getränk am Küchentisch zu mir zu nehmen, bevor wir um zehn ins Bett wollten.
Ähem.
Die drittletzte Flasche Le 7 😢😋😢
— Anke Gröner (@ankegroener) 20. Oktober 2018
Die vorletzte Flasche Le 7 😢😋😢
— Anke Gröner (@ankegroener) 20. Oktober 2018
Davor gab’s schon ein Fläschchen Fräulein Hu von meinem neuen Lieblingsweingut Wechsler, die ich inzwischen sogar lieber trinke als den Le 7, aber trotzdem werde ich mir für die letzte Flasche einen besonderen Anlass überlegen. Silvester oder so. Was richtig Ausgefallenes!
Das war sehr schön, mal wieder stundenlang gemeinsam rumzusitzen und einfach zu reden, keine Termine, nichts, was wirklich dringend besprochen werden muss, einfach nur in der Gegend rumreden. (Und trinken.) Ich mag solche Abende so gerne!
Gemeinsam sehr spät eingeschlafen.
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Sonntag blieb der Wecker aus, wir waren trotzdem halbwegs früh wach, und F. musste auch kurz nach Hause für einen Winztermin. Ich holte mir derweil Croissants und bereitete Cappuccino für mich zu.
Breakfast of Stormtroopers. pic.twitter.com/scwI5mLkz4
— Anke Gröner (@ankegroener) 21. Oktober 2018
Gegen Mittag kam F. wieder rum und wir machten uns auf den Weg für einen kleinen Spaziergang: Wir wollten uns die Kirche St. Sebastian anschauen. Wir schlenderten dazu die Hiltenspergerstraße entlang, blieben kurz staunend am Glockenturm der Kreuzkirche stehen, entdeckten schön gestaltete Hausnummern und Fassadenreliefs und bewunderten dann schließlich St. Sebastian von innen und außen. Ich stellte fest, dass ich doch nicht bei allen biblischen Bilddarstellungen sattelfest war – die Geschichte bzw. den Psalm vom guten Hirten habe ich lieber mal kurz nachgeschlagen –, freute mich aber über eine ungewohnt ungeschmückte katholische Kirche.
Danach bummelten wir durch den Luitpoldpark, schauten Menschen beim Sport, beim Lesen und beim Pokemonfangen zu und ließen uns dann von der Tram (TRAMFAHREN!) in die Nähe des Ballabeni chauffieren, wo wir das vermutlich letzte Eis der Saison genossen, denn der Laden schließt nächstes Wochenende für den Winter. In einer Galerie daneben entdeckten wir Kunstwerke mit Büchern, die uns beiden gefielen; die werden wir uns nochmal anschauen müssen, wenn die Galerie geöffnet ist. Satt und zufrieden gingen wir zu St. Markus, wo eine Ausstellung lief, deren Plakat wir auf dem Weg zu St. Sebastian an einer Litfasssäule gesehen hatten, Das Prinzip Apfelbaum, wo Menschen über ihre Lebensphilosophie und ihren Nachlass sinnieren und fotografisch porträtiert wurden. Die Fotos von Bettina Flitner gefielen mir erwartungsgemäß sehr gut, die von den Abgebildeten selbst erdachten Ideen dahinter fand ich aber meist sehr blass. Spannend fand ich, dass sich ausgerechnet die zwei Berufspolitiker Richard von Weizsäcker und Egon Bahr am uneitelsten in Szene gesetzt hatten. (Bei Reinhold Messner musste ich arg mit den Augen rollen.)
F. wollte ein Nickerchen machen, ich Serien gucken, das taten wir dann auch, bis wir uns um 17 Uhr nochmal auf ein Stück Kuchen mit Nilgiritee trafen, natürlich von Omis Teegeschirr, über das ich mich immer, immer, immer freue. Dann musste F. leider gehen, Termine, Termine, immer beschäftigt der Mann, während ich Pizzateig ansetzte, die Geschirrspülmaschine einräumte, noch ein bisschen in der Wohnung grundpuschelte, damit sie irgendwann mal fertiggepuschelt ist, bevor ich recht zeitig mit einem Buch im Bett verschwand.
Das war, auch durch die nach gefühlt längerer Pause viele gemeinsame Zeit mit F., ein sehr schönes Wochenende. Gerne wieder.
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Was schön war, Montag, 8. Oktober 2018 – Eulen
„Hör auf, mir so niedliche Schokolade zu schenken, die kann ich nicht essen!“
„Was kann ich dafür, dass bei Lindt wieder Eulenwochen sind?“
Diese Eule ist vom letzten Jahr, und ich habe sie dummerweise aufgehoben. Das hat sich F. anscheinend gemerkt, der Racker. Sie sitzt vor einem Notizbuch, das der Herr mir auch mal geschenkt hat, auf dem das einzige Kunstwerk abgebildet ist, das ich von Jeff Koons mag.
Die hier ist neu und sitzt neben dem besten Museumsshop-Souvenir aller Zeiten: einem Teddybär aus dem Van-Gogh-Museum in Amsterdam, dessen Fell den Mandelbüten nachgebildet ist. Kunstgeschichte zum Kuscheln! Ich will den Balloon Dog aus Plüsch!
Teddy kennt ihr natürlich alle aus der Teddybärenwoche.
„Die in Lavendel habe ich dir zum Essen gekauft, die passt nirgends in dein Farbkonzept.“ (Falsch!)
(File under: warum ich F. immer so verknallt angucke.)
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Tagebuch Dienstag, 2. Oktober 2018 – Familienausflug, zweiter Teil
F. und ich führten vorgestern die Familie auf meiner Seite durch Augsburg, gestern war dann natürlich München dran, wenn man schon mal in der Gegend ist. Ich hatte eigentlich einen kleinen Stadtspaziergang geplant, eventuell ein Museum (die Damen waren daran sehr interessiert), aber die Gang wollte etwas länger ausschlafen und kam daher erst um 11 in der Landeshauptstadt an. Deswegen zogen wir den eigentlich zweiten Tagesordnungspunkt vor: die Mittagswiesn. Bei unserem Seniorentempo hätte der Spaziergang zu lange gedauert, um noch ein halbwegs entspanntes Oktoberfesterlebnis zu genießen, denn der Übergang von der schnuffigen Mittagswiesn zum üblichen Trubel geht recht schnell. Meine Schwiegerschwägerin (oder wie immer das korrekte Verwandschaftsverhältnis lautet) freute sich total: „Alle meine Freundinnen kriegen immer Postkarten von mir von Schlössern und Museen und Kunst – und jetzt bekommen sie eine vom Oktoberfest! Das hätten die mir nie zugetraut!“
Beim letzten Elternbesuch hatte ich festgestellt, dass man mit manchen Senioren etwas anders durch die Stadt gehen muss, daher war ich ein bisschen nervös vor der U-Bahn-Haltestelle Theresienwiese, weil die in den 16 Tagen Festzeit immer und dauernd und gnadenlos überfüllt ist. Die Damen und Herren meisterten das aber alles prima, und so konnten wir fast durch den Haupteingang gehen, den ich natürlich wie immer verfehlte, weil ich sonst von der U-Bahn-Station Goethestraße komme, um eben nicht durch den Haupteingang zu müssen. Wir erwischten den Eingang, der 100 Meter vom großen Torbogen und dem Denkmal für das Attentat entfernt ist, aber ich konnte ihn immerhin noch zeigen, als wir von der Schaustellerstraße in die Wirtsbudenstraße wechselten. Alleine dass es mehrere Straßen gibt, war schon beeindruckend für die Gang, genau wie die Größe der Zelte sowie die Dauer des Aufbaus. Wir fanden auch sofort einen Andenkenstand, der Postkarten und Briefmarken hatte – darauf hatte ich noch nie geachtet, kann jetzt aber sagen: Gibt es.
Eigentlich wollten wir einmal über das ganze Gelände bummeln, um dann zur Oidn Wiesn zu gehen, wo ich es etwas ruhiger finde, aber ich hatte wohl einmal zu oft das Augustinerzelt erwähnt, denn da wollten jetzt alle rein. Wir verteilten uns auf zwei Tische, hatten auch nur ein ausgesprochenes Arschloch am Tisch, über das ich mich den ganzen Tag sinnlos ärgerte, aber der Rest der Oktifestneulinge fand das alles äußerst spannend, guckte sozialforschend in der Gegend rum, orderte Brezn und Weißwurst und war anscheinend zufrieden. Die älteren Herrschaften kamen mit einem bayerischen Ehepaar ins Gespräch und tranken auch brav eine Maß (also zwei zu viert, glaube ich), meine Schwester blieb alkoholfrei, während ihr Mann, F. und ich jeder eine Maß genossen. Sanft angebiert schlenderten wir nach zwei Stunden über den Rest des Geländes, zeigten Brauereipferde, sprachen über die sechs Münchner Brauereien, die auf der Festwiese ausschenken dürfen und brachten auch sonst noch diverse Oktoberfesttrivia an.
Meine Eltern wollten gerne meine neue Wohnung sehen, ich protestierte sinnlos, dass ich gerade erst eingezogen sei, noch nicht eine Lampe hinge und es auch überhaupt nicht aufgeräumt sei, aber das war natürlich allen egal. F. holte Kuchen bei Hildegard (die Dame ist, glaube ich, inzwischen verstorben, aber mindestens pensioniert, aber man geht halt immer noch zu Hildegard), während ich Kaffee in der French Press zubereitete und Tee in Omis Teekanne. Ich wusste, wo alles war! Ich hatte Kaffee und Tee im Haus! Aber nur sechs Stühle, weswegen ich meinen Bürodrehstuhl in die Küche schob und F. sich einen Thron aus Spezikisten bastelte. F. so: „Das sind die meisten Menschen in deiner Wohnung, seit du in München lebst.“ Und damit hatte der Mann sogar recht, ich Einsiedlerkrebs.
Entspannt und gestärkt brachen wir dann endlich zum Stadtbummel auf, der im Prinzip der gleiche war, den ich Papa, Schwesterherz und ihrem Mann vor anderthalb Jahren schon einmal erzählt hatte. Dieses Mal blieben wir etwas länger in der Abgusssammlung, die wir uns letztes Mal geschenkt hatten; durch das Ding renne ich immer durch, wenn ich in die Bibliothek im ZI will. Mein Schwager konnte sich noch an den Sitz des israelischen Konsulats erinnern, über den ich mich ja bekanntlich dauernd und anscheinend auch im Beisein von Verwandten freue, denn das Konsulat liegt souverän in Sichtweite des ehemaligen Führerbaus. Wir gingen auch kurz in die Alte Pinakothek, in der ich das herrliche Treppenhaus von Hans Döllgast vorzeigen konnte, was letztes Jahr noch Baustelle war bzw. wegen der Sanierung nur zur Hälfte geöffnet.
Und dann war es schon wieder Zeit zum Essen, wie das nur immer passiert. Wir kehrten natürlich in den Georgenhof ein, denn auch an den konnte sich die Familie noch als „äußerst wohlschmeckend“ erinnern. Die älteren Herren fochten kurz das Bezahlen aus, wie das halt so ist, dann machte sich F. auf den Weg in die Allianz-Arena, wo Bayern Champions League spielte, während ich die Bande wieder zum Bahnhof begleitete und sie mit Hilfe des Schwagers auch in den richtigen Zug bekam. Die Herrschaften fanden alles ganz toll, wie sie uns mehrfach versicherten, was mich sehr freute, weil es mir alles total improvisiert und zerstückelt vorgekommen war, aber wenn man Gast ist, nimmt man ja eh alles anders auf als als Gastgeber*in.
Ich ließ den Abwasch für heute stehen, schlief beim Stream des Fußballspiels schon auf dem Sofa ein und wechselte in der Halbzeit ins Bett.
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Tagebuch Montag, 1. Oktober 2018 – Familienausflug
Morgens vom Lieblingsgeräusch aufgewacht: Dauerregen. Es gibt nichts Entspannenderes als Dauerregen. Also wenn man im Bett oder auf dem Sofa bleiben kann und genug Schokolade im Haus hat. Gestern stand aber der Familienausflug nach Augsburg an, und so googelte ich spaßeshalber morgens noch nach „Augsburg bei Regen“, um vielleicht tolle Aktivitäten oder Sehenwürdigkeiten zu finden, die auch bei Dauerregen Spaß machen. Museen sind ja leider Montags fast alle geschlossen, daher fielen die schon mal weg. Weswegen ich es ziemlich klasse finde, dass es in Hamburg bewusst Museen gibt, die eben gerade Montags geöffnet sind. Hier in München fällt mir nur die Neue Pinakothek ein, von der selbst einige unser Dozenten sagen, dass man in die ja nur aus Pflichtgefühl reingeht.
Beim Googeln kamen nur für unsere Gruppe äußerst ungeeignete Dinge wie Lasertag oder Bouldern raus, daher kletterten F. und ich ohne Alternative in den Regionalzug nach Augsburg und begannen planmäßig mit dem Rathaus und dem Goldenen Saal. Bis dahin hatte es auch aufgehört zu regnen, es war allerdings fies kalt geworden. Wir erzählten trotzdem auf dem zugigen Rathausvorplatz Dinge über die Stadtgeschichte und das kommunale Selbstbewusstsein der freien Reichsstadt, das sich extrem unübersehbar in diesem monstergroßen herrlichen Bau niedergeschlagen hatte.
Ich weiß noch, als ich das erste Mal auf dem Augsburger Christkindlesmarkt war und kaum glauben konnte, dass dieser Wolkenkratzer da ein Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert sein sollte. Er beeindruckt mich jedes Mal, und gestern war ich auch endlich mal drinnen und konnte den Goldenen Saal bestaunen, der nicht weniger beeindruckend ist.
Im Erdgeschoss fasst eine winzige Ausstellung (ein Raum) die 2000-jährige Stadtgeschichte vom Römerlager bis heute zusammen und das ziemlich gut. Danach schlenderten wir zum Perlachturm nebenan, der aber nicht ganz so eindrucksvoll war (zumindest von innen). Außen wurde gerade noch die Blumendekoration abgenommen, die für das Turamichele am Wochenende angebracht worden war.
Da der Dom in fußläufiger Entfernung – auch für unsere in Teilen äußerst fußlahme Gruppe – lag, nahmen wir den auch gleich mit. Ich war vom Baukörper verwirrt, der innen so schön ordentlich aussieht, aber von außen irgendwie krumm und schief – jedenfalls von meiner Sichtposition. Außerdem freute ich mich darüber, dass meine lange verschütteten Lateinkenntnisse ausreichten, um eine Gedenktafel für Papst Pius VI. zu entziffern, der hier anscheinend mal eine Messe abgehalten hatte. Vielleicht habe ich aber auch Quatsch entziffert.
Es war Zeit für eine Kaffeepause, die wir im Café Dichtl abhielten, wo ich auch endlich mal eine heiße Schokolade bekam, die ich am Sonntag schmerzlich vermisst hatte. Dazu gab’s für mich gnadenlos Toast Hawaii, weil ich keine Lust auf Torte hatte und so ohne Frühstück (außer Bialetti-Milchkaffee) um 12 dann doch allmählich hungrig war.
Den Nachmittag verbrachten wir in der Fuggerei, über deren Besuch ich mich sehr gefreut habe. Ich hatte als Kind mal einen Bericht über die Fugger im Fernsehen angeschaut und war seitdem fasziniert von dieser Familiengeschichte. Auch die Idee einer Sozialsiedlung, die seit 500 Jahren besteht und für die die bedürftigen Bewohner bis heute eine Jahresmiete im Gegenwert eines Rheinischen Gulden zahlen müssen, finde ich spannend (das sind zurzeit 88 Cent. Plus drei Gebete täglich). Auf der Rückfahrt unterhielten F. und ich uns darüber, dass Reichtum eine moralische Verpflichtung sein sollte, ob sie nun aus Angst vor der Hölle entsteht oder einfach aus dem Bewusstsein heraus, dass man selbst so viel mehr besitzt als der überwiegende Teil der Bevölkerung. Den Ansatz von Bill Gates mag ich gerne (seine Kinder bekommen einen eher kleinen Teil seines großen Vermögens, der Rest geht in die Stiftung), während ich bei Interviews mit Jeff Bezos manchmal verzweifele („Was soll ich mit meinem ganzen Geld machen? Klar, in den Weltraum fliegen.“ Bezahl doch erstmal die Amazon-Angestellten besser, du Nase).
Als letzter Tagespunkt stand noch St. Anna mit der Lutherstiege auf dem Programm, aber unsere zwei älteren Herren wollten bitte nicht mehr rumlaufen. Da ich auch nichts gegen ein kleines Kaltgetränk hatte, setzten wir uns gemeinsam in den Bauerntanz und tranken uns warm, bis die anderen gegen 17 Uhr aufliefen und wir entspannt zu Abend aßen.
Ereignislose Rückfahrt, kaum Wiesnirre in der U-Bahn. Noch schnell die Saturday-Night-Live-Folge vom Samstag nachgeholt und früh ins Bett gegangen.
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Nachtrag: Tagebuch Mittwoch, 26. September 2018 – Bye-bye, Studibutze
Vormittags ging ich ein weiteres Mal durch die alte Wohnung und guckte, ob ich auch nichts vergessen hatte. Ich meinte nicht und nahm den letzten Teil des Abschieds vor: den Umzug meines Kellerinhalts. Dort fand ich noch eine Kiste T-Shirts, von denen ich dachte, ich hätte sie schon längst in die Altkleidersammlung getan. Hatte ich anscheinend nicht. (To do: wegbringen. Oder noch drei Jahre im neuen Keller liegen lassen und dann einfach wegschmeißen.)
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In der neuen Wohnung stand dann das Arbeitszimmer an. Die Möbel hatten die Umzugshelferlein schon dorthin getragen, wo sie sein sollten. Nun räumte ich Büromaterial aus Kisten aus und in meinen Container wieder ein, ordnete Aktenordner nach Datum, stellte meine aktuellen „Jobs“- und „Diss“-Ordner in meine Nähe und begann, das kleine Kallax mit Kunstbüchern zu füllen. Bisher hatten alle meine Bücher in den sechs Billys gestanden; nun wollte ich aber die Kunstbücher im Arbeitszimmer haben, denn die Diss ist Arbeit. Ein Teil der Bücher lag in den Kisten hier im Arbeitszimmer, die anderen vermutlich in den Kisten in der Bibliothek. (Ich habe hier kein Wohnzimmer, ich habe hier eine Bibliothek. Ja genau.)
Im Arbeitszimmer steht außerdem mein altes Schlafsofa gegenüber vom Schreibtisch. Vom Schreibtisch aus gucke ich nach rechts in den Innenhof bzw. auf lauter grüne Balkons und ansonsten auf meine leere dunkelblaue Wand, was ich sehr beruhigend finde. Davor knallt das weiße Sofa natürlich richtig. Es hat sich schon in den ersten Tagen in dieser Wohnung eingebürgert, dass ich meinen Morgenkaffee genau dort trinke. Nicht wie sonst mit dem Rechner auf dem Schoß auf dem Sofa, das nun in der Bibliothek steht, sondern höchstens mit dem Handy, meist nicht mal damit, nur mit meinem Kaffee auf dem Schlafsofa. Das ist übrigens das hier, und obwohl ich es eher unbequem finde, kann ich mich nicht von ihm trennen, weil es so hübsch ist! Das tragen mir arme Menschen seit 1999 von Wohnung zu Wohnung. Auf ihm gucke ich frisch geduscht und halbwegs wach einfach über den Balkon in den Innenhof bzw. darüber hinaus und bin selbst erstaunt darüber, wie schön und entspannend das ist.
Nach links gucke ich vom Schreibtisch übrigens auf Luise, und das ist ebenfalls schön und entspannend. Das Arbeitszimmer ist genau so geworden, wie ich es erhofft habe, und das freut mich sehr. (To do: Lampen aussuchen. Lampen andübeln. Oder demnächst bei Kerzenlicht arbeiten.)
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Nachmittags war dann Wohnungsübergabe. Die Verwaltung hatte das vereinfacht: Anstatt zuerst mit mir durch das Übergabeprotokoll zu gehen und dann nochmal mit dem Nachmieter, waren wir einfach alle gleichzeitig vor Ort. Das ging auch problemlos, aber ich merkte, dass mein Kloß im Hals immer dicker wurde. Total beknackt, ich habe ja jetzt eine viel tollere Wohnung! Aber ich hing wohl doch mehr an der Studibutze auf Zeit, dem Zweitwohnsitz, dem Provisorium, der Übergangswohnung, als ich dachte.
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Abends briet ich mir Frikadellen, weil comfort food. Mein Metzger wolft Hackfleisch frisch durch, da liegt keine Wanne stundenlang in der Theke. Vermutlich schmeckt’s auch deshalb so gut. Bye-bye, Wohnung, ein Klops auf dich! Du warst sehr gut zu mir.
Und jetzt fangen wir ein neues Kapitel an. Keine Übergangswohnung mehr oder irgendeine, in die ich rein muss, weil ich sonst noch Monate auf dem Sofa des ehemaligen Mitbewohners hätte zubringen müssen, sondern eine, die ich mir ausgesucht habe, weil es ging. Eine, in die wieder alle meine Habseligkeiten reinpassen. Eine, in der ich wieder mehr als Texterin wohne denn als Studentin. Eine, in der ich noch eine Weile in Ruhe älter werden möchte.
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Nachtrag: Tagebuch Samstag 22. September 2018 – Umzugstag
Für den Umzug ab 10 Uhr morgens hatten sich insgesamt sechs Helferlein angeboten, mit F. und mir tummelten sich acht motivierte Leute in der WhatsApp-Gruppe, die über die genaue Adresse informierte und darüber, bitte am leeren Klingelschild zu läuten, denn ich war natürlich oben im fünften Stock und hibbelte vor mich hin.
Alle Billy-Regale waren von Einlegeböden befreit, die Nupsis, die sie hielten, lagen in einer kleinen Tüte schon unten auf der Fensterbank des betreffenden Raums. In meinem einzigen Zimmer oben stapelten sich Umzugskartons, Ikeakörbe und Einkaufskisten aus Plastik, dazu der übliche Quatsch, den man nicht einpacken kann: meine riesigen Sofakissen zum Beispiel. Beim letzten Umzug aus Hamburg hatte ich bei den Profis zugeguckt: Sie schlugen die Kissen in meterlange Folie ein und brachten sie so sauber und sicher nach München. Das machte ich für ein Stockwerk auch und war danach versucht, ALLES in Folie einzuschlagen, weil das großen Spaß machte. Ich wickelte meine hohe Kommode im Flur mit Folie ein und die zwei großen Ikearegale (Bonde – gibt’s schon ewig nicht mehr), die jeweils zwei Glastüren haben. Auch die sollten schließlich heile nach unten und möglichst nicht mitten im Treppenhaus aufgehen.
In der WhatsApp-Gruppe wurde gefragt, ob noch Werkzeug benötigt würde; nein, meinte ich, alles da, alles auseinandergebaut, was geht, alles eingepackt, ihr müsst nur schleppen. Eine Dame meldete sich mit zu spät gestelltem Wecker, sie käme erst gegen halb 11. Und ich meinte launig: Um halb 11 sind wir schon fertig.
“Schaff es erst um halb elf.“
'Haha, bis dahin ist der Umzug durch.'Sie hatte recht. Frau @ankegroener hat eventuell ihre Berufung als Umzugs-Magierin verfehlt.
— Isabella Donnerhall (@DonnerBella) 22. September 2018
Zur Erläuterung: Frau Donnerhall hatte im Vorfeld erwähnt, dass sie bitte nur Kisten tragen möchte, keine Möbel. Kann ich verstehen, will ich auch nicht. Und als sie um halb 11 kam, waren halt wirklich schon alle Kisten unten und auch diverse Möbel. Die schleppenden Jungs und meine Nachbarin, die spontan Hilfe angeboten hatte, waren ernsthaft in einer Stunde mit allem durch. Ich fiepste nur noch vor Dankbarkeit, bekam fünfmal gesagt, dass aber auch alles tiptop vorbereitet gewesen war und das Treppenhaus irre breit und umzugsfreundlich sei und überhaupt, alles kein Ding.
Ich begann darüber nachzudenken, vielleicht doch noch den Zug um 13 Uhr nach Augsburg zu nehmen, wo der FCA ein Heimspiel gegen Bremen hatte, andere dachten über die heute zu eröffnende Wiesn nach, wir machten die ersten Biere auf und lungerten auf dem Balkon rum. Bis auf zwei von uns, F. und sein bester Freund C., denn die hatten sich für die Waschmaschine zuständig erklärt, die oben abgenommen und unten wieder angeschlossen werden sollte. Aber das hatte C. schon tausendmal gemacht, hier unten war ein Anschluss vorhanden, alles super.
Haha.
Um es kurz zu machen: Zunächst gingen F. und C. zu Suckfüll, einem „Wir haben alles“-Laden in Uninähe, weil irgendein Verbindungsschlauch schon arg schrottig aussah. Dann fuhren F. und ich zu einem Baumarkt, weil wir eine Weiche brauchten, vielleicht noch einen Winkel, noch ein paar Ventile und Zeug, von dem ich nicht weiß, was es macht. Ein paar Tage vor dem Umzug hatte mir die Verwaltung schon einen Klempner vorbeigeschickt, denn meine charmante Vormieterin hatte ernsthaft einen Schlauch, der zur Geschirrspülmaschine führte, mit Panzerband geklebt anstatt ein neues Ventil einzusetzen. Ich wunderte mich bei meinen Renovierungsarbeiten über die große Plastikunterlage vor der Spüle, die ich in einer anderen Funktion kannte: als Parkettschutz bei Schreibtischstühlen. Die lag halt in der Küche und unter der Spüle stand ein kleiner blauer Eimer, den ich als Mülleimer fehlinterpretierte. Als ich das erste Mal meine Pinsel und Farbrollen auswusch, erkannte ich, was der wahre Zweck der beiden Gegenstände war: Das bunte Wasser lief am Panzerband vorbei in den Eimer, und aus irgendeiner anderen Ecke tropfte Zeug auf die Plastikunterlage. Das meldete ich natürlich sofort der Verwaltung, es kam jemand vorbei, der brachte einen neuen Schlauch an, meinte aber, der wäre gar nicht nötig, ließ mir ein Blindventil da, das wir anschrauben sollten, wenn die Waschmaschine dran sei – und dann guckte er noch auf den Wasserhahn, der lustig von unten vor sich hinrostete. Der müsste auch mal ersetzt werden, er würde sich wieder melden.
Das tat er aber nicht, und so kaufte ich am Samstag im Baumarkt gleich mal einen anständigen Wasserhahn, mit dem ich arbeiten kann. Die Hähne hier im Haus sind so flach über der Spüle angebracht, dass ich nicht mal meinen Wasserkocher aufrecht darunterkriege geschweige denn einen großen Topf für Pasta. In meiner oberen Wohnung ging das bis vor Kurzem noch, bis ich neue Armaturen bekam, und ich ahnte, dass ich auch hier unten wieder so einen flachen Quatschhahn kriegen würde. Also kaufte ich selbst ein und habe jetzt einen Hahn, unter dem Philipp Lahm stepptanzen könnte, so hoch ist er. (Diese Art, nur billiger.)
Aber erstmal musste er eingebaut werden. Als C. den alten Hahn entfernte, sah ich, dass die Dichtungsringe quasi weggerottet waren; kein Wunder, dass da alles lustig rumtropfte. Interessanter Lösungsansatz mit Eimer und Matte, aber COME ON! Egal. Jetzt nur noch die Waschmaschine anschließen. Ein Helfer und meine Nachbarin hatten sich schon verabschiedet, die anderen lagerten auf dem Balkon, nachdem sie vom Getränkemarkt gegenüber eine Runde Oktoberfestbier besorgt hatten. C. verschwand unter der Spüle, ich saß mit den anderen auf dem Balkon, als es hieß, ich solle doch mal kurz kommen.
Ich mach’s wieder kurz: Es fehlte immer noch irgendwas, weil sich beim Einbau immer neue Hindernisse auftaten. Wir mussten das Loch in der Holzverkleidung für den Schlauch vergrößern, was lustig mit Holzbohrern und Schmirgelpapier passierte, weil niemand eine Säge oder eine Feile besaß. (Ich hatte mal zwei Sägen. Ich ahne, dass die beim letzten Umzug in der alten Wohnung verblieben und nun Hamburger Sperrmüll sind.) Dann mussten wir die Trennwand zum Kühlschrank entfernen, die eh nur Deko war, weil die Maschine ernsthaft zu breit für die Öffnung war (ich hatte nicht nachgemessen – wenn mir die Verwaltung sagt, dass da ne Maschine hinpasst, dann gehe ich davon aus, dass das stimmt). Und schließlich musste noch der Deckel der Maschine weichen, weil sie sonst nicht unter die Arbeitsplatte gepasst hätte. Mir war alles recht, Hauptsache, ich konnte irgendwann wieder waschen.
In der oberen Wohnung stand dann allerdings doch noch etwas, das runtermusste: Luise. Eigentlich wollten F. und ich das alleine machen, wenn alle anderen wegwaren und niemand in das Bild stolpern konnte. Aber da F. mit C. unter der Spüle hing, boten sich zwei Herren an, die zwar schon fünf Bier intus hatten, aber absolut der Meinung waren, noch ein arschteures Ölgemälde an die Wand zimmern zu können. Konnten sie. Bündig mit dem Türrahmen, mittig zwischen Fenster und Tür und perfekt ausgerichtet. Ich war beeindruckt.
Der @tobi_vega u d @alex_muc86 haben Luise platziert 😘😘😘 pic.twitter.com/4Z7TpcNTIZ
— Anke Gröner (@ankegroener) 22. September 2018
Worüber ich mich freute: dass irgendwie keiner gehen wollte, weil’s grad so nett war. Ich hatte inzwischen den vorbestellten Leberkäse besorgt, wir mampften vor uns hin und ließen es uns gut gehen. Und: Ich mochte die kurze andächtige Stille, als Luise an der Wand hing und alle einfach aufs Bild guckten. Ich weiß nicht, ob es das freundliche Motiv ist oder die Faszination eines großen Gemäldes im schweren Goldrahmen, aber ich fand das sehr schön, dass ich anscheinend nicht die einzige bin, die es mag.
Irgendwann gegen 16 Uhr, wenn ich mich richtig erinnere, war dann auch die Waschmaschine angeschlossen, für die F. noch ein zweites Mal zum Baumarkt fahren musste. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, ich hatte kein sauberes Handtuch mehr, überall lag Werkzeug und es standen dazu natürlich auch noch Kisten rum. Aber: Wir waren fertig und obwohl unter der Spüle alles anders aussah als vorher, saß das kleine Blindventil auch irgendwo rum. Nach und nach gingen alle bis auf F. und Alex, denn wir überlegten kurz, ob wir noch ein Absackerbierchen auf der Wiesn nehmen sollten. F. hatte eine Reservierung für 17 Uhr auf der Oidn Wiesn und den Tisch eigentlich an einige seiner Freunde aus England und den USA abgegeben, aber es waren noch zwei Plätzchen am Tisch frei, und die schnappten Alex und ich uns jetzt. Verschwitzt, aber glücklich schnatterten wir mit wildfremden Menschen, aßen Rostbratwürstchen und tranken ein winziges bisschen Alkohol.
Auf dem Rückweg erstand ich die traditionellen gebrannten Mandeln, schwankte mit F. zu mir in die neue Wohnung, manövrierte uns an allen Kisten vorbei und konnte endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen. Bester Umzug ever!
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Tagebuch, Sonntag, 16. September 2018 – Open Art
Gestern klapperten F. und ich einige der Galerien ab, die sich an der diesjährigen Open Art beteiligten. Wir starteten bei Karin Sachs, die gerade Arbeiten der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar zeigt. Mir gefielen die Fotografien aus der Reihe „The Grass is Green, the Sky is Blue, and She is Black“ sehr (die für mich aber nicht bezahlbar waren) und genoss den von der Künstlerin selbst gestalteten Galerieraum, in den sie sinnlose Schriftzeichen gesetzt hatte, die an die arabische Schrift erinnerten. Wir kannten die Dame aus einer Ausstellung in der Villa Stuck, wo wir sie bei Common Grounds gesehen hatten (Fehlfarben-Podcast von 2015 dazu).
Danach kamen ein paar Ausfälle; weder bei Barbara Gross noch bei Jo van de Loo konnte mich irgendetwas so richtig überzeugen. Und auch nicht bei den beiden Läden nebenan, die nicht auf dem Plan verzeichnet sind. Dann aber schauten wir in der Micheko-Galerie vorbei – und verliebten uns beide in das gleiche grafische Blatt von Katsumi Hayakawa. Außerdem staunte ich sehr lange über die filigranen Gebilde an der Wand, die eine Mischung aus Bauplänen und Miniaturhochhäusern aus Blade Runner waren. Auch sie hätte ich sofort mitnehmen wollen, aber: jetzt gerade nicht, geldmäßig. Leider. Aber dieses grafische Blatt – ich dachte über meinen Kontostand nach und überlegte.
Wir gingen weiter und besuchten beide Locations der Galerie Klüser, wo ich auch gerne mehrere Werke eingepackt hätte. In der ersten Location hingen sogar bezahlbare Picassos (und unbezahlbare Cy Twomblys), aber ich verknallte mich in die Fotografien von Jitka Hanzlová, die Teile ihrer Serie „Flowers“ ausstellte, die mich an den Großmeister Karl Blossfeldt erinnerten. Ich mochte ihre zarte, fast irreale Farbigkeit und die Strenge der Darstellung.
In der zweiten Location passierte dann das, wovor ich mich gefürchtet hatte: Ich sah ein Werk, das ich sofort hätte mitnehmen wollen. Nicht mehr über den Kontostand nachdenken, nein, gleich einpacken und aufhängen, denn jetzt habe ich ja irre viele freie Wände! Aber ich beherrschte mich, werde brav darüber schlafen und diese Woche noch mehrmals vorbeikommen, um zu gucken, ob das kleine bunte Blatt von Alex Katz immer noch die gleiche Faszination auf mich ausübt wie gestern.
F. zu mir: „Druckgrafik ist die Einstiegsdroge.“ JA DANKE AUCH. Ich wollte gerade einwenden, dass ich noch nie Kunst gekauft hatte, bis mir einfiel, dass ich mehrere Katia Kelms besitze sowie die irre große Luise. Und mit drei Leo von Weldens bin ich quasi Sammlerin, auch wenn ich für die Blätter und Bilder nichts bezahlt habe, sondern sie von der Künstlertochter geschenkt bekommen habe. Jetzt dürfen auch sie endlich an die Wand.
Wir kehrten in den Georgenhof ein, um uns nach dem Fußmarsch zu stärken, Käsebrot für mich, Leberwurstbrot für den Herrn, und dann ab in die letzte Galerie. Sabine Knust zeigt gerade afro-amerikanische und afrikanische Künstler*innen, und auch dort hing ein Blatt, bei dem ich sofort die Geldbörse zücken wollte. Aber auch hier schlafe ich drüber, gehe noch fünfmal gucken, ob mir Alison Saar weiterhin gefällt und dann überlege ich, welches Blatt ich mir selbst zur neuen Wohnung schenke.
Auf dem Rückweg schauten wir ein weiteres Mal bei der Micheko-Galerie vorbei und schon da merkte ich, dass ich das Blatt zwar immer noch toll fand, aber die anderen beiden besser. Mal sehen, ob F. sich das Ding gönnt. Dann kann ich es auch immer anschauen. Praktisch!
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Und wo wir gerade bei Anschauen sind: Vor Kurzem entdeckte ich den französischen Fotografen Nicolas Krief auf Instagram. Der Herr fotografiert gerne Menschen beim Kunstgucken, aber, noch toller, Menschen beim Kunstaufbauen. Ich verlinke mal seine Website, wo ihr euch bitte durch Accrochages 1 und Accrochages 2 klickt. Leider steht bei den Fotos nicht, welche Kunstwerke gerade abgebildet sind; in seinem Instagramstream macht er das manchmal. Hier ein paar Kostproben.
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Leserinnenpost
Ich verlinkte gestern den Zeit-Artikel über Sigmund Jähn und erwähnte, dass die DDR ein fremdes Land für mich war und vielleicht geblieben ist. Daraufhin bekam ich eine lange Mail, die ich mit Zustimmung der Verfasserin veröffentlichen darf. Wir kennen uns ein wenig – die Dame hat ein Porträt über mich geschrieben – und wir telefonierten noch, nachdem ich per Mail fragte, ob ich ihre Zeilen bloggen durfte. Danach glaube ich: Wir sollten mehr miteinander reden. Nicht die AfD-Anhänger mit ihren Gegnern, das halte ich inzwischen für rausgeschmissene Zeit, aber: BRD-Bürger*innen mit DDR-Bürger*innen. Schreibt DDR-Blogs! Erzählt mir von eurem Land und von euren Biografien!
Mir ist außerdem aufgefallen, dass ich, wenn ich die DDR als Ausland zähle, was sie ja war, sie öfter besucht habe als jedes andere Land außerhalb meines eigenen. Ich war öfter in der DDR als in Frankreich, den USA oder Dänemark. Ich verlinke mal einen Uralt-Blogpost, der das etwas illustriert.
Aber jetzt zur Leserpost, die ich sehr spannend fand. Darin wird auch die Landflucht beschrieben, die mir in diesem Ausmaß nicht klar war. Im letzten Spiegel stand dazu ein aufschlussreicher Artikel, leider momentan nur als Spiegel-Plus lesbar.
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Liebe Frau Gröner,
ich habe wie Sie den Text von Jana Hensel in der ZEIT gelesen. Sigmund Jähn: das war ein Begriff in meiner Schulzeit. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er quasi aus der Region stammt. (Meine Schule trug den Namen „Juri Gagarin“. Der Musiklehrer hatte ihm zu Ehren ein Lied komponiert, das zu den Appellen gesungen wurde. Es begann so: „13. April des Jahres ‚61, die ganze Erde schaut auf…) Zurück zu Morgenröthe-Rautenkranz (Jähns Geburtsort) – damit verbinden viele Ostdeutsche Raumfahrt, Weltall, unerreichte Weiten. (Dass das Dorf ein Kälteloch ist und in the middle of nowhere liegt, ist unerheblich.)
Sie schreiben, die DDR war ein fremdes Land für Sie. Vielleicht ist es das auch geblieben. Mir war die Bundesrepublik nicht ganz so fremd – hatte ich doch Westverwandtschaft und eine Brieffreundin. Eine Zahnarzttochter, deren Eltern Schweden waren. Schon allein diese Kombi war etwas ganz Besonderes. Leute, die sich einfach so in einem anderen Land ihre Existenz aufbauen konnten, gut Geld verdienten, in der Welt umher reisten und interessehalber uns besuchten. Der erste Besuch fiel genau mit dem Unglück in Tschernobyl zusammen. Irre, wie unterschiedlich die Angst vor Verstrahlung war. Lundbergs waren informiert; wir nicht. (Wir waren recht unbekümmert. Schließlich holte mein Vater täglich Uran aus dem Berg. Ihm fielen weder die Zähne noch die Haare aus, noch hatte er Leukämie oder Lungenkrankheiten. Damals zumindest.)
Was mir von diesen Stippvisiten in Erinnerung blieb, ist der Minderwertigkeitskomplex. Wir konnten nix vorweisen – weder Haus, Auto noch Reisen. Ich habe mich manchmal geschämt. Drei Jahre später kam alles anders. Der Mauerfall ist nach wie vor eines der größten Ereignisse meines Lebens. Dass das alles friedlich und ohne Blutvergießen ablief – das halte ich persönlich für ein Wunder. Selbst nach fast dreißig Jahren zieht es mir die Gänsehaut auf.
Allerdings hat keiner mit dem Affentempo der Wiedervereinigung und ihren Folgen gerechnet. Vom Herbst 1989 bis 1991 fühlte sich das Leben wie ein Schleudergang an. Nix war mehr sicher. Unsere Generation wurde blitzartig erwachsen. Wir regelten teilweise das Leben unserer Eltern: manchen Leuten fehlte einfach der Schneid (weil Arbeit weg etc.). Woher sollten sie den so fix herhaben? Der Großteil lief in der Masse mit. Alles war vorherbestimmt: Schulabschluss, Lehre, wenn es hoch kam Studium, Heirat mit 18,19,20 wegen Wohnung und Familienkredit, Arbeitsplatz ohne großartige Pendelei.) Um die Basics hat sich der Staat gekümmert; wollte man mehr, musste man Mittel und Wege finden. Vieles ging über Dritte; Menschen, die Beziehungen hatten oder wieder Leute an entscheidender Stelle kannten.
Die Kommunikation über Dritte, die Hoffnung, dass jemand von oben das regelt – das eitert einfach nicht heraus. (Die Generation unserer Eltern versucht das immer noch.) Vielleicht kann das helfen, sich der Ostdeutschen Denke anzunähern.
Seit den ersten Pegida-Demos in Dresden (das geht schon seit 2015), frage ich mich, warum hier solche Gedanken Humus finden. Die Masse hat Arbeit. Haben beide Eltern Jobs, ist ein Urlaub im Jahr mindestens drin. Die Bildung stimmt – auch wenn uns hinten und vorn die Lehrer fehlen. Der Spagat Familie-Beruf ist – zumindest auf dem Land – machbar. Auf dem Land: da leben die, die da geblieben sind. Leute, die ziemlich gebrochene Erwerbsbiografien haben, die nicht weggehen wollten, die keinen Schneid hatten, die ihre Wurzeln nicht kappen wollten oder konnten. Die jungen, gut ausgebildeten haben die Flucht ergriffen und tun es noch. Ich weiß, das ist kein typisch ostdeutsches Problem. Die Dimension der Landflucht allerding schon. Was nahezu komplett fehlt, ist meine Generation. Dreiviertel meiner ehemaligen Klasse (Oberschule) weg, dreiviertel meiner Seminargruppe (Fachschule) arbeitet in westdeutschen Kliniken, mehr als die Hälfte meines Abiturjahrgangs weg. Diese Lücke fühlen wir tagtäglich. Umgeben von Senior*innen in beigefarbenen Westen, die auf ihre Jugend zurück blicken, den Wert von Heimat ganz anders definieren als wir und sich nicht als Teil der Gesellschaft sehen, braucht man ein breites Kreuz. Ein sehr breites.
Blitzgescheite, reflektierte Menschen haben es mitunter sehr schwer. Dinge zu hinterfragen, dass das eigene Tun Folgen hat, jeder für sich verantwortlich ist oder Demokratie auszuhalten – das zählt nicht unseren Kernkompetenzen. Die Generation unserer Eltern tut sich damit sehr schwer. Wir, die Mitte der 1970er geborenen, üben uns darin. Täglich.
Vielleicht ist das der Vorsprung, den man in den alten Bundesländern uns gegenüber hat. Nach dem zweiten Weltkrieg zogen in den drei westlichen Besatzungszonen demokratische Verhältnisse ein. Die russischen Besatzer kannten nichts anderes als Diktatur. Während man in der BRD vierzig Jahre Demokratie ausprobieren durfte, sie erlernen konnten, stolperten wir – gewollt – hinein. Ruhiggestellt von DM-Mark und Reisefreiheit hat sich keiner so richtig für die Demokratie interessiert. Abgelenkt von Massenarbeitslosigkeit kümmerte man sich um sich. Nur um sich.
Jetzt, wo wir nahezu Vollbeschäftigung haben, ist das immer noch so. Viele sind sich selbst der Nächste. Gesellschaftliches Engagement findet im Fußballverein, der Feuerwehr oder im Schulförderverein aber kaum in der Flüchtlingshilfe statt. Hauptsache, uns geht es gut und wir können den Wohlstand halten. Globales Denken oder gar Verantwortung – Fehlanzeige.
Dass etwas im großen Ganzen nicht stimmt, merken die Leute seit der Flüchtlingskrise. Auseinandersetzen will man sich damit nicht. „Das sollen die da oben regeln.“ Merken Sie, da ist er wieder der Ruf nach einer dritten Person. Wie sich aber die Ereignisse überschlugen, die Kommunen mit der Unterbringung überfordert waren, auf einmal Leute da waren, die eine geballte Ladung Testosteron mitbrachten bzw. manche deutsche Verhaltensregeln nicht kannten oder ignorierten, wuchs der Frust. „Warum soll ich im Bus bezahlen und der Ausländer nicht?“ Fünf Euro für ein Ticket sind für mich kein Thema; für manch ältere Dame mit Mindestrente schon. Das sei nur als Beispiel genannt. Aber das Aussitzen unserer Sächsischen Staatsregierung trug dazu wesentlich bei. Es entschuldigt nicht das Verhalten der Sachsen/ Sächsinnen, die wieder mitlaufen und simple Lösungen für ein komplexes Problem haben wollen.
Ich persönlich ziehe vor dem jetzigen Ministerpräsidenten Kretschmer den Hut. Er soll binnen eines reichlichen Jahres die Kohlen aus dem Feuer holen, die Tillich, Milbradt und Konsorten verursacht haben. Er ist authentisch; logisch, dass ihm Fehler passieren. Die Beharrlichkeit des Dialogs ist anerkennenswert. Es muss aber sein. Ohne diesen Draht erfahren wir nichts voneinander.
Was mich immer wieder den Kopf schütteln lässt, ist die Tatsache, dass dreißig Jahre für zur Ausbildung eines demokratischen Selbstverständnisses nicht ausreichen. Eine letzte Überlegung dazu: Mit dem Abriss von Kirchen (siehe Paulinum Leipzig; Städtebaupolitik Walther Ulbricht) fielen auch die christlichen Werte. Was den Leuten heilig ist, wissen sie oft selbst nicht. Trotzdem rennen sie den Verkündern solcher Werte nach. Klingt an den Haaren herbeigezogen; sollte aber mitbedacht werden.
Die Würde des Menschen unantastbar. Das schmier‘ ich den Leuten aufs Brot – ob sie es hören wollen oder nicht. Denn ändern lässt sich die Misere nur, wenn wir miteinander und nicht übereinander reden.
Herzlichst!
Beatrix
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Was schön war, Samstag/Sonntag, 25./26 August 2018 – Politische Goldene Hochzeit
Samstag früh um kurz vor acht trug ein schnuffiger IC F. und mich ins Schwäbische, wo mein Patenonkel und seine Frau ihre Goldene Hochzeit feierten. Normalerweise sitzen wir lesend oder dösend im Großraumwagen nebeneinander, wenn wir länger Zug fahren, aber hier gab es nur Abteile, wir hatten netterweise eins für uns, und so klönten wir entspannt bis Ulm. Das fehlende Dösen rächte sich ein bisschen in einem Nachmittagstief, aber das konnten wir mit Kaffee und frischer Luft bekämpfen.
Wir hatten in Ulm zwar bewusst eine gute halbe Stunde Aufenthalt zum Umsteigen gewählt anstatt der auch möglichen sieben Minuten, aber die Zeit reichte natürlich nicht, um kurz zum Münster rüberzuhüpfen. Ich bewunderte es beglückt aus der Ferne.
Am Zielort angekommen, wurden wir mit dem Auto abgeholt und zur ungefähr 800 Meter entfernten Kirche chauffiert, da hatte sich Frau Gröner in Maps arg bei der Entfernung verguckt. So waren wir etwas zu früh da, konnte dafür aber dem Posaunenensemble mehrfach dabei zuhören, ein Motiv aus einem der später zu singenden Lieder zu spielen. Überhaupt war es schön, mal wieder laut zu singen, vor allem „Bewahre uns Gott“, das mag ich sehr gerne. (Memo to me: endlich in München eine Gesangslehrerin suchen.)
Dann ging’s mit der ganzen Festgesellschaft in einen nahegelegenen Gasthof, wo die üblichen Familienfeierportionen auf uns warteten. Ich glaube allmählich, für derartige Feste trainiert man sich im Laufe seines Lebens einen eigenen Magen an. Wir hatten eine äußerst angenehme Tischgesellschaft, darunter auch den Sohn des Ehepaars und seine Frau, die schon bei der Goldenen Hochzeit meiner Eltern an meinem Tisch gesessen hatten. So konnten wir quasi nahtlos an unsere Gespräche über Kunst und Religion – die beiden sind Pastor*innen – anknüpfen.
Was mir an der Feier besonders gefallen hat, war das Rahmenprogramm, wenn man es so nennen kann. Das Ehepaar selbst hatte sich die üblichen Bilder ausgesucht, die nach dem Mittag und vor Kaffee und Kuchen gezeigt wurden – also im kleinen Zeitfenster von gefühlt 20 Minuten. Wir sahen Dias von der Hochzeit (Dias = gescannte Fotos über Beamer und Laptops der Söhne), einige Menschen wurden besonders erwähnt, weil sie nicht mehr am Leben waren und man an sie erinnern wollte. Und dann erwartete ich den üblichen Rückblick auf 50 Jahre Familienleben, aber: Die Söhne hatten sich etwas leicht anderes ausgedacht. Sie erinnerten daran, dass die Eltern ja ausgerechnet 1968 geheiratet hatten – ein Jahr, das für die Gesellschaft der Bundesrepublik eine gewisse historische Zäsur war. Praktischerweise waren viele der Gäste im Saal damals auch schon dabeigewesen, man habe also eine Menge Zeitzeugen versammelt, die der nachfolgenden Generation vielleicht etwas erzählen konnten. Und so starteten sie die Fragerunde gnadenlos mit einem Bild des Prager Frühlings und fragten ihre Eltern, wie sie die Ereignisse damals erlebt hätten. Was ich spannend fand – und womit ich ehrlich gesagt nicht gerechnet hatte: Nicht nur das Ehepaar erzählte kurz, sondern es schilderten auch sofort einige Gäste ihre Sicht. So meinte die Frau meines Patenonkels, dass sie die Ereignisse zwar mitbekommen hätte, aber keine Angst gehabt habe, woraufhin sich eine ältere Frau mit erkennbar sächsischem Akzent meldete, deren Freunde damals bei der NVA gewesen waren, um die hätte sie schon Angst gehabt. Ein Herr meinte, er wäre damals gerade frisch bei der Bundeswehr gewesen und auch dort sei diskutiert worden. Alleine für diese fünf Minuten hatte sich die ganze Feier gelohnt. (Ich erwischte mich wie in guten Vorlesungen dabei, mit offenem Mund zuzuhören.)
Es kamen natürlich auch entspannendere Fragen dran; wir hörten Heintje und sahen das Plakat von „Zur Sache, Schätzchen“, verbunden mit Fragen zu eigenen Lieblingssongs oder ob man gemeinsam im Kino war. War man interessanterweise eher selten, woraufhin ich meine Eltern, die auch da waren, gleich mal fragte, wie das bei ihnen war; ich wusste ja, dass Mama Autogramme der gesamten deutschen Filmbranche der 50er Jahre gesammelt hatte und dass Papa stapelweise Filmprogramme von Western im Keller hortete, aber auch die beiden waren kaum gemeinsam im Kino gewesen. Wieder was gelernt. Auch lustig: Bei der Frage, ob es die Hippiebewegung auch in die schwäbische Kleinstadt geschafft hätte, gingen die Meinungen sehr auseinander, von „Davon habe ich nichts mitbekommen“ bis zu einem verschmitzten „Aber hallo“.
Das Ehepaar ist bis heute ehrenamtlich sehr engagiert, was bereits damals begonnen hatte. So erzählte die Frau meines Patenonkels von der Umbenennung der männlichen und weiblichen Pfadfinderverbände bzw. der neuen Logoentwicklung. Kurz zuvor war aus dem Christlichen Verein junger Männer der Christliche Verein junger Menschen geworden. Bei den Pfadfindern wollte sie diese „Vereinnahmung“ der Frauen nicht einfach so hinnehmen und sie erklärte uns das Logo des 1973 entstandenen, gemeinsames Vereins : Die Lilie entstamme den christlichen Pfadfindern, das Kleeblatt drumrum den Pfadfinderinnen; beide bleiben sichtbar. Und ich saß wieder mit offenem Mund rum.
Ich fand es spannend, bei Menschen, die man seit fast 50 Jahren kennt, noch neue Facetten zu entdecken. Gerade meine „Tante“ hatte ich jetzt gar nicht als eine so dezidierte Streiterin für Frauenrechte wahrgenommen, obwohl mir die menschenfreundlichen und fortschrittlichen Ansichten der beiden natürlich klar gewesen war. Das war mit dem Effekt vergleichbar, wenn man alte Fotos der eigenen Eltern anschaut, die vor der Zeit entstanden sind, bevor man selbst auf der Welt war; es ist immer seltsam sich daran zu erinnern, dass die eigenen Eltern mal in dem Alter waren, in dem man selbst ist, mit ähnlichem Quatsch im Kopf, mit einem Lebensentwurf, mit Zielen und Plänen. Sie waren Einzelpersonen, bevor sie ein Paar und Eltern wurden, aber ich kenne sie halt nur im Doppelpack und vergesse manchmal, dass auch sie sich finden und zusammenraufen mussten.
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Wir fuhren abends wieder nach München zurück, und nach dem langen Tag schlief ich recht schnell ein und erholte mich den Sonntag über alleine von den vielen Menschen am Samstag. Ich machte einen langen Spaziergang zu einer bewusst gewählten weiter entfernten Packstation und holte frischen Espresso ab, für den ich netterweise einen Gutschein geschenkt bekommen hatte. Dann schlief ich wie immer bei der Bundesliga auf dem Sofa ein, las ein bisschen die FAS, die ich gerade als vierwöchiges Geschenk der FAZ kriege, daddelte Candy Crush, plante im Kopf am Umzug weiter, bereitete mir abends herrliche Frühlingszwiebelpfannkuchen zu und schlief ebenso entspannt ein wie am Samstag.
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Was schön war, Montag, 21. August 2018 – Der Schlüssel zum Luftschloss
Seit fast sechs Jahren wohne ich jetzt in München in meiner Einzimmerwohnung mit Wohnküche aka Wohnschlafzimmer plus Küche mit Arbeitsecke. Als ich hierherzog, sollte das nur eine Zweitwohnung sein; ich kaufte bei Ikea ein Bett, einen Sessel, ein Regal, einen Küchentisch, einen Bürocontainer und eine Art halbe Küchenzeile aus Edelstahl, um ein bisschen mehr Arbeitsfläche zu haben (die von Anfang an eher Abstellfläche wurde). Meine eigentlichen Habseligkeiten lagen schön in Hamburg in unserer Riesenwohnung.
Als Kai und ich uns 2015 trennten, wurde aus dem Zweitwohnsitz der einzige Wohnsitz, und ich musste meinen Krempel, der sich bequem in 120 qm Altbau breitgemacht hatte, auf 44 qm Neubau quetschen. Was natürlich nicht funktionierte; bis heute steht Zeug bei meinen Eltern und noch ein winziges bisschen bei Kai. In München wurde das Ikeabett auseinandergebaut und in den Keller gezerrt, damit mein Monstersofa (bestes Sofa ever, ich will nie wieder ein anderes) und eine Schlafcouch als Bettersatz Platz hatten. Das eine Regal wanderte in den kleinen Flur und wurde Abstellfläche, und im Wohnzimmer fanden stattdessen sechs Billys mit Aufsätzen ihre neue Heimat. Seitdem schaue ich verliebt auf diese Bücherwand, denn das war ein Punkt auf meiner Bucket List: irgendwann eine Wohnung zu haben, in der ich eine komplette Wand mit Büchern vollstelle, von Wand zu Wand, vom Boden bis zur Decke.
Auch deswegen mag ich meine kleine Wohnung; zudem hat man sie sehr schnell durchgeputzt, und ich verlege in ihr nie irgendwas, weil ich schlicht keinen Platz habe, um es zu verlegen. Aber so nach und nach gingen mir immer mehr Dinge auf den Zeiger. Solange ich ganz alleine hier war bzw. nur ab und zu mal der ehemalige Mitbewohner (auf dessen Sofa ich die ersten zwei Monate in München gewohnt hatte) auf ein Bier vorbeischaute, war der Tisch in der Küche immer ein Schreibtisch und halt ab und zu ein Esstisch. Ich esse seit Jahren am liebsten auf dem Sofa, den Teller irgendwie auf den Knien, außer wenn ich mir Spargel mache, den esse ich brav am Tisch. Aber das hat schon seinen Grund, warum ich gerne Dinge zubereite, die man in einen und aus einem tiefen Teller schaufeln kann. Neuerdings (jetzt auch schon drei Jahre, hui) habe ich aber nun F. an meiner Seite, der sehr gerne an meinem Tisch sitzt und sich bekochen lässt bzw. mit dem ich hier gerne eine Flasche Wein köpfe. Deswegen muss ich dauernd meine Bücher für die Uni oder meine Unterlagen für die Werbung oder meinen Steuerkram oder ähnliches wegräumen. Und weil ich keinen Platz habe, liegt das Zeug dann auf dem Drucker, der auf dem Bürocontainer steht, oder auf der Heizung, oder hinter mir in einem der zwei Bonde-Regale, die auch aus Hamburg hierhergewandert sind. Nie hat irgendwas, mit dem ich arbeite, einen festen Platz, und das nervt. Ich bin keine Strickmutti, die nebenbei was für Etsy bastelt, ich arbeite hier, wenn’s gut läuft, 40 Stunden die Woche wie an einem Agenturschreibtisch. Daher hätte ich gerne einen anständigen Arbeitsplatz, an dem alles da liegt, wo ich es haben will und wo sich Arbeit nach etwas Wertzuschätzendem anfühlt und nicht wie irgendwas, was ich halbherzig runterhusche, bevor ich den Tisch für Männe decke.
Dann: das Schlafsofa. Ich hasse es, das Ding aufzubauen, und nach fast 20 Jahren ist die Matratze auch echt nicht mehr die beste. Deswegen werfen wir immer zwei normale Matratzen oben drauf, die tagsüber hochkant hinter dem zusammengeklappten Schlafsofa an der Wand lehnen. Ich sehe das schon gar nicht mehr, aber es nervt trotzdem. Ich hätte gerne mal wieder ein Bett, in das ich abends einfach reinfallen kann anstatt es erst herstellen zu müssen.
Kurz: Ich quengele seit Monaten, dass ich wirklich gerne mal wieder ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer hätte. Und weil meine Textertätigkeit in diesem Jahr richtig gut läuft, so als ob ich nie studiert hätte, begann ich vor einiger Zeit, spaßeshalber in den Immobilienportalen nach einer neuen Wohnung zu schauen. Das ließ ich aber meist sofort wieder bleiben. Wenn Sie mögen, können Sie ja mal nach drei Zimmern auf mindestens 60 qm in der Maxvorstadt schauen, dann wissen Sie, warum ich das wieder ließ. Da werden Summen abgerufen, die wirklich nicht mehr feierlich sind. Ich guckte also kurz, ließ es wieder, quengelte, guckte wieder, ließ es wieder, quengelte. Außerdem wollte ich nicht aus diesem Viertel raus, am liebsten wollte ich gar nicht aus diesem Haus raus, und einer meiner Standardsätze in den letzten Monaten zu F. war: „Wenn hier irgendwas im Haus frei wird, zieh ich da rein.“
Und so ging ich vor zwei Wochen auf meinen üblichen Samstagseinkauf und sah, dass direkt im Stockwerk unter mir jemand auszog. Ich wollte nicht so dreist in die Wohnung schauen und auch den armen schleppenden Kerlen nicht im Weg stehen, aber ich konnte mir natürlich ausrechnen, dass das mindestens zwei, vermutlich sogar drei Zimmer waren, die da schräg unter mir frei wurden.
Den Rest des Wochenendes schickte ich Stoßgebete zum Himmel, dass das bitte drei Zimmer sein mögen und rief montags um eine Minute nach neun Uhr den Verwalter an, dem man deutlich anhörte, dass er gerne erstmal reingekommen wäre und einen Kaffee getrunken hätte. Trotzdem beantwortete er mir brav meine hektischen Fragen: „Ja, die Wohnung ist frei, noch nicht wieder vermietet. … Drei Zimmer. … 82 Quadratmeter.“ Und dann kam die Miete, und wenn Sie brav in den Immoportalen geguckt haben, dann hätten Sie jetzt genauso nach Luft geschnappt wie ich, nämlich: SO WENIG? Also natürlich immer noch eine irrwitzig hohe Zahl, aber für diese Lage in München … geschenkt will ich nicht sagen, aber ich hatte mit 300 mehr gerechnet. Und so bat ich dringendst um einen Besichtigungstermin und stellte im Kopf schon die Möbel um.
Die Besichtigung war dann eine Woche später und ich war … ein winziges bisschen enttäuscht. Muss ich leider zugeben. Bis jetzt wusste ich bei jeder Wohnung, in die ich zur Besichtigung reinkam, sofort, ja, die isses oder nee, die isses nicht. Bei dieser sagte mein Bauch: Hase, ich weiß nicht so recht.
Das ließ ich mir natürlich nicht anmerken, fand alles pflichtschuldig toll und sagte, dass ich die Wohnung haben möchte, denn hey, drei Zimmer in meinem Haus und bezahlbar? Was ist daran nicht super?
Genau das wusste ich nicht. Ich wusste nicht, warum mein Kopf brav sagte, natürlich nimmst du die, bist du irre, die ist genau das, was du gesucht hast. Aber mein Bauch nöckelte rum und kam mit solchen Sachen wie „Aber die hat keine Abstellkammer, alle meine Wohnungen hatten Abstellkammern“ oder „Ach, Balkon brauch ich gar nicht so dringend, hatte ich noch nie, vermisse ich gar nicht“ oder „Meine geliebte Bücherregalwand – das Balkonzimmer ist so doof geschnitten, dass ich keine ganze Bücherwand mehr habe, und die liebe ich doch so“ oder „Das Bad hat so komische hellblaue Dekofliesen“ und wenn ich meinem Bauch nicht irgendwann gesagt hätte, er solle die Klappe halten, hätte er sich noch darüber beschwert, dass der Briefkasten nicht so schön hängt wie mein jetziger und der Kellerraum vermutlich weiter weg ist.
F. diskutierte mit mir alles brav aus und hatte hervorragende Gegenvorschläge, der gute Mann. „Da waren zwei Wandschränke und der eine ist auf jeden Fall tief genug für Staubsauger und Wäscheständer“ und „Aber auf dem Balkon kannst du endlich Kräuter züchten!“ und „Dann mach doch das Balkonzimmer zum Arbeitszimmer und das Zimmer nach vorne raus zur Bibliothek, dann hast du wieder die schöne Bücherwand“ und „Scheiß auf das Bad, echt jetzt mal, da ist man nicht lange genug drin, um sich über Dekofliesen aufzuregen“. Ich sollte erwähnen, dass ich in Hamburg einem Tischler 1400 Euro in die Hand gedrückt habe, damit er mir eine Badeinrichtung maßschneidert, weil ich die Ikea-Schränke nicht mehr sehen konnte.
Und so war der Bauch noch nicht überzeugt, und F. meinte schließlich, ich möge doch bitte die Hamburger Damen anrufen, vielleicht hätten die noch was Schlaues zu sagen. Das tat ich dann auch, und eine von beiden meinte, dass ich vielleicht deshalb mit dem Umzug hadere, weil ich gar nicht auf ihn vorbereitet war. Eigentlich hatte ich mich in meiner kleinen Quengelwohnung eingerichtet, weil es eben nicht anders geht. Und zudem lief seit Jahren endlich mal alles ruhig vor sich hin. Studium ist durch, Diss holpert zwar, läuft aber auch, Beziehung passt, Werbung passt, die wilden fünf Jahre sind rum. Endlich wieder langer ruhiger Fluss. Und dann kommt da auf einmal so ein Umzug!
Dann meinte sie noch etwas, bei dem mir erst in diesem Moment klar wurde, dass sie damit recht hatte: „Du trauerst immer noch den 120 qm in Hamburg hinterher, aber die wirst du in München nicht wiederfinden (und nicht bezahlen können). Und du kannst noch 50 andere Wohnungen angucken wie Kerle bei Tinder und immer wieder wegswipen, weil keine so ist wie die in Hamburg, aber die ist halt durch. Hör auf die neue Wohnung: „Ich bin nicht perfekt – aber ich bin da. Und du kannst entspannt in mich reinziehen und mich total hübsch machen.““
Das klang sehr schlau. Am nächsten Morgen rief ich wieder beim Verwalter an und erwartete, dass jetzt die übliche Leier käme von wegen „Wir haben noch andere Interessenten, wir gucken mal“, aber stattdessen kam: „Wir kennen uns ja schon gut. Dann kommen Sie doch nächste Woche rum, um den Mietvertrag zu unterschreiben.“ Und das war dann das. Auf Wiedersehen, Zweitwohnsitz, Studibutze und „Geht halt nicht anders“-Wohnung.
Passenderweise zog Kai ausgerechnet an diesem Tag auch endlich aus unserer ehemals gemeinsamen Wohnung aus. Er postete sie in leerem Zustand, ich verabschiedete mich ein weiteres Mal, und jetzt ist dieser Lebensabschnitt wirklich endgültig vorbei.
Seit letzter Woche fiepse ich panisch, dann freue ich mich, dann denke ich an den Kontostand – meine neue Miete ist mehr als doppelt so hoch als meine jetzige –, aber dann denke ich an ARBEITSZIMMER UND SCHLAFZIMMER UND BIBLIOTHEK UND WOHNKÜCHE SCHEISS AUF DAS BAD und freue mich endlich richtig. Gestern unterschrieb ich den Mietvertrag, worüber ich spontan gar nicht jubeln konnte, weil ich direkt danach noch einen Kundentermin hatte (yay, Geld für die neue Miete verdienen), aber abends köpfte ich dann alleine ein Fläschchen Le 7 und stieß auf mein Glück an. Das wird der kürzeste Umzug ever, und ich ignoriere einfach noch ein bisschen, dass ich hier mit 42 Bücherkisten angerückt kam, die jetzt alle wieder gepackt werden wollen.
Als ich vor knapp sechs Jahren in diese Wohnung zog, bestellte ich drei Zwölferkisten Le 7, meinen geliebten roten Blubberschaumwein. Gestern leerte ich die fünftletzte Flasche. Bis zum Umzug trinke ich noch drei, und mit der allerletzten taufe ich dann die neue Wohnung. Ich mag solche Abschlüsse gern.
Andererseits hätte ich in meiner neuen Küche endlich Platz für meine Weinregale, die noch im Keller stehen. Vielleicht trage ich auch noch drei Flaschen die eine Treppe runter.
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Fehlfarben 16: Wiedereröffnung der Alten Pinakothek
Nach vier Jahren Bauzeit ist die Alte Pinakothek in München wieder (fast) komplett begehbar, im Erdgeschoss wird noch gewerkelt, aber der erste Stock ist baustellenfrei und alles hängt da, wo es hingehört und nicht, wie in den letzten vier Jahren, irgendwo in der Gegend rum. Grund genug für uns, das Museum neu für uns zu entdecken, alte Lieblinge erneut zu begrüßen und vielleicht andere zu finden.
Unsere gestrige Aufnahme war daher etwas anders als sonst, wo wir über aktuelle Ausstellungen sprechen. Dieses Mal stellt jeder von uns drei Werke vor, die sich auch die anderen im Vorfeld angeschaut haben. Und weil in der Alten Pinakothek nur gemeinfreie Bilder hängen, könnt ihr dieses Mal sogar quasi mit uns bummeln; die jeweiligen Bilder sind unten verlinkt und ihr könnt sie euch anschauen, während ihr uns zuhört.
Nebenbei gab’s auch bei 30 Grad Wein, ja, so ernst nehmen wir unsere Aufgabe, und wenn dann gleich richtig: Es gab Rotwein aus der Pfalz, Jahrgang 2014, als im Museum die Bauarbeiten begonnen hatten.
Ich habe vergessen, vor der Aufnahme ein Bild zu machen und das nach der Aufnahme nervt mich heute, daher gibt’s hier eine Ansicht des schönsten Museumstreppenhauses ever, das nach den Bauarbeiten auch wieder in beiden Aufgängen begehbar ist. Es stammt aus der Nachkriegszeit, wurde von Hans Döllgast entworfen und gilt, mit dem Rest des von einer Bombe getroffenen Hauses, heute als Musterbeispiel eines Wiederaufbaus, der alte Wunden nicht einfach überdeckt.
Podcast herunterladen (MP3-Direktlink, 79 MB, 100 min), abonnieren (RSS-Feed für den Podcatcher eurer Wahl), via iTunes anhören.
00.00:00. Begrüßung und Vorstellung.
00.04:45. Der erste Rotwein. Nur echt mit Klagen über die Temperaturen.
00.05:50. Bevor wir über das erste Bild sprechen, weise ich auf die Online-Sammlung der Pinakotheken hin; ich hatte mal darüber gebloggt. Aber dann:
00.08:20. Ich beginne mit einem Diptychon von Hans Memling: links Maria im Rosenhag, recht Der hl. Georg mit Stifter. Ich erwähne meine Hausarbeit aus dem ersten Semester, die ich netterweise nicht online gestellt hatte (puh), aber ich habe meine Referatsnotizen zu einem weiteren Diptychon von Memling wiedergefunden, das ich auch erwähne. Die kann man auch noch rumzeigen, die sind nicht so peinlich wie die Hausarbeit. (WIR MUSSTEN ALLE MAL IRGENDWO ANFANGEN!) Ich erwähne außerdem des Öfteren den Paumgartner-Altar von Albrecht Dürer. (Links, Mitte, rechts.) Ich hatte allerdings keine Zeit, auf das Säureattentat auf dieses Werk hinzuweisen, das daher erst seit 2010 nach 21 Jahren Restauration wieder gezeigt wird.
00.18:15. Felix spricht über einen der Greatest Hits des Museums, den Columba-Altar von Rogier van der Weyden. (Links, Mitte, rechts.) Ich erzähle übrigens Quatsch über die Architektur im Bild, was mir beim Nachhören sehr peinlich war. Dafür erwähnt Felix ein Begleitheft zur Ausstellung „Das Alte Testament – Geschichten und Gestalten“, das heute noch erhältlich und sehr hilfreich ist. Das Heft sowie andere kleine Einführungsbücher in die christliche Ikonografie gibt’s praktischerweise im Museumsshop.
00.28:50. Albrecht Dürer hatten wir schon erwähnt; nun spricht Florian über ein weiteres, sehr bekanntes Meisterwerk aus der Sammlung: sein Selbstbildnis im Pelzrock. Wir erwähnen, dass Pinsel aus Eichhörnchenhaar gefertigt werden und eine Kopie des Bildes – es ist aber vermutlich nicht dieses Bild.
00.36:40. Der zweite Rotwein wird getestet.
00.39:00. Zweite Runde alte Bilder: Ich schwärme von meinem Lieblingsbild in der Alten Pinakothek, bei dem ich nie begründen kann, warum es mein Lieblingsbild ist, aber ihr müsst euch das einfach alle mal anschauen: Lorenzo Lottos Mystische Vermählung der hl. Katharina.
00.45:30. Felix macht uns auf den Tresenjesus im Italienersaal aufmerksam (danke dafür): Luca Signorellis Madonna mit dem Kind. Wir erwähnen den Dornauszieher aus den Kapitolinischen Museen (nicht aus den Vatikanischen, wie ich rumblubbere).
00.54:10. Florian stellt Die Flucht nach Ägypten von Adam Elsheimer vor und belegt, dass es sich auch immer lohnt, in den Seitenkabinetten rumzulaufen und nicht nur in den großen Sälen.
01.01:00. Der letzte Rotwein.
01.05:20. Und die letzte Runde Bilder: Ich mache euch auf Werke aufmerksam, die nicht auf Augenhöhe hängen, und beschreibe ein Bild, das vier Teile hat, von Melchior d’Hondecoeter. (Von links: eins, zwei, drei, vier.)
01.13:00. Florian stellt eins der Bilder im Erdgeschoss vor (bisher waren wir nur in den oberen Sälen): Das Schlaraffenland von Pieter Bruegel dem Älteren.
01.20:00. Auch Felix bleibt unten und erzählt etwas über den Johannesaltar (Links, Mitte, rechts) von Hans Burgmair dem Älteren. Wir erwähnen den „Dürer-Hasen“ auf der Mitteltafel – der ist aber, wie wir nach der Aufnahme festgestellt haben, nur online in der Abbildung zu sehen und nicht im Original; dort wird er fieserweise vom Rahmen verdeckt. Armes Häschen.
01.27:45. Unser Bonusbild ist eine Leihgabe aus dem Rijksmuseum: Die Briefleserin in Blau von Johannes Vermeer.
01.33:33. Wir lösen die Weine auf:
Wein 1: Roter Fitz, ein Cuvee aus Cabernet Sauvignon, St. Laurent und Cabernet Franc vom Weingut Fitz-Ritter, 2014, 13%, direkt beim Winzer für 10 Euro.
Wein 2: ein Schwarzriesling vom Weingut Wageck, 2014, 13%, für 15 Euro bei wirwinzer.de.
Wein 3: ein Schwarzriesling vom Weingut Benderhof, 2014, 13%, für 9 Euro bei wirwinzer.de.
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Was schön war, Freitag, 27. Juli 2018 – Theatermond
Vormittags saß ich im ZI, um mich gebührend auf unseren neuen Podcast vorzubereiten (und weil die Bibliothek so perfekt klimatisiert ist). Wir nehmen heute auf, das heißt, vermutlich gibt es hier morgen schon was zu hören.
Ich hatte mir schon zuhause in der hauseigenen Suchmaschine ein paar Bücher rausgepickt und die Signaturen im Moleskine notiert, sammelte nun entspannt fünf, sechs Wälzer ein, ließ andere einfach stehen und las drei Stunden lang zum Spaß in der Gegend rum. Hat alles nichts mit der Dissertation zu tun, was auch mal ganz schön war.
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Gegen 12 war ich fertig und hatte genug zusätzliche Infos zu den Bildern, die ich besprechen möchte; ich bummelte über den Königsplatz zum Kunstbau des Lenbachhauses. Ich staunte darüber, dass das Gras auf dem Platz sich schon weitestgehend von den 25.000 Menschen erholt hat, die es letzten Sonntag bei der #ausgehetzt-Demo plattgetreten hatten, und bewunderte wie immer die Propyläen. Danach ging ich in den Kunstbau und schlenderte durch Dan Flavins Neonlichter, die übrigens umsonst zu sehen sind.
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Ich buk das zweite Brot in dieser Woche, weil das letzte nicht so richtig aufgegangen war. Das gestrige war auch nicht ganz so hübsch wie die bisherigen, vermutlich weil es der Hefe gerade zu warm ist. I feel you, Hefe!
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Abends war ich mit F. in den Kammerspielen verabredet. Wir sahen No Sex von Toshiki Okada. Im Stück treffen sich vier junge Männer in einer Karaokebar und singen Liebeslieder, um sie danach zu sezieren und zu überprüfen, ob diese Songs über Liebe etwas in ihnen hervorgerufen haben. Ich wollte das Stück gar nicht so lustig finden wie ich es dann doch fand, denn zwischen den absurden und gleichzeitig anrührenden Dialogen wurden Themen wie Lieblosigkeit, Selbstentfremdung, Zukunftsangst angerissen; bei einigen Sätzen musste ich an die Mistkerle der Incel-Bewegung denken. Ich haderte im Nachhinein damit, dass mal wieder nur Jungs über ihre Sexualität – oder was sie sich darunter vorstellen – reden dürfen. F. meinte im Nachhinein, dass eine Rolle der vier eigentlich mit einer Schauspielerin hätte besetzt werden sollen, die aber wegen Überarbeitung abgesagt hatte. Warum es dann doch vier Kerle auf der Bühne wurden, verstehe ich dann nicht. Die damit einzige Frau im Stück ist dann auch diejenige, die Sex und Körperkontakt deutlicher verbalisiert als die Herren: Sie sagt „vögeln“, wo die Jungs von „Inter-Treatment“ sprechen. Sie scheint auch ein deutlich gesünderes Verhältnis zu ihren Bedürfnissen zu haben, und das stieß mir ein bisschen auf, dass die Frau für die triebhafte Körperlichkeit und die Männer für die geistige Auseinandersetzung stehen.
Während des Stücks singen alle sechs Personen irgendwann mal Karaoke (mit deutschen Texten). Bei Benjamin Radjaipour und seiner „Wie ne Jungfrau“ von Madonna merkte man recht deutlich, dass er sich anstrengend musste, eher durchschnittlich zu singen; den Mann würde ich gerne mal hören, wenn er zeigt, was er kann. Und bei Franz Rogowskis „Eventuell“ musste ich konstant gackern, zu schön war die Übersetzung von „Maybe“ von Janis Joplin.
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Normalerweise kehren F. und ich nach Theater- oder anderen Veranstaltungsabenden irgendwo auf einen Wein oder ein Helles ein, aber gestern wollten wir natürlich die Mondfinsternis bestaunen. Auf dem Weg von den Kammerspielen durch den kühleren Hofgarten (Bäume my love!) bis zum Odeonsplatz konnten wir nirgends einen Mond entdeckten, und auch meine Timeline meckerte geschlossen, dass nichts zu sehen war. Von F.s Zauberbalkon runter konnten wir ihn aber sehen: direkt über dem Heizkraftwerk in der Maxvorstadt stand eine staubigrote Kugel im Himmel rum und rechts unter ihr ein sehr heller Planet, der Mars, wie ich im Vorfeld gelesen hatte. Ich winkte Spirit, Sojourner und Curiosity zu, wir köpften einen Prosecco, und wo wir eigentlich nur kurz mal hatten gucken wollen, blieben wir dann über zwei Stunden auf dem Balkon sitzen und starrten zu unserem Trabanten hoch.
Ich fand es spannend zu sehen, dass der Erdschatten den Mond anders aussehen ließ als wenn er teilweise von der Sonne angestrahlt wird; die Sichelform war die gleiche, aber er kam mir kugeliger vor als sonst. Irgendwann fand ich es sehr unheimlich, auf den Schatten eines Planeten zu gucken, auf dem ich gerade selber sitze. Das sind die Momente in der Astronomie, wo ich mit einem Teddybär unter mein Bett klettern will, dieses Merken, wie winzig man ist und wie irrwitzig, unbeschreiblich und für mich schlicht unverständlich groß alles andere.
In meinem Kopf stießen dann Sätze zusammen wie „Wow, wie großartig, es ist so toll, das zu erleben, what a time to be alive“ und „MeTwo in der Timeline, AfuckingD im Bundestag, Trump, Putin, Orban, die polnische Justiz, die Angst um Europa“. Genau deswegen versuche ich meine Zeit auf Twitter etwas einzudämmen, um nicht ständig daran zu erinnert werden, die scheiße wir als Menschheit uns derzeit mal wieder aufführen. Aber gleichzeitig fand ich es schön, mit meiner Timeline gemeinsam dieses Naturwunder zu bestaunen.
Ich finde das sehr rührend, wie wir zynischen, fiesmöppigen Interwebpeople gerade alle in den Himmel starren. #Mondfinsternis2018
— Anke Gröner (@ankegroener) 27. Juli 2018
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Was schön war, Mitte Juli – Sommerferien
Die ganze letzte Woche durfte mein Kopf sich schon ausruhen bis auf die kleine Referat-Insel für die geschätzte Korrekturleserin. Das hat mir viel Freude gemacht, meine Dissertationspläne auszubreiten, Bilder zu zeigen und Dinge gefragt zu werden.
Ansonsten ließ ich Bücher in Bibliotheken liegen, sagte Verabredungen ab, gab Theaterkarten weiter und machte: gar nichts. Außer mich auszuruhen, spazierenzugehen, zu backen, zu kochen und einen kurzen Urlaub auf Lindau am Bodensee für diese Woche zu buchen. Jetzt wo ich wieder in München bin, weiß ich: Ich habe einen viel zu kurzen Urlaub gebucht.
Ich kam bei leichtem Regen an, also genau bei meinem Wetter, rollkofferte ins Hotel und verließ es sofort wieder, um ans Wasser zu rennen, Meer, See, alles egal, hauptsache Wasser. Und so saß ich auf einer nassen Bank unter meinem Schirm, guckte auf den Bodensee und atmete ein und aus und wieder ein und wieder aus und war nach zehn Minuten schon entspannter als alle letzten Wochen zusammen.
Das Wetter wurde schnell wieder besser, ich bummelte und guckte und hatte nichts zu tun außer zu bummeln und zu gucken. Und weil die Lindauer Insel so winzig ist, war ich dauernd wieder am Wasser. Das ist da aber auch echt überall. Ich trank einen Latte Macchiato und eine Johannisbeerschorle, ich Stadtkind, und guckte dabei aufs Wasser. Ich kaufte Wasser und Schokolade im Supermarkt, ging fünf Minuten und guckte aufs Wasser. Ich durchquerte quasi die ganze Insel und guckte danach aufs Wasser. Abends setzte ich mich in das hauseigene Restaurant, verspeiste Schweinemedaillons mit Spätzle (aka „Schwabenteller“), trank ein Helles, ging dann nochmal raus und guckte aufs Wasser. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Bodensee mit ins Bett genommen, um auf ihn raufzugucken.
Am nächsten Morgen erfreute mich das Hotelbuffet mit eintausend Müsli- und Cerealsorten und dazu frischen Erdbeeren. Außerdem wurde das Rührei frisch für mich gemacht und der Kaffee kam im Silberkännchen.
Dann begann ich mein Tagwerk: Rumlaufen und aufs Wasser gucken. Zunächst kamen natürlich die beiden Kirchlein dran, die so niedlich im 20-Meter-Abstand parallel nebeneinander stehen. Raten Sie, welche meine evangelische ist. Mpf.
Vor dieser Kirche stand der Hinweis auf die sogenannte Mittagsinsel, eine winzige Andacht mit Gebet und Orgelmusik um 12 Uhr. Das merkte ich mir, musste aber erstmal weiter rumlaufen und aufs Wasser gucken. Dazu wagte ich mich sogar von der Insel runter aufs Festland und fand einen wunderbaren Platz zum Lesen. Und um aufs Wasser zu gucken. Tach, Ente!
Außerdem merkte ich, dass ich unwissentlich einen winzigen Abschnitt des Jakobswegs gegangen war. Wo bekomme ich ein Pilgerbuch, in dem ich das vermerken lassen kann?
Um 12 saß ich wieder in der Kirche und wurde andächtig. Dermaßen gestärkt wagte ich mich in die August-Macke-Ausstellung, die gegenüber der Kirchen im wunderschönen Stadtmuseum lief. Macke ist mir wie die meisten Expressionisten inzwischen ein bisschen egal, ich gucke sie pflichtschuldig, und so blieb ich auch hier nur eine gute halbe Stunde vor den 40 Bildern – ich musste ja auch wieder aufs Wasser gucken –, aber ein paar waren doch dabei, die mir sehr gefielen. Mein liebstes finde ich allen Ernstes weder bei den schönen Unidatenbanken noch bei Google; wenn euch „Gelbe Frau mit Kind“ von 1913 über den Weg läuft oder vor euch vom Laster fällt, schickt mir das Bild doch bitte mal. Ich mochte schon den Titel, und die wenigen, geometrischen bunten Flächen schienen mir klarer, sinnstiftender als das übliche bunte Gewusel. Generell mochte ich in der Ausstellung die Ecke mit den flanierenden Stadtmenschen am liebsten. Vielleicht auch, weil auf der kleinen Insel davon so wenig zu spüren war. Klar, es war alles voller Tourist*innen, aber weil die Altstadt komplett denkmalgeschützt ist, gibt es gefühlt nur fünf Parkplätze und fast nur einspurige Straßen. Das sieht man auf meinen Häuserbildern ganz gut; ab und zu fährt ein Auto an einem vorbei, aber man muss mehr auf Pedelecs achten und auf überall rumstehende Postkartenständer. Auch das war für mich als Großstadtmensch äußerst entspannend.
Und dann war ich abends ein bisschen essen. Nur sieben Gänge mit Kleinkram vorneweg und hintendran und Weinbegleitung und einem Rosé-Champagner als Auftakt, denn wenn es Rosé-Champagner gibt, dann trinke ich den auch.
Als Reinkommer gab’s eine Forelle mit Bärlauch und, ich glaube, Bärlauchknospen. Darüber winzige Gurkenscheibchen, alles spannend süßsauer. Ich fing an, wohlig zu seufzen und hörte den ganzen Abend nicht mehr auf.
Als die überaus freundliche Bedienung mir diesen Teller hinstellte, entfleuchte mir ein „Oh wow“, weil OH SO PRETTY! Gänseleber mit Räucheraal darüber und Rhabarber. Und der Riesling im Glas war das goldigste Gold, das ich je hatte. Schmeckte zunächst nach bitterem Honig und Kieselsteinen, aber mit der Gänseleber zusammen – natürlich – perfekt. Dazu gab’s eine Brioche, die ich kaum anfassen konnte, so hauchzart fluffte sie unter meinen Fingerchen dahin. Aber in der Not schmeckt Gänseleber ja auch ohne Brot.
Zum Hummer mit Gurken-Mandel-Kaltschale gab es einen spanischen Weißen, ich habe mir keine Weine notiert und wollte das auch nicht, aber hier musste ich schnell in mein iPhone die Notiz tippen: „SHERRYKAUGUMMI!“ Ich weiß nicht, ob diese wunderschönen gelben Blüten zwischen den gerösteten Zwiebeln Fenchel sind. Vielleicht stammen sie sogar aus dem hauseigenen Garten; während ich auf die Gänge wartete und nicht im iPad lesen wollte, guckte ich in der Gegend herum und sah manchmal einen Koch im Garten winziges Grünzeug abschneiden.
Der Keta-Lachs kam mit Kalamansi und Ponzu-Sauce, die schon gefühlt einen halben Meter vom Tisch entfernt in meine Richtung duftete. Ich roch diesen Duft noch öfter am Abend, wenn Teller an mir vorbeigetragen wurden. Dazu gab’s eine meiner liebsten Rebsorten, Sauvignon blanc, der erwartungsgemäß frisch und säuerlich war, aber vor dem Lachs einen Kotau machte und nur noch rumschmeichelte. Ich seufzte weiterhin wohlig vor mich hin.
Mein liebster Gang des Abends: Steinbutt mit Zwiebeln und geröstetem Gemüsejus. Wieder einmal hielt ich gefühlt minutenlang die Nase dicht über den Teller, bevor ich anfing zu essen. Meist wollte ich gar nicht, weil alle Teller so wunderschön aussahen! Aber: Sie rochen halt alle gut, und das war ihr Verderben. Dazu gab’s einen Chardonnay, der wie einer meiner Hassrotweine roch, bei denen ich immer an schwefeligen Pferdemist denken muss. Ich notierte mir leicht angeheitert „PFIRSICHPFERD!“ und ließ es mir schmecken.
Lammrücken mit Erbsen und Salzzitronen, dazu den einzigen Rotwein des Abends. Ein Bordeaux, der schmeckte, als ob man auf Kirschkernen rumkaute, die in einem schweren Aschenbecher gelegen haben. Also: Rauch, Tannine, Holz, wenig Frucht. Aber dann kamen das Lamm reingehüpft und die Sauce und die Erbsen und zack, war da die Kirsche. Ich kapiere bis heute nicht, dass ein Rotwein mit Salzzitronen klarkommt, aber kam er natürlich. Ich wollte mehr.
„War das Lamm so recht?“
„Ich kann mich nicht von ihm trennen!“
„Wir machen Ihnen das gerne nochmal!“
*wimmer*
*Service schenkt einfach nochmal Rotwein nach*
*wohligseufz*
Ich ging zwischendurch aufs Klo und stellte danach fest: Das Tantris ist nicht das einzige Lokal, das die Serviette neu faltet, wenn man mal vom Tisch weg ist. Mir wurde natürlich auch der Stuhl zurechtgerückt, der übrigens eine halbe Sitzbank war. Ich habe selten so bequem und auch so angenehm gesessen. Ich saß zwischen Loggia und Innenraum und hatte immer einen leichten Luftzug, um mich herum auf allen Tischen standen kleine Blumengebinde und Kerzen, alles unterschiedlich, aber alles passte. Als ich um 19 Uhr kam, war ich erst der vierte Tisch, der besetzt wurde, aber als ich nach 22 Uhr ging, war der Laden voll. Trotzdem war alles ruhig, und obwohl ich auf kein einziges Wasser gucken konnte außer auf das in meinem Glas, war ich so entspannt wie schon den ganzen Tag über. Alleine essen gehen. Kann man machen. Auch stundenlang. Davor war ich ein bisschen nervös gewesen, auch weil ich F. gerne als Gesprächspartner für Weinnotizen dabei habe. Aber ich merkte immer mehr, wie angenehm das war, nicht alles zu zerreden. Ich konnte mich ganz aufs Essen und die Weine konzentrieren. Irgendwann habe ich zwischen den Gängen auch nicht mehr zur Lektüre gegriffen, sondern saß einfach nur noch da und guckte vor mich hin und das fühlte sich völlig in Ordnung an.
Aber wir waren ja noch nicht fertig. Statt des üblichen kalten Sorbets zum Magenaufräumen vor den Süßspeisen wurde mir ein heißer Tee gereicht. Ich habe mir nicht gemerkt, was das für ein Tee war, aber er war herrlich. Und, kaum zu glauben, ich war wirklich wieder wach.
Deswegen konnte ich auch die Waldheidelbeeren würdigen, die sich unter den Shards, wie ich dauernd bei Masterchef Australia hörte, verbargen. Irgendwo war auch noch, laut Speisekarte, Verbene verbaut – vielleicht war das sogar der Tee. Wie ich lustigerweise gerade vor ein paar Tagen bei Masterchef gelernt hatte, soll das erste Dessert frisch und leicht sein, bevor das letzte Dessert dann seinen großen süßen Auftritt hat. Das hat hier hervorragend geklappt. Eigentlich ist mir Blumenfirlefanz am Teller eher lästig, genau wie Steine, auf denen irgendwas liegt – ich möchte nur Zeug auf dem Teller haben, das ich auch essen kann. Aber hier kam man nicht darum herum, mit dem Handgelenk die kühlen, glatten Blüten zu berühren, wenn man die Beeren löffelte, und das war ein sehr sinnliches Erlebnis.
Und da ist der große süße Auftritt. Kirschsorbet, meine ich mich zu erinnern, Tonkabohnencreme, Schokolade, die kleinen rosa Nupsis waren baiserähnlich, der Turm irritierte mich zunächst als Dekoidee aus den 90ern, aber es war äußerst befriedigend, sich sein dekonstruiertes Dessert nicht vom Teller zusammensammeln zu müssen, sondern einfach mit dem Löffel durch siebzehn Schichten zu schlemmen. Der Kracher war allerdings die Getränkebegleitung: Statt des üblichen Süßweins gab’s einen Shot Kirschlikör – „vom [Hersteller Irgendwas Irgendwer] gleich hier die Straße rauf“ – auf Eis. So möchte ich meine Liköre ab jetzt nur noch trinken.
Dann gab’s noch Mangojogurt oder so als Rauswerfer, konfektähnlichen Kleinkram, einen Espresso, meinen üblichen Nussgeist – das ist quasi die Klammer zum Rosé-Champagner, das muss beides immer sein – und dann war ich so glücklich wie selten. Das Villino hat einen Stern und ich würde ihm gerne noch 50 dazugeben. Ich habe mich äußerst wohlgefühlt, nie irgendwie komisch, so alleine und wie immer bei 28 Grad leicht transpirierend, das Essen war genauso entspannend wie mein ganzer Urlaub und trotzdem hatte jeder Gang eine kleine Überraschung, die mich innerlich freudig aufhorchen ließ, und jeder Wein konnte mich faszinieren. Das war endlich mal eine Kombi, die ich bisher auch nur aus dem Tantris kannte: nicht nur großartiges Essen oder herausfordernde Weine, sondern beides. Ich habe wirklich bei jedem Gang wohlig geseufzt und mich vermutlich total zum Klops gemacht. Das war’s wert. Ganz große Empfehlung.
(Ja, das ist eine Peniswolke. Ja, das ist die offizielle wissenschaftliche Bezeichnung.)
Bis 9 Uhr geschlafen, mich wieder über die Erdbeeren auf dem Buffet und das frische Rührei gefreut. Ganz anderes Kochlevel, aber ähnliches Glückslevel. Gutes Futter halt. F. per DM: „Dass du überhaupt schon wieder was essen kannst!“ Ich zurück: „Ich habe jahrzehntelang trainiert!“
Den Vormittag verbrachte ich mit einem Buch auf meiner am Vortag entdeckten Lieblingsbank bei den Enten im Toskanapark, dann schlenderte ich zu einem der Anbieter für Bootsrundfahrten und ließ mich über den See schippern. Auf Twitter lernte ich, dass man auf dem Bodensee gleichzeitig in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist; die Grenzen hören an Land auf. Europa, du tolles Ding!
Nach einer guten Stunde und einem Eiskaffee an Bord ging es wieder nach Deutschland zurück. Ich bummelte zum achtzigsten Mal durch die historische Altstadt und konnte mich immer noch über jedes bunte Haus freuen, suchte per Smartphone nach einem Laden, der Briefmarken hat, fand ihn, kaufte eine Postkarte für Mama und Papa und ging ins Hotel zurück. Natürlich mit Umweg über den Uferweg. Wasser gucken. Nie langweilig.
Abends saß ich dann wieder bei den Evangelen. Die Kirche hat im vorderen Teil ziemlich lustige Bänke, bei denen man die Rückenlehnen so nach vorne klappen kann, dass man nicht in Richtung Chor, sondern in Richtung Orgel guckt. Sehr praktisch, denn ich war zu einem Orgelkonzert da. Die, ähem, Lichtorgel (ba-dum tss) belustigte mich im stillen Zustand, aber als sich die Lichtfarben veränderten, als auf ihr gespielt wurde, irritierte mich das doch sehr. Ich verstehe zu wenig vom Orgelaufbau, um sagen zu können, ob eine Lichtfarbe einem Register zugeordnet war, und ich konnte auch nicht ausmachen, ob es an irgendwelchen Akkorden lag – irgendwann schaute ich eh nur noch zu Boden, weil es mir dort oben zu bunt war. Obwohl zwischenzeitig mal ein Tableau aus verschiedenen Blau- oder Violetttönen sehr hübsch aussah.
Das Programm selbst war für meinen Geschmack etwas eigenwillig, aber auch hier: Ich habe keine Ahnung von Orgelliteratur. Mehr als Bach und Kirchenlieder kenne ich nicht. Das erste Stück von Walter Glück fand ich fad, das zweite von Oskar Lindberg hingegen sehr reizvoll. Dann kam der vermutlich langweiligste Händel der Welt, ich wusste gar nicht, dass Händel langweilig sein kann, und ich merkte, wie ich immer öfter ans Essen dachte. Als der Satie dann auch sehr melancholisch dahinschlich (und ich im Geiste die Minuten bis zum Küchenschluss meines Hotels runterzählte), ging ich dann doch leise aus der Kirche, warf aber einen Schein in das Sammelkörbchen zur Orgelrestaurierung, wie sich’s gehört, und sprintete in den Biergarten. Dort bestellte ich ein Helles und einen Backhendlsalat, und gerade als ich das Bier ansetzte, erklang aus dem Nachbarhaus ein vielstimmiger Chor. Auch der Rest vom Biergarten horchte auf, aber leider nicht lange genug, um mich wirklich erkennen zu lassen, was die (hörbar mehr) Damen und Herren genau sangen. Ein Lied erkannte ich, aber das war’s dann auch. Jedenfalls saß ich nun wieder genau in dem Zustand da, der mich auf Lindau seit Tagen begleitete, vom ersten Durchatmen an: äußerst entspannt, sehr zufrieden, glücklich, ruhig, gelassen. Und mit Chorbegleitung.
Ich habe wirklich erst hier auf der Insel gemerkt, wie angespannt ich vorher war und wie dringend es nötig war, aufs Wasser zu gucken. Auch das Alleinsein tat sehr gut, und dass ich mich wirklich um nichts kümmern musste, ich musste nur spazierengehen und essen und gucken, und ich hätte auch einfach im Zimmer rumliegen können und es wäre in Ordnung gewesen, niemand will was von mir, ich will von niemandem was, ich mache einfach mal nichts und denke auch ungefähr so viel. Es warteten keine 50 Museen vor der Tür, die mir ein schlechtes Gewissen machen, es wartete nur der See und der ist hoffentlich noch lange da, denn ich möchte jetzt schon wieder zu ihm zurück.
Das war der erste Urlaub, der von mir aus noch länger hätte gehen können. Ich mag mein Zuhause, wo auch immer es ist, ich bin da gerne und ich komme immer gerne dahin zurück, aber ja, der See hat schon sehr gut getan. Wieder was gelernt, ohne dass ich es mal darauf angelegt habe.
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Was schön war, Sonntag, 1. Juli 2018 – In der Puppenkiste
Als ich das erste Mal zum Fußball mit nach Augsburg kam, spielte F. den Fremdenführer und wies mal hierhin, mal dorthin, was es da alles gab im Fuggerstädtchen, ich nickte und hatte keine Ahnung, und dann kam irgendwann der Satz: „Und da hinten geht’s zur Puppenkiste.“ Und ich so: „Wie, die Puppenkiste? Die gibt’s wirklich?“
Für mich war die Augsburger Puppenkiste ein Fernsehstudio in Köln, in dem Jim Knopf und Lukas wohnten und dann übers Plastikplanenmeer nach Lummerland fuhren. Aber nein, es gibt wirklich ein Theater in Augsburg, das 1948 eröffnet wurde und wo zum Beispiel der Räuber Hotzenplotz seit 1966 die Kaffeemühle der Großmutter klaut. Und genau das schauten F. und ich uns gestern an.
Wenn ich alleine dagewesen wäre, wäre ich vermutlich am Theater vorbeigelaufen, denn es befindet sich in einem ehemaligen Spitalgebäude – übrigens von Elias Holl, den ich aus dem Studium kannte; den Goldenen Saal im Augsburger Rathaus hatte ich mal in einer Vorlesung gesehen. Eine unscheinbare Tür führt in einen kleinen Vorraum, in dem es eine Garderobe gibt, ein Café, das aus geschätzt zehn Tischen besteht und einer kleinen Merchandisinginsel, wo man neben Shirts, Büchern und Postkarten auch die bekanntesten Marionetten kaufen kann. Von der Puppenkisten-Website habe ich gelernt: Jim und Lukas wohnen wirklich nur im Fernsehen, dieses Stück ist als Bühnenproduktion viel zu aufwendig.
Nebenbei bin ich jetzt schon gespannt darauf, welche Marionette in der nächsten Bundesliga-Saison anstatt eines Wimpels an den Kapitän der Gastmannschaft übergeben wird, die gerade beim FC Augsburg spielt; in der abgelaufenen Saison war es ausgerechnet der Hotzenplotz – natürlich stilecht mit einem grünweißroten Fanschal um den hölzernen Hals.
F. kannte das Theater schon, ich wie gesagt nicht, und ich war unerwartet aufgeregt, als wir in den Gewölbesaal traten und in der dritten Reihe Platz nahmen. F. hatte die Karten schon im letzten September gekauft; die Dinger sind so schnell weg wie Karten für die Bayreuther Festspiele, aber deutlich günstiger. Er hatte auch brav darauf geachtet, möglichst weit vorne zu sitzen, denn, wer hätte es gedacht, die Kiste ist quasi wirklich eine Kiste. Die Bühne ist winzig, und ich habe keine Ahnung, ob man in der letzten, der 20. Reihe, überhaupt noch was sehen kann. Ich war schon gerührt, bevor es überhaupt losging, denn die Flügel der Kiste kannte ich natürlich aus dem Fernsehen und war gespannt, ob sie sich wirklich seitlich öffneten oder einfach nach oben weggezogen wurden.
Sie öffneten sich seitlich, wie es sich gehört und ich verdrückte ein kleines Tränchen, ich Marionettenmemme.
Im ersten Bild singen der Kasperl und der Sepperl der Großmutter ein Geburtstagsständchen. Den Kasperl kenne ich auch aus dem Stadion; er sagt immer das Spielergebnis voraus, meist allerdings falsch. Deswegen war ich sehr über die Theaterstimme des Kasperl irritiert, denn sie war anders. Das lag daran, dass wir gestern ernsthaft noch die Sprechstimmenaufnahmen von 1966 hörten – so wurde der Zauberer Petrosilius Zwackelmann (Petersilius Wackelzahn) vom Puppenkistengründer Walter Oehmichen eingesprochen, der seit 1977 tot ist. Aber warum auch Dinge ändern, die anscheinend seit 50 Jahren funktionieren? Ich hatte erwartet, dass die ganzen Kinderscharen um uns herum, die mit iPads und Laptops groß werden, nicht mehr von Holzpuppen an deutlich sichtbaren Schnüren fasziniert werden können, aber damit lag ich tollerweise total falsch. Sobald sich der rote Vorhang hinter den Kistenflügeln öffnete, war Ruhe im Saal (bis auf die stets blubbernden Kleinstkinder, aber das muss so) und die Kinder lachten über die gut platzierten Witze genau wie ich, erfreuten sich genau wie ich daran, dass Zwackelmann von einem Besen verkloppt wird oder dass ein Schnupftabaksack plötzlich Beine hat und staunten genau wie ich lautstark über ein besonders dramatisch ausgeleuchtetes Bühnenbild (der Unkenpfuhl! Huuuuh! Ich will die Unke als Marionette!).
Zwischen den einzelnen Bildern ging der Vorhang immer kurz zu – und sofort begannen die Gespräche um uns herum. „Mama, wieso hat der Kasperl …“ „Willst du dem Papa erzählen, was der Räuber gemacht hat?“ und ähnlich. Ich ahne, dass die Umbaupausen auch dazu da sind, damit man kleinen Kindern notfalls noch schnell erklären kann, was da gerade passiert ist. Das schien zu funktionieren, die Gespräche brachen immer sofort ab, sobald der Vorhang sich wieder öffnete. Das Publikum war übrigens geschätzt nur zur Hälfte im Kindesalter, wenn überhaupt. In der ersten Reihe saß zum Beispiel ein kleiner Junge, dem sich gleich vier gut gelaunte Erwachsene als Begleitperson angedient hatten.
(Deko auf dem Merchandisingstand.)
Was mich überraschte: Die Marionetten waren deutlich kleiner als ich dachte. Aber klar, wenn man als Puppenspieler*in eine 80-Zentimeter-Puppe bewegen muss, ist das vermutlich irre anstrengend und vor allem schwer zu koordinieren. Was ich auch lustig fand und mich an meine erste Ballettaufführung denken ließ: dass man das hölzerne Geklapper der Füße auf dem Bühnenboden hört. Daran musste ich mich erst gewöhnen, wie auch an das für meine Ohren immer noch anstrengende Augsburger Schwäbisch. Mit Bairisch komme ich inzwischen halbwegs klar, aber in Augsburg wird eher geschwäbelt. Und dann auch noch, wie F. es nannte, eher maulfaul. Vieles wird verwischt oder verschluckt, weswegen ich mich in der Pause beschwerte, dass das total fies gegenüber uns armen Norddeutschen ist. F. nur so: „Dann baut’s eich halt selba a Puppakischt.“ Werde den Mann jetzt ins Ohnsorg-Theater schleppen müssen. Oder in irgendwas Plattdeutsches. Im Programmheft steht übrigens eine Übersetzung für viele Ausdrücke, aber davon hat man leider während der Vorstellung nichts. Gerade den Sepperl, der auch noch betont doof sprach, habe ich kaum verstanden. Außer bei einem seiner Lieder, aber der Reim war auch idioten- bzw. norddeutschensicher, der ging ungefähr so: „Ich bin das arme Sepperle, ich bin ein kleines Depperle.“ Aus dem Programmheft übernehmen werde ich aber ab sofort den Ausdruck „Simpelfranzn“ für „Stirnhaare mit waagrechter Schnittlinie.“
Die Vorstellung dauerte knapp anderthalb Stunden, wobei es nach knapp einer Stunde eine Pause gab. Danach wurde der Zauberer verprügelt, aus der wirklich tollen Unke wurde eine total langweilige Fee, der Zauberer fiel in die Hölle, der Hotzenplotz wurde aus einem Gimpel wieder zu einem Mensch verwandelt und zum Schluss kriegten alle, auch der Wachtmeister Dimpflmoser, von der Großmutter einen anständigen Zwetschgendatschi. Der Vorhang fiel und die Klappe schloss sich blitzschnell. Keine Verbeugung der Marionetten oder sogar der Spieler*innen. Letzteres findet wohl bei den Vorstellungen für Erwachsene statt, aber bei den Stücken für Kinder ist das Ende sehr kurz und schmerzlos. Ich fand das ein bisschen schade, aber andererseits: Wenn man als Kind noch nicht die Theatererfahrung gemacht hat, dass sich am Ende alle verbeugen, dann muss das ja auch nicht sein.
Leider war die Kasperleampel in der Nähe des Theaters gestern nicht eingeschaltet, die hätte ich auch gerne noch gesehen. So trösteten wir uns mit Guinness und Kilkenny und eher mäßigen Pommes in einem Biergarten um die Ecke, sahen das Elfmeterschießen von Spanien und Russland und fuhren gemütlich (g’miatlich) mit dem Regionalzug wieder nach München.
Das war sehr ungewohnt, mal ohne Stadionklamotten nach Augsburg zu fahren, aber wirklich schön. Die Puppenkiste. Es gibt sie wirklich.
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Was schön war, Donnerstag, 21. Juni 2018 – Knipsen, lesen, quatschen
Gestern hatte ich mir mal wieder den Nachlass der Protzens im Kunstarchiv Nürnberg zurücklegen lassen. Durchgesehen hatte ich die Boxen und Mappen ja schon mehrfach (okay, zweimal), und für meine erste Zwischenbilanz sowie das Doktorandenkolloquium, das vermutlich im September oder Oktober stattfinden wird, brauchte ich jetzt mal einen Schwung Bilder. Außerdem ist es, wer hätte es gedacht, viel leichter, über einen Ausschnitt aus dem Gesamtwerk nachzudenken, wenn man das Gesamtwerk kennt, es also vor der Nase hat anstatt dafür nach Nürnberg fahren zu müssen.
Beim letzten Archivbesuch hatte ich den noch unerschlossenen Nachlass ein bisschen für mich erschlossen. Ich hatte mir notiert, in welchen Boxen was liegt und was genau mich davon interessiert. Ich wusste also zum Beispiel, dass in der von mir nummerierten Box 2 drei Fotoalben lagen, in denen Protzens Ölgemälde Nr. 306 bis 685 abgebildet waren. Die wollte ich komplett ablichten, um alle seine Werke digital vorliegen zu haben. In Box 3 liegen Werbegrafiken von ihm, die ich im Hinblick auf seine späteren Autobahnbilder äußerst aufschlussreich finde, in einer Mappe liegen Urlaubsfotos, deren Motive sich später in Öl wiederfinden usw.
Ich fragte im Archiv nach, ob sie einen Overheadscanner hätten, den ich benutzen dürfte. Haben sie garantiert, denn man kann sich ja Scans bestellen, aber für den Publikumsverkehr ist der anscheinend nicht freigegeben; ich dürfte aber mit meiner eigenen Kamera lustig fotografieren. Das klingt zwar erstmal fies, ist aber im Vergleich zu anderen Archiven, wo man meist nicht mal mit dem Handy Bilder machen darf, schon ganz okay. (Vielleicht kann mir in diesem Zusammenhang mal jemand erklären, warum ich teilweise Archivgut mit bloßen Händen anfassen, aber kein iPhone drüberhalten darf.)
Ich besitze seit einiger Zeit wieder eine hübsche Kamera, die ich allerdings viel zu wenig benutze. Ich habe blöderweise erst nach dem Kauf festgestellt, dass mich das Fotografieren mit Display nervt, ich hätte gerne wieder einen Sucher. Gestern merkte ich aber, dass für die schnarchlangweilige Dokumentenfotografie ein Display ziemlich schnafte ist.
Aber so weit war ich noch gar nicht. Vorgestern fragte ich, ob jemand ein Reprostativ hätte, mit dem ich arbeiten könne. Unser Medienraum in der Uni hat sowas, aber leider nicht in transportabler Größe. Ich bekam aber auch den Tipp, es bei Fotogeschäften zu versuchen, die hätten manchmal einen Leihservice. Das wusste ich noch nicht! Ich rief bei Foto Sauter an, die mir bedauernd sagten, ein Reprostativ hätten sie nicht, aber man könnte ein Dreiwegestativ nehmen und die Mittelstange umdrehen, dann müsste man die Kamera ja so anbringen können, dass sie nach unten zeigt – wenn ich mal kurz dranbleiben könne, der freundliche Herr am Telefon versuche das mal eben … ja, das geht. Vorbeikommen und abholen, bitte. Das erledigte ich dann noch am Mittwochabend, zahlte 19 Euro Gebühr für einen Tag Leihzeit, baute das Ding probehalber auf dem eigenen Schreibtisch auf, fotografierte ein bisschen damit und stellte fest, das ging wirklich gut.
Gestern setzte ich mich dann wie immer in den ICE, allerdings nicht den frühen, mit dem ich zur Öffnungszeit des Archivs um 9 vor Ort bin, sondern den etwas späteren. Außerdem gönnte ich mir bei den gestrigen 28 Grad eine Station U-Bahn-Fahrt vom Hauptbahnhof zum Opernhaus, anstatt den Weg wie sonst zu Fuß zu gehen (ich mag die führerlose U-Bahn so gerne). Ich transpirierte leider trotzdem etwas, als ich im Archiv ankam, war allerdings auch schwer bepackt. Rucksack mit Rechner, Netzteil, Notizbuch, Zug- und Wartezeitenüberbrückbuch, Wasserfläschchen und externem Trackpad (das im MacBook zickt neuerdings etwas) sowie die Tasche mit Stativ und Kamera waren doch schwerer als ich dachte. Egal. Angemeldet (ich wurde schon erkannt), Sachen ins Schließfach geworfen, an meinen Tisch gegangen und mein Pseudo-Reprostativ aufgebaut.
Hinter dem Stuhl auf dem Wägelchen liegt der komplette Nachlass, mehr ist das leider nicht. Aber immerhin. Weil ich mir bei den Urheberrechten nicht so sicher bin, habe ich die Bilder, die ich abfotografiere, übrigens für die Blogbilder absichtlich teilweise verdeckt. Nur dass ihr nicht denkt, ich wäre zu doof, meine Handschuhe vernünftig abzulegen. Die Gummibänder um die Kamera sind nur für meine neurotische Angst, das Schraubgewinde könnte doch nicht halten. Vermutlich unbegründet, aber man weiß ja nie.
Und dann fotografierte ich. Und fotografierte. Und fotografierte some more. Meine Güte, ist das langweilig, vier Stunden lang nichts anderes zu tun als Dinge hinzulegen, durch ein Display zu gucken, scharfzustellen und abzudrücken. Ich hatte auch nicht das Gefühl, noch wirklich was zu sehen, ich zog einfach nur Zeug aus Boxen, legte es hin, knipste und machte alles nochmal. Das ist echt nicht mein Job. Leider war die Lichtsituation auch nicht die allerbeste, um Fotos zu fotografieren. Papiere und Dokumente gingen einwandfrei, aber bei den blöden glänzenden Bildern habe ich doch manchmal einen Lichtreflex drauf, trotz MacBook zum Abschirmen und meinem wild in die Gegend gehaltenen Notizbuch. Die meisten Seiten der Fotoalben habe ich mehrfach fotografieren müssen, um halbwegs blendfreie Bilder zu kriegen, denn irgendeinen Punkt gab’s halt doch, wo nichts reflektierte. Trotzdem ahne ich, dass ich irgendwann schlampig geworden bin wie das leider meine Art ist bei monotoner Quatscharbeit. Heute werde ich alle Bilder durch den Photoshop jagen und dann gucken wir mal. (Yay, 900 Bilder im Photoshop angucken! Ächz.)
Um 15 Uhr beschloss ich, keine Lust mehr zu haben und außerdem zickte mein Rücken vom vielen komisch Rumstehen und gebückt über Dingen hängen. Ich hatte alles abgelichtet, was ich mir vorgenommen hatte, und dann noch ein bisschen. Für alles weitere muss ich notfalls nochmal vorbeischauen.
Für den Abend hatte ich mich mit jemandem verabredet, den ich seit hundert Jahren lese, und den ich vor ungefähr zehn Jahren mal in Hamburg auf einer kleinen Feier getroffen hatte. Der gute Mann hatte nicht ganz so früh Feierabend wie ich, also überbrückte ich die Zeit mit einem sehr guten Flat White und einer großen Apfelschorle bei Marchhörndl, nachdem ich mir brav St. Lorenz angeguckt hatte. Dort hatte ich aber gemerkt, echt nicht mehr gucken zu können, auch wenn ich mich sehr über den Chorumgang in der Kirche freuen konnte. Chorumgänge sind super. Vor der Kirche fand gerade irgendeine kleine Handwerks- und Industriemesse statt, und während ich auf alte Gemälde mit Goldgrund guckte, hörte ich einen mittelmäßigen Elvis-Imitator. Auch das war, neben meiner Kopfmatschigkeit, ein bisschen dem Kunstgenuss abträglich.
Ich las im Café, dann las ich auf einer Bank in der Fußgängerzone, und dann hatte auch der Herr Feierabend und mein Kopf war wieder wach. Wir setzten uns in einen netten Biergarten mit noch netterem Service, aßen eine Kleinigkeit, ich gönnte mir drei schöne Dunkelbiere und blubberte vermutlich viel zu lange über Nazischeiß (sorry!), wir sprachen aber immerhin nur drei Minuten über Trump und zwei über Söder, und dann viel länger über schöne Dinge. Das war sehr nett, vielen Dank. Auch für die Wegbeschreibung zum Bahnhof: „Einfach immer an der Stadtmauer lang.“ Das können ja auch nicht mehr viele Städte von sich sagen.
Der Herr musste etwas früher weg als mein Zug fuhr, also trank ich mein letzten Bierchen sehr gemütlich, las weiter, schlenderte dann zum Bahnhof, las dort noch, stieg um kurz vor zehn in den ICE und, wer hätte es gedacht, las. Ich beendete das sehr schöne Buch fast punktgenau – fünf Minuten, bevor der Zug im München ankam. Das freut den inneren Monk.
Für die zehnminütige Wartezeit auf die U-Bahn nach Hause hätte ich sogar noch ein zweites Buch im Rucksack gehabt (MAN WEISS JA NIE!), aber mein Kopf war schon im Bett. Der Körper kam relativ schnell nach.
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Was schön war, Samstag, 16. Juni 2018 – Mein erster Bloomsday
Auf diesen Tag hatte ich quasi hingearbeitet: Ich wollte den Ulysses bis zum 15. Juni durchgelesen haben (I did it!), damit ich am 16. stolz den Bloomsday begehen konnte. Nicht in Dublin, aber immerhin mit dem Kauf von Zitronenseife, die ich auch brav in der Hosentasche mit mir herumtrug, wenigstens von der Lush-Filiale bis nach Hause.
Das Praktische an Lush ist ja: Selbst wenn man nicht weiß, wo genau es auf der Sendlinger Straße ist, riecht man es schon hundert Meter entfernt. So ging es mir auch; ich kam von der U-Bahn am Sendlinger Tor, ging in Richtung Asamkirche, und kurz hinter dieser roch ich schon die übliche Duftwolke. Ich habe seit Jahren nicht mehr bei Lush eingekauft, hatte den Geruch aber sofort wieder in der Nase. Eine freundliche Dame zeigte mir ihre beeindruckende Auswahl an Zitronenseifen, ich nahm gleich die erste, die am wenigsten Firlefanz hatte und noch dazu hübsch aussah, gönnte mir noch eine Nachtcreme und ging wieder aus dem Parfumschuppen an die frische Luft.
Wenn ich eh schon in der Nähe der Asamkirche bin, gucke ich natürlich auch rein. Fünf Minuten barockester Barock sind immer drin.
Die üblichen Touris machten ihre Bilder, und als ich mich wieder dem Ausgang zuwandte, kam eine ganze Gruppe hinein, alle schon die Kameras im Anschlag – und größtenteils in Argentinien-Trikots gewandet. Ich flüsterte ein „Good luck for the game today!“ in ihre Richtung, aber ich glaube, das war so außerhalb des kirchlichen oder touristischen Kontextes, dass ich nur lächelndes Starren zurückbekam. Wenn ich mein Finnbogason-Trikot angehabt hätte, wäre das vielleicht verständlicher gewesen. (Für die fußballfreie Zone: Gestern spielte Argentinien gegen Island in der WM. Der Herr Finnbogason spielt für Island, aber auch für Augschburg, und ich habe ein FCA-Trikot mit seinem Namen drauf.)
Sehen Sie die Figuren unten rechts? Diese Kirche ist so irre.
Nach der Kirche ging ich wieder in Richtung Sendlinger Tor, als ich mich an eine Twitter-Reply vom German Abendbrot erinnerte, die ich bekam, als ich vom neu entdeckten Nilgiri-Tee schwärmte. Sie fragte, ob ich den vom Teahouse an der Sendlinger kenne. Kannte ich noch nicht – aber seit gestern schon, denn ich ließ mir einfach mal 100 Gramm abwiegen und kochte zuhause eine schöne Kanne. Er kam mir deutlich zitroniger vor als der Nilgiri vom Dallmayr, was gut zu meiner Hosentasche passte.
Vor der Teekanne kamen aber noch der Supermarkt und der Buchladen dran. Im Buchladen holte ich meine zwei neuen Joyce-Bücher ab, und ich fand es sehr schön, dass sie genau am Bloomsday für mich bereitlagen. Ich hatte sie erst Freitag bestellt und mich auf Montag eingerichtet.
Danach ging ich zum Supermarkt und erstand ein Pfund Mehl sowie frische Hefe; das neue Brotbackbuch lockte. Eigentlich wollte ich mich sofort an Baguettebrötchen und Fladenbrot machen, aber ich dachte, fängste doch mal schlau mit dem ersten Rezept im Buch an, dem Grundrezept, das danach in 100 Variationen abgefiedelt wird. Die Unterschiede zum Topfbrot beschreibe ich vermutlich ein epischer Breite, wenn das Brot fertig ist; noch ist es ein Teig in meiner Küche, den ich direkt nach Veröffentlichung dieses Blogbeitrags in einen Laib verwandeln werde. Schauen Sie auch morgen wieder vorbei!
Mit frischem Tee, der Zeitung und zwei neuen Büchern lungerte ich dann des Rest des Tages auf dem Sofa herum und schaute ein Fußballspiel nach dem anderen. Zunächst mühte sich Frankreich sehr ab, was mir noch wurscht war, denn ich wartete natürlich auf #ARGISL, brav im Trikot, wie sich’s gehört. Dort durfte ich auch sehr laut jubeln, denn ALFREDFINNBOGASON (hier Stadionlautstärke in der Stimme vorstellen) schoss das erste WM-Tor für Island in dessen Fußballgeschichte. Das Spiel endete 1:1 unentschieden, was quasi ein Sieg war.
Ja, F. und ich DMen manchmal auf Englisch. Und der Mann weiß, dass es nicht „don’t“ heißt. Und ich weiß seit gestern, dass die Wikinger keine Hörner hatten.
Auf Peru gegen Dänemark verzichtete ich größtenteils, weil ich endlich die ersten Folgen der neuen Staffel Queer Eye gucken wollte. Ich war sofort wieder der Puscheligkeit der fünf Herren verfallen und bin begeistert darüber und fasziniert davon, dass es manche TV-Formate schaffen, mich nach fünf Minuten in eine Decke von Heimeligkeit zu wickeln.
Abends schlenderte ich dann über den Alten Nördlichen Friedhof zu F. und wir schauten Kroatien gegen Nigeria gemeinsam, tranken Wein, knabberten Salzgebäck und quatschten danach noch unter dem Sternenhimmel.
Mein erster Bloomsday war ein wirklich schöner Tag.
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Joyce lesen
Die Überschrift ist eine Anspielung auf einen älteren Blogeintrag, den ich schrieb, nachdem ich den letzten Band der Recherche von Proust durchgelesen hatte. Gestern beendete ich Ulysses von Joyce. Ratet, was ich danach geschrieben habe.
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Ich versammele mal (fast) alle Blogeinträge zum Buch, die ich seit Anfang diesen Jahres veröffentlicht habe. Wer die alle schon kennt, springt zum Instagram-Bild am Ende vor, danach kommt die große Erkenntnis, die mir vergönnt war.
Am 8. Januar erwähnte ich erstmals, was ich gerade las:
Für Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit habe ich drei Anläufe gebraucht, um über die ersten fünf Seiten hinauszukommen, aber dann habe ich einfach alle dreitausend gelesen. Mal sehen, ob das auch beim Ulysses klappt. Den lese ich nämlich seit gestern, und ich habe bereits zwei Kapitel bezwungen, nachdem ich bei den ersten Versuchen nach zwei Seiten aufgegeben hatte.
F. hat im letzten Jahr mehrere Monate Finnegans Wake vor der Nase gehabt, an das ich mich vermutlich nicht rantrauen werde, aber wir sprachen öfter darüber und über die Züricher James-Joyce-Stiftung, die F. mit einem seiner Freunde schon mehrfach besucht hat. Der Leiter der Stiftung Fritz Senn hat einen guten Tipp fürs Joyce-Lesen, wenn man eingeschüchtert vor dem Wälzer steht und gar nicht weiß, mit welcher Sekundärliteratur man anfangen soll, um die ganzen Anspielungen zu verstehen. Er meint: „Take the short cut. Read the book.“
Genau das habe ich gestern gemacht. Ich selbst besitze den Text der Erstausgabe von 1922, laut meiner Eintragung auf der ersten Buchseite seit 2004. Diese wurde aber von Joyce wieder und wieder überarbeitet – wenn ich dem Vorwort glauben darf, musste man ihm die Druckfahnen quasi aus der Hand reißen, und selbst dann hat er noch darauf rumgemalt, weswegen es diverse Textfassungen gibt. Seit Jahren gilt die Gabler-Edition von 1984 als der Text, der Joyces Vorstellung am nächsten kommt, auch wenn die Ausgabe große Kontroversen hervorrief. Die Editionsgeschichte in der englischen Wikipedia tut so, als wäre die Gabler-Edition Schrott, was, soweit ich weiß, selbst Schrott ist. Aber eigentlich weiß ich über das Thema noch viel zu wenig.
Wie dem auch sei: Ich lese seit gestern die Gabler-Edition von F., die keine Fußnoten hat, gucke aber nach jedem Kapitel in die Endnotes meiner Edition, um im Nachhinein zu verstehen, was ich da gerade gelesen habe. Es macht aber ziemlichen Spaß, sich einfach so in Joyce fallenzulassen, seine Sprache zu genießen, auch wenn ich bei manchen Zeilen nicht weiß, was die schönen Wörter mir sagen wollen. But look how pretty:
„Woodshadows floated silently by through the morning peace from the stairhead seaward where he gazed. Inshore and farther out the mirror of water whitened, spurned by lightshod hurrying feet. White breast of the dim sea. The twining stresses, two by two. A hand plucking the harpstrings, merging their twining chords. Wavewhite wedded words shimmering on the dim tide.“
Oder hier, als Dedalus an seine tote Mutter denkt:
„Folded away in the memory of nature with her toys. Memories beset his brooding brain. Her glass of water from the kitchen tap when she had approached the sacrament. A cored apple, filled with brown sugar, roasting for her at the hob on a dark autumn evening. Her shapely fingernails reddened by the blood of squashed lice from the children’s shirts.“
Oder so Nebenbeisätze, die mich kurz innehalten lassen – wenn Dedalus sich selbst im Spiegel sieht und denkt: „Who chose this face for me?“
Ich freue mich jetzt schon auf den Feierabend, wenn ich das dritte Kapitel beginnen werde.
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Am 9. Januar hatte ich bereits drei Kapitel geschafft:
Chuckling at this review of Ulysses at the Waterstones in Oxford @WaterstonesOxf pic.twitter.com/QInJA1PROd
— Lillian (@HingleyTheory) 7. Januar 2018
Kurz vor dem Schlafengehen schaffte ich noch das dritte Kapitel von Ulysses, den ich vorgestern begonnen hatte. Ich glaube, die ersten zwei Kapitel hatten mich in falsche Sicherheit gewogen, denn sie waren zwar schwierig, aber irgendwie nachvollziehbar. Aber nach dem dritten dachte ich: „I have no idea what I’ve just read.“ Dass es ein Stream of Consciousness war, hatte ich immerhin kapiert, aber worum es genau ging, konnte ich nur erahnen.
Trotzdem war es eine Freude, den Text zu lesen, was mich die ganze Zeit selbst verwirrte. Bei Sachtexten schimpfe ich sofort los, wenn irgendwas unklar ist, und auch bei literarischen weiß ich gerne, was das Buch von mir will. Hier habe ich keine Ahnung, ich treibe einfach so durch die Worte und gucke, was sie mit mir machen. Mir fiel auf, dass ich genauso auch inzwischen an Kunst herangehe – ich versuche nicht mehr zu verstehen, ich gucke einfach nur und warte, was passiert. Meist lese ich danach schlaue Texte über die Bilder, vor denen ich gerade stand – und genauso wollte ich Ulysses lesen. Als ich aber gestern merkte, dass die Explanatory Notes länger waren als das eigentliche Kapitel, dachte ich mir, ach, Schnickschnack, ich lese einfach das Buch weiter und gucke mal, wo es mich hinwirft. Wie ich vorgestern schon schrieb: „Take the short cut, read the book.“ Den Satz verstand ich erst gestern abend so richtig.
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Einen Tag später hatte ich das vierte Kapitel durch:
Abends das vierte Kapitel von Ulysses gelesen. Die Taktik, sich wirklich immer nur ein Kapitel vorzunehmen, klappt ganz gut, ich werde nicht erschlagen von den vielen Fragen, die ich während des Lesens habe, kann aber schon Dinge einordnen, die mir bekannt vorkommen. Außerdem habe ich neben der Oxford-Studienausgabe mit den Endnotes noch ein weiteres Buch bei mir im Regal gefunden, das ich sehr hilfreich finde: The New Bloomsday Book: Guide Through “Ulysses”. Darin wird der Inhalt nacherzählt, aber es werden keine literarischen Anspielungen erklärt oder die vielen fremdsprachigen Einwürfe und Begriffe übersetzt. Diesen Satz aus einer Rezension fand ich sehr schön: „He guides the first-time reader carefully through Joyce’s (famously difficult) novel, but does not challenge the mystery that make[s] Ulysses a joy to read.“ Mit diesen beiden Sekundärliteraturen kann man sich das Buch ziemlich gut erarbeiten. Yay, ich lese Ulysses!
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Am 12. Januar steckte ich in Kapitel 5 fest:
Genau wie in Kapitel 4 folgen wir Herrn Bloom bei seinem Weg durch Dublin und kriegen wie aus den Augenwinkeln mit, was er tut, was er sieht und worüber er nachdenkt, gerne flüchtig und in schwer durchschaubaren Halbsätzen. Gestern fiel mir zum ersten Mal auf, dass einige dieser Halbsätze wie Bildbeschreibungen aussehen – und mit denen kann ich rein aus Erfahrung mehr anfangen als mit, ich nenne sie jetzt mal so, literarischen Halbsätzen. Sobald ich anfing, seine Worte nicht mehr als Gedankenstrom und Assoziationsgeklingel anzusehen, sondern als einen Bildeindruck, verstand ich sie gefühlt eher. Ich nahm Cluster war, die ich vorher nicht gesehen hatte, Symboliken, die auf einmal Sinn ergaben.
Ich merke, dass es mir schwerfällt, meine Leseeindrücke in Worte zu fassen. Vielleicht sind meine Gedanken genau die gleichen Assoziationen, die mir gerade beschrieben werden: Bloom blubbert innerlich vor sich hin und ich lege im Geist weitere Dinge an. Das ist ein sehr neues Leseerlebnis, was mir da gerade widerfährt. Es ist deutlich zeitaufwändiger als das meiste, was ich bisher gelesen habe, weil ich mich sehr konzentrieren muss – Ulysses ist kein Buch für die U-Bahn, am gestrigen dreizehnseitigen Kapitel saß ich eine Stunde –, aber es ist sehr lohnend.
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Am 19. Januar erwähnte ich nur, dass ich ein weiteres Kapitel hinter mir gelassen hatte, beschrieb das Leseerlebnis aber nicht groß – außer meine Überraschung, dass „Ulysses“ lustig sein kann. Am 21. Januar hatte ich das achte Kapitel beendet und schrieb über meine Assoziationen zu Essen, das in diesem Kapitel eine Rolle spielte. Am 30. Januar war anscheinend eine Erkältung auskuriert und ich konnte wieder lesen:
Der Husten hält sich hartnäckig, aber der Kopf ist wieder klar. Das heißt, ich konnte nach tagelanger Pause endlich im Ulysses weitermachen, für den mein Hirn die ganze letzte Woche gefühlt zu matschig gewesen war. Ich beendete das neunte Kapitel.
In den Kapiteln zuvor folgte ich Bloom und meckerte innerlich rum, dass ich viel lieber Dedalus folgen würde und zack, durfte ich das im neunten Kapitel tun. Schon nach den ersten Seiten fiel mir ein, warum ich lieber über Stephen lesen wollte: Bisher sind die Dedalus-Kapitel die fiesen, bei denen man quasi nichts versteht, aber dafür lesen sie sich für meinen Geschmack viel spannender, eben weil man quasi nichts versteht. Wobei das falsch formuliert ist: Ich lese viel neugieriger, viel aufmerksamer, weil ich stets versuche, doch irgendwas mitzukriegen. Ich kann die Worte erfassen, die mir begegnen, aber sie ergeben keinen für mich bekannten Sinneszusammenhang. Es liest sich wie der irre zweite Wein, den wir im Tantris hatten, es liest sich wie ein Twombly-Gemälde. Man wird irgendwo reingeworfen und muss sehen, wie man mit den Umständen klarkommt. Ich kann verstehen, dass das nicht jedermanns Sache ist, ich habe, wie beschrieben, auch drei Anläufe für dieses Buch gebraucht, aber jetzt sitze ich mitten drin und lasse mich durch die Wortwellen schaukeln.
Außerdem habe ich seit gestern die perfekte Reply auf alles auf Twitter: „I know. Shut up. Blast you. I have reasons.“ (Kapitel 9, Zeile 847, Gabler-Edition.)
Und eine wunderbare Beschreibung des Zustands, wenn man aus der Bibliothek kommt: „Stephen, greeting, then all amort, followed a lubber jester, a wellkempt head, newbarbered, out of the vaulted cell into a shattering daylight of no thought.“ A shattering daylight of no thought. <3 (Kapitel 9, Zeilen 1110–1113, Gabler-Edition.)
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Erst am 23. Februar fand sich der nächste Eintrag:
Abends endlich mal wieder ein Kapitel im Ulysses gelesen: Wandering Rocks. Dabei bummeln wir mit diversen Protagonist*innen durch Dublin. Es war das Kapitel, das mir bisher am modernsten vorkam, es fühlte sich an wie eine filmische Montage, die mehrere Handlungsstränge aufmacht und sie am Ende stimmig wieder zusammenführt.
Und nebenbei kam der schöne Satz „Damn good gin that was“ darin vor. Soll nochmal einer sagen, dass Joyce so unverständlich ist.
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Und wiederum erst gut einen Monat später der nächste Eintrag, der sich inhaltlich mit dem Buch auseinandersetzte:
Nachmittags lockte dann aber wieder der Ulysses. Im Sirenen-Kapitel saß ich sehr lange fest, weil ich immer nur zwei Seiten geschafft hatte, bevor mir abends die Augen zufielen. […]
Gestern wollte ich dieses Kapitel aber endlich abschließen. Nicht weil es so langweilig ist (haha, langweilig. Der Ulysses und langweilig. Ihr seid ja niedlich), sondern … ähm … ich weiß gar nicht, warum ich es so dringend abschließen wollte. Vielleicht einfach nur, um mich ins nächste Kapitel stürzen zu können, das wieder ganz anders klingt. Wobei mir bisher Sirens am besten gefallen hat, denn es liest sich irre musikalisch. Die nachträglich aufgeschlagene Sekundärliteratur verriet mir, dass Joyce 150 Stücke oder Lieder irgendwie anreißt, aber das war mir alles wurst. Dieses Kapitel klingt durch seine vielen Alliterationen, abgekürzte Wörter, Sätze ohne Kommata, wildes Wortgewusel teilweise so, als ob man es singen könnte, was total toll zu den Sirenen passt. (Ach was?!?)
Nebenbei lernte ich neulich auf Twitter, dass Sirenen nicht sexy sind. Das wusste Joyce mit seiner englischen Übersetzung vermutlich nicht; auch darauf weist jemand im Thread hin. Denn das Kapitel kam mir neben seiner Musikalität sehr sinnlich vor, teilweise schon fast niedlich-platt auf die Zwölf, teilweise verführerisch, tastend, langsam, mal sehen, was geht. Und außerdem fand ich in diesem Kapitel meinen Künstlernamen, falls ich jemals einen brauche. […]
Jedenfalls geht es in diesem Kapitel um zwei Bardamen, Lydia und Mina. Den beiden werden Bronze und Gold zugeordnet, warum, steht bei der Wikipedia, und zum Schluss verkürzt Joyce mal wieder wild, weil er’s halt kann, auch Namen, und dann kommen Sätze dabei heraus wie: „Blind he was she told George Lidwell second I saw. And played so exquisitely, treat to hear. Exquisite contrast, bronzelid, minagold.“
Mina Gold. Super Name. Die Idee hatte allerdings schon jemand. Und eine Mine ist es auch. Aber bis zum Googeln war ich der Meinung, ich hätte einen schönen Künstlernamen gefunden.
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Am 2. April war wieder ein Kapitel erledigt:
Wieder ein Kapitel im Ulysses durchschritten. Ich verweise faul auf die Zusammenfassung in der Wikipedia, die ich aber noch ergänzen möchte. Ich empfand den Schreibstil nicht als Slang oder Alltagssprache – im Vergleich zu den anderen Kapiteln las sich dieses fast wie ein normales Buch mit Dialogen, denen man folgen konnte. Diese Gespräche einer Männergruppe im Pub werden unterbrochen von Berichten, die völlig überzogen von verschiedenen Dingen erzählen. Mit „völlig überzogen“ meine ich nicht nur den Tonfall, sondern auch die Beschreibungen. Hier zum Beispiel der Beginn der Beschreibung eines irischen Helden:
„The figure seated on a large boulder at the foot of a round tower was that of a broadshouldered deepchested stronglimbed frankeyed redhaired freely freckled shaggybearded wide-mouthed largenosed longheaded deepvoiced barekneed brawnyhanded hairylegged ruddyfaced sinewyarmed hero.“ (Gabler-Edition, S. 243, Zeile 151–156.)
Die Herren unterhalten sich über Hinrichtungen. Auch hier wird wieder ein Bericht eingeschoben. Er erwähnt unter anderem die anwesenden Zeugen, bei deren Fantasiennamen man heute wegen ihres Alltagsrassismus latent zusammenzuckt. Ich muss gestehen, ich habe bei den deutschsprachigen aber doch lachen müssen. (Den Bindestrich habe ich eingefügt, weil der Name mir sonst ernsthaft das Layout zerschossen hätte.)
„The viceregal houseparty which included many wellknown ladies was chaperoned by Their Excellencies to the most favourable positions on the grand stand while the picturesque foreign delegation known as the Friends of the Emerald Isle was accommodated on a tribune directly opposite. The delegation, present in full force, consisted of Commendatore Bacibaci Beninobenone (the semi-paralysed doyen of the party who had to be assisted to his seat by the aid of a powerful steam crane), Monsieur Pierrepaul Petitépatant, the Grandjoker Vladinmire Pokethankertscheff, the Archjoker Leopold Rudolph von Schwanzenbad-Hodenthaler, Countess Marha Virdga Kisászony Putrápesthi, Hiram Y. Bomboost, Count Athanatos Karamelopulos. Ali Baba Backsheesh Rahat Lokum Effendi, Señor Hidalgo Caballero Don Pecadillo y Palabras y Paternoster de la Malora de la Malaria, Hokopoko Harakiri, Hi Hung Chang, Olaf Kobberkeddelsen, Mynheer Trik van Trumps, Pan Poleaxe Paddyrisky, Goosepond Prhklstr Kratchinabritchisitch, Herr Hurhausdirektorprasident Hans Chuechli-Steuerli, Nationalgymnasiummuseumsanatoriumandsuspensoriumsordinary-privatdocentgeneralhistoryspecialprofessordoctor Kriegfried Ueberallgemein. All the delegates without exception expressed themselves in the strongest possible heterogeneous terms concerning the nameless barbarity which they had been called upon to witness.“ (Gabler-Edition, S. 252, Zeilen 552–571.)
Was im Wikipedia-Eintrag ein bisschen zu kurz kommt: Es geht nicht nur um Antisemitismus. Auch Schwarze, Engländer und Frauen kommen nicht besonders gut weg in diesem Kapitel. Wobei ich fast bei allen Büchern aus dieser Zeit bei den Frauenbeschreibungen die Augen rolle, aber da muss ich wohl weiterhin durch. Wie oben angesprochen, las sich dieses Kapitel im Vergleich recht einfach. Aber da will mich Joyce nur in Sicherheit wiegen, denn das übernächste wird eine schöne Herausforderung, wenn ich der Wikipedia und F. glauben darf.
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Auf der Rückfahrt von Hamburg am 23. April las ich teilweise augenrollend, aber größtenteils fasziniert „Nausica“ (das Kapitel vor dem eben angesprochenen „Oxen of the Sun“):
[D]ann las ich ein weiteres Kapitel im Ulysses und musste wiederholt die Augen rollen bei den Beschreibungen der Damenwelt. Wenn es irgendeinen Grund gibt, warum ich die Bücher des literarischen Kanons (also den von weißen Kerlen aufgestellten) allmählich ignoriere, dann den, weil es so irrsinnig anstrengend ist, den male gaze, den ich schon in der Kunstgeschichte dauernd sehe, auch noch lesen zu müssen. Hier entspannt sich Bloom gerade, nachdem er sich befriedigt hat und schaut der hinkenden Frau nach, die sich von ihm dafür hat anschauen lassen:
„Mr Bloom watched her as she limped away. Poor girl! That’s why she’s left on the shelf and the others did a sprint. Thought something was wrong by the cut of her jib. Jilted beauty. A defect is ten times worse in a woman. But makes them polite. Glad I didn’t know it when she was on show. Hot little devil all The same. Wouldn’t mind. Curiosity like a nun or a negress or a girl with glasses. That squinty one is delicate. Near her monthlies, I expect, makes them feel ticklish. I have such a bad headache today. Where did I put the letter? Yes, all right. All kinds of crazy longings. Licking pennies. Girl in Tranquilla convent that nun told me liked to smell rock oil. Virgins go mad in the end I suppose. Sister? How many women in Dublin have it today? Martha, she. Something in the air. That’s the moon. But then why don’t all women menstruate at the same time with same moon, I mean? Depends on the time they were born, I suppose. Or all start scratch then get out of step. Sometimes Molly and Milly together. Anyhow I got the best of that. Damned glad I didn’t do it in the bath this morning over her silly I will punish you letter. Made up for that tramdriver this morning. That gouger M’Coy stopping me to say nothing. And his wife engagement in the country valise, voice like a pickaxe. Thankful for small mercies. Cheap too. Yours for the asking. Because they want it themselves. Their natural craving. Shoals of them every evening poured out of offices. Reserve better. Don’t want it they throw it at you. Catch em alive, O. Pity they can’t see themselves. A dream of wellfilled hose.“
(Kapitel 13, Zeilen 772–793, Gabler-Edition.)
EYEROLL!
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„Oxen of the Sun“ erwähnte ich sehr kurz am 10. Mai:
Wieder ein Kapitel im Ulysses in Angriff genommen. Nicht ganz fertig geworden, mich aber wieder gefreut, Ulysses zu lesen. Ich wusste, dass sich in diesem Kapitel der Sprachstil ändert und hatte mir vorgenommen, darauf zu achten, wann und wie er das tut, also ob sich das am Inhalt direkt festmachen lässt, wann das Englische vom Altenglisch zu einem etwas moderneren wird. Trotzdem habe ich diesen einen Satz, diesen einen Zeitpunkt nie mitbekommen, weil ich so mit dem Inhalt beschäftigt war. Mir ist nur irgendwann mittendrin aufgefallen, dass es sich auf einmal anders liest. Joyce, der alte DJ! Schön übergeblendet! (Oder wie immer das bei DJs heißt, wenn ein Stück ins nächste übergeht, ohne dass man es mitbekommt.)
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Und am 24. Mai war ich dann im längsten Kapitel des Buchs: „Ich bin endlich im Circe-Kapitel angekommen, dem Everest des ganzen Buchs, und ich ahne, dass ich darin ein bisschen versacken werde.“ Am 27. Mai bloggte ich darüber:
Ansonsten widmete ich mich dem riesigen Circe-Kapitel im Ulysses, das ich allerdings nicht durchbekam; irgendwie geriet mir ein Schläfchen dazwischen. Mein Plan ist es, das Buch bis zum 15. Juni durchgelesen zu haben, denn am 16. ist bekanntlich Bloomsday, und den könnte ich dann in diesem Jahr erstmals mitfeiern. Zumindest im Geist, nach Dublin fahren werde ich dazu nicht. Aber ich könnte eine schöne Zitronenseife kaufen.
Vorher muss ich aber noch ein bisschen lesen. Circe ist in Form eines Theaterstücks geschrieben. Die Regieanweisungen sind genauso surreal wie die theoretisch gesprochenen Texte, und was mir in diesem Kapitel zum ersten Mal im Buch passierte, ist, dass sich das Gefühl beim Lesen dauernd ändert. Klar gibt es auch in den anderen Kapiteln Spannungsbögen – oder eben nicht –, aber gestern stellte ich quasi alle fünf Minuten fest, dass ich mich anders fühlte als eben noch.
Es gibt Stellen, bei denen ich keine Ahnung habe, worum es gerade geht, aber auch das kenne ich schon, und ich glaube inzwischen, das muss so sein. Ich lasse mich von den Worten und Beschreibungen mittragen, ohne dass ich weiß, was sie von mir wollen; es ist ein bisschen wie Touristin in einem fremden Land zu sein, dessen Sprache man nicht spricht. Man wird zu irgendeiner Feier eingeladen, es gibt Dinge zu essen und zu trinken, die man nicht kennt, und man macht halt mit und es ist irgendwie okay. Wenige Seiten später merkte ich, dass ich traurig war und nicht einmal sagen konnte, warum eigentlich. Bloom muss sich verteidigen, er stottert Wortbrocken vor sich hin, beschreibt die Beerdigung, von der er kommt, bis sogar der Leichnam persönlich seine Aussage bestätigt. Wieder einige Seiten später scheint Bloom erst zum Bürgermeister Dublins zu werden und dann gottähnlich, es folgen Beschreibungen von üppigen Festivitäten mit riesigen Aufbauten und Menschenmengen, und ich wurde ehrfürchtig (und mochte die Beschreibungen gern).
„BLOOM My beloved subjects, a new era is about to dawn. I, Bloom, tell you verily it is even now at hand. Yea, on the word of a Bloom, ye shall ere long enter into the golden city which is to be, the new Bloomusalem in the Nova Hibernia of the future.
(Thirtytwo workmen wearing rosettes, from all the counties of Ireland, under the guidance of Derwan the builder construct the new Bloomusalem. It is a colossal edifice, with crystal roof built in the shape of a huge pork kidney, containing forty thousand rooms. In the course of its extension several buildings and monuments are demolished. Government offices are temporarily transferred to railway sheds. Numerous houses are razed to the ground. The inhabitants are lodged in barrels and boxes, all marked in red with the letters: L. B. Several paupers fall from a ladder. A part of the walls of Dublin, crowded with loyal sightseers, collapses.)
THE SIGHTSEERS (Dying) Morituri te salutant. (They die.)“
(Gabler-Edition, Kapitel 15, Zeilen 1541–1557)
Ein paar Seiten später musste ich sehr über die neuen Musen dieser neuen Zeit lachen:
„Bloom explains to those near him his schemes for social regeneration. All agree with him. The keeper of the Kildare Street Museum appears, dragging a lorry on which are the shaking statues of several naked goddesses, Venus Callipyge, Venus Pandemos Venus Metempsychosis, and plaster figures, also naked, representing the new nine muses, Commerce, Operatic Music, Amor Publicity, Manufacture, liberty of Speech, Plural Voting, Gastronomy, Private Hygiene, Seaside Concert Entertainments, Painless Obstetrics and Astronomy for the People.“ (1702–1710)
Dann wird Bloom plötzlich zu einer Frau und gebiert Kinder und ich las vermutlich mit offenem Mund und simpler Begeisterung.
„DR DIXON (Reads a bill of health) Professor Bloom is a finished example of the new womanly man. His moral nature is simple and lovable. Many have found him a dear man, a dear person. He is a rather quaint fellow on the whole, coy though not feeble-minded in the medical sense. He has written a really beautiful letter, a poem in itself, to the court missionary of the Reformed Priests’ Protection Society which clears up everything. He is practically a total abstainer and I can affirm that he sleeps on a straw litter and eats the most Spartan food, cold dried grocer’s peas. He wears a hairshirt winter and summer and scourges himself every Saturday. He was, I understand, at one time a firstclass misdemeanant in Glencree reformatory. Another report states that he was a very posthumous child. I appeal for clemency in the name of the most sacred word our vocal organs have ever been called upon to speak. He is about to have a baby.
(General commotion and compassion. Women faint. A wealthy American makes a street collection for Bloom. Gold and silver coins, bank cheques, banknotes, jewels, treasury bonds, maturing bills of exchange, I.O.U.s, wedding rings’ watch-chains, lockets, necklaces and bracelets are rapidly collected.)
BLOOM O, I so want to be a mother.
MRS THORNTON (In nursetender’s gown) Embrace me tight, dear. You’ll be soon over it. Tight, dear.
(Bloom embraces her tightly and bears eight male yellow and white children. They appear on a redcarpeted staircase adorned with expensive plants. All are handsome, with valuable metallic faces, wellmade, respectably dressed and wellconducted, speaking five modern languages fluently and interested in various arts and sciences. Each has his name printed in legible letters on his shirtfront: Nasodoro, Goldfinger, Chrysostomos, Maindorée, Silversmile, Silberselber, Vifargent, Panargros. They are immediately appointed to positions of high public trust in several different countries as managing directors of banks, traffic managers of railways, chairmen of limited liability companies, vice chairmen of hotel syndicates.)“ (1798–1832)
Dann sind wir wieder im Bordell, wo das ganze Kapitel spielt, die anwesenden Damen und ihre körperlichen Vorzüge werden beschrieben, was mich genervt hat, aber immerhin ist Stephen wieder da, dem ich so gerne folge. Und dann singt eine Motte ein Lied, das mich rührte, warum auch immer:
„I’m a tiny tiny thing
Ever flying in the spring
Round and round a ringaring.
Long ago I was a king,
Now I do this kind of thing
On the wing, on the wing!
Bing!“ (2469–2475)
„Long ago I was a king / Now I do this kind of thing“ fand ich sehr schön und gleichzeitig sehr traurig. (Ja, es ist eine Motte, schon gut. Trotzdem.)
Ich beendete das Kapitel bei circa Zeile 2700; auf mich warten noch ungefähr 2300. Die Drogen, die Joyce bei diesem Kapitel eingenommen hat, will ich auch.
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Am 10. Juni war das drittletzte Kapitel erledigt:
Gestern durchschritt ich das drittletzte Kapitel vom Ulysses, das mir wie eine Pastiche (oder sogar Parodie) auf Proust, Dickens, Melville und die anderen Herren mit den langen Texten und den vielen Adjektiven vorkam. Das war mit Abstand das un-ulysseischste Kapitel im Buch, weil es sich so normal angefühlt hat. Und so sehr ich bei allen anderen Kapiteln zwar davon fasziniert war, dass ich Dinge lese und nicht weiß warum, weil ich nicht weiß, was das alles soll, aber gleichzeitig ein bisschen verlassen auf hoher See war, weil ich eben nicht wusste, wo es hingeht, so war ich hier auf einmal im sicheren Hafen total gelangweilt. Hier kenne ich ja alles! Werd bitte wieder irre, du seltsamstes Buch aller Zeiten!
🤣👍
— James Joyce Centre (@BloomsdayDublin) 10. Juni 2018
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Vergangenen Montag dann das vorletzte:
[D]ann nahm ich mir das vorletzte Kapitel im Ulysses vor: Ithaca.
Die Wikipedia behauptet, „Die Handlung wird – mühsam und umständlich – in Form von pseudo-wissenschaftlichen Fragen und Antworten erzählt“, was ich überhaupt nicht so empfunden habe. Frage und Antwort, ja, oder auch gerne mal eine Anweisung: „Compile the budget for 16 June 1904“, worauf eine Liste mit Dingen und Preisen folgt, aber dass das „mühsam und umständlich“ gewesen sein soll, fand ich überhaupt nicht. Ich habe das Kapitel mit großem Genuss gelesen und hätte davon auch gerne noch weitere 50 Seiten gehabt, gerade weil ich es so spannend fand, dass das relativ strenge Format – Frage und Antwort – nie langweilig wurde, ganz im Gegenteil.
Das lag natürlich auch an den Fragen. Manche erforderten eine kurze Antwort, andere brauchten eine Seite. Zum Beispiel, als Bloom sich in der Küche die Hände waschen möchte, bevor er sich und Stephen einen Kakao zubereitet. Die total logische Frage, die uns allen auf der Seele brennt, lautet:
„What in water did Bloom, waterlover, drawer of water, watercarrier returning to the range, admire?“
Und die Antwort, nach der ich das Buch mal eben umarmen und F. eine schwärmische DM schicken musste, weil ich so verliebt in den Text war:
„Its universality: its democratic equality and constancy to its nature in seeking its own level: its vastness in the ocean of Mercator’s projection: its umplumbed profundity in the Sundam trench of the Pacific exceeding 8,000 fathoms: the restlessness of its waves and surface particles visiting in turn all points of its seaboard: the independence of its units: the variability of states of sea: its hydrostatic quiescence in calm: its hydrokinetic turgidity in neap and spring tides: its subsidence after devastation: its sterility in the circumpolar icecaps, arctic and antarctic: its climatic and commercial significance: its preponderance of 3 to 1 over the dry land of the globe: its indisputable hegemony extending in square leagues over all the region below the subequatorial tropic of Capricorn: the multisecular stability of its primeval basin: its luteofulvous bed: Its capacity to dissolve and hold in solution all soluble substances including billions of tons of the most precious metals: its slow erosions of peninsulas and downwardtending promontories: its alluvial deposits: its weight and volume and density: its imperturbability in lagoons and highland tarns: its gradation of colours in the torrid and temperate and frigid zones: its vehicular ramifications in continental lakecontained streams and confluent oceanflowing rivers with their tributaries and transoceanic currents: gulfstream, north and south equatorial courses: its violence in seaquakes, waterspouts, artesian wells, eruptions, torrents, eddies, freshets, spates, groundswells, watersheds, waterpartings, geysers, cataracts, whirlpools, maelstroms, inundations, deluges, cloudbursts: its vast circumterrestrial ahorizontal curve: its secrecy in springs, and latent humidity, revealed by rhabdomantic or hygrometric instruments and exemplified by the hole in the wall at Ashtown gate, saturation of air, distillation of dew: the simplicity of its composition, two constituent parts of hydrogen with one constituent part of oxygen: its healing virtues: its buoyancy in the waters of the Dead Sea: its persevering penetrativeness in runnels, gullies, inadequate dams, leaks on shipboard: its properties for cleansing, quenching thirst and fire, nourishing vegetation: its infallibility as paradigm and paragon: its metamorphoses as vapour, mist, cloud, rain, sleet, snow, hail: its strength in rigid hydrants: its variety of forms in loughs and bays and gulfs and bights and guts and lagoons and atolls and archipelagos and sounds and fjords and minches and tidal estuaries and arms of sea: its solidity in glaciers, icebergs, icefloes: its docility in working hydraulic millwheels, turbines, dynamos, electric power stations, bleachworks, tanneries, scutchmills: its utility in canals, rivers, if navigable, floating and graving docks: its potentiality derivable from harnessed tides or watercourses falling from level to level: its submarine fauna and flora (anacoustic, photophobe) numerically, if not literally, the inhabitants of the globe: its ubiquity as constituting 90% of the human body: the noxiousness of its effluvia in lacustrine marshes, pestilential fens, faded flowerwater, stagnant pools in the waning moon.“
(Zeilen 185–228, Gabler-Edition)
HACH! He, Wallace, THIS is water.
Zwischendurch war ich wie immer im Buch verzückt von schönen Formulierungen, die bei längerem Nachdenken keinen Sinn ergeben, aber schön klingen („with winedark hair“, Zeile 785) oder die schön klingen und viel zu viel Sinn ergeben wie „the ecstasy of catastrophe“, Zeile 786, oder:
„What events might nullify these calculations? [die Altersberechnung von Stephen und Bloom]
The cessation of existence of both or either, the inauguration of a new era or calendar, the annihilation of the world and consequent extermination of the human species, inevitable but impredictable.“ (462–465)
oder
„Alone, what did Bloom feel?
The cold of interstellar space, thousands of degrees below freezing point or the absolute zero of Fahrenheit, Centigrade or Réaumur: the incipient intimations of proximate dawn.“ (1242–1244)
[…]
Jetzt muss ich aber los, Penelope wartet.
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Penelope las ich vorgestern und gestern durch und damit den Rest des Buchs. 644 Seiten in gut fünf Monaten ist vermutlich nicht irre schnell, aber man kann Ulysses anscheinend auch mit größeren Pausen darin lesen. Vielleicht sind sie sogar nötig.
Mir ist beim nachträglichen Sammeln der Blogeinträge einiges aufgefallen. Zum Beispiel, dass ich bereits relativ früh aufgehört habe, die Fußnoten zu lesen, die in meiner Oxford-Ausgabe drin sind und die ich anfangs parallel zur Gabler-Edition las. Ich merkte aber schnell, dass ich gar nicht jedes fremdsprachige Wort und jede Anspielung verstehen musste, um das Buch zu genießen. Genauso ging es mir mit der Sekundärliteratur. Während ich anfangs nach jedem Kapitel im Bloomsday Book nachlas, ob ich das eben Gelesene auch richtig verstanden hatte, merkte ich hier ungefähr in der Mitte des Buchs, dass es völlig egal ist, ob man irgendwas versteht.
Das war vermutlich für mich das größte Aha-Erlebnis dieses Werks: Es geht gar nicht darum, es zu verstehen. Genauso wenig wie man abstrakte Kunst verstehen muss oder zeitgenössische Musik. Man kann natürlich die viele Literatur zum Ulysses nebenbei lesen, man kann versuchen, das Gilbert-Schema wiederzufinden (ich habe das komplett ignoriert), man kann sich an jedes Wort und jede Szene klammern. Man kann sich aber auch einfach dem Roman überlassen und die völlige Distanzlosigkeit zwischen Verfasser und Leserin erleben.
Meiner Meinung nach geht es schlicht darum, die Schönheit und Vielfalt der englischen Sprache zu würdigen, zu genießen, sie zu bewundern oder sich auch von ihren Möglichkeiten einschüchtern zu lassen. Jedes Kapitel ist in einem anderen Stil verfasst, weswegen sich das Buch auch nach 500 Seiten noch so anfühlt, als hätte man gerade erst damit angefangen. Manche Kapitel gefielen mir besser, andere las ich eher pflichtschuldig durch, aber bei denen, die ich mit Begeisterung las, ging es mir wie bei Proust: Mir war bewusst, dass ich etwas Außergewöhnliches lese. Warum, ist egal. Ob ich alles kapiere, auch egal. Ich darf an etwas teilnehmen, was vielleicht nicht jeder vergönnt ist. Ich hatte die Zeit und die Muße und, ja vielleicht auch die innere Einstellung, mich in dieses Buch und seine Kapriolen fallen zu lassen.
Zu dieser Einstellung schrieb F. vor ein paar Tagen etwas sehr Gutes, das ich mal zusammenfasse:
„Seit dem Lachenmann-Konzert am Freitag habe ich über etwas nachgedacht. Der Herr neben mir zog während des Schlußapplauses mit seiner Frau empört von dannen und konstatierte, es sei eine Zumutung gewesen. Abgesehen von der Frage, warum er überhaupt da war (vermutlich Ehrenkarte). / Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß jegliche Infragestellung unserer kulturellen Gewohnheiten (sei es Musik, Theater oder bildende Kunst) zunächst eine Zumutung ist, dann aber zur Herausforderung wird, die wiederum Erkenntnis gebiert, was dann am Ende unseren Horizont erweitert. / Ich bin froh, für mich selber an dem Punkt angekommen zu sein, dass ich es gleich als Herausforderung empfinde, in meinen Seh- oder Hörgewohnheiten angegriffen zu werden. Und daß dann in gewisser Regelmäßigkeit auch Erkenntnis folgt. / Glücklich kann sich schätzen, wer in einem oder mehrerer dieser Bereiche so bewandert ist, dass er sowohl Zumutung als auch Herausforderung überspringen kann, und gleich zum Erkenntnisgewinn kommt.“
Zunächst schrieb ich nach dieser Tweetkette diese Sätze in den Blogeintrag: „So bewandert bin ich literarisch nicht, dass der Ulysses für mich eine Erkenntnis bereitgehalten hat – außer dass ich jetzt noch mehr Joyce lesen möchte, hey!“ Ein paar Stunden später fiel mir aber auf, dass ich eine irre große Erkenntnis gewinnen konnte, die mir aber nicht sofort eingefallen war, weil sie mit meinem Handwerk und meiner Einschätzung meiner eigenen Fähigkeiten zu tun hat, die ich beide gerne abtue, was sehr doof ist. Also, Erkenntnis, Achtung: was Sprache alles kann. Was sie kann, wenn man sie lässt bzw. wenn man jemanden hat, der*die weiß, wie er*sie mit ihr arbeitet. Und was man selber kann, wenn man sich lässt und nicht dauernd hinterfragt, ob das jetzt Sinn ergibt oder was nützt. (!) Erkenntnisausrufezeichen! Bloom gilt als der Allerweltsmann, und wir lesen lauter Allerweltsdinge in einer Allerweltsstadt. Genau deshalb, denke ich, kann der Ulysses auch jede Leserin zu einer anderen Erkenntnis bringen, denn jeder Alltag ist anders. Dein Leben ist anders als meins, und deswegen liest du dieses Buch auch anders.
Nochmal zurück zur Tweetkette: Ja, Ulysses war mehrere Anläufe lang eine Zumutung, der ich mich nicht aussetzen wollte. In diesem Jahr aber ist es anscheinend zu einer Herausforderung geworden, ohne dass ich es darauf angelegt hätte. Wie bei Proust denke ich, dass die Zeit – bzw. ich – einfach dafür reif war, mich von diesem Werk mitnehmen zu lassen und mich ihm völlig auszuliefern.
Ich las mal irgendwo, dass man Ulysses mindestens dreimal liest: das erste Mal, um einfach zu gucken, warum alle so eine Angst vor diesem Buch haben – ist das wirklich so schlimm und unverständlich und anstrengend? (Nein, oft, selten.) Dann das zweite Mal, wo man schon weiß, worum es geht, man kennt die Orte und Personen – jetzt kann man sich den tausend Fußnoten und Anmerkungen hingeben, um das Buch vielleicht doch zu entschlüsseln, wenn man es denn darauf anlegt. Und das dritte Mal liest man zum Spaß: Das Buch hat keine Geheimnisse mehr – aber jetzt ist man gewappnet für alle Ebenen, die man bei den ersten beiden Anläufen noch nicht mitbekommen hat und die man jetzt ganz individuell für sich aufdröselt. Dazu zitiere ich noch mal Fritz Senn:
„Natürlich verdient der Ulysses die ganze intellektuelle Belastung durchaus. Der Roman ist noch lange nicht ausgebeutet: Da ist noch viel zu entdecken. Das Buch eignet sich vorzüglich für gelehrte und geistesgeschichtliche Untersuchungen, ob deren Ergebnisse nun pedantisch, abseitig, lehrreich, abstrakt oder wegweisend sind. Was alles wir über den Ulysses schon gehört haben, trifft meistens auch zu; aber noch viel mehr stimmt das, was vielleicht noch nicht gesagt worden ist und worauf vielleicht, wer weiß, gerade wir bei der unvoreingenommenen Lektüre, wenn’s die gäbe, zuerst stoßen. Trotz der vielen Wegweiser, die hilfreich in alle Richtungen zeigen, weist die Landkarte noch ein paar weiße Flecke auf.“
(Fritz Senn: „Lese-Abenteuer ‚Ulysses‘“, in: Franz Cavigelli (Hrsg.)/Ders.: Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959–1983, Zürich 1983, S. 32–47, hier S. 32.)
Anders ausgedrückt: Ulysses ist, was du daraus machst.
Take the short cut. Read the book.
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„Alles klappt“ (Uraufführung), 6. Juni 2018
F. und ich hatten bei einem Konzertbesuch festgestellt, dass wir öfter zeitgenössische Musik hören möchten. Daher schauten wir schon vor längerer Zeit ins Biennale-Programm und entschieden uns für eine Uraufführung eines kurzen Musiktheaterstücks von Ondřej Adámek, „Alles klappt“, im Marstall des Residenztheaters. Der Ankündigungstext sprach von Archivalien, die durch die Archivar*innen plötzlich zu sprechen beginnen, wenn ich mich richtig erinnere (ich finde ihn nicht mehr online), aber um welche Archivstücke aus welcher Zeit es sich handelte, stand dort meiner Meinung nach nicht.
Das erfuhren wir erst Mittwochabend vor Ort aus dem Programm und mir wurde ein bisschen mulmig: Der Komponist verarbeitete unter anderem Stücke aus seinem Familiennachlass, genauer gesagt, Postkarten aus Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau. Dem Programm beigelegt waren eine undatierte Karte aus Theresienstadt und zwei aus Auschwitz, letztere von Januar und April 1944, auf denen eine Mutter an ihren Sohn in Prag schrieb. Auf diesen befindet sich auch der Stempel mit dem Hinweis, dass eine „Rückantwort nur auf Postkarten in deutscher Sprache über die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ zu geschehen habe. Eine Karte ist erkennbar in Charlottenburg abgestempelt worden, bei der anderen fehlen Briefmarke und Stempel.
Das Stück begann damit, dass der Komponist und Dirigent mit einem Metalldetektor den Bühnenboden absuchte, aber nichts fand. Danach traten nacheinander sechs Sänger*innen und zwei Percussionist*innen auf; einige schoben hölzerne Kisten, andere Schlaginstrumente, die nach und nach von den Musiker*innen bearbeitet wurden. Der Sprechgesang der sechs begann mit – ich hoffe, ich erinnere mich halbwegs korrekt – Beschreibungen von Werterhaltung und Wertzuwachs. Es wurden Möbelstücke und ihre Anzahl aufgezählt, wobei der Sprechgesang stets rhythmisch blieb. Mir fiel erst nach gefühlt zehn Minuten auf, dass der Rhythmus mich an Eisenbahnen und ihr Rollen über Schwellen erinnerte. Es wurde von Menschen auf Transporten gesprochen, immer mehr Instrumente kamen auf die Bühne, Text und Bühnengestaltung ergänzten sich hier sehr intuitiv. Es wurde voller und enger auf der Spielfläche und die gesprochen-gesungenen Zahlen immer höher.
Die sechs Archivar*innen nahmen Gegenstände aus den Holzkisten und wickelten sie in durchsichtige Folie ein, während im Hintergrund Luftpumpen, Blasebälge und eine Sprühdose bearbeitet wurden, mit der man per Druckluft Computerkeyboards reinigen kann. Für mich waren das alles Anspielungen darauf, dass viele der Menschen auf den Transporten keine Luft bekamen – und ein Hinweis auf ihr gewaltsames Ersticken in den Gaskammern.
Die Nennung von Möbelstücken und Orten, aus denen sie kamen, erinnerte mich an die Listen, die ich aus Auktionskatalogen kannte, wo eben nicht nur Bilder und Wertgegenstände der deportierten oder vertriebenen Menschen versteigert wurden, sondern auch Tische, Stühle, Blumenvasen und Kleidung. Die Gegenstände, die unter anderem aus den Kisten geholt wurden, waren einmal, wenn ich das richtig erkannt habe, ein Radio (das jüdische Bürger*innen seit 1939 nicht mehr besitzen durften) und ein Koffer (bei dem ich sofort die Sammlung von Koffern in Auschwitz vor Augen hatte).
Dann trat aber eine Archivarin an eine Kiste und holte eine Brille hervor (auch bei ihr musste ich an die Sammlung in Auschwitz denken). Sie packte sie allerdings nicht in Folie ein, sondern setzte sie auf – und die Besitzerin der Brille sang nun durch sie. Sie sang sinngemäß oder teilweise wortwörtlich die Texte, die wir vorher auf den Postkarten schon hatten lesen können: „Wir sind alle gesund. Seid ihr? Alle danken wir herzlichst für die Postpakete, kamen in Ordnung an. […] Dürfen nur selten schreiben, seid daher unbesorgt, wenn wenig Berichte. Haben uns gut eingewöhnt. Wohne in großem Zimmer gemeinschaftlich. In Gedanken stets bei euch. Wir sehen einander täglich in freier Zeit, arbeiten fleißig.“ (undatierte Karte aus Theresienstadt)
Ein anderer Archivar nahm nun ein Gemälde aus einer Kiste und sang auf tschechisch. Es gab deutsche und englische Übertitel, für die ich recht dankbar war, denn der Klang setzte sich aus Percussion und mehrstimmigem Gesang, der meist eher eine geräuschvolle Wortproduktion war, zusammen. F. meinte nach dem Stück, er habe sehr auf die Percussionist*innen geachtet, während ich die irgendwann völlig vergaß, weil ich so mit den Worten beschäftigt war. Ich versuchte bei jedem Satz zu ergründen, woher er wohl stammte: von einem Reichsgesetzblatt oder der letzten Postkarte, die ein Häftling aus einem Konzentrationslager schrieb? Das war alles andere als ein entspannter Theaterabend, aber ich war gleichzeitig fasziniert, verstört, begeistert und traurig und klatschte danach auch sehr lange.
Aber soweit waren wir noch nicht. Nach dem Gemälde, bei dem ich wirklich kurz davor war zu heulen, weil es so nah an dem ist, was ich tagtäglich mache und bei dem ich immer noch hadere, ob ich meine Kraft nicht lieber für Provenienzforschung einsetzten sollte anstatt einem anscheinend eher unbedeutenden, systemkonformen Maler der NS-Zeit nachzuspüren, kamen Gegenstände, über die ich erst nachdenken musste. Eine Archivarin entnahm der Kiste eine Pflanze, ein Archivar eine Peitsche. Bei der Pflanze dachte ich mir, dass sie vielleicht auf den Stellen wächst, an denen früher Lagerbaracken standen, bei der Peitsche dachte ich daran, dass viele Häftlinge gezwungen wurden, sich gegen ihre Mithäftlinge zu stellen. Die vorletzte Archivarin nahm eine große Flasche Kölnisch Wasser und übergoss sich damit, was ich einerseits mit Reinwaschen und andererseits mit Erinnerungen wegwaschen verband – und was den Weg ebnete für den letzten Archivar.
Dieser trug einen grauen Anzug, dessen Jackett er ablegte, bevor er die letzte Kiste öffnete. In ihr befand sich schwere, schwarze Erde, die er nun mühevoll mit beiden Händen und ausgebreiteten Armen auf dem Bühnenboden verteilte. Dann nahm er seinen Kolleg*innen ihre jeweiligen Gegenstände ab und vergrub sie, während alle weiterhin Postkartentexte, Vorschriften oder Sätze über Werterhalt und Besitz sprachsangen. Für mich war das Ablegen des Jacketts ein Bezug auf die vielen Deutschen, die nach 1945 ihre Uniformen vergruben oder verbrannten, die Orden vernichteten und ihre Identität neu aufstellten – oder auf Schreibtischtäter wie Eichmann in grauen Anzügen, die sich eben nicht die Hände schmutzig machten, aber natürlich genau die gleiche Verantwortung trugen.
Schließlich war alles vergraben, der Archivar verdreckt und verschwitzt, die anderen sangen „Schreibt bald“, wobei aus dem ersten Wortteil ein lautes SCHREI- wurde, bevor daran noch ein leistes -bt gesetzt wurde. Die Percussion wurde immer lauter und lauter – und dann war es still. Ich dachte noch, nee, das ist ein doofes Ende, als ein neuer Sprechgesang begann. Den Text konnte ich zunächst nicht zuordnen, er ging ungefähr so: „Ich vermisse meine Gegenstände. Ich wollte nur ein stilles Leben mit meinen Gegenständen.“ Und ich dachte, das ist ja ein noch blöderes Ende, wieso reden wir jetzt über Dinge, wo wir eben so zutiefst menschliche Texte gehört hatten? Bis mir auffiel, dass eben diese Dinge das einzige sind, was noch von ihren Besitzer*innen übrig ist. Ein Koffer. Ein Bild. Eine Brille. Und wir Historiker*innen suchen mit Metalldetektoren oder Archivfindmitteln nach diesen Dingen und nach irgendjemandem, dem wir Schmuck oder Bilder oder Bücher in die Hand drücken können, als ob damit irgendwas wieder gut werden würde.
Gestern, nachdem ich alles ein bisschen hatte sacken lassen können, gab ich den Namen der Absenderin der Postkarten in die Datenbank für die Opfer der Shoah in Yad Vashem ein. Ich hatte sinnloserweise die winzige Hoffnung, dass die Schreiberin den Holocaust überlebt haben könnte. Hat sie nicht. Malvine Pokorny, geboren am 3. Mai 1873, wurde am 15. Dezember 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert, wo sie zu einem unbekannten Zeitpunkt verstarb. Ihre Postkarte vom 15. April 1944 an ihren Sohn Alfred lautete:
„Geliebter Sohn,
bin gesund. Karte 26.1. 16.3 erhalten, sehr erfreut. Alles in bester Ordnung nach meiner [?] und Eurerem Wunsche. Innigste Grüße allerseits. In größter Dankschuld und Liebe
Mutter.“
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Das Stück ist heute und morgen noch im Marstall um 20 Uhr zu sehen, am Sonntag um 17 Uhr. Am 14. Juli wird die Aufführung, die wir gesehen haben und die aufgezeichnet wurde, bei BR Klassik um 20.05 Uhr zu sehen hören sein. Ich werde euch definitiv daran erinnern.
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Was schön war, Mittwoch, 6. Juni 2018 – Rakel
Mittwoch ist Eichhörnchenvorlesungstag. In der letzten Sitzung, die ich zu faul war zu verbloggen, sprachen wir über die „Handschrift“ von Künstler*innen – also ihre visuellen Eigenarten, der bestimmte Pinselstrich oder ähnliches; van Gogh drängt sich hier geradezu als Beispiel auf. Jahrhundertelang war eben diese Handschrift vernachlässigt worden – ich schrieb bereits darüber, dass das geistige Konzept hinter einem Werk als wichtiger angesehen wurde als dessen Ausführung. In der Akademiemalerei im Frankreich des 19. Jahrhunderts erreichte diese Idee seinen Höhepunkt, indem per Blaireautage, der Nachbearbeitung mit dem Dachshaarpinsel, jede vorherige Pinselschraffur geglättet oder ganz getilgt wurde, so dass keine Spur mehr davon zu sehen war, dass dieses Kunst-Werk ein Hand-Werk war.
Interessanterweise sorgte auch die Fotografie dafür, dass diese Haltung überdacht wurde. 1856 fotografierte das Studio Mayer & Pierson in Paris den Comte Cavour. 1862 verfremdete ein anderes Fotostudio diese Aufnahme, woraufhin Mayer & Pierson die erste Copyrightklage der Fotografiegeschichte einreichten. (Auf gemalte Werke gab es seit 1793 ein Copyright.) Daraufhin wurde erstmal diskutiert, ob die Fotografie überhaupt eine Kunst sei, denn ein Fotograf sei praktisch nur ein operateur einer Maschine. Trotzdem kam man nicht ganz darum herum, sich auch über das Konzept, die geistige Idee hinter einem Werk zu unterhalten, die hier offensichtlich kopiert wurde, auch wenn es in diesem Fall noch nicht zu einer Verurteilung wegen Copyrightsbruch reichte.
Wir begannen die letzte Sitzung mit dem Hinweis von Meyer Shapiro, der in den 1960er Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, etwas überspitzt meinte, Kunst, auch bzw. gerade die abstrakte, sei zutiefst human, denn Gemälde und Skulpturen seien die letzten wirklich handgemachten Gegenstände der Moderne. Gestern sprachen wir dann über Gerhard Richter und seine Rakel, mit der er quasi jede eigene Handschrift negiert und nur (?) sein Werkzeug Spuren hinterlassen lässt.
Der Dozent verwies hierbei natürlich auch auf den Film Gerhard Richter Painting, aus dem wir viele Stills zu sehen bekamen, in dem er, soweit ich mich erinnere, fast dauernd mit der Rakel in der Hand an seinen Bilder vorbeischreitet, sie gerne noch ein bisschen hängen lässt und dann wieder an ihnen arbeitet. Ganz eventuell bezieht sich dieser hübsche Cartoon von 2013 darauf; der Film kam 2012 in die US-amerikanischen Kinos.
Der Dozent meinte, dass sich die Kunstgeschichte bisher noch nicht mit der Rakel Richters auseinandergesetzt habe und trug uns daher seinen eigenen Katalogbeitrag vor, der demnächst zu einer Richter-Ausstellung im Museum Barberini erscheinen wird. Den Katalog empfehle ich euch einfach mal, denn das war eine äußerst spannende Sitzung, auch wenn ich Richters Spätwerk immer noch etwas misstrauisch gegenüberstehe.
Für mich interessant: die Rakel, wie der Duden sie nennt, wird in vielen deutschen Publikationen zu dem Rakel, warum auch immer (hier bitte die üblichen geistigen Abrisse zu Männer = Kunst, Frauen = Frauenkunst einfügen). Im Englischen wird aus diesem Werkzeug gerne squeegee anstatt wie vorbildlich in der Wikipedia beim Spracheumschalten doctor blade, wobei letzteres ein Werkzeug aus dem Druckverfahren bezeichnet, ersteres aber das Gummiding zum Fensterputzen. Daher finden sich in der englischen Literatur zu Richters Rakelwerken auch gerne Vergleiche zu Seifenspuren wie nach dem Fensterputzen, generell der Hinweis auf Leinwände als Fenster zu irgendwas oder eben das Versperren desselben durch Farbe. In der deutschen Literatur fehlen diese Assoziationen völlig. (Hier bitte die üblichen geistigen Abrisse zu „Aber Sprache ist doch egal, die formt unser Denken doch nicht und Frauen sind halt mitgemeint“ einfügen.)
Nochmal zur Handschrift: Richter meint selbst zu seinen Rakelwerken, dass er bei ihnen eher etwas entstehen lasse anstatt etwas zu kreieren. Vermutlich ist das genau mein Problem mit den Dingern; anscheinend hänge ich auch noch an dem ollen Renaissancekonzept, dass die Idee hinter einem Werk wichtig ist, und ich habe Probleme mit Werken, die einfach irgendwie da sind. Obwohl ich sie schon gerne anschaue. Ja, auch die Rakeldinger (hier ein winziger Ausschnitt).
Richter selbst nennt sein Werkzeug übrigens Spachtel, jedenfalls in diesem Monsterwerk, indem er sich genau zweimal darauf bezieht, und beide Male sagt er nicht Rakel. Vermutlich bezieht er sich auf Courbet; auch über ihn und seine Palettmesser schrieb ich bereits. Zwei seiner Bilder rekurrieren sogar bewusst auf diesen Maler.
Dann ging es um August Strindberg, von dem ich bisher nicht wusste, dass er auch gemalt hatte. Hat er aber, und angeblich stammt von ihm die Idee der Farbresteverwertung auf Paletten (ich hoffe, ich habe mir das richtig notiert). In der Sitzung über Paletten hatten wir bereits erfahren, dass einige Maler*innen aus den Farbresten auf der Palette noch ein Bild schufen – eben auf der Palette. Strindberg nutzte diese Reste aber nun und malte aus ihnen ein neues Bild; er zwang sich selbst quasi dazu, aus einer vorgegebenen Farbauswahl ein Motiv zu schaffen. Richter machte mit seinen Rakelbildern etwas ähnliches: Nachdem ein Bild fertig war, streifte er die noch farbige Rakel auf bereitliegenden, meist belanglosen Urlaubsfotos ab (Beispiel „Firenze“). Keine Ahnung, ob das ein bewusster Bezug ist oder ein simpler Zufall, aber sowas mag ich. (Dass Richter sich fast von Anfang an mit Fotografie und ihre Verwendung in der Malerei interessierte, dürfte Dauerleser*innen dieses Blogs bekannt sein; in meiner MA-Arbeit bezog ich mich auf frühe Gemälde, für die er per Episkop Fotos auf die Leinwand projizierte und sie nachmalte. Mein übliches Beispiel: Onkel Rudi.)
Wir sprachen auch über andere Bezüge von Künstlern auf Künstler. Richters Rakel waren auch hierfür der Ausgangspunkt, denn der Fotograf Timo Schmidt baut sie nach und fotografiert sie. Ein anderes Werk in diese Richtung wäre Rauschenbergs Erased de Kooning: Hierfür hatte Rauschenberg de Kooning um ein Bild gebeten, das er ausradieren wollte. Nach anfänglichem Zögern überließ de Kooning Rauschenberg ernsthaft ein Bild, das dieser, wie angekündigt, ausradierte. Über 50 Jahre später schuf J. Newton das Werk Not Rauschenberg’s Eraser, eine Plastikbox mit Radiergummis darin.
Richter verarbeitete Palettenreste noch anders. Für seine Serie Ausschnitt fotografierte er winzige Details seiner farbbeschmierten Palette und malte diese Fotos dann übergroß nach. Ein Ausschnitt-Bild trägt den Zusatz Makart. Es bezieht sich auf den Maler Hans Makart, der ebenfalls gerne auf seinen Paletten malte. Der Dozent erzählte die Geschichte von Makarts riesigem Schinken (seine Worte) „Der Einzug Karls V. in Antwerpen“, das ich aus der Hamburger Kunsthalle kenne. Das Ding kostete damals so viel wie ein Viertel des gerade neu errichteten Gebäudes – oder wie der Dozent es ausdrückte: so viel, wie heute ein Richter kostet. Angeblich erhoffte sich die Kunsthalle von dem damals sehr angesagten Maler einen ähnlichen Coup wie der Louvre mit seiner Mona Lisa, die schon damals die Massen anzog. Dummerweise war Makart recht schnell den meisten Leuten egal – so wie übrigens heute auch der Kunsthalle. Das Bild ist zu groß, um es umzuhängen, weshalb es seit dem Umbau vor kurzer Zeit nun fieserweise für die Besucher*innen unsichtbar hinter einer eigens errichteten Gipswand hängt. Von mir aus könnte die Neue Pinakothek das mit den ganzen Pilotys auch so machen. Wobei ich Makarts Falknerin dort gerne anschaue. Und ich vermisse ein bisschen den großformatigen Richter am Aufgang der Pinakothek der Moderne. Wo hängt der eigentlich gerade?
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Was schön war, Montag/Dienstag, 28./29. Mai 2018 – Ein, zwei gute Tassen Tee. Oder sechsundzwanzig
Nachdem ich bei Dallmayr schon mal Kaffee bzw. Espresso kosten durfte, kam jetzt Tee dran. Dieses Mal war ich gewarnt: nicht alles trinken, was man dir hinstellt, sonst hörst du dein Herz wieder so laut schlagen! Aber dazu kam ich gar nicht. Auch wenn ich sofort zugegriffen hätte, so hübsch sahen die 26 Sorten aus, die da akkurat aufgebaut waren. Das sind übrigens längst nicht alle Teesorten, die das Haus vertreibt; momentan sind es ungefähr 120.
Im oberen Bild stehen ein weißer Tee, ein paar Grüntees und dann folgen die Schwarztees. Auf der anderen Seite des Tisches standen zunächst einige aromatisierte Schwarztees (wie Jasmintee, Earl Grey oder Chai) und dann Getränke, die im strengen Sinn kein Tee mehr sind, weil sie nicht vom Teestrauch stammen, sondern stattdessen Aufgüsse aus getrockneten Pflanzenteilen sind (Rooibos, Kräutertee, Früchtetee).
Der Leiter der Tee-Abteilung erklärte mir zunächst, wie und wo Teeanbau und Verarbeitung stattfindet. Was mich überraschte: Nicht China oder Indien sind die weltweit größten Exporteure, sondern Kenia. In China und Indien wird zwar mit weitem Abstand am meisten angebaut, aber eben auch das meiste bereits im Land getrunken. Die meisten der 10 Milliarden (kein Tippfehler) Tassen Tee, die täglich (auch kein Tippfehler) getrunken werden, werden in diesen beiden Ländern aufgebrüht. In Deutschland sind übrigens die Ostfriesen ganz weit vorne im Verbrauch. Das war zu erwarten, aber den Abstand fand ich dann doch beeindruckend: 300 Liter Schwarztee pro Jahr im Vergleich zu lausigen 29 (plus 35 Liter Kräuter- und Früchtetee) im Rest der Republik . Ostfriesland süppelt sogar mehr weg als England, das sich mit 205 Litern pro Jahr noch ein bisschen lang machen muss.
Ich erfuhr außerdem, wie genau aus den jungen Trieben eines Teebusches die lustigen Kringel werden, die in meiner Teepackung landen. Gepflückt werden am besten two leaves and a bud, also der oberste Trieb des Busches, der aus zwei Blättern herauswächst. In losem Tee kann man die Triebe mit bloßem Auge von den schmalen Blättern unterscheiden; sie sehen aus wie eingerollte Blätter und sind manchmal heller. Nach dem Pflücken dauert es nur wenige Tage, bis die nächsten Triebe nachgewachsen sind, die dann wiederum gepflückt werden. In Indien und China ist das Pflücken Frauenarbeit, während die Verarbeitung von Männern erledigt wird, in Kenia geschieht es genau andersherum.
Nach dem Pflücken werden die Blätter und Triebe sofort verarbeitet. Zunächst werden sie gewelkt, das heißt, sie liegen auf langen Sieben, durch die kalte Luft geleitet wird. Dadurch verlieren die Blätter und Triebe circa 30 Prozent ihrer natürlichen Feuchtigkeit. Danach folgt das Rollen, bei dem sie quasi zwischen zwei sich bewegenden Scheiben grob zerrieben werden. Der austretenden Zellsaft reagiert mit dem Sauerstoff – jetzt beginnt die Fermentation, die für die charakteristischen Aromen von Darjeeling, Assam oder anderen Sorten sorgt. Während der Fermentation verändert sich auch die Farbe der Teeblätter von grün zu rot, braun, kupferfarben etc. Ein Trockenvorgang stoppt die Oxidation. Danach laufen die Blätter über eine Art Förderband, die sie nach Größen aussiebt. Die größten Blätter und Triebe landen in den Lose-Blatt-Teepackungen, die kleineren eher in Tassenportionen wie Beutel. Ich musste mich hier von einem meiner Vorurteile über Tee verabschieden: Ich dachte bisher immer, in den Beuteln lande irgendwie weniger guter Tee als in den Packungen mit den losen Blättern. Jetzt weiß ich: Es stammt alles aus der gleichen Produktion, ist halt nur kleiner.
Jetzt wollte ich aber endlich was trinken. Teeverkostungen sind genormt, das heißt, die Menge von Tee und Wasser wird weltweit gleich eingesetzt. Abgewogen wird hier stilecht mit einer Waage, die genau 2,86 Gramm Tee abwiegt, das Gewicht einer alten englischen Sixpence-Münze. Danach wird das kleine Tassenkännchen mit 150 Milliliter Wasser gefüllt, und der Tee zieht genau fünf Minuten. Das Kännchen wird umgedreht, damit der Tee in die Schale laufen kann. Das sieht dann in Reihung sehr putzig aus, und jetzt weiß ich auch, wofür die Dinger Zacken haben.
Die Schalen stehen da übrigens nicht nur, weil sie hübscher aussehen als Tassen. Generell gilt für Tee: je dünnwandiger das Porzellan oder das Glas, desto besser. Kanne vorwärmen, kennen wir alle, den Tee am besten lose schwimmen lassen, damit er Platz hat (Teeeier sind böse!), und dann möglichst in eine Thermoskanne umfüllen, damit das ebenso böse Stövchen nicht zum Einsatz kommt. Ich gebe zu, ich benutze das Ding bei Assamtees, aber ich glaube, da ist es okay. Darjeeling verbrennt man damit allerdings ganz prima.
Diese Farben! Das kriegt Kaffee nicht hin, der braune Langweiler.
Weiter mit der Verkostung. Nach dem Ausgießen des Tees landen die Blätter auf dem Deckel des Kännchens, denn hier bekommt man schon den ersten Eindruck. Man prüft das Aussehen, aber vor allem den Duft. Ich zuckte sehr bei einem Sencha zurück, dessen Geruch ich in Richtung Fleischbrühe verortete, bis der Teeexperte meinte: „Spinat.“ Genau. Spinat. Muss ich nicht morgens zum Müsli haben, stelle ich mir aber zu Spiegeleiern super vor. Generell ist Tee ein guter Essensbegleiter, man sollte nur die richtige Sorte wählen. In chinesischen Restaurants zum Essen parfümierten Jasmintee zu bestellen, ist eher eine blöde Idee, und wenn ich mich richtig erinnere, trinkt man in China eh keinen Tee zum Essen, sondern davor und danach. Bestimmt top zum Schinkenbrot: der Lapsang Souchong, ein geräucherter Tee, der mich daran erinnerte, dass ich auch keine rauchigen Whiskys mag.
Genug an den Blättern gerochen, jetzt wurde Tee getrunken. Beziehungsweise nicht, denn bei einer Teeverkostung trinkt man nicht, sondern schlürft wie irre und benimmt sich wie auf einer Weinprobe, bei der man alles wieder ausspuckt.
Man nimmt mit einem großen, flachen Löffel Tee aus der Schale und schlürft, als ob er zu heiß wäre (ist er nicht). Dann zieht man wie beim Weintrinken Luft in den Mundraum, um die Aromen besser schmecken zu können, und schon spuckt man das schöne Zeug wieder aus. Bei den ersten Tees habe ich das sehr bedauert, beim sechsundzwanzigsten wusste ich, warum man nichts trinkt; ich blubberte auch so schon vor mich hin. Tee enthält übrigens mehr Koffein als Kaffee, gibt es aber nicht so brachial ab wie letzterer. Bei Tee ist das Koffein an die Gerbstoffe gebunden; es löst sich erst im Magen und hält dann den Koffeinspiegel über Stunden konstant, während Kaffee eher der schnelle Fix für eine gute halbe Stunde ist. Seitdem ich das weiß, überlege ich, ob der klassische Fünf-Uhr-Tee so eine clevere Idee ist. Ich schiebe den Brexit jetzt auf sehr unausgeschlafene und dementsprechend schlecht gelaunte Briten.
Ich fand es sehr spannend, die verschiedenen Aromen zu riechen und zu schmecken: die edle, florale Note im Darjeeling, der ganz milde Heuduft im Grüntee, die Zitrusnote im Ceylon, das Karamell im Rooibos. Oder eben auch nicht: Die Aromen verstecken sich gefühlt mehr als die im Wein, aber es kann sein, dass ich mich auf sie einfach schon länger konzentriere.
Ich trinke Tee gerne beim Arbeiten und Studieren und beschränkte mich bisher auf Assam als Ostfriesenteemischung (mit Milch), Darjeeling (pur) und Earl Grey (meistens pur, manchmal mit Milch). Vorgestern entdeckte ich den zarten Nilgiri-Schwarztee für mich und trank den ersten Chai, der nicht fies nach Zimt und Nelken im Rachen brennt. Ich mochte selbst den fiesen Jasmintee, der eigentlich alles erschlägt, und war überrascht von einem sehr frischen Kräutertee. Netterweise bekam ich eine Tüte Teepackungen mit und kann jetzt zuhause weiterüben.
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Am Dienstag trank ich dann auch allen Ernstes Tee zum Frühstück anstatt Cappuccino. Und dann über den Tag verteilt noch weitere fünf Tassen. Ostfriesland, nimm dich in Acht!
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Was schön war, Sonntag bis Mittwoch, 20. bis 23. Mai 2018 – Wennebostel, Hannover, Halle, München
Sonntag: Wennebostel
Am Sonntag feierte mein Papa seinen 80. Geburtstag. Er hatte dazu die übliche Rotte an Verwandtschaft und Bekanntschaft eingeladen; der Landgasthof, in dem meine Familie quasi alles feiert von Hochzeiten bis zu Goldenen Hochzeiten, tischte wie immer bergeweise rustikale Köstlichkeiten auf, und wir ließen es uns von 11 Uhr morgens bis kurz vor 19 Uhr abends rundum gutgehen. Mich persönlich interessierte natürlich die Welfenspeise am meisten, mein allerliebster Nachtisch, von dem nie etwas übrigbleibt, was ich jedesmal anprangere. Ansonsten griff ich zum Huhn statt zum Wildschwein, genoss fiese Fertigkroketten, die ich genau deshalb nie kaufe, weil sie fies und fertig sind, aber auf einem Buffet findet ich sie super, nachmittags schmeckte eine Mascarpone-Himbeer-Torte ganz ausgezeichnet, und ich alleine vernichtete vermutlich ein bis zwei Flaschen herrlichen Kerner. Was man halt so in Landgasthöfen macht.
Mir gefiel auch der gebuchte Alleinunterhalter gut. Ich würde den Mann nie anheuern, weil er schlicht nicht zu meiner Altersklasse passt, aber ich mochte seine Professionalität sehr gerne. Er begrüßte uns alle, als wir draußen beim Empfangsschlückchen Sekt herumstanden, mit einem Lied auf dem Akkordeon und brachte fast alle dazu, Papa ein Geburtstagsständchen zu schmettern, wobei die ältere Generation weitaus textsicherer war als wir und die Generation nach uns. Danach hielt er sich wieder zurück und dudelte unaufdringliche Schlager im Hintergrund, teilweise am Keyboard selbst gespielt und gesungen, teilweise vom Band, während wir aßen und uns unterhielten. Nach Absprache mit meinen Eltern wurde dann zum Tanz aufgespielt. Irgendwann am Nachmittag verteilte er Textbücher, und wer wollte, konnte Volkslieder mit ihm singen. Ab und zu wurden Gäste mit in die Performance einbezogen, wenn sie wollten, keiner musste, alles ging. Das fand ich wirklich bemerkenswert, diese Grenze zwischen „ich muss für Stimmung sorgen“, „ich lasse alles einfach mal laufen, sorge aber für einen angenehmen Musikteppich“ und „ich unterstütze die gut gelaunte Feierlichkeit, ohne dass es peinlich oder penetrant wird“. Profi halt.
Worüber ich mich auch freute: dass meine Idee mit den ausgedruckten Fotokarten gut ankam. Meine Schwester hatte in den letzten Jahren nach und nach unsere ganzen Familienalben eingescannt und mir einen Berg an Zeug gemailt, aus dem ich Motive auswählte, die meiner Meinung nach Papas 80 Lebensjahre wenigstens punktuell abbildeten: mit seinen Eltern, mit Mama, die vor über 50 Jahren noch seine schicke, junge Verlobte war, dann mit meiner Schwester und mir, Hausbau, Urlaub, Feiern mit der Verwandtschaft, Nachbarschaftshilfe, Familienkram. Wir stellten einige Karten auf die Tische, andere aufs Buffet und es passierte genau das, was ich mir erhofft hatte: Die Menschen an den jeweiligen Tischen unterhielten sich über die Bilder bzw. die Abgebildeten, tauschten die Karten miteinander und guckten auch nach, was auf den anderen Tischen so stand. Simple Idee, prima Konversationsstarter. Profi halt. (SCNR.)
Abends war ich eigentlich platt, aber ich sehe meine Schwester und ihren Mann recht selten, weswegen F. und ich den Restabend bei den beiden auf der Terrasse verbrachten. Es wurde Rotwein gereicht und Pastis (Haselnussgeist für die Anti-Anis-Fraktion wie mich), wir vernichteten ein Kilo Nüsschen und ich stellte erstaunt fest, dass bestimmte Räucherstäbchen wirklich gegen Mücken halfen. Eigentlich stellte ich das erst einen Abends später bei meinen Eltern auf der Terrasse fest, wo ich ohne Räucherstäbchen fies gestochen wurde.
Spät und müde ins Bett.
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Montag: Hannover
Früh und müde wieder wach. Keine Ahnung warum, aber F. und ich waren beide gefühlt vor 6 wach (ich auf jeden Fall). Wir hatten das Sprengelmuseum in Hannover geplant, das um 10 öffnete. Pfingstmontag war kein richtiger Montag, wo die meisten Museen geschlossen haben, aber der S-Bahn Hannover war das egal. Aus unserem kleinen Dörfchen fuhr nur jede Stunde eine Bahn, weswegen wir aber immerhin eine gute Ausrede hatten, um nicht noch stundenlang mit der Familie und der Verwandtschaft zu frühstücken – „wir müssen los, die S-Bahn, Feiertag und so“.
Auf dem Weg zum Bahnhof zeigte ich F. noch meinen Lieblingsjesus, der in der Kirche hängt, in der ich getauft und konfirmiert wurde und in der man mich meistens am Heiligen Abend antrifft, wo ich bei Weihnachtsliedern heule. Hier sieht man den Jesus im Header und auf dem Bild zum Abschnitt Gründonnerstag; ich selbst habe ernsthaft kein Foto von der Skulptur. (Memo to me: machen.) Ich mag an dieser Jesus-Darstellung die Gradlinigkeit, die Schlichtheit und dass die Figur nicht als Mensch an einem Kreuz hängt oder steht, sondern selbst das Kreuz bildet. Es sieht dabei aber nicht nach Leiden und Tod aus, sondern nach ausgebreiteten, empfangenden Armen. Er trägt keine Dornenkrone, und ich meine, selbst die Stigmata sind nicht zu sehen.
Ich mag voreingenommen sein, weil ich auf diesen Jesus seit über 40 Jahren gucke, aber ich kenne keine weitere Darstellung, die mir ähnlich gut gefällt, und ich habe gerade in den letzten Jahren des Studiums wirklich bergeweise gesehen. Das Gerokreuz im Kölner Dom kommt ihm in meiner Zuneigung recht nahe, wohl auch, weil es Jesus ebenfalls eher als Mensch denn als Gott zeigt.
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Ich kannte das Sprengelmuseum größtenteils, aber F. noch nicht, und so ließ ich ihn bestimmen, wo er hinwollte. Okay, fast: Zuerst zerrte ich ihn in die Lichträume von James Turrell, die ich sehr liebe. Vor allem den, in dem man in absoluter Finsternis sitzt, bis sich nach sechs, sieben Minuten die Augen an das Fehlen von fast allem Licht gewöhnt haben und man ein Rechteck? einen schmalen Streifen? ein Kreissegment? aus Licht wahrnimmt, das vor einem in nicht bestimmbarer Entfernung auftaucht.
Wir gingen recht schnell durch die Kunst nach 45, die äußerst luftig hängt, das hatte ich etwas enger in Erinnerung. Aber: Das Museum hat seit Kurzem einen neuen, großen Anbau, und in dem hing dann auch all das, an was ich mich erinnerte, vor allem die Neue Sachlichkeit, die ich besonders sehen wollte. (Mein Liebling: das Mädchen im Café von Ernst Thoms. Darauf freute ich mich genau wie auf die Lichtspiele Turrells.) Was mir auch auffiel: Allmählich scheint sich der Umgang mit systemkonformer Kunst zwischen 1933 und 1945 zu ändern. Anstatt diese Zeit still zu übergehen, hängen wenigstens ein paar Exponate, zum Beispiel von Adolf Wissel oder Georg Schrimpf, an denen bzw. deren Begleittexten die gebrochenen oder konstanten Biografien ganz gut sichtbar werden.
Was der Anbau übrigens auch hat: ein großes Panoramafenster, von dem man auf den Maschsee gucken kann, bequem auf zwei Sofas. Man kann dabei auch einen Film über Arno Breker gucken, aber wir sahen lieber dem Regattastart der Drachenboote zu. Aber später bei einem Eiskaffee im Museumscafé guckten wir dann brav auf ein NS-Kunstwerk am See.
Im Untergeschoss waren wir schon recht müdegesehen, aber natürlich musste der Merzbau sein. Ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal im El-Lissitzky-Kabinett gewesen zu sein, aber das machte uns wirklich wieder wach, was der Sinn der ganzen Raumgestaltung war. Man konnte Schaukästen kippen und Bilderleisten verschieben, und mit sowas kriegt man mich ja immer. Mal eben eine Wand vor einen Mondrian ziehen, warum nicht?
Ganz zum Schluss huschten wir noch in eine kleine Ausstellung mit Werken von Hans Uhlmann und Günter Haese, von denen mich letzterer total begeisterte. Er stellte aus dünnstem Draht, Uhrenfedern und ähnlich winzig-fragilen Metallgegenständen abstrakte Skulpturen her, die mich schlicht faszinierten. Hier sieht man ein paar von ihnen. Gerade die goldfarbenen Objekte erinnerten mich an die Eldorado-Ausstellung, die ich als Kind gesehen hatte: ein Überfluss an Reichtum und Schätzen. Hier ist es deutlich billigeres Material, aber der Gesamteindruck war der gleiche: ein Geschenk an Farbe, Material und Raumgestaltung. Leider waren wir beide doch recht platt, weswegen wir diesen Ausstellungen nicht mehr genügend Zeit ließen.
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Die von Niki de Saint-Phalle gestaltete Grotte in den Herrenhäuser Gärten. Künstlerische Darstellungen von dicken Frauen haben bei mir immer gewonnen.
Nach einer Stärkung im Café ging es in die Herrenhäuser Gärten. Erstens, weil man in die halt reingeht, wenn man als Touri in Hannover ist, und zweitens, weil die Performance This here and that there von Vlatka Horvat angekündigt war, die spannend klang. Die Künstlerin und ihre drei Mitstreiterinnen bespielten die sogenannten Schwanenbecken, vier quadratische, flache Wasserbecken. Dort stellten sie Stühle in gewisse Formationen, lösten diese wieder auf und schufen neue Anordnungen. Das ganze lief an drei Tagen für jeweils acht Stunden, wofür ich die Damen sehr bewundere. Wir erwarteten nicht viel, saßen aber gebannt über eine halbe Stunde zwischen zwei Becken, und wenn meine Eltern uns nicht zum Abendessen erwartet hätten, wären wir bis zum Ende um 19 Uhr gelieben.
Es hört sich so simpel an – da stellen halt Leute Muster aus Stühlen ins Wasser –, aber genau diese Muster, die entstanden und wieder zerstört wurden, entwickelten eine spannende Dynamik, auf die ich gar nicht vorbereitet war. Ich wollte da eigentlich nur sitzen und nicht mehr rumlaufen müssen, es war schattig, ein leichter Wind ging, wir hatten eine bequeme Bank und Wasser, wir hätten einfach rumlungern können. Ich konnte mich aber nur kurz entspannen, denn erstaunlicherweise guckte ich den entstehenden Mustern und Formationen doch atemloser zu als erwartet. Im Becken rechts von uns entstanden aus den Stühlen gerade zwei Viertelkreise, und ich empfand es als unglaublich befriedigend, als aus den einzelnen, teilweise schräg gestellten Stühlen zwei herrlich symmetrische Kreisteile wurden. Genauso unbefriedigend bzw. aufwühlend empfand ich es aber, als dann nach einer kurzen Ruhezeit, in der das Bild einfach stand, Stühle wieder entfernt wurden und die Symmetrie brutal zerstört wurde. Jedenfalls kam es mir brutal vor. So ging es mir auch mit dem Bild, das im linken Becken enstand. Wir kamen an, als verschiedene Stuhlgrüppchen so standen wie Wartezimmeranordnungen oder an Flughäfen, mal hier ein Grüppchen, dann eins da drüben. Nach und nach entstanden vier Reihen, die aufeinander zuliefen, was die gleiche Befriedigung bei mir auslöste wie die Kreissegmente. Auf einmal war alles gut, alles passte, nichts anfassen bitte. Daran hielt sich die Künstlerin natürlich nicht, sondern nahm mal hier, mal dort einen Stuhl weg oder drehte ihn seitwärts, alles langsam, alles gemächlich, das Wasser plätscherte vor sich hin, die Blätter der Bäume und Hecken um uns herum rauschten im leichten Wind, es hätte alles so schön sein können, aber nein, es musste ja jemand aus einer perfekten Linie eine unperfekte machen!
Falls ihr die Chance haben sollten, diese Performance noch einmal irgendwo zu sehen: macht das mal. Hypnotisch.
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Abends platt und müde bei meinen Eltern Reste des sonntäglichen Festessens verspeist, ein Herri getrunken (auch schon sehr lange nicht mehr gemacht), um zehn ins Bett, weil wirklich fertig. Dass Kunstgucken immer so anstrengend ist!
Wobei ich auch deswegen platt war, weil sich mein Introvert’s Hangover meldete. Ich leide nur bedingt körperlich vor mich hin, mein Öhrchen piept manchmal tinnitusmäßig, aber es geht immer wieder weg, sobald ich Ruhe habe, und ich bin verspannt, aber ich glaube, in bin immer verspannt. Ich merke aber, dass ich immer gnatziger und kurz angebundener werde, jede Smalltalk-Minute macht mich aggressiver und ich werde schlicht unleidlich, obwohl ich es gar nicht sein will. Der Sonntag hatte mich durch die vielen Menschen schon sehr gestresst, obwohl ich ihn genossen hatte, und Montag abend waren einfach alle Reserven verbraucht.
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Dienstag: Halle
Auf der Zugfahrt nach Halle konnte ich die Reserven wieder auffüllen. Dazu reichten ein schöner Sitzplatz am Fenster und die Noise-Cancelling-Kopfhörer und schon war ich eine Stunde in meiner eigenen kleinen Blase. Danach ging es mir deutlich besser.
Die Moritzburg in Halle hatte Ende letzten Jahres ihre ständige Sammlung zur Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu gehängt; eine Leserin machte mich freundlicherweise darauf aufmerksam. Ich zitiere von der Website – der Text findet sich auch im begleitenden Blog zur Neuhängung:
„Etwas Besonderes stellt die Inszenierung der Kunst entlang der drei politischen Systeme in der ersten Jahrhunderthälfte dar und hierbei besonders die Thematisierung der Kunst im „Dritten Reich“. In einer diskursiven Gegenüberstellung wird sowohl das Fortwirken der Moderne in den 1930er und 1940er Jahren vorgestellt als auch die von den Nationalsozialisten offiziell anerkannte Kunst. Damit beschreitet das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) unter den Kunstmuseen in Deutschland einen neuen Weg in der Auseinandersetzung mit der eigenen Institutionsgeschichte sowie mit der deutschen Kunstgeschichte und der daraus abgeleiteten Präsentation der Sammlungsbestände.“
Das würde ich heftig abnicken. Ich bin blöderweise davon ausgegangen, dass es zur Neupräsentation einen Katalog geben würde, daher habe ich nicht fotografiert, weder Werke noch Beschriftungen, und als uns nach drei Stunden unten im Museumsshop klar wurde, dass es keinen gibt, war ich zu faul, nochmal hochzugehen. Daher kann ich euch jetzt keine Namen nennen, aber ich lege euch den Besuch dringend ans Herz, falls euch das Thema nicht schon zu den Ohren rauskommt, seit ich hier davon dauernd schreibe. Hier werden aktuelle Forschungsstände abgebildet bzw. als gut lesbarer Wandtext verfügbar gemacht (looking at you, Wandtexte in der Pinakothek der Moderne). Es wird klar, dass die Kunst eben nicht 1933 aufgehört und 1945, huch, wieder angefangen hat. Dass viele Maler und Malerinnen gewisse Spielräume hatten, die sie ausnutzten und eben nicht alles schwarz oder weiß war. Dass die NS-konforme Kunst noch längst nicht aufgearbeitet und dass jede Biografie anders ist und anders gelesen werden kann. (Genau das mache ich ja gerade mit Protzen.) Die wenigen Werke waren meiner Meinung nach sehr gut gewählt, weil sie eine gewisse Bandbreite abbildeten – das Grau zwischen dem Schwarz und dem Weiß halt, zwischen den Gottbegnadeten und der „entarteten Kunst“. Die Pinakothek der Moderne hat mit ihrem Saal 13 2015 (?) damit angefangen, NS-konforme Kunst in der Sammlung auszustellen, war aber einen Hauch zu zögerlich. Die Moritzburg hat das jetzt sehenswert und konsequent gemacht. Wie F., der sich seit drei Jahren meinen, Zitat, „Nazischeiß“ aufmerksam anhört und anguckt, sagte: „Saal 13, aber richtig.“
Das ganze Stockwerk war toll, nicht nur die kleine Ecke mit der Regimekunst. In der Neuen Sachlichkeit freute ich mich über zwei Bilder, die F. und ich gerade in Frankfurt bei der Weimar-Ausstellung gesehen hatten. Außerdem bewunderte ich frühe Werke von Franz Marc, die aber schon den späteren erkennen lassen, den ich ja eigentlich nicht so mag, diese Arbeiten dann aber doch. Beckmann geht ja eh immer, genau wie Lehmbruck, und ein paar Bilder halfen mir auch bei der Einordnung von Protzen weiter, zum Beispiel von Karl Völker.
Direkt nebenan ging es weiter – mit Kunst nach 1945 aus der DDR. Davon verstehe ich quasi nichts, aber den Raum fand ich bis auf seine wirre Wegeführung genauso begeisternd. Auch hier, aber ich muss nochmal betonen, davon keine Ahnung zu haben, hatte ich das Gefühl, einen aktuellen Forschungsstand präsentiert zu bekommen. F. war im letzten Jahr bereits schon einmal in der Moritzburg gewesen, und da wurde die DDR-Kunst noch verschämt als abstrakt präsentiert, so nach dem Motto, hatten wir auch. Der sozialistische Realismus wurde genauso verschwiegen wie heute eben die NS-konforme Kunst verschwiegen wird (womit ich beide keinesfalls gleichsetzen will). Nun kann man auch den Realismus anschauen, aber eben auch die Abstraktion, die Pop Art (noch nie davon in der DDR gehört) und die stetigen Auseinandersetzungen mit der vom System gewünschten Kunst. Auch hier: Spielräume. Alleine für Wolfgang Mattheuers Kain lohnt sich der Eintritt; das Bild kannte ich aus einem Uni-Seminar, wusste aber nicht, dass es hier hängt. Neu entdeckt habe ich für mich Hermann Bachmann.
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Auch in diesem Museum blieben wir länger als geplant, daher war der Rest des Stadtaufenthalts kurz und schmerzlos. Ein Blick in den Dom (och jo), einen etwas längeren in die Marktkirche (die Decke!), und dann saßen wir noch knapp zwei Stunden im Schatten in einer gutbürgerlichen Kneipe, ich trank Schwarzbier, F. Pils, wir aßen Salzkrustenbraten bzw. eine Bauernpfanne und schleppten uns dann wieder in Richtung Tramhaltestelle. In den Trams war ich vorher schon von der Ansagestimme überrascht worden, denn das war die gleiche Dame, die mich in Hamburg in den Bussen der Linien 20 und 25 jahrelang genervt hatte mit ihrer Pause mitten im Namen meiner Endhaltestelle: „Kottwitz … straße.“ DAS IST EIN WORT, DU TRULLA VOM BAND!
Gegen 22 Uhr wieder in München. Endlich, seufzte ich in der U2, endlich wieder zuhause, endlich wieder allein sein.
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Mittwoch: München
Urlaub vom Urlaub. Vormittags arbeitete ich kurz und erledigte beruflichen Kleinkram, dann ging ich einkaufen, um vor allem meine Brotvorräte wieder aufzufüllen – ich war ja ewig weg! –, aber dann lag ich nur noch auf dem Sofa, guckte unter anderem vier Folgen Masterchef Australia, zu denen ich am Wochenende nicht gekommen war, las, ruhte mich aus und schrieb über zwei Stunden an einem Blogeintrag *hust*. Ich muss mir meinen innerlichen Bildungsauftrag abgewöhnen. Wenn ich nur über mein Essen bloggen würde, wäre ich viel schneller fertig!
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Was schön war, Mittwoch/Donnerstag, 16./17. Mai 2018 – Eichhörnchenvorlesung und Kunstarchiv
Mittwoch ist Eichhörnchenvorlesungstag! So nenne ich bekanntlich die Vorlesung, die sich mit den Werkzeugen der modernen Malerei befasst. In der dieswöchigen Sitzung ging es um Farben, also nicht um ein Werkzeug, sondern um ein Material, aber auch hier lernte ich wieder tausend Kleinigkeiten, die mein Bild der Malerei um wichtige Bruchstücke ergänzten.
Wir begannen mit einer kleinen Einführung in die Geschichte der Farbherstellung, also wie aus Pigmenten und Bindemitteln die Farbe wird, die auf der Holztafel oder der Leinwand landet. Schon die Namen der alten Farben lassen erkennen, wie weit der Weg der Pigmente war, bis sie im zentralen Europa benutzt wurden. Das ist leider auch wieder so ein westlich-europäisches Denken – die Farben wurden natürlich auch in Asien und Afrika benutzt, wo diese Namen weitaus weniger Sinn ergaben. In Indigo steckt Indien (Bengalen) drin, und ich lernte die Indigo-Unruhen kennen, der mir bis dahin unbekannt war. Ultramarin („über das Meer“) wurde aus Lapizlazuli gewonnen, das hauptsächlich in Afghanistan abgebaut wurde (seitdem denke ich über die Farbe der afghanischen Burkas nach, bei denen ich mich schon länger gefragt habe: wieso sind die blau und nicht schwarz wie in arabischen Ländern die Frauengewänder?). Ich lernte, dass in der Renaissance die beauftragten Maler ihre Materialien genauso wie ihre Arbeitszeit abrechneten und dass Gold und Ultramarin extrem teuer waren, weswegen mit diesen Farbtönen nur die wichtigsten Bilddetails gemalt wurden (der Himmel als Goldgrund, das dunkelblaue Gewand der Maria). In Türkis steckt die Türkei, in Orange die exotische Frucht, in Indisch-Gelb … okay, das ist selbsterklärend. Was ich aber noch nicht wusste: Diese Farbe entstand aus dem Urin von Kühen, die mit Mangos gefüttert worden waren.
In diesem Zusammenhang lernte ich auch, dass Pigmente mit zu den ersten Dingen gehörten, die global gehandelt wurden. Einen wirtschaftlichen Buchtipp des Dozenten dazu lieh ich mir gleich aus. Und dazu noch ein Buch, das er empfahl, in dem es unter anderem um die schon angesprochenen Künstlerrechnungen geht und was sie uns über die Malerei der Renaissance verraten.
Wir kamen noch einmal auf den intellektuellen Kampf zwischen Linie und Farbe, disegno/colore, zu sprechen, der in der Renaissance begann, sich aber bis ins 19. Jahrhundert fortsetzte. Die beiden Spielarten der Malerei wurden gerne als männlich/weiblich positioniert, siehe das Bild von Il Guercino im Wikipedia-Link zu disegno. Das ging so weit, dass Charles Blanc in seinem Buch Grammaire des arts du dessin (1867) davon sprach, dass die Farbe nie die Macht über die Linie gewinnen dürfe, sonst würde sie die Malerei ruinieren so wie Eva die Welt ruiniert hätte. (Hier bitte das übliche Augenrollen meinerseits dazu denken.) Wir sahen auch wieder ein Bild von Gérôme, Der Farbenhändler (1890), in dem man, wenn man will, die Farbtöpfe mit den Pigmenten und den Stößel als weiblich/männlich interpretieren kann.
Wir sprachen dann über den Übergang von Tempera- zu Ölfarben, mit denen sich die Möglichkeiten der Darstellung deutlich veränderten. Weil Ölfarbe länger braucht, bis sie trocknet, kann man sie dementsprechend länger verarbeiten, verändern, mischen, während Tempera kaum noch nachträgliche Änderungen möglich macht. Vor allem für die Darstellung von menschlicher Haut und ihrer sinnlichen Qualitäten wurde Ölfarbe geschätzt, bis im 19. Jahrhundert der Historismus eine Zäsur schuf. Die Präraffaeliten in England sowie die Nazarener im deutschsprachigen Raum orientierten sich eher an alten Bildmotiven bzw. Malstil, während in Frankreich viele Künstler bewusst wieder zur Temperafarbe griffen, um der akademischen Ölmalerei etwas entgegenzusetzen.
Im 20. Jahrhundert bewarb Magna Paint ihre Acrylfarbe mit dem (sinngemäßgen) Slogan: „Die erste neue Farbe seit 500 Jahren.“ Ob das völlig stimmt, ließ der Dozent mal dahingestellt, aber: Die Acrylfarbe veränderte die Malerei erneut, ähnlich wie die industrielle Herstellung von Farben Ende des 19. Jahrhunderts den Welthandel mit Pigmenten veränderte bzw. zum Erliegen brachte. Anfang des 20. Jahrhunderts war übrigens das Deutsche Reich führend in der Herstellung; 90 Prozent aller Industriefarben stammten daher. Die zwei Weltkriege veränderten aber auch diese Industrie bzw. den Welthandel damit. (Ich wundere mich ja immer noch, was wir alles verkackt haben in unserer Geschichte. Es kommen immer wieder Details dazu, die ich noch nicht kannte.)
Zurück zur Acrylfarbe. Wir sahen unter anderem ein Bild von Thomas Hart Benton, dem Lehrer von Jackson Pollock, der mit der Moderne haderte. Sein Wandgemälde Instruments of Power from America Today (1930/31) besteht zum Teil aus Tempera, ein bewusst gewähltes Material. Pollock hingegen verwendete bewusst Acrylfarbe bzw. Autolack, der nicht nur andere Farbtöne aufwies, sondern sich auch anders auf seinem Malgrund verteilen ließ. Autolack kam im Eimer und musste nicht mehr auf Paletten angemischt werden; seine Drip Paintings wären mit althergebrachten Materialien gar nicht möglich gewesen. Er sagte 1951 in einem Interview: „Each age finds its own technique.“ Ich musste sofort an die Videokunst der 70er und 80er Jahre denken, die heute nicht mehr von anfälligen Bändern und Videorekordern abgespielt wird, sondern schon auf DVD existiert (noch). Oder die ersten Kunstwerke, die sich mit Computern und dem Internet auseinandersetzten und schon heute total veraltet aussehen, obwohl sie gerade mal 20 bis 30 Jahre alt sind. Gleichzeitig denke ich aber über die Renaissance der Malerei nach wie sie zum Beispiel Neo Rauch betreibt, der für meinen Geschmack immer barocker wird.
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Gestern saß ich dann wieder im Kunstarchiv in Nürnberg und wühlte den Nachlass von Protzen ein zweites Mal durch. Seit dem ersten Durchgang hatte ich viel gelesen und mich weiter in dieser Zeit umgeschaut, aber vor allem hatte mein Kopf die Gelegenheit, alles sacken zu lassen. So sah ich gestern Dinge, die mir beim ersten Anschauen nicht aufgefallen waren. Zum Beispiel hatte ich seine vielen privaten Fotoalben nur flüchtig durchgeblättert, sah nun aber, dass viele Motive aus Urlauben oder von Wochenendausfahren sich in seinen Gemälden wiederfanden. Ich sah Ölbilder, die eindeutig auf die Grafikmappe von 1920 rekurrierten, ich konnte Namen und Daten besser einordnen, die mir jetzt in der Korrespondenz unterkamen (die leider nicht sehr reichhaltig vorhanden ist), und ich konnte generell sein Werkverzeichnis etwas aufmerksamer anschauen als beim ersten Mal, weil ich inzwischen ein bisschen besser weiß, wo ich hinmöchte.
Außerdem durfte ich gestern die 15 Kisten des noch unverzeichneten Nachlasses nummerieren und habe mir brav notiert, was ich in welcher Kiste oder Mappe finde; das wird mir bei den nächsten Durchgängen sehr helfen. Dass es noch weitere Durchgänge geben wird, ist klar, aber jetzt warte ich erstmal auf ein paar Antworten per Mail bzw. schreibe noch an weitere Menschen, Firmen und Institutionen, von denen ich mir Auskünfte erhoffe. Das wird! (Hoffe ich.)
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Tagebuch, Montag, 14. Mai 2018 – Dinge geregelt kriegen
TOP 1: zum Prüfungsamt radeln und endlich mein Masterzeugnis im Original vorlegen. Für meine Immatrikulation als Doktorandin reichte das vorläufige Zeugnis und ich musste versprechen, das Original nochmal vorzulegen, sobald es mir ausgehändigt wurde. Das habe ich natürlich total vergessen (ich war ja immatrikuliert, nach mir die Sintflut), bis letzte Woche eine freundliche Mail kam, die mich darauf hinwies, dass ich dem Amt noch was schuldig wäre (es muss was Lebendiges in den Deich). Also hingeradelt, ohne Wartezeit eingetreten, Original vorgelegt, drei mitgebrachte Kopien abgestempelt bekommen, alles da. Neben der Prüfungsamtsdame saß übrigens eine Auszubildende (?), der erklärt wurde, was hier gerade passiert. Jetzt weiß ich, dass es anscheinend Leute gibt, die per Farbkopierer Masterzeugnisse fälschen. Ich gucke ja lieber Serien, aber das klingt auch wie ein interessanter Zeitvertreib.
TOP 2: dem Lieblingshörsaal Hallo sagen. Wenn ich im Hauptgebäude in der Nähe bin, gucke ich da immer sehnsuchtsvoll rein. Ich vermisse dich, klimatisierte und optimal verdunkelbare Holzkiste mit guter Akustik und bequemen Sitzen! Team B 201 forever! Let’s get tattoos together!
TOP 3: zur Stabi radeln und ein Buch abgeben. Eigentlich kein Ding, aber wenn vor einem in der Schlange ein Mädel mit zwei Büchertaschen steht, dauert es eben doch ein bisschen. Vor allem, wenn die Hälfte der Bücher auf die Karte ihrer Schwester ausgeliehen war und sie ein paar davon jetzt auf ihre eigene und überhaupt. Ging aber alles, ich gab mein lausiges Einzelbuch ab und radelte wieder nach Hause.
TOP 4: Wäsche waschen, Teil 2. Meine Samstagswäsche war trocken, nun kam das ganze Bettzeug dran.
TOP 5: Erdbeeren mit Vanillejogurt essen. Bester Tagesordnungspunkt ever!
TOP 6: Masterchef Australia gucken. Zweitbester Tagesordnungspunkt ever! Und dank der Zeitverschiebung nach Australien schon ab ungefähr 14 Uhr in diesem Interweb möglich!
TOP 7: Mails schreiben.
– an die Unibibliothek Münster, die die gleiche Grafikmappe von Protzen im Bestand hat, die ich mir Freitag im ZI angeschaut hatte. Bei uns fehlt allerdings ein nummeriertes Blatt – nach der 2 kommt die 4 –, aber die Gesamtzahl von 20 Blättern ist korrekt, denn nach der 20 kommt noch eine unnummerierte Seite. Da es diese Mappe anscheinend nur in diesen zwei Bibliotheken gibt und die Uni Münster das Ding als RaRa-Bestand nicht als Fernleihe rausrückt, fragte ich per Mail nach, ob ihre Mappe genauso aufgebaut ist wie unsere und wenn nicht, ob ich Blatt 3 bitte als Digitalisat oder Kopie kriegen könnte. Die Bibliothek antwortete nur kurze Zeit später, dass sie die Mail an die Abteilung Historische Bestände weitergeleitet habe, und von dort meldete sich ebenfalls nur kurze Zeit später jemand, der mir sagte, dass die dortige Mappe ein Blatt 3 habe. Da Protzen aber erst 1956 verstorben und sein Werk damit noch nicht gemeinfrei ist, darf das Digitalisat nicht ins Netz gestellt werden, sondern ich muss gegen eine kleine Gebühr einen Scan bestellen, den ich dann per Mail kriege. Hin- und hergerissen gewesen zwischen Freude über die schnelle Erledigung und die tollen Möglichkeiten der Digitalisierung und Ärger über das beknackte Urheberrecht und seine bescheuerten 70 Jahre Schutzfrist.
– an das Kunstarchiv Nürnberg, wo ich Donnerstag wieder sitzen und im Nachlass von Herrn Protzen rumwühlen werde. Dafür müsste mir der Nachlass aber ausgehoben werden und darum bat ich in der Mail.
– an das Lenbachhaus, in dessen nicht-öffentlicher Bibliothek sich anscheinend das letzte Exemplar eines Katalogs zu einer Ausstellung von Protzen und seiner Frau Henny Protzen-Kundmüller von 1976 befindet. Der Nachlass der beiden, den ich gerade in Nürnberg bearbeite, wurde von Protzen-Kundmüller sowohl dem Lenbachhaus als auch der Bayerischen Staatsgemäldesammlung überlassen mit der Auflage, eine Gedächtnisausstellung auszurichten. Die haben beide nicht mehr miterlebt – Protzen starb 1956, Protzen-Kundmüller 1967 – und sie war vermutlich nicht exorbitant groß, denn der Katalog umfasst gerade 16 Seiten. Aber auch die will ich natürlich sehen. Und ich hoffe insgeheim, dass vielleicht doch ein paar Unterlagen noch im Lenbachhaus oder bei der Staatsgemäldesammlung rumliegen, die ich in Nürnberg schmerzlich vermisse.
– nochmal an das Lenbachhaus, aber an eine andere Ansprechpartnerin. Dieses Mal geht es mir um die Bestände von Protzen im Haus, von denen ich gerne eine Liste hätte. Ein Anfang war natürlich die Datenbank Gemälde in Museen – Deutschland, Österreich, Schweiz Online, bei der ich generell nachschauen kann, welches Bild sich wo befindet, aber die einzelnen Häuser verzeichnen gerne noch für mich relevante Infos wie Zugangsdatum, Ankaufspreis oder ähnliches.
– nochmal die gleiche Mail, aber dieses Mal an die Pinakotheken, die über 100 Bilder von Protzen im Depot haben. Und eins in der Ausstellung. (Theoretisch. Ich weiß gerade selbst nicht, ob es derzeit im Saal 13 hängt oder für die Klee-Ausstellung weichen musste. Oh, die könnte ich mir auch allmählich mal anschauen. TOP für heute!) Die Liste hätte ich gerne, weil mir die Online-Sammlung, so praktisch sie für den ersten Eindruck ist, nicht weiterhilft wegen der bereits bemängelten Bildrechte. Ich brauche Abbildungen!
– ans Bundesarchiv in Berlin, um die Unterlagen der Reichskammer der bildenden Künste einzusehen und zu überprüfen, ob Protzen wirklich kein Mitglied der NSDAP war, wie er es im Spruchkammerbogen angegeben hatte, der netterweise im Nachlass liegt. Ich frage nicht nach, warum er da liegt und nicht in einem Archiv, sondern freue mich über einen Weg weniger.
(Ach, wo ich gerade nach „Spruchkammerbogen“ gegoogelt habe, weil ich mir plötzlich bei der Bezeichnung unsicher war: hier ist der Bogen von Oskar Schindler aus Regensburg.)
TOP 8: Zeitung lesen, Ulysses lesen.
TOP 9: Käsebrot, Gin Tonic.
TOP 10: den Abend mit F. verbringen. Gemeinsam einschlafen.
Alles abgearbeitet!
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Was schön war, Dienstag/Mittwoch, 8./9. Mai 2018 – „Philipp Lahm“, Palettmesser, Zitronenbutter
Meine Eindrücke zum Stück Philipp Lahm von Michel Decar, das F. und ich am Dienstag abend im Marstall sahen, wollte ich eigentlich schon gestern aufschreiben, aber eine fast schlaflose Nacht mit anschließender fieser Müdigkeit tagsüber kam mir dazwischen. Außerdem hadere ich seit dem Stück mit meiner fast täglichen Überschrift „Was schön war“.
Philipp Lahm hat mir sehr gut gefallen, mich aber gleichzeitig auf vielen Ebenen angefressen. Und gerade als ich mich ärgern wollte, weil mich ein Theatersatz anfrisst, dachte ich, nee, das ist ja nur Theater, du bist ja gar nicht gemeint. Aber klar bin ich als Publikum gemeint und war wieder angefressen. Dann habe ich mich brav zusammengerissen und gedacht, du bist schon richtig so in deiner gelackten Mittelmäßigkeit, auch wenn die dir gerade fies vor Augen geführt wird in der Person eines fiktiven Fußballers, und das ist auch völlig okay, sich dauernd über sein eigenes Leben zu freuen und Dinge aufzuschreiben, die schön sind.
„Fernsehen und früh ins Bett gehen, das ist eine Haltung.“
(Zitat aus dem Stück.)
Philipp Lahm arbeitet sich an der Oberfläche ab, die wir alle herumtragen und weigert sich, in die Tiefe zu gehen, genau wie sich ganz vielleicht auch der echte Philipp Lahm dafür entschieden hat, öffentlich nur Oberfläche zu sein, unangreifbar, immer diplomatisch, immer beherrscht. Vielleicht hat der Mann keine Abgründe, vielleicht ist der ja wirklich so. Und so einer Figur, die sich mit Sätzen über die Mittelmäßigkeit und den Mainstream über 90 Minuten Spielzeit (Fußball/Theater, die Wortgleichheit fällt mir erst gerade beim Schreiben auf) rettet, sehen wir halt zu. In seinem Ikea-Wohnzimmer, in dem ich natürlich sofort eine Vase wiederentdeckt habe, die gerade bei mir auf dem Küchentisch steht. Vor einer Green Screen, einer Videoleinwand und vor einer dieser klappbaren Plastiktafeln mit Sponsorenaufklebern, vor denen im Stadion die armen Fußballer schlaue Antworten auf die immer gleichen doofen Fragen geben müssen. Auch damit spielt das Stück (ich zitiere aus dem Kopf und daher vermutlich falsch:)
(Off-Stimme:) „Philipp Lahm trifft sich mit einem Reporter von The Sun bei Burger King am Münchner Hauptbahnhof. „Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie den Weltmeister-Pokal in den Händen …“ [usw.]“
Das wird im letzten Interview sehr schön karikiert, als sich Philipp Lahm mit der Schülerzeitung Stachelbeere (eine große Verneigung für diese Namensgebung) irgendwo trifft und gefragt wird, wie er sich fühlte, als er zum ersten Mal hörte, dass die Dinosaurier ausgestorben sind.
Sonst erfahren wir noch Lieblingsbuch und Lieblingsfilm dieses mittelmäßigen Mannes („Mein Lieblingsbuch ist Die Unendliche Geschichte und mein Lieblingsfilm ist die Verfilmung von der Unendlichen Geschichte.“) Aber ab und zu setzt sich die Figur auch damit auseinander, dass ihm eben diese Mittelmäßigkeit immer vorgeworfen wird. Er behauptet, dass eigentlich L’Avventure von Antonioni sein Lieblingsfilm ist, weist aber weitere Theorien zurück, dass sein Leben eigentlich falsch sei. Manche Leute sagten, dass er sein Lieblingsbuch gar nicht kenne, denn das sei in den 1920er Jahren in einer Sprache geschrieben, die er nicht verstehe, und auch seine Frau sei nicht die richtige – vielleicht sitzt die Frau seines Lebens auf Korsika und trinkt Kirschsaft? Aber dann vergewissert er sich schnell selbst: Nein, die Frau seines Lebens sitzt da hinten im Wintergarten.
Wintergarten ist ein schönes Stichwort. Es fallen ständig Stichworte, die assoziativ sind und bei denen man sich an die eigene Nase fassen kann. Katar – dabei denken Bayern-Fans auch an die blöden Trainingslager vor Ort und die Partnerschaft mit dem Flughafen, der per Bandenwerbung zu sehen ist. Das wird aber alles nicht angesprochen, nur das Wort fällt und wer damit etwas assoziiert, ist halt selber schuld. Deswegen bin ich selber schuld, wenn ich mich angefressen fühle, weil mir jemand durch ein Stück zu verstehen gibt, dass es vielleicht nicht mein Job ist, nur schöne Dinge aufzuschreiben, sondern stattdessen heute auf die Demo gegen das Polizeiaufgabengesetz um 13 Uhr auf dem Marienplatz zu gehen, was ich nicht tun werde, weil ich lieber Blogeinträge schreibe und über deren Titel nachdenke und außerdem ist es zu warm.
Im Stück kommt nur eine Person vor, nämlich der fiktive Lahm, aber das wird kurz gebrochen, als der ebenso fiktive Autor eines Films über Lahm darüber sinniert, worüber man eigentlich schreiben soll, wenn man sich an einem derart unfassbaren Menschen abarbeitet. Autor Decar beschreibt das selbst so:
„Was soll denn passieren in so einem Stück? Auf den ersten Blick denkt man sich: ist doch eine völlig reibungslose Biographie, die der Lahm hat. Also dramaturgisch beschrieben: Es wird besser, dann wird’s noch ein bisschen besser, dann wird’s noch ein bisschen besser und dann hört es auf. Die Dramaturgie geht steil nach oben und man wartet vergeblich auf den FALL. Man sieht den RISE, den RISE, den RISE, den RISE und wartet: Wo kommt denn jetzt der große Skandal? Wann gibt’s die große Enthüllung? Wann kommt der Knall? Aber stattdessen hört der einfach auf zu spielen und zwar ein Jahr vor Vertragsende und sagt: Ich hab keine Lust mehr. Ich verzichte auf ein paar Millionen und bin jetzt raus. Ciao.“
Genauso fühlt sich das Stück auch an. Zwischendurch könnte es eventuell zum Fall kommen, darüber denkt auch Lahm nach und erzählt von einer Spritztour an den Tegernsee, die eventuell an einen Abgrund führt, aber vielleicht auch nicht. Der Mann macht eben alles richtig – und will uns davon überzeugen. Er singt ein Lied für die EU, er macht Werbung fürs Wählen, und er gibt gute Tipps für den Alltag: „Sagt Nein zu 19-jährigen Prostituierten, denn sie sind nie wirklich so alt, sagt Nein, wenn ihr eine Lufthansa-Maschine entführen sollt, sagt Ja zu Fahrradhelmen.“
Ich persönlich habe den Abend nicht nur wegen der Performance von Gunther Eckes sehr genossen, sondern auch, weil der Text schlicht gut ist. Der funktioniert vermutlich auch in Leseform, aber alleine für den Monolog darüber, wie Philipp Lahm sich etwas bei Foodora bestellt, sollte man sich das Stück anschauen. Ich werde das vermutlich noch mal tun.
„Manche sagen, dass das Glück nur existieren kann, wenn es auch das Unglück gibt. Aber das glaube ich nicht.“
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F. und ich sprachen über das Stück bei Pfälzer Wein und Wurst- bzw. Käsebrot, was meiner Meinung nach ein sehr passendes Ende des Theaterabends war. Dann übernachteten wir bei mir. Oder zumindest F. übernachtete. Ich döste kurz weg, wachte dann wieder auf – und blieb die ganze Nacht lang wach. Irgendwas saß ich lesend am Küchentisch, dann spielte ich Candy Crush auf dem Sofa, dann versuchte ich diverse Dinge, die bei mir sonst eigentlich dazu führen, dass ich schlafen kann, aber dieses Mal ging gar nichts. Erst gegen 5 schlief ich ein und war dementsprechend gerädert, als der Wecker klingelte. Theoretisch hätte ich einfach im Bett bleiben können, aber die Eichhörnchenvorlesung lockte. (Ich nenne die Vorlesung über Materialien der modernen Malerei inzwischen Einhörnchenvorlesung.) Also quälte ich mich aus dem Bett und radelte katzengewaschen und ohne Kaffee, weil keine Zeit mehr, in die Uni, wo ich spannende Dinge über das Palettmesser erfuhr.
In der vierten Sitzung verstand ich endlich den Impetus für diese Vorlesungsreihe: Es geht dem Dozenten darum klarzumachen, dass die Wahl von Material und Farbe nicht nur eine künstlerische Funktion hat, sondern manchmal auch eine politische. So wie die Dachshaarpinsel alles schön zupuschelten und die Realität vor der Tür ließen, sorgte das Palettmesser für eben diese Realität auf der Leinwand.
„Ich denke, die BRD ist als Staat ganz okay.“
Ich dachte bisher, Courbet wäre der erste gewesen, der das Palettmesser zum Farbauftrag genutzt hatte, anstatt nur damit Farbe auf der Palette anzumischen, wie der Name des Werkzeugs schon sagt, aber laut Dozent hatte sogar Rembrandt das schon gemacht. Courbet war allerdings der erste, bei dem die Benutzung einen programmatischen Hintergrund hatte. Courbet gilt heute als Begründer des Realismus, also der Malerei, die sich nicht mehr damit begnügt, anämische Adlige oder biblische Sagen zu pinseln, sondern Menschen, denen wir täglich begegnen. Sein vermutlich bekanntestes Werk sind die Steinklopfer, die wir gestern auch zu sehen bekamen. Gerade für Stein und Felsen nutzte Courbet den flächigen Farbauftrag, der durch das Messer möglich war. Dass er nicht nur Menschen malte, die hart arbeiteten, sondern dazu auch noch ein Werkzeug – und eben nicht das feine Instrument eines Pinsels – benutzte, war mehr als eine künstlerische Absicht.
Für sein Bild Die Quelle malte Courbet die Haut der abgebildeten Frau brav und schön mit dem Pinsel, für Wasser, Felsen und Blätter nutzte er hingegen das Messer. Das sieht man gut am rechten Arm der Frau, die teilweise von Blättern verdeckt wird. (Danke an das Met, dass man die Bilder schön ranzoomen kann.) Die zeitgenössische Kritik warf ihm vor, eher ein Arbeiter als ein Künstler zu sein, und in Karikaturen wurde er gerne mit Maurerkelle an der Leinwand gezeigt. Sein Kollege Millet, dessen Sämann auch nicht gut ankam, wurde mit Harke statt Pinsel dargestellt.
Mein Lieblingsbild aus der Vorlesung war Vollons Butterklumpen, den ich noch nicht kannte, und der diesen Klumpen eben nicht nur mit dem Messer malte, sondern auch noch eins abbildete. Außerdem sah ich ein Bild von Cézanne wieder, das mich schon in der Vorlesung zu diesem Maler faszinieren konnte: sein Stillleben mit Brot und Lammkeule, das auf der Website vom Kunsthaus Zürich leider nicht zu finden ist, daher hier ein Werbelink. Angeblich ist sich die Forschung immer noch nicht ganz sicher, womit Cézanne den Fleischbrocken gemalt hat; ein Palettmesser würde härtere Kanten erzeugen. Momentan denkt man laut Dozent über Löffel oder sogar nur die behandschuhten Finger nach.
Was ich noch nicht kannte: Cézanne malte auch Menschen in dieser fleischigen, flächigen, fast schon skulpturalen Malweise, hier seinen Onkel als Anwalt. Das Bild L’Oncle Dominique en avocat hängt im Musée d’Orsay, das leider nur winzige Abbildungen hat, daher kopiere ich jetzt mal aus der Datenbank Prometheus ein Detail raus, damit ihr die Malweise vernünftig sehen könnt.
Paul Cézanne: L’Oncle Dominique en avocat (1866), Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm, Musée d’Orsay, Paris (Detail).
Der Dozent meinte, dieses Bild sei im Pariser Salon vermutlich nur als Provokation eingereicht worden; Cézanne musste klargewesen sein, dass er damit keine Chance gegen die braven Akademiemaler hatte.
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Nach der Uni schaffte ich es noch, mir Bücher aus der Bibliothek zu holen und zu Packstation und Supermarkt zu radeln, ohne einen Unfall zu bauen. Zuhause fiel ich dann aber doch ins Bett.
Abends in netter Gesellschaft Pasta mit Bohnen, Brokkoli und Erbsen und einer Kracherzitronenbutter mit Knoblauch.
„Das kann man nicht performen. Das muss man leben.“
(Ja, danke auch, Decar. Ich les jetzt alles von dir nach.)
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Tagebuch, Samstag, 5. Mai 2018 – Alleine sein
Immer noch schlechte Laune. Bzw. immer noch wütend und traurig gleichzeitig. Ich weiß, wo die Wut und die Traurigkeit hinmüssen, aber ich kriege sie noch nicht an ihr Ziel. Aber: Mal wieder die Erkenntnis gehabt, dass ich inzwischen alt genug bin, um zu wissen, was mit mir los ist. Ich bin allerdings anscheinend immer noch nicht alt genug, um damit zielgerichtet umzugehen. Oder noch nicht alt genug, um es einfach auszusitzen, denn irgendwann ist es auch wurscht.
Wenn ich so drauf bin, muss ich alleine sein. Daher fuhr ich nicht nach Augsburg zum letzten Heimspiel der Saison. Stattdessen habe ich mich über nette und aufmunternde Mails gefreut, vor allem über eine, die mit diesem Comic versehen war, der mich sehr zum Lachen bringen konnte. Well played und Dankeschön.
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Was schön war, Mittwoch, 2. Mai 2018 – Noch mehr Eichhörnchenpinsel!
In der ersten Sitzung der Vorlesung über Materialien der modernen Kunst erwähnte der Dozent die Eichhörnchenpinsel bereits, ich schrieb darüber. Gestern gab es nun eine ganze Sitzung nur zum Werkzeug Pinsel, worüber ich immer noch grinse. Universitäten. So much fun!
Wir stiegen wieder mit den Eichhörnchenpinseln ein, die mit ihrer Weichheit einen Gegensatz zum Borstenpinsel bildeten. Dieses Mal habe ich mir auch endlich die schöne Quelle gemerkt, aus der die Info stammte, dass man für einen Pinsel acht Eichhörnchenschwänze brauchte. Das Büchlein Trattato della pittura von Cennino Cennini wurde um 1400 veröffentlicht; hier gibt es eine deutsche Übersetzung von 1871, die ihr online bei meiner geliebten Stabi lesen könnt. Auf Seite 41 beginnt der kurze Abschnitt zu den Puschelpinseln und wie man sie herstellt (bis zu Abschnitt 66 springen und dann eine Seite zurückblättern). Die Überschrift sagt schon alles: „Auf welche Art man Pinsel vom Eichhörnchenhaar macht.“ Und so geht’s weiter:
„In der Kunst bedarf man zweier Gattungen Pinsel: nämlich von Eichhörnchenhaar und solche von Schweinsborsten. Jene vom Eichhörnchen macht man folgender Art: nimm die Schwänzchen vorn Eichhörnchen (denn keine andern taugen dazu) und diese Schwänzchen müssen gekocht, nicht roh, sein. Die Kürschner werden dir davon sagen. Nimm ein solches Schwänzchen, ziehe vorerst die Spitze heraus, weil deren Haare lang sind und vereinige die Spitzen mehrerer Schwänze, so dass sechs oder acht Spitzen dir einen weichen Pinsel liefern, tauglich zum Aufsetzen des Goldes auf die Tafel […].“
Falls ihr von Craft Beer und Palettenmöbeln gelangweilt seid, aber gerne bastelt – wie wär’s damit?
Der Dozent erwähnte eine Anekdote, die von Giotto überliefert ist. Der gute Mann wurde eines schönen Tages von einem Wildschwein umgerannt, und als er sich wieder aufgerappelt hatte, hätte er gesagt, passt schon, mit den Borsten dieser Tiere habe ich viel Geld verdient und ihnen nicht mal zwischendurch eine Kelle Brühe gespendet als Dankeschön.
Generell ging es in der Sitzung um den Unterschied des Farbauftrags von Haar- und Borstenpinseln. Auch noch nie darüber nachgedacht: Einige Maltechniken wurden erst durch bestimmtes Werkzeug möglich. Der sehr pastose Farbauftrag von Goghs zum Beispiel war erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts möglich, weil es zu dieser Zeit bereits flache Borstenpinsel gab statt der bisher rundlichen Spitze. Wenn ihr hier mal den oberen Teil der Vase der guten alten Sonnenblumen vergrößert, seht ihr sehr deutlich die flachen Borstenstriche, die ein Haarpinsel oder auch ein abgerundeter Borstenpinsel nicht hätten erzeugen können. So dient diese Materialkunde auch der Datierung von Kunstwerken.
Gerade die französischen Realisten des 19. Jahrhunderts nutzten Tierhaarpinsel, um Fellstrukturen darzustellen; der Dozent verwies auf Courbets Durchgehendes Pferd. Ich mag es, wenn Dozierende sich auf Kunstwerke beziehen, die vor Ort hängen, denn dann kann man dank des schönen Studiausweises nach der Vorlesung mal kurz umsonst ins Museum hüpfen und sich die Bilder im Original anschauen. Wobei ich über das olle Pferd immer eher grinse als bewundernd davorzustehen.
Dann ging es um den Dachshaarpinsel, der im Französischen mit der gleichen Vokabel bezeichnet wird wie ein Rasierpinsel (und der Dachs selbst): blaireau. Der Dachshaarpinsel sieht dem Rasierpinsel sehr ähnlich, und mit seinen dicken, runden, weichen Haaren glätteten gerade die Salon- oder Akademiemaler ihre Bildoberflächen, bis kaum noch Arbeitsspuren vorhanden waren (also genau das Gegenteil von Courbets Pferd). Diesen Vorgang nennt man dementsprechend blaireautage oder poli bzw. fini – der letzte Schliff, die Politur. Oder wie wir heute sagen wird: Photoshop. Ingres, den ich bisher sehr mochte, der mir aber durch diese Vorlesung immer unsympathischer wird, meinte, dass dieses Glätten absolut notwendig sei, denn die Oberfläche zeige sonst die Hand des Künstlers und nicht seinen Geist.
Von Jean-Léon Gérôme, einem typischen Akademiemaler, erzählte der Dozent die Anekdote, dass er seinen Schülern verboten habe, ihre Studien zu glätten, denn sonst sei die wichtige Kopfarbeit nicht mehr zu sehen. Die fertigen Werke seien aber ungeglättet bloß nicht der Öffentlichkeit zuzumuten. Das Glätten von Studien verglich Gérôme, und hier erwähnte der Dozent das wichtiges Stichwort „Gender-Aspekt“, mit Nähen, Sticken, überflüssiger Frauenarbeit eben. Er sprach außerdem über einen Vergleich, der die Kunstwelt etwas verlässt: In privaten Räumen kann man rumlaufen wie man möchte, aber wenn man vor die Tür geht, wenden die meisten von uns dann doch ein wenig oder auch irrwitzig viel Energie darauf auf, wie man sich anderen Menschen präsentiert. Das Stichwort the finished gentleman entspringt diesem Gedanken und verweist wieder auf das finish an Bildern.
Von Gérôme sahen wir übrigens dieses Bild in der Vorlesung. Ich kannte von ihm bereits den Klassiker Phryne vor den Richtern, bei dem ich jedesmal von der Dramatik und Dynamik und dem Zusammenspiel von Rot und Blau begeistert bin, bis ich mit den Augen rolle, weil halt nackte junge Frau vor vielen Kerlen schnarch ich kann es einfach nicht mehr sehen. Ich hatte von ihm auch schon den Schlangenbeschwörer gesehen, bei dem es uns in der Seminar-Diskussion um die Darstellung des Orients durch westliche Augen ging. Und wir haben uns lange an der ausgeprägt detailliert dargestellten Architektur ergötzt, die eine wilde Mischung aus realen Orten und künstlerischer Fantasie ist.
Nach Gérôme sahen wir einige Werke von Alexandre Cabanel, dessen Geburt der Venus eins meiner persönlichen Hassbilder ist, weil siehe oben (AUGENROLLEN). Auch Cabanel glättete wie bescheuert, und van Gogh soll gesagt haben, je mehr Bilder er von Cabanel sehe, desto mehr dränge es ihn zum pastosen Farbauftrag. Ich musste allerdings feststellen, dass ich einige Bilder von Cabanel doch mochte, zum Beispiel das Porträt der Duchesse von Vallombrosa, wo ich die verkünstelte Handhaltung spannend fand. Ich habe leider keine große Abbildung gefunden, aber die rechte Hand mit ihren Adern hätte ich stundenlang anschauen können. Oder das Porträt der Comtesse de Koller. Beiden Bildern wurde von der Kritik das Glätten, die blaireautage, vorgeworfen, während Liebhaber dieses Stils meinten, die Zartheit oder Unversehrtheit der adligen Haut käme so noch besser zur Geltung. Anders ausgedrückt: Man sieht ihnen an, dass sie den ganzen Tag rumsitzen können und nie irgendein Werkzeug in die Hand nehmen müssten, was womöglich Muskeln oder Blasen erzeugen könnte. Gerade bei Damen ja ganz schlimm.
Die Kritik erfand auch ein Schimpfwort für diese zugepuschelten Bilder bzw. ihre Schöpfer: blaireauteur! Das übernehme ich sofort in meinen Wortschatz. Wann immer mir demnächst blutleere, totgepostete, langweilige Kunst über den Weg läuft, werde ich innerlich „Alles Dachshaarpinselmaler!“ denken. Denn nicht für die Uni, sondern fürs Leben lernen wir.
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Tagebuch, Samstag/Sonntag, 28./29. April 2018 – Sternenstaub und Spargel
Am Freitag im Biergarten fragte mich der ehemalige Mitbewohner, ob ich Lust hätte, ihn am Samstag Mittag zur Eröffnung der ESO Supernova zu begleiten, er hätte da zwei Tickets fürs Planetarium geschossen. Ich so: „ESO? Was fürn Ding? Nie gehört.“ Aber wenn man schon so freundlich gebeten wird, dann geht man natürlich mit. Zuhause googelte ich erstmal, wohin ich Samstag fahren müsste: hierhin.
Samstag bestieg ich die U6 und fuhr erstmals bis zur Endstation Garching Forschungszentrum. Oder anders: drei Stationen weiter als bis zur Allianz-Arena, was bisher immer mein Endpunkt gewesen war. Ein paar Frankfurter und FCB-Fans waren schon an Bord, aber sonst war es leer und ruhig und ich konnte endlich mal wieder in der U-Bahn lesen, was sich in München für mich sonst nie lohnt, weil alle Wege so kurz sind.
Die 400 Meter Fußweg durch die fiese Mittagshitze überstand ich gut, ich war wie seit Wochen brav dick mit Sonnencreme bestrichen. Noch kein Sonnenbrand in diesem Jahr, nicht mal im Stadion, wo-hoo! Am Supernova-Gebäude warteten bereits der ehemalige Mitbewohner und mit ihm noch so dreißig, vierzig Menschen, die wie wir zu den ersten gehören wollten, die sich dieses neue Ding anschauen konnten. Um Punkt 12 öffneten die Türen, eine freundliche Dame wies uns auf die „Picknick-Area“ und die Garderobe im Untergeschoss hin, erklärte, wo die online erworbenen Tickets, für die man einen Code zugeschickt bekommen hatte, nun ausgedruckt werden konnten … und weiter habe ich nicht zugehört, denn wir stratzten sofort zum Drucker, bevor alle anderen Menschen das auch wollten. Ich glaube, es gab nur zwei Drucker, an denen man die Planetariumskarten ausdrucken konnte, was ich ein bisschen unterdimensioniert finde, wenn es denn so ist. Man konnte auch nicht einfach sein Handy auf den Touchscreen legen und lustig losdrucken, sondern musste den Code abtippen. Kein irrer Aufwand, aber es wunderte mich doch. Um uns herum wuselte ein dreiköpfiges Fernsehteam des Bayerischen Rundfunks, und als mir das auffiel, verfluchte ich meine Sonnencreme dann doch. Ich hoffe, ich glänze nicht zu sehr in irgendwelchen Abendschauen.
Eigentlich braucht man für die Ausstellung, die sich in einer Spirale vom Erdgeschoss ins zweite Obergeschoss windet, noch ein Ticket, aber wir dachten uns, dass das heute vermutlich egal sei und gingen einfach mal durch, während sich eine Schlange am Drucker bildete. Wir hatten nicht irre viel Zeit, denn die Show im Planetarium sollte bereits um 12.30 Uhr losgehen, daher sind meine Eindrücke sehr verkürzt und vermutlich nicht ausgewogen.
Generell merkte man der Ausstellung an, dass sie versuchte, es allen Besucher*innen recht zu machen – was vermutlich die Schwierigkeit bei dieser Art Museum ist. Es soll nicht zu simpel sein, damit die Erwachsenen sich nicht langweilen, aber auch nicht zu kompliziert, damit die Kinder nicht quengeln. Man wird erstmal von einer Menge, und ich meine einer Menge, Schautafeln erschlagen. Darauf habe ich meist drei Textblöcke wahrgenommen: Oben wird man ins Thema reingeholt und zwar schlauerweise mit einer Frage, zum Beispiel (ich zitiere aus dem Kopf, also vermutlich falsch): „Wie entstehen Gezeiten?“ Erster Gedanke bei mir: Ha, weiß ich. Zweiter Gedanke: Ähm, aber so ganz genau dann auch nicht. Mal die Tafel durchlesen. Alleine für die Formulierung als Frage gibt’s von mir einen didaktischen Daumen nach oben.
Die Antworten auf die Frage waren dann quer über die Tafel verteilt: einmal in äußerst knappen Texten, die groß gedruckt waren, und dann rechts an jeder Tafel kleiner gedruckt, aber ausführlicher. Man konnte also schön im Vorbeigehen was lernen, aber wenn man mehr wissen wollte, konnte man auch mehr lesen. Auch das fand ich recht clever gemacht. Allerdings waren einige der Tafeln nicht optimal beleuchtet, so dass ich manchmal Schwierigkeiten hatte, die Texte zu entziffern, gerade die längeren. Aber: Ich habe brav was gelernt. Auf einer Tafel stand die Frage „Bestehen wir aus Sternenstaub?“ und die Antwort „Fast jedes Atom, das schwerer als Wasserstoff oder Helium ist, wurde durch nukleare Reaktionen im Inneren von Sternen erzeugt. Das gilt auch für die Atome im menschlichen Körper.“ Wir bestehen wirklich aus Sternenstaub! Hach! I feel so special now!
Bei der englischen Übersetzung, die stets gleich mit auf den Tafeln steht, stutzte ich aber des Öfteren, gerade bei der Sternenstaub-Tafel. Dort lautete die Frage in der Überschrift nämlich: „Are we made of starstuff?“, was ich doof übersetzt fand. Inzwischen habe ich mich aber schlau gegoogelt und weiß: Das ist ein Zitat. Trotzdem habe ich an der Tafel was zu meckern, denn die englische Übersetzung des Kurztextes ignoriert den zweiten deutschen Satz und schreibt nur was von „every atom in the universe“ usw. Damit fehlt mir so ein bisschen die schöne Conclusio, aber das mag Texterinnengemecker sein.
Netterweise gibt es nicht nur Tafeln zum Lesen, sondern auch Dinge zum Anfassen. Mit sowas kriegt man mich ja immer, anfassen ist super. Ich kann jetzt behaupten, einen Meteoriten angefasst zu haben und zwei Kilo auf dem Jupiter angehoben zu haben. Letzteres ist vermutlich erklärungsbedürftig: Auf einer Reihe kleiner Tische standen blaue Gewichte, auf denen „2 kg“ stand. Aber: Sie waren nicht alle zwei Kilogramm schwer. Je nachdem, auf welchem Planeten unseres Sonnensystems man sich befindet, wiegen zwei Kilo eben nicht mehr zwei Kilo. Und so hob ich entspannt wenige hundert Gramm hoch, als ich auf dem Mond war, und ächzte, als ich auf dem Jupiter das blaue Ding hochheben sollte. Simpel gemacht, aber lustig. Auf jeden Fall lustiger als die vielen Touchscreens, die ich eher langweilig fand.
Hier steht noch mehr zur Ausstellung und ihren Themen.
Damit war ich auch schon durch, denn die Show im Planetarium begann. Die erste Schwierigkeit war, meinen Sitzplatz zu finden; wenn in der Abendschau eine Dame zu sehen ist, die ihre iPhone-Taschenlampe aktiviert und auf den Knien vor der ersten Reihe rumrutscht, um die Nummern auf den Sitzen zu entziffern – das wäre dann ich, latent schlecht gelaunt wegen so einem Kleinscheiß. Als ich den Sitz gefunden hatte, merkte ich mir für den nächsten Besuch: ein Nackenkissen mitbringen und nicht ganz vorne sitzen. Ich sah im Laufe des Films immer nur gut ein Drittel der Leinwand über mir, und das Umdrehen war unbequem und brachte mir auch nicht irre viel mehr Erkenntnis.
Die ersten zehn Minuten waren ein Live-Vortrag, wo uns der Nachthimmel über Garching am Samstag vorgespielt wurde; wir sahen den Großen Wagen – das einzige Sternbild, das sogar ich Blindfisch finde – und in der Verlängerung den Polarstern sowie das Sternbild des Löwen (würde ich nicht wiederfinden). Mit dem Kopf schräg im Nacken sah ich dann noch die Leier und den Schwan – würde ich auch nicht wiederfinden, fand ich aber lustig, wirklich den Himmel zu sehen, der über mir wäre, wäre ich um 4 Uhr morgens nochmal nach Garching rausgefahren.
Dann begann ein ca. dreißigminütiger Film, der vom Soundtrack her von Pro7 produziert hätte sein können. Drama, baby! Wir hörten etwas über Sternbeobachtung in der Antike (dabei wurde kurz eine von Raffaels Stanzen im Vatikan eingeblendet – die mit Ptolemäus –, was mich sehr freute, denn sie gehören mit zum Schönsten der Kunstgeschichte, das ich kenne), dann arbeiteten wir uns vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild vor, streiften kurz die bemannte Raumfahrt und erfuhren schließlich noch lustige Dinge über die einzelnen Planeten in unserem Sonnensystem. Wobei weder Taikonauten noch Kosmonauten erwähnt wurden, so nebenbei. Bis hierhin fand ich den Film okay, wobei auch hier schnell klar wurde, dass man es irgendwie allen recht machen wollte. Ich weiß nicht, ob die vielen Kinder im Raum alles verstanden haben, aber vielleicht freuen die sich einfach nur über lustige Bilder in der Halbkugel über ihnen. Nach dem Sonnensystem kam dann die Milchstraße dran und der Big Bang … und dann drifteten wir ab in spezifische Erklärungen über Spiralsysteme und Sternhaufen und ab da hatte mich der Film verloren. Ich wusste nicht mehr, wo wir eigentlich hinwollten und was ich mit diesen Infos machen sollte, die mir vorher noch recht logisch aufgebaut schienen. Ich kann mich auch an das Ende nicht wirklich erinnern, vermutlich, weil es kein richtiges Ende war. Nur so halb glücklich ging ich aus dem Saal und verabschiedete mich vom Mitbewohner, der nochmal durch die Ausstellung wollte. Wollte ich nicht, kann ich aber bis zum Jahresende noch für lau nachholen, danach kostet der Spaß Geld.
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Nach dem Ausflug in die Milchstraße ging ich schnöde einkaufen, ich wollte für Sonntag Spargel haben. Wie schon vor einigen Tagen ging ich dazu in die Futterabteilung vom Karstadt am Nordbad, denn der Spargel hatte mir ausgezeichnet geschmeckt. Dieses Mal war nicht nur eine Qualität vorhanden, sondern es standen Kisten mit den Beschriftungen I bis III herum, und die Erzeugerin saß selbst dahinter und wog ab. Vor mir suchte eine Dame sich mehrere Stangen aus der IIIer-Kiste aus, ließ sie abwiegen und ging ein paar Schritte weg. Während ich mich an der Ier-Kiste bediente, zählte sie ihr Portemonnaie durch und bat die Erzeugerin, ihr doch noch zwei Stangen in ihre Tüte dazuzulegen. Sie ließ es erneut abwiegen und bat um noch zwei Stangen. Mir fiel wieder einmal ein, dass andere Menschen mehr als ich auf Euro und Cent achten müssen, wenn es um Nahrungsmitteleinkäufe geht. Ich freute mich, dass die Dame sich augenscheinlich freute, sich vier Stangen Spargel mehr leisten zu können als vielleicht geplant, war aber gleichzeitig auf einmal sehr kleinlaut, als ich mein Kilo zur Kasse trug, das ich mir hatte einpacken lassen ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wieviel es wohl kosten würde.
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Den Rest des Tages verbrachte ich vor der Bundesliga oder mit Buch und Zeitung auf der Couch. Ich hatte in den vergangenen Tagen immer nur das Politik-Buch der FAZ geschafft, nun las ich eine Woche Feuilleton und Wirtschaft nach.
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Sonntag wollte ich eigentlich am Vormittag in die zweite Ausstellung gehen, die wir für Fehlfarben besprechen, hatte dann aber doch mehr Lust auf einfach zuhause bleiben. Das tat ich dann auch. Viel gelesen, abends in netter Gesellschaft Spargel, Bratkartoffeln, Schinken, Hollandaise und Riesling genossen, ich Sternenstaubkind, ich.
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Tagebuch, Mittwoch, 25. April 2018 – MITTWOCH! Und Paletten
Mein Hamburg-Trip sollte eigentlich bereits am Montag mit der Rückfahrt zuende gehen, aber durch die kleine Überraschungsparty am Montagabend hatte ich den Zug für Dienstag umgegebucht. Mir war das auch durchaus klar, dass das Dienstag war, denn ich wimmerte innerlich ein bisschen rum, dass ich die schöne Fotografie-Vorlesung verpassen würde. Gestern sah ich dann die zweite Sitzung der Vorlesung über die Materialien der modernen Malerei, wusste also offensichtlich, dass es Mittwoch war – aber anscheinend nur bis zum Ende der Vorlesung. Danach dachte ich, es sei Dienstag und verpeilte alle Termine, die ich für Mittwoch gemacht hatte, was ein paar hektische Mails und ein zweimal begonnenes Telefonat zur Folge hatte. („Ach, das ist HEUTE?“ – „Soll ich in zehn Minuten nochmal anrufen?“ – „In fünf reicht auch.“ *wirbel, kurze Hektik*)
Ich kann die lustige Wundertütenvorlesung gar nicht würdig wiedergeben, weil es so viele interessante Einzelheiten waren; ich verweise einfach auf die lange Publikationsliste des Dozenten und werde mich im ZI wohl mal ein bisschen abseits meines Diss-Themas einlesen.
Ich fand aber schon den Anfang der Sitzung erhellend, in der es um Paletten ging. Der Dozent zitierte Frank Stella, der den Beginn der modernen Malerei – also die Befreiung der Farbe von der Gegenständlichkeit – damit verband, dass die Palette ihren Status als Werkzeug verlor und nicht die Leinwand, wie anderswo geschrieben wurde. Dann ging es um die manchmal fast intime Verbindung von Malern mit ihren Werkzeugen, die der von Musiker*innen ähnelte. Einen Buchtipp habe ich mir notiert: Karin Nohr – Der Musiker und sein Instrument, wobei der Dozent bemängelte, dass sich das Buch sehr mit zeitgenössischen Musiker*innen befasste und wenig historisiere; der Topos dieser Beziehung sei schon älter. In der Malerei gebe es dagegen kaum derartige Beschreibungen; meist werde die Malerei generell als Konkurrentin zu einer realen Frau gesehen, aber nicht die Werkzeuge. Wenn überhaupt, sei die Leinwand die Partnerin, mit der ein Schöpfungsakt vollzogen werde, wobei der Pinsel – auch aus dem Wortstamm heraus – gerne als Penis gedeutet wird. Dieses Exlibris für Manet von Félix Braquemond zeigt das sehr eindrücklich. (Ich schwankte hier wie immer zwischen Augenrollen und fasziniertem Zuhören.)
Dann ging es um die Palette an sich, die, wie mir neu war, nicht nur als Werkzeug zum Farbenmischen diente, sondern auch durchaus als Untergrund für Malerei. Ich lernte den Sammler Georges Beugniet kennen, dessen Palettensammlung leider Anfang des 20. Jahrhunderts in Einzelteilen versteigert wurde; ein Auktionskatalog zeigt immerhin noch einige Exemplare. Der Link führt zu einem Aufsatz des Dozenten, den wir gestern in Auszügen vorgetragen bekamen, bitte einfach bei Google weiterlesen. Echt jetzt! Interessant! Mit Bildern! Zum Beispiel von Paletten, die als Malgrund dienten. Auch hier wurden gerne unbekleidete junge Damen aufs Holz gepinselt und ich rollte wieder mit den Augen. Jungs! Gibt’s echt nichts Spannenderes? Ich kann euch ja verstehen, wir sind super, aber meine Güte! Das 19. Jahrhundert macht mich fertig mit seinen räkelnden, lasziv gestreckten Akten. Ich war irgendwann sehr dankbar für die Wald- und Landschaftsbilder, die wir auch zu sehen bekamen.
Ich fand die Gegenüberstellung von zwei Paletten und ihren Nutzern dann bildlich sehr schön. Wir sahen Selbstporträts von Cézanne und Van Gogh mit ihren Paletten, und auf der Folie befanden sich auch zwei Abbildungen ihrer Paletten, deren Farbigkeit sich in den Werken wiederfindet. Ich lernte außerdem James McNeill Whistler kennen, dessen Porträt seiner Mutter ich kannte, dessen Namen ich mir aber nie gemerkt hatte.
Außerdem mochte ich die vielen Bilder der Paletten von Delacroix, der angeblich teilweise monatelang an der richtigen Farbmischung für seine Werke tüftelte, bevor er den ersten Pinselstrich ausführte. Ich musste an heutige Pantonefächer denken und die Farbkarten, mit denen man sich im Baumarkt Wandfarben anmischen kann. Mir fielen auch auf einmal die vielen Paletten ein, die ich auf Bildern von Anselm Kiefer (zum Beispiel Palette, 1981) oder Markus Lüpertz (zum Beispiel Palette – dithyrambisch III, 1974) gesehen hatte. Bei Kiefer hatte ich die immer als vagen Hinweis auf Malerei verstanden, musste mich aber nie mit einem bestimmten Werk befassen. Für meine Masterarbeit schrieb ich immerhin über ein Bild von Lüpertz, in dem eine Palette zu sehen war, führte diese aber als Referenz an alte Stillleben an. Über die Palette als Werkzeug, als intimer Gegenstand, als Vorbereitung für ein Gemälde habe ich noch nie nachgedacht.
Auch so nebenbei gelernt: das französische Wort für Steckenpferd bzw. Hobby: violon d’Ingres. Ich weiß nicht mehr, wie der Dozent darauf kam, vermutlich waren wir wieder bei Linie versus Farbe bzw. Ingres versus Delacroix (ich schrieb darüber). Jedenfalls spielte Ingres gerne Violine und warum auch immer hat sich dieser Begriff im Französischen für Hobby durchgesetzt. Für mich hat das bekannte Bild von Man Ray mit diesem Titel jetzt noch mehr einen seltsamen Unterton. Hier konnte ich aber wieder eine schöne Querverbindung ziehen: Das Model, das im Text vom Getty Museum nur als „Kiki“ bezeichnet wird, war Kiki de Montparnasse, über die ich gerade bei Philipp Blom in seinen Zerrissenen Jahren gelesen hatte.
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Tagebuch, Samstag bis Montag, 21. bis 23. April 2018 – Überraschung!
Am Samstag morgen setzte ich mich in den Zug nach Hamburg, musste mir aber verkneifen, davon auf Twitter oder Instagram zu erzählen. Denn am Montag hatte meine beste Freundin Geburtstag, und die sollte mit der Anwesenheit von ein paar Menschen, inklusive meiner Wenigkeit, überrascht werden. Ich war netterweise sowieso in der Stadt, weil am Sonntag mein Patenkind konfirmiert wurde und musste daher nur das Hotel um eine Nacht verlängern und einen anderen Zug für die Rückfahrt buchen.
Normalerweise fliege ich lieber als fünfeinhalb Stunden im Zug zu hocken, aber dieses Mal waren die Preise so dermaßen unterschiedlich, dass ich mir dachte, pfft, ich habe eine Zeitung, ein Buch, einen Liter Kaffee und Noise-Cancelling-Kopfhörer, bring it on. Und wer hätte es gedacht: Die Fahrt verlief sehr entspannt. Beim Reservieren des Platzes in der ersten Klasse sah es so aus, als wäre der ganze Waggon fast ausgebucht, aber bis Würzburg saßen gefühlt nur 15 Leute um mich herum (und alle schön verteilt), bis Kassel wurde es dann etwas voller, und ab Göttingen war es wieder leer. Ich hatte einen Zweiersitz, denn ich konnte keinen einzelnen mehr reservieren, aber neben mir blieb es die ganze Zeit frei. So konnte ich entspannt mal aufstehen, eine halbe Stunde zwischen den Waggons im Stehen lesen, musste niemanden stören, wenn ich aufs Klo wollte und bekam im Laufe der Zeit vom freundlichen Service drei Mars mini angereicht. (Schokolade im Zug ist immer besser als Gummibärchen im Zug.)
In Kassel dachte ich, hey, der Bahnhof kommt dir irgendwie bekannt vor, bis mir einfiel, dass ich ja im letzten Jahr auf der documenta war.
Irgendwo zwischen Göttingen und Hannover schickte ich F. ein Bild, das ich mit „Niedersachsen (Symbolbild) #flatearth“ und einem Herzaugenemoji taggte. So irre ich Berge immer noch finde, so beruhigend ist es, sie nicht mehr zu sehen.
Die FAZ war ausgelesen, auf mein Buch hatte ich auch keine Lust mehr, also setzte ich die Kopfhörer auf und hörte fiesen alten DDR-Pop auf Spotify (WLAN funktionierte tadellos), was mich aber in eine seltsame Stimmung versetzte. Das ganz alte Leben irgendwie.
Es ist komisch, durch Hannover durchzufahren, wo ich dort jahrelang ein- oder ausgestiegen bin.
In Eschede blühen die Kirschbäume. Auch schon wieder 20 Jahre her.
Zum dritten Mal in diesem Jahr war ich im gleichen Hotel in Bahnhofsnähe. Reicht dann jetzt auch. Es fühlte sich nicht wie Urlaub oder Arbeit an, sondern irgendwas mittendrin. Dass ich abends dann mit Kai im Trific saß, war im Nachhinein betrachtet, auch nicht ganz so clever. Die komische Stimmung hielt an, und als ich ihn zum Abschied umarmte, war ich endgültig durch. Beim letzten Mal hatten sich meine Hände noch an ihn erinnert, er fühlte sich an wie er sich immer angefühlt hatte, aber Samstag war es anders, da hatten meine Hände ihn vergessen. Und so gut es ist, dass wir Freunde sind, so traurig war ich sinnloserweise darüber.
Obwohl die lange Nacht der Museen mir die Möglichkeit gegeben hätte, noch den Gainsborough in der Kunsthalle anzuschauen, fuhr ich ins Hotel und ging schon um zehn ins Bett.
Aber über das Essen im Trific habe ich mich gefreut.
Mairüben-Carpaccio mit Chicoree, Haselnuss, Friesisch bleu und Rauch-Paprika-Öl
Kalbs-Tafelspitz mit Bärlauch-Kartoffelpüree, Fenchel und Artischocke
Kokos-Crème-brûlée mit Passionsfruchtsorbet und Schokonuss-Crunch
Für den Sonntagmorgen hatte mich die Hotelrezeption vorgewarnt: Eine größere Gruppe hatte ihre Shuttlebusse für 9.30 Uhr bestellt – vielleicht das eigene Frühstück so planen, dass man nicht gerade in die Masse gerate? Danke für den Hinweis. Ich ließ den Wecker um 7 klingeln, obwohl ich erst gegen 10 beim Patenkind sein musste und konnte so entspannt Müsli und Kaffee genießen und mich danach ebenso entspannt aufhübschen. Da ich wusste, dass wir zu Fuß zur Kirche gehen würden, hatte ich mein Outfit auf das bequeme Schuhwerk abgestimmt und war dementsprechend in dunkelblauen Schuhen, schwarzer Bluse, schwarzer Hose und dunkelblauem Blazer gewandet. Und ohne dass wir uns abgesprochen hatten, war der Rest der kleinen Festgesellschaft auch mit irgendwas bekleidet, in dem Blau, Weiß und Schwarz vorkamen. (Könnte auch ein letzter Hoffnungsschrei in Richtung des HSV gewesen sein.)
An der Kirche angekommen, wollte ich mir wie immer an Kirchen den Baukörper und das Bildprogramm im Inneren anschauen, hatte aber natürlich vergessen, dass da auf einmal Leute waren. Das kenne ich ja gar nicht mehr. Ich konnte immerhin das Äußere bewundern, mich darüber freuen, dass ich das Alter halbwegs richtig geschätzt hatte (mein Tipp war 1920, über dem Eingang stand das Baujahr 1912), und ich entdeckte beim Hinausgehen nach dem Gottesdienst noch zwei Glasfenster neben der Eingangstür, die nach den vier Aposteln (1/2) von Dürer gestaltet waren, die in München in der Alten Pinakothek hängen. Über das Altarbild kann ich leider gar nicht sagen, dazu saß ich zu weit außen, aber das hätte ich mir gerne noch etwas länger angeschaut.
Ich kann außerdem vermelden, dass ich nicht so oft geheult habe wie erwartet: Einmal als mein Patenkind vorne stand, ihr Konfirmationsspruch verlesen wurde (eindeutig der beste von allen, ist klar) und sie von der Pastorin gesegnet wurde, und ein zweites Mal beim letzten Lied. In jedem Gottesdienst gibt es ein verdammtes Lied, das mich zerreißt, und dieses Mal war es Möge die Straße. Kannte ich gar nicht. (OMG ich heule bei dem blöden YouTube-Video! Nehmt mir das Internet weg! Okay, das könnte auch daran liegen, dass es Sylt-Bilder enthält. MISSING SYLT! Aber, hier, die Kirche im Video: nicht so vollgeballert wie die katholischen Dinger! Da braucht man keine fünf Stunden, um das Bildprogramm von den 40 Altären zu entziffern, nein, bei uns ist alles schön aufgeräumt!)
Dieser Spruch kam übrigens in einer Gruppe von 17 Konfirmand*innen viermal vor. Kinders! Da muss man sich doch absprechen. Während die ganzen Sätze verlesen wurden, überlegte ich fieberhaft, wie eigentlich mein Konfirmationsspruch lautete. „Es sollen wohl Berge weichen und … äh … irgendwas irgendwas …. aber meine Gnade soll nicht von dir weichen“ war alles, was mir noch einfiel. Inzwischen habe ich gegoogelt und bin im Nachhinein entsetzt davon, dass ich ein Zitat mit Wortwiederholung hatte. Wenn das ein Werbetext wäre, wäre ich da nochmal beigegangen. Andererseits fand ich es spannend zu sehen, dass ich schon mit 14 irgendwie geborgen sein wollte. Als ich 20 Jahre später in der Therapie saß, sollte ich mir aus vielen Karten eine wählen, auf der ein Satz stand, der zu mir passt. Ich wählte damals: „Ich möchte gehalten werden.“ Ist mir noch nie aufgefallen, dieser kleine rote Faden in meinem watteweichen Kern.
Vor und nach der Kirche kamen die üblichen Fotos, und ich fühlte mich in meiner Kleidung und in meiner Haut so wohl, dass ich nur darüber gemeckert habe, dass wir in die Sonne gucken mussten. Das war schön.
Nach dem Gottesdienst brachte uns das Catering gar wohlschmeckende Speisen, dann gab’s Geschenke, dann Kaffee und Kuchen. Der Patenonkel und ich kamen immer noch nicht darüber weg, dass im Gottesdienst gesagt wurde, dass unsere Aufgabe nun erfüllt sei; wir erwähnten das im Laufe des Nachmittags noch ungefähr 100 Mal, dass wir jetzt hier nur noch rumsitzen würden, das Kind ist groß, a job well done. Onkel und ich verglichen nebenbei, was wir damals zur Konfirmation als Geschenk erhalten hätten. Er so: „Ich habe eine uralte Eichendorff-Ausgabe bekommen, weil die meiner Patentante so viel bedeutete. Noch nie reingeguckt, aber ich staube sie bei jedem Umzug ab und stelle sie dann wieder ins Regal.“ Ich weiß nicht, ob ich mit meinen Kunstbüchern einen Eichendorff gepulled habe, aber wenn, hat das gute Kind es sich nicht anmerken lassen. Das Grafiktablett der Eltern plus gebrauchtem iMac erzeugte aber eindeutig mehr freudiges Quietschen. (Zu recht.)
Die Feier war so nett, dass ich völlig vergaß, dass Augsburg zeitgleich spielte. F. schickte mir aber wie immer, wenn ich nicht im Stadion sein kann, ein Bild des winkenden Kids Clubs aufs Handy. Augsburg gewann gegen Mainz 2:0 und ist damit im achten Jahr erstklassig.
Gegen halb acht war ich wieder im Hotel und überlegte, was ich spontan noch so anfangen wollte. Wer hätte es gedacht: Ich wollte rumliegen und lesen.
Auch in der Nacht zu Montag schlief ich nicht durch, wie auch zuvor in der auf Sonntag schon nicht, keine Ahnung warum. Ich wachte in beiden Nächten gegen drei Uhr auf und war dann hellwach. Anstatt mich eine Stunde sinnlos im Dunkeln rumzuwälzen, knipste ich das Licht an und las, bis ich eine Stunde später wieder müde genug war, um bis zum Wecker tief und fest durchzuschlafen. Ich bin trotzdem froh, wenn ich wieder in meinem Bett liege.
Mit dem Montag konnte ich mich zunächst nicht so recht anfreunden. Die Museen, die mich interessierten, waren alle geschlossen, die geöffneten waren mir egal, weswegen ich den Vormittag gnadenlos mit der FAZ im Balzac an der Langen Reihe verbrachte, weil ich um die bequemen Sessel wusste und die Musik weniger nervig als beim Starbucks ist. Ich hatte zwar pflichtschuldig bei Tripadvisor nach Kaffeehäusern gesucht, aber auf eine altmodische Konditorei hatte ich keine Lust und auf was Hippes am Hafen auch nicht. Ich hätte gerne ein Kaffeehaus, in dem es so ruhig ist wie in einer Bibliothek, der Kaffee großartig und die Sitzgelegenheiten bequem, kuschelig und in großer Auswahl vorhanden sind. Aber ich ahne, dass mein Sofa zuhause diesem Ideal noch am nächsten kommt.
Nachmittags lungerte ich im Hotel rum, guckte Serien, tippte einen ewig langen Blogeintrag, packte meinen Koffer und freute mich so langsam dann doch auf den Abend. Auf die Menschen freute ich mich natürlich schon die ganze Zeit, aber ich wusste, dass wir in der Weinbar sitzen werden würden, in der ich sehr oft versackt war, mit genau diesen Menschen. Eigentlich versuche ich in Hamburg immer genau in den Ecken nicht zu sein, in denen ich gelebt habe, weil ich sonst sinnloserweise wehmütig werde. Deswegen war das Trific auch doof, obwohl es nett war. (Ich weiß, ich ergebe gerade keinen Sinn.) Ich weiß auch nicht, warum ich so damit hadere, wieder hier zu sein. Vielleicht weil die Stadt nicht so durchgespielt ist wie Hannover, da ist wirklich nichts mehr, was mich mit meinem früheren Ich verbindet. Aber hier zerrt gerade etwas an mir und ich weiß nicht was. Vielleicht weil ich zwischendurch vergesse, dass ich nicht mehr hierher gehöre. Gestern abend nach dem dritten Glas Wein und dem üblichen Flammkuchen und den gewohnt lustigen und schlauen Gesprächen mit meinen Herzdamen dachte ich für eine halbe Sekunde über den Heimweg nach – „dann nehm ich den 5er, der fährt ja länger und dann den 20er, und wenn der nicht mehr fährt, gehe ich halt die kurze Strecke zu Fuß nach Hau… nee, Moment.“ Das war der Weg in unsere ehemalige Wohnung, den mein Kopf mir vorschlug und daraufhin musste ich noch drei Gläser Wein trinken. Die sich gerade rächen, wie ich beim Tippen merke. Gut, dass ich den Rest dieses Eintrags gestern schon geschrieben habe. Ächz. Will nach Hause.
Mach’s gut, Hamburg. Reicht jetzt erstmal, auch wenn du wirklich hübsch bist. (Fast überall.)
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Was schön war, Mittwoch, 18. April 2018 – Eichhörnchenpinsel
Die dritte Vorlesung, die ich mir in diesem Semester gönne, solange es die Arbeit für Geld und die an der Diss zulassen, hat den verheißungsvollen Titel „Turners Lappen, Courbets Spachtel, Pollocks Eimer – die Utensilien der modernen Malerei“, wobei der Dozent die Moderne nach der Französischen Revolution anfangen lässt. Als Einstieg zeigte er eine Karikatur von Richard Doyle, der sich über die Werkzeuge von William Turner lustig macht und über die ich mich seit gestern freue. (Ich mag Turner, aber ich fand das Bild trotzdem sehr passend.)
Joseph Mallord William Turner by Richard Doyle, woodcut, 1846, NPG D6996
© National Portrait Gallery, London
CC BY-NC-ND 3.0
Auch dieser Dozent hatte gleich nach wenigen Sätzen gewonnen, so wie die Dame am Dienstag, als er meinte, dass er die Klausur am Ende der Vorlesungsreihe sehr dämlich fände (BA- und MA-Quatsch halt, die Kritik hörte ich zum wiederholten Male), aber nicht weil es mehr Arbeit für ihn ist, sondern weil wir als Studis dann dauernd mitschreiben anstatt zuzuhören. Da hat der Mann recht, das habe ich auch zehn Semester lang gemacht: bei jedem Satz überlegt, ob das jetzt klausurrelevant sein könnte. Völliger Blödsinn. Ich hatte eine Dozentin, die am Ende jeder Stunde in fünf Minuten zusammengefasst hat, was sie für wichtig hält; da konnte man hervorragend zuhören, weil man wusste, dass man am Ende nochmal auf dem Silbertablett serviert bekam, was man auf die Lernkärtchen schreiben musste. Allerdings ist es natürlich auch beknackt für die Dozierenden, sich sowas ausdenken zu müssen.
Wie der Titel der Vorlesung schon sagt, geht es um das Instrumentarium, mit dem Kunst hergestellt wird. Klingt erstmal seltsam, aber ich weiß inzwischen, dass solche Wundertütenvorlesungen für mich ideal sind. So schön das war, sich zum Beispiel ein Semester lang exklusiv mit Cézanne zu befassen oder mit romanischer Architektur in Nordfrankreich, so viel habe ich aus Vorlesungen mitgenommen, die erstmal gefühlt ein irre großes Fass aufmachen. Meine bis heute liebste und die, bei der mir dauernd irgendwas wieder ins Hirn fällt, wenn ich irgendwo was angucke, ging über wichtige Ausstellungen des 20. Jahrhunderts – und da war alles dabei: fotografische Ausstellungen, Gemälde, koloniale Objekte und wie sich die Diskussionen darüber verschoben haben, die erste documenta oder grundlegende Ausstellungen wie When Attitudes Become Form (1969), die neue Präsentationsformen für Kunst erarbeitete. An jeder dieser Ausstellungen hing ein Rattenschwanz an Künstler*innen, Ideen, Denkweisen und Theorien, so dass ich viel mehr mitnahm als ich jemals erwartet hatte.
Ich ahne, dass diese Vorlesung eine ähnliche werden könnte, denn wenn man mit dem Werkzeug beginnt, kann man daran auch an vielem weiterdenken. Gestern sprachen wir ganz grundlegend über den Unterschied zwischen Werkzeugen und Instrumenten. Der Dozent begann mit Ernst Kapp, dessen Organprojektion davon ausging, dass die gesamte Welt um uns herum sich am menschlichen Körper orientiert bzw. eine Verlängerung oder Analogie zu ihm sei (Hammer – Hand, Fernrohr – Auge etc.). Eine Lexikon-Definion beschrieb den Unterschied zwischen Werkzeug und Instrument: Ein Werkzeug hinterlässt Spuren (Meißel), ein Instrument nicht (Lupe), wobei der Dozent meinte, bei einem Skalpell stoße diese Definition vielleicht an ihre Grenzen.
Wir hangelten uns ein bisschen durch die Geschichte von Werkzeugen und hörten, dass einige mittelalterliche Zünfte sich einmal beim Magistrat beschwert hätten, dass Maler ihre Werkzeuge, also die der Küfer oder Wagner, benutzten; anscheinend definierten sich Handwerke auch über ihre mechanischen Hilfsmittel und nicht nur über ihre Tätigkeit. Wir sprachen über den Konflikt der Renaissance zwischen disegno und colore, den ich schon im ersten Semester gelernt hatte, also dem Konflikt zwischen der Umrisszeichung, die dem Geist des Künstlers/der Künstlerin entspringt und damit einen höheren Wert habe als die olle Farbe, die von Gehilfen eingepinselt werden könnte. (Wolfgang Kemp hat das ganze etwas ausführlicher aufgedröselt. Herrn Kemp hatte ich euch gestern schon empfohlen, von dem Mann kann man halt auch alles lesen.) Dieser Konflikt zog sich bis in die Moderne; der Dozent zeigte uns eine weitere Karikatur, bei der sich Delacroix und Ingres duellieren, jeweils mit Pinsel oder Zeichenfeder bewaffnet.
(Ich habe keine Quelle gefunden. Böses Internet.)
Dieser grundlegende Konflikt spiegelte sich auch in der Ausbildung von Künstler*innen wider: In Frankreich war man für die theoretischen Grundlagen an der Akademie eingeschrieben und lernte das praktische Malen bei einem Künstler selbst im Atelier. Ingres war der Meinung, Malen ließe sich in wenigen Tagen lernen, das Wichtige sei die Zeichnung bzw. vor allem die Idee dahinter. (Ich verkürze hier alles sträflich. Bitte gehen Sie in die nächstgelegene Bibliothek und vertiefen das selbständig.)
Von der Ausbildung kamen wir auf die technischen Grundlagen der Werkzeuge. Hier veränderte die industrielle Revolution so einiges. Bei der Pinselherstellung merkte ich mir den völlig sinnlosen Fakt, dass im Italien des 15. Jahrhundert acht Eichhörnchen ihre Schwänze für einen Pinsel lassen mussten. Das war natürlich perfektes Twitter-Material, und ich glaube, das wird mein erfolgreichster Tweet in zehn Jahren, wenn man Likes und Retweets zugrunde legt. Social-Media-Managerinnen und lehrende Kunsthistorikerinnen aufgemerkt: Mit schrägem Quatsch kriegt man alle.
Zurück zur industriellen Fertigung: Nun konnten Borsten und Haare maschinell hergestellt werden. Die lustige Metallklammer, die man heute von Pinseln kennt, die die Haare festhält, stammt auch aus dem 19. Jahrhundert. Und: Auch Leinwände, Farbkästen und Paletten wurden nun Massenware, was auch dazu führte, dass viele Laien sich auf einmal in die Landschaft stellten und malten. Malen wurde bürgerliche Unterhaltung und Entspannung und verlor viel von ihrem Nimbus als geniale Meisterschaft. Wir sahen ein Bild eines englischen Herstellers, der zur Leinwand auf der Staffelei auch gleich den Sonnenschirm dazu anbot, der an der Staffelei befestigt werden konnte.
Auch Farben mussten nun nicht mehr mühselig angemischt werden. Farben, die chemische Elemente im Namen tragen, wie Chromgelb oder Kadmiumrot, sind Kinder des 19. Jahrhunderts. Marcel Duchamp, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts für seine Readymades rechtfertigen sollte, meinte spöttisch, da Farben und Leinwand auch schon „ready-made“ seien, also vorgefertigt und nicht mehr handgemacht, sei Ölmalerei eigentlich auch nur eine Assemblage von Readymades.
Ich saß zum Schluss mit glücklich-roten Bäckchen im Hörsaal, denn alle diese wunderbaren Geschichten waren genau das, was ich mir erhofft hatte: ein wilder Ritt durch verschiedene Themen, die mich alle zum Weiterdenken animieren. Nächste Woche: Paletten! Übernächste Woche: Pinsel! Ich bin sehr gespannt und habe hoffentlich noch ein paar Eichhörnchenfakten parat.
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Was schön war, Freitag, 13. April 2018 – I want to thank the Academy
Auf den gestrigen Vormittag hatte ich mich schon länger gefreut, denn die Dallmayr Academy hatte mich auf eine kurze Schulung eingeladen. Anders ausgedrückt: Ich habe zwei Stunden lang Espresso getrunken, weil’s so lecker war und ich werde nie wieder schlafen.
Wir tranken den Espresso Barista, der fieserweise nur für die Gastronomie angeboten wird, wie der Schulungsleiter erzählte. Der Mann kam ansonsten zunächst kaum zu Wort, weil ich dauernd total wichtige Fragen hatte, die sich mir stellten, seit ich selber wieder an einer Siebträgermaschine stehe, wenn auch nur für den Hausgebrauch: Warum ändert der Mahlgrad den Geschmack? Wie sieht die perfekte Crema aus? Wie hoch sollte der Druck beim Tampern sein? Und wie, verdammt, kriege ich diesen fiesen Milchschaum hin, um endlich ein Herz auf meinen Flat White zu malen? Wobei ich gestern auch lernte, dass ich die ganze Zeit Cappuccino mache und keinen Flat White. Ein Flat White besteht aus zwei Espressos, der Cappucchino nur aus einem. Plus Milch und Schaum und Zeug halt. Ich lernte außerdem, dass der Cappuccino, den ich vor 25 Jahre in der Gastro zubereitet habe, heute eher nicht mehr serviert wird – also mit der heißen Milch, dem riesigen fluffigen Schaumball oben drauf und womöglich noch mit Kakaopulver. Ein Cappuccino sieht fast so aus wie ein Flat White, hat aber nicht so viel Wums.
Aber erstmal wurde mir ein Espresso gereicht, der hervorragend schmeckte. Dann änderte der Schulungsleiter den Mahlgrad und wir guckten, was passierte. Zunächst wurden die Kaffeebohnen gröber gemahlen, was zur Folge hatte, dass der Espresso viel schneller durchlief als vorher und wässrig nach kaffeeartigem Nichts schmeckte. Feiner gemahlen schien er total widerwillig und fast schwarz in der Tasse zu landen und war bitter und fies. Als Regel für guten Espresso nahm ich mit: 8 Gramm Kaffeemehl für einen Espresso, 16 bis 18 Gramm für zwei, 90 bis 92 Grad heißes Wasser, das mit 9 bar Druck in 20 bis 25 Sekunden ein Getränk zaubert. Druck und Brühzeit kann ich an meiner Maschine nicht einstellen, bei der Wassertemperatur bin ich mir nicht sicher, womit ich eigentlich schon verloren habe, aber ich werde mal die Stoppuhr mitlaufen lassen, wie lange mein Maschinchen eigentlich so arbeitet.
Ich lernte, wie eine gute Crema aussieht (geschlossen, haselnussbraun) und dass zu frischer Kaffee nicht schmeckt, denn direkt nach der Röstung enthalten die Bohnen noch zu viel Kohlendioxid, das erst entweichen muss. Ich lernte, was die Unterschiede zwischen Arabica (fruchtiger) und Robusta (erdiger) sind und dass Robusta gerne als Würze dazugegeben wird, weil diese Sorte dem Kaffee mehr Körper verleiht. Ich lernte, was Kaffee-Varietäten sind. Neben diesen ganzen Perlen der Weisheit wurden 20 Tässchen Espresso und Cappuccino zubereitet und ich nippte und kostete und trank schließlich ganze Tassen, denn wozu bin ich sonst hier. *hibbel*
Gerade beim Milchschäumen schaute ich natürlich ganz genau hin und ahne jetzt, wo mein Problem liegt. Ich produziere seit 500 Espressos immer Milch mit Schaum obendrauf, aber ich brauche quasi dickflüssige Milch. Also eine Konsistenz, nicht zwei. Vollmilch statt H-Milch ist klar; der Schulungsleiter meinte, H-Milch schmecke wie entzündeter Kuheuter, was ich nicht ganz so abnicken würde, aber jetzt will ich nie wieder H-Milch trinken. Was ich in meinen letzten Probewochen schon festgestellt habe, meinte der Herr ebenfalls: Die Milchsüße reicht völlig aus, man braucht wirklich keinen Zucker mehr. Für diese Süße darf die Milch aber nicht zu heiß sein, was übrigens auch für die Konsistenz wichtig ist. Da habe ich instinktiv (aka nach dem Anschauen von 50 YouTube-Videos) schon viel richtig gemacht: Beim Aufschäumen dauert die Ziehphase nur ganz kurz – also die Phase, wo man mit der Dampflanze im Edelstahlkännchen lustige Geräusche macht –, während die Rollphase nur so lange dauern sollte, bis die Milch höchstens 70 Grad heiß wird; das Kännchen kann man noch so gerade mit der Hand anfassen, es ist aber schon spürbar heiß. All das kriege ich zuhause auch hin, aber trotzdem: Diese Fluffigkeit, die ich gestern anschauen und genießen durfte, scheint für mich noch in weiter Ferne zu sein. Ich glaube, ich muss dringend die Barista-Schulung buchen. Oder ernsthaft in eine andere Maschine für zuhause investieren, aber dagegen sträube ich mich noch etwas. Die ist doch erst zwei Monate alt! Ich gebe mir noch weitere 500 Espressos und dann denke ich nochmal drüber nach.
Ich hatte viel Spaß und habe viel gelernt, auch wenn mir das Herz dabei geblutet hat, wieviel Kaffee wir gemahlen und verwendet haben, der teilweise als schlechtes Beispiel dienen musste wie bei dem falschen Mahlgrad. Außerdem habe ich natürlich beim Latte-Art-Machen dem Schulungsleiter nie auf die Finger geguckt, sondern total fasziniert dem Bild auf der Crema, ich Hirn. So lerne ich das natürlich nicht. Das war für gestern aber auch gar nicht der Plan, ich durfte einfach gucken und Fragen stellen. Hab ich gemacht. Ich habe seit den vielen guten Espressos vor Ort aber noch keinen weiteren zuhause angesetzt. Ich trau mich jetzt gerade nicht mehr. (Gebt mir noch einen Tag.)
Was mir auch viel bedeutet hat: dass wir über Nahrungsmittel als Genuss gesprochen haben. Klar ist eine Siebträgermaschine aufwendig, aber man wird für seine Arbeit, die ja eher ein Ritual ist, belohnt, man schmeckt, was man in der Tasse hat. Das ist ein anderer Schnack als das Gebräu aus der 20-Euro-Büro-Kaffeemaschine. Aber wenn einem das reicht, ist das völlig in Ordnung. Wem das nicht reicht, der rüstet halt ein bisschen auf. Selbst eine Billo-French-Press macht schon guten Kaffee, wenn man sich ein bisschen Mühe bei der Zubereitung gibt. Es muss nicht die 10.000-Euro-Maschine sein, ein bisschen Sorgfalt und Beschäftigung mit dem Produkt bringen einen schon sehr viel weiter. Das habe ich in den letzten Monaten selbst erfahren, aber ich fand es schön, mit einem Kaffeeprofi darüber zu sprechen, was für ein Genuss es immer wieder ist, genau das zu tun: Beschäftigung mit dem Produkt. Selbst mit so etwas Alltäglichem wie dem Morgenkaffee. Es geht immer besser und es lohnt sich immer wieder.
Ich füge hier wie immer bei sentimentalen Futter-Blogposts meinen Hinweis auf das Foodcoaching von vor jetzt schon fast zehn Jahren ein, das mein Leben verändert hat und es immer noch weiter verändert. Ich habe noch so viel zu entdecken, und genau wie ich Donnerstag so begeistert davon war, dass mich jemand an seinen kunsthistorischen Erkenntnissen teilhaben lässt, so war ich es gestern, als es um den Mahlgrad von Kaffeebohnen ging. Es braucht echt nicht viel für einen guten Tag, habe ich mal wieder gemerkt. Schlaue Menschen, gute Produkte. Und irgendwas, das nach Schokolade schmeckt, okay.
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PS: @DonnerBella fragte neulich nach persönlichen Macken und ich antwortete, dass ich damals in der Gastro gelernt hatte, dass das Etikett (auf Flaschen, Gläsern, dings) immer zum Gast zeigen sollte, damit der sieht, dass er auch das richtige Bier vor sich stehen hat. Diese Art, Biergläser oder Weinflaschen auf Tische zu stellen, habe ich mir auch im Privatleben angewöhnt; wenn ich ausgehe, drehe ich mein Glas immer so, dass ich aufs Label schaue. Gucken Sie beim letzten Foto mal, wo der Firmenname steht und von wo man das Bild auf der Crema am besten sieht. Spontane Zuneigung!
PPS: Am späten Nachmittag ein Nickerchen gemacht. Ten espressos got nothing on me.
PPPS: Diesen Blogeintrag schrieb ich bereits gestern nachmittag. Eben habe ich mir meinen üblichen Morgenkaffee zubereitet. … Ich kaufe jetzt eine neue Siebträgermaschine. Und eine elektrische Kaffeemühle (sorry, Opa). Verdammt.
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Was interessant war, 26. März 2018 – Tough Crowd
Am Sonntag sah ich beim Frühstück aus dem Hotelfenster drei Hasen über den Rasen hoppeln. Gestern rumpelte nur ein Bagger in der Gegend rum. Ich prangere das an.
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Den Vormittag verbrachte ich im Betahaus. Ich hatte zwar die letzten Tage im Hotel gearbeitet, aber so nett (und günstig) das Motel One auch ist – der lächerliche Hocker vor dem kleinen Beistelltischchen ist zum Arbeiten dann doch eher suboptimal. Also fragte ich auf Twitter, wo ich denn co-worken könne, denn alles, was ich beim Googeln fand, überzeugte mich nicht. Das Betahaus kannte ich sogar, aber als ich Samstag auf deren Website rumklickte, reagierte die Seite nicht, weswegen ich überlegte, ob es den Laden überhaupt noch gab. Gibt es. Er sitzt jetzt in der verranzten Schanze (missing tidy Munich!), im Erdgeschoss gibt’s Kaffee und Lärm, aber im ersten Stock kann man überraschend ruhig arbeiten, surfen, drucken und meeten. Letzteres brauchte ich nicht, den Rest ja, und ich war um kurz vor 13 Uhr schon mit allem durch. Für den halben Tag zahlte ich lässige neun Euro, und alleine die gut gepflegten, blumig-duftigen Klos waren das wert.
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Danach wollte ich mir die Schmidt-Rottluff-Ausstellung im Bucerius-Kunstforum anschauen, denn die meisten anderen Museen haben ja leider Montags zu. Den Gainsborough in der Kunsthalle hätte ich mir immerhin pflichtschuldig angucken wollen, aber irgendwie konnte ich mich an den letzten Tagen nicht zu ihm aufraffen. Google verriet mir, dass die historischen Museen Hamburgs neuerdings Montags offen haben, nur so als Tipp nebenbei. Aber ich wollte ins Kunstforum, denn da gehe ich immer gerne hin und vor allem komme ich als Kunstgeschichtsstudi umsonst rein.
Die HVV-App zeigte mir eine Verbindung mit dem 15er und dem 5er Bus zum Rathaus an. In einigen der vergangenen Blogeinträge der letzten Monate schrieb ich, dass ich Hamburg jetzt als Touristin wahrnehme. Das stimmt, wenn ich mich irgendwo rumtreibe, wo ich vorher selten oder nie war, aber gestern kam ich gefährlich in die Nähe von Orten, an denen ich tausendmal gewesen bin, als ich noch hier gewohnt habe. Da merkte ich doch einen winzigen Kloß im Hals. Ich fuhr mit dem Bus an der Galerie vorbei, in der ich Luise gekauft hatte, am Haus, in dem meine Gesangslehrerin wohnt (wohnte?), und benutzte eben den 5er, der mein Leib- und Magenbus war. Ich war froh, als ich aussteigen und wieder Touri sein konnte. Und ich weiß jetzt auch wieder, dass die Überlegung, nicht mehr in „unsere“ alte Wohnung zu fahren, die richtige war.
Die Ausstellung durchschritt ich ziemlich zügig, aber interessiert. Sie haben anscheinend das halbe Brücke-Museum leergeräumt und hier aufgehängt, was mir sehr recht war, denn so bekam ich einen schnellen Überblick über Schmidt-Rottluffs Schaffen von den Zehnerjahren bis in die späten Sechziger; auch für mein Diss-Thema nicht uninteressant. Danach blätterte ich wie immer den Katalog durch und fand ein Bild, bei dem ich dachte, dass Mike Mignola es gemalt haben könnte. Toll.
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Und abends fand dann endlich die Veranstaltung statt, für die ich überhaupt eingeflogen war: mein Workshop bei der Texterschmiede zum Thema Weblogs. Ich bin im Nachhinein nicht ganz so glücklich mit meinem Auftritt, frage mich inzwischen aber auch, ob diese Unterrichtseinheit überhaupt was im Curriculum für angehende Texter*innen zu suchen hat.
Als ich vor zwei Wochen launig twitterte „Titel steht [Weblogs. They’re awesome.], Rest schreibt sich von alleine“, meinte ich das auch so. Aber: Im Hinterkopf hatte ich das Publikum der republica. Oder von mir aus die Studis in meinem Heimatseminar, die immerhin irgendwie interessiert waren, wenn sie auch nicht recht wussten, warum. Oder generell Leute, die sich selbstverständlich online bewegen. Hier hatte ich 35 gestresste Textpraktis vor mir, von denen kaum welche Blogs lasen, die acht Stunden Agentur in den Knochen hatten und vermutlich einfach nur nach Hause wollten. Mit diesem Stresslevel müssen die anderen Dozent*innen natürlich auch klarkommen. Aber von denen lernen sie, wie man gute Headlines schreibt oder schöne Copys. Da würde ich als zukünftiges Texterlein auch zuhören, denn das ist elementar. Ob ich ein Weblog schreibe, ist im Vergleich dazu scheißegal. Und so kam mir die Stimmung im Raum leider auch vor.
Ich erspare euch meinen ganzen Vortrag, aber ein paar Punkte will ich doch notieren, notfalls für mich, damit das beim nächsten Mal besser läuft. Ich begann bei Adam und Eva: Was sind Blogs, seit wann gibt’s die, Entwicklung von Techie- zu Tagebuchblogs – hier konnte ich mir natürlich nicht verkneifen, auf Jean-Remy von Matts „Klowände des Internets“ hinzuweisen, aber damit konnte niemand was anfangen –, sind Blogs der neue Journalismus, darf man mit Blogs Geld verdienen, der ganze alte Quatsch halt. Ich dachte, ich müsste erläutern, wo wir herkommen, um zu würdigen, wo wir sind, aber ich glaube, das war eine überflüssige Idee. Ich muss ja auch nicht wissen, wie der Buchdruck funktioniert, um mich über meinen Amazon-Wunschzettel zu freuen.
Danach ballerte ich die Armen mit 40 Folien voll, auf denen ich Screenshots diverser Blogs abbildete, um die Vielfalt und Funktionen von Blogs klarzumachen: unterhalten, informieren, zu Diskussionen einladen, rummeinen, Einblicke in Leben geben, die man sonst nicht bekommt – was für uns Werber*innen, die gerne ihre Zielgruppe kennt, nicht ganz unwichtig ist. Ich hoffe, ich konnte wenigstens meinen wichtigsten Punkt machen: Jeder hat eine Stimme, jede wird gelesen, Blogs geben Menschen Raum, den sie sich außerhalb des Netzes vielleicht nicht nehmen (z. B. dicke Frauen).
Dann gab’s Gruppenarbeit und ich wollte darüber diskutieren lassen, warum man Kunden Blogs empfehlen sollte oder warum nicht und warum Texterinnen bloggen sollten oder etwa nicht. Ich hatte mir natürlich auch Antworten überlegt, die auch alle kamen und noch ein paar Gedanken darüber hinaus; eine Diskussion wurde aber nicht daraus. Was mir zudem ernsthaft erst auf der Bahnfahrt zurück ins Hotel eingefallen ist, war das Kracher-Gegenargument für Kundenblogs: Sie haben eben keine eigene Stimme. Eine Firma klingt immer wie eine Firma und nicht wie ein Mensch, über dessen Leben ich lesen will. Deswegen lese selbst ich keine Firmenblogs, auch keine von den Autoherstellern, für die ich arbeite (oder gearbeitet habe).
Als Abschluss wurde ich etwas persönlicher. Ich erklärte ein bisschen meine eigene Blog-Biografie und wie die Rubrik „Was schön war“ entstanden ist. Dann bat ich die Rotte, selbst mal fünf Minuten zu überlegen und einen Blogeintrag vorzuformulieren: Was hat dich an deinem Tag inspiriert? Was hälst du für mitteilenswert? Über was würdest du gerne schreiben? Ganz simpel.
Bevor die Jungs und Mädels die Stifte spitzten, kamen aber endlich mal Fragen. Unter anderem das Killerding, auf das ich überhaupt nicht vorbereitet war, weil ich darüber seit zehn Jahren nicht mehr nachdenke: „Warum macht man das öffentlich?“ Mir fiel wieder auf, dass ich mein Bloggen schlicht nicht mehr hinterfrage, ich mache das einfach, das ist wie Zähneputzen. Aber genau das kann man natürlich niemandem erklären, der wissen will, warum er oder sie jetzt mit Bloggen anfangen sollte. Ich erwähnte im Vortrag natürlich die vielen tollen Vorteile, die Einblicke in fremde Leben, die vielen Dinge, die man lernen kann, die Reise zu sich selbst blablabla. Aber ich merkte bei jedem Satz, dass ungefähr 20 Leute innerlich mit den Augen rollten oder übers Abendessen nachdachten. Und ich ärgere mich, dass ich sie nicht gekriegt habe, dass ich die Faszination dieses Mediums nicht vermitteln konnte.
Immerhin ist aus der letzten Übung noch was Spannendes rausgekommen. Ich ließ nicht alle 35 erzählen, worüber sie schreiben wollten, das kam mir doch zu klippschulig vor, aber selbst die zehn, fünfzehn Leute, die was vortrugen, hatten alle tolle Ideen: ein Spieleblog war dabei, eins über Kollegen in der Agentur, die zu spät kommen, eins, das eventuell Probleme des Alltags lösen würde (oder sie zumindest mal erwähnt und auseinanderklamüsert), ein bestimmtes Modeblog. Außerdem verstrickte ich mich noch in eine Diskussion mit jemandem aus der ersten Reihe, der partout meinte, er hätte der Welt nichts mitzuteilen. Ich: „Dann schreib doch das langweiligste Blog der Welt. Übers Wetter oder so.“ Er: „Oder Rauhfasertapeten.“ Seitdem denke ich über genau dieses Blog nach und verdammt nochmal, ich würde es lesen wollen.
Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass nur wenige mir wirklich gerne zuhörten und deswegen beendete ich alles auch nach 90 Minuten, obwohl ich theoretisch die doppelte Zeitmenge zur Verfügung gehabt hätte. Das frühe Ende lag aber auch an mir; mein Probedurchgang mit den ganzen Blogfolien bis zur Diskussion dauerte 45 Minuten, und gestern vor Ort hetzte ich in 30 durch sie durch. Ich ahne, dass ich schwer verständlich war – sorry, Kinnings! Das hab ich verkackt.
Aber da ich oft genug erwähnt habe, dass ich alle Links, die ich gestern vorgetanzt habe, ins Blog stellen werde, sind jetzt hoffentlich trotzdem alle da und klicken die folgende Liste durch. Und bloggen bitte. Nur mal so zum Ausprobieren. Für mich. Bussi!
https://wordpress.org/
https://www.blogger.com/blogger.g#welcome
https://antville.org/
https://www.twoday.net/
https://feedly.com/i/welcome
https://maedchenmannschaft.net/
http://www.dirkvongehlen.de/blog/
http://scripting.com/
http://fraunessy.vanessagiese.de/
https://vanessagiese.de/blog/
http://www.thesartorialist.com/
http://www.advanced.style/
http://www.leblogdebigbeauty.com/
https://danceswithfat.wordpress.com/blog/
http://deern.ankegroener.de/
raul.de/blog/
https://narkosearzt.wordpress.com/
https://vierpluseins.wtf/
dooce.com/
http://blog.beetlebum.de/
http://katiakelm.de/blog/
http://www.chestnutandsage.de/
http://www.zeit.de/campus/2017-12/reiseblog-verdienst-blogger-lifestyle
https://nevigeser.blogspot.de/
https://runfurther.de/
https://rhoenradblog.wordpress.com/blog/
https://wassergarten.wordpress.com/
http://apfel.kulturnation.de/
https://www.moritz-hoffmann.de/tag/blog/
https://de.hypotheses.org/
http://www.openedition.org/catalogue-notebooks?page=catalogue&pubtype=carnet&lang=en
http://www.lenbachhaus.de/blog/
https://www.pinakothek.de/blog
https://ideenfreiheit.wordpress.com/
https://blog.daimler.com/
https://blog.audi.de/
text-macht.de/
http://www.carolinegibson.co.uk/blog/
https://exportweltmeister.de/
vimeo.com/226777557
http://www.ineshaeufler.com/blog/
https://kottke.org/18/03/twenty
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Was schön war, Freitag/Samstag, 9./10. März 2018 – Doktorand*innen-Kolloquium
Die Betreuung von Doktorand*innen an der LMU oder sogar nur am kunsthistorischen Institut ist unterschiedlich, was schon bei der Form der Promotion beginnt: Wenn man sich für eine Promotion am Institut entscheidet, ist man in den Lehrstuhl eingebunden, lehrt meist in geringem Umfang und ist halt wissenschaftliche Angestellte. Der andere Weg ist die klassische Individualpromotion, bei der man nicht an der Uni lehrt oder forscht, sondern irgendwo anders; die meisten meiner Mitstreiter*innen, die ich Freitag erstmals alle in einem Raum kennenlernen konnte, arbeiten bei Museen, Archiven oder kunsthistorischen Einrichtungen wie dem ZI. Einige wenige so wie ich machen etwas ganz anderes und promovieren gezwungenermaßen nebenbei, was dazu führt, dass wir ziemlich raus sind, was fachliche Diskussionen angeht oder auch nur den Austausch mit anderen Menschen, die ein ähnliches Projekt betreuen. Damit auch wir eine Art Anlaufstelle haben, hat mein Doktorvater einfach mal ein Kolloquium ins Leben gerufen, in dem alle seine Schützlinge ihr Thema kurz vortragen und wir dann darüber diskutieren. Nicht jede*r musste vortragen – ich hätte auch noch gar nichts sagen können –, aber es war trotzdem spannend, den anderen zuzuhören. Die Wahl des Doktorvaters bedingte auch eine gewisse thematische und/oder zeitliche Eingrenzung, denn der Mann hat natürlich seine Spezial- und Interessensgebiete, weswegen wir mit ihm arbeiten wollen. Daher hatte ich bei vielen Vorträgen das Gefühl, schon zu wissen, worum es ging, was ziemlich toll war.
Ich kann natürlich die meisten Themen jetzt nicht genauer ausplaudern, aber mir hat jeder Vortrag etwas gebracht. Ich muss gestehen, dass ich sowohl Freitag als auch Samstag den jeweils letzten Vortrag (oder sogar die zwei letzten) geschwänzt habe (Hunger, Arbeit), aber dafür ist man ja erwachsen. Hat das wenigstens einen Vorteil.
Was ich aus den diversen Themen und Methodikdiskussionen für mich mitgenommen habe und hoffentlich nicht wieder vergessen werde: Ich muss keine Enzyklopädie schreiben. Das glaube ich natürlich bei jeder Hausarbeit und meine, versagt zu haben, wenn ich genau das eben nicht erledigt habe, und natürlich weiß ich auch, dass das Quatsch ist, aber ich habe bei mir schon wieder die ungute Tendenz festgestellt, Themen gleich zu verwerfen, weil ich weiß, dass ich sie nicht komplett (was auch immer das heißt) behandeln werde können. Mir haben viele der Vorträge mal wieder vor Augen geführt, dass das auch nicht mein Job ist. Ich muss ein Thema schlaglichtartig beleuchten, kann ein paar lustige Exkurse machen und einiges vertiefend abhandeln, aber ich muss nicht jeden Fetzen Papier oder Leinwand behandeln, der zu diesem Thema existiert. Das soll eine Diss werden und kein zwanzigbändiges Lexikon.
Ebenfalls spannend waren für mich die Diskussionen zur Datenerhebung. Ich meine zwar, davor gefeit zu sein, stapelweise Archivgut digitalisieren oder sogar verschlagworten zu müssen, aber ich fand es trotzdem interessant zu sehen, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt, Daten zu erheben und zu klassifizieren. Ich habe lustige Programme kennengelernt, die ich vermutlich nie brauche, aber ich weiß jetzt, dass es sie gibt. Was vielleicht interessant für mich wird, wenn ich vor meinem Datenberg sitze und mir selbst überlegen muss, nach was ich den Kram denn überhaupt ordnen will. Bisher hat das ernsthaft mit diversen Word-Dokumenten bei mir funktioniert, weil ich durch meine Arbeit als Katalogtexterin gewöhnt bin, den Überblick über lange Texte zu behalten. Ich ahne aber auch, dass eine Masterarbeit etwas anderes ist als eine Diss und daher sollte ich mir vielleicht jetzt schon Gedanken darüber machen, ob es noch etwas Sinnvolleres gibt als meine Word-Sammlungen.
Ein kleiner Nebenaspekt wurde in diesem Zusammenhang auch angesprochen: die össeligen Lizenzierungsmodelle von Software. Wenn man Glück hat, übernimmt eine Institution wie Uni oder Forschungsstelle die Gebühr für ein Programm, mit dem man dann ewig arbeiten kann. Wenn man Pech hat, beginnt man mit einem Programm zu arbeiten, das mittendrin sein Lizensierungsmodell ändert und nur noch Lizenzen auf Zeit verkauft. Dann tippt man lustig zwei Jahre Daten ein – und kann sich danach eventuell das Programm nicht mehr leisten, weil es plötzlich irre teuer geworden ist. Das ist netterweise niemandem von uns passiert, aber darüber habe ich auch noch nie nachgedacht.
Ich fand es auch mal wieder gut für mich und meine eigene wimmerige Konstitution zu hören, dass eben noch nicht alles ausgeforscht ist. Ich glaube auch nach zehn Semestern, die mir das Gegenteil bewiesen haben, dass alle guten Themen schon weg sind und immer, wenn ich über eins nachdenke, haben schon tausend andere das auch gemacht. Ich weiß, dass das Quatsch ist, aber manchmal falle ich doch wieder in dieses Loch. Am Freitag wurden zwei Dissertationen vorgetragen zu Themen, bei denen ich mir sicher war, dass dazu schon alles gesagt wurde. Ich glaube nicht, dass ich hier Geheimnisse verrate, daher: Sie gingen um Heinrich Hoffmann und den US-Kunstschutz während des Zweiten Weltkriegs. Da hätte ich Wetten angenommen, dass da schon alle Archive leergelesen sind, aber die Wette hätte ich sehr deutlich verloren, wie ich jetzt weiß. Zu hören, dass ein Doktorand im Kunstarchiv Nürnberg noch Kisten öffnen konnte, in die nie jemand reingeguckt hatte, nachdem der Nachlassverwalter den Deckel draufgemacht hatte, fand ich sehr spannend.
Auch wieder wichtig für mich und meinen Hinterkopf: vielleicht mal nicht mit einer festen Frage in die Archive gehen, sondern die Quellen entscheiden lassen, wo es hingehen soll. Das habe ich ja eigentlich bei meiner Arbeit zu Leo von Welden schon gelernt, dass es sehr aufschlussreich sein kann, einfach mal alles durchzuwühlen, was einem freundliche Archiv-Mitarbeiterinnen oder Heimatmuseumsmenschen vor die Nase legen. und dann zu gucken, was man daraus machen kann. Im Kolloquium berichtete eine Doktorandin, dass es ihr bei ihrem Thema genauso ging: Eine Stadtarchiv-Mitarbeiterin aus (Stadt behalte ich mal für mich) meinte so nebenbei zu ihr, dass da ein großes Aktenkonvolut wäre, das sich vielleicht für sie lohnen würde. Und dann stellte die Dame fest, dass dieses Konvolut eine ziemliche Rarität war, was NS-Unterlagen angeht, denn genau diese Art von Akten hatte die betreffende NS-Organisation sehr großflächig vernichtet – bis auf diesen Berg und noch ein paar kleine weitere in sehr wenigen anderen Städten. Aber sowas erfährt man natürlich nicht, wenn man mit einer festen Frage ins Archiv kommt.
Dann ging es auch um Begrifflichkeiten und Definitionen. Was mich an vielen Diskussionen, gerade online und auf Twitter, inzwischen wahnsinig macht, ist, dass kaum noch definiert wird, worüber eigentlich gesprochen wird. Jeder hat einen schwammigen Begriff im Kopf, aber anstatt erstmal klar zu fassen, worum es geht, pöbeln alle auf unterschiedlichen Ebenen herum und kommen so natürlich nie auf einen Nenner. In unserem Fall ging es um eine Diss, die sich mit, auch das ist kein Geheimnis, die Diss kannte ich schon von der Herbsttagung des Arbeitskreises Provenienzforschung, sogenannten (hier werde ich schon vorsichtig) jüdischen Kunsthandlungen in München befasst, die zur NS-Zeit „arisiert“ wurden. Wir sprachen darüber, dass schon diese Klassifizierung – jüdische Kunsthandlung – ein Unding ist, denn damit machen wir uns die NS-Vorgabe zu eigen. Man kann davon ausgehen, dass viele oder sogar alle Kunsthändler*innen jüdischen Glaubens diese Tatsache – ihre Religionszugehörigkeit – nicht als ihren Hauptcharakterzug wahrgenommen haben, vor allem nicht in Bezug auf ihre berufliche Tätigkeit (außer sie handelten exklusiv mit Judaica, aber ich meine mich daran zu erinnern, dass es so ein Geschäft nicht gab). Wir übernehmen hier also als Grundlage der Forschung eine Einteilung aus rassistischen Gründen. Das muss in der Arbeit natürlich dargelegt werden, warum man ausgerechnet eine derartige Abgrenzung nun weiterführt. Unser Doktorvater erinnerte an Ernst Gombrich, der 1996 auf einem Kongress genau zu diesem Thema streitbar sagte: „[]ch bin der Meinung, dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler und seinen Vor- und Nachläufern erfunden wurde.“ (Quelle)
Insgesamt mochte ich es sehr, mal wieder mit Menschen in einem Raum zu sitzen, die über ähnliche Dinge wie ich nachdenken, wenn auch nicht genau in der gleichen Ecke wie ich. Es war schön, sich mal wieder mit Themen zu beschäftigen, die an meines angrenzen, und es war sehr befriedigend zu merken, wieviel ich dann doch in den letzten Jahren gelernt und gelesen und erfahren habe, wenn es um das Betriebssystem Kunst im Nationalsozialismus geht. Es hat mich sehr motiviert, mich wieder in die Arbeit zu schmeißen, die in den letzten Monaten sehr kurz gekommen ist, weil ich schlicht mit Geldverdienen beschäftigt war. Ich freue mich schon auf unseren nächsten Termin, der vermutlich im Herbst stattfinden wird. Vielleicht kann ich dann immerhin schon grob sagen, was ich eigentlich so mache.
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Tagebuch, Montag, 5. März 2018 – Monday, monday, ba-daaa *singt*
Ich habe das Gefühl, dass sich Einträge à la „Gearbeitet, geschlafen“ wiederholen und sie langweilen mich selbst beim Aufschreiben. Was daran liegen könnte, dass meine geldwerte Arbeit leider weitaus weniger spannend ist als das, was ich die letzten fünf Jahre für lau gemacht habe.
Das ist mir in den letzten Tagen verstärkt aufgefallen: wie wenig sich das Lesen und Schreiben in Bibliotheken nach Arbeit angefühlt hat, sondern stattdessen wie ein schlauer Urlaub. Natürlich war ich auch da nach sechs bis acht Stunden angemessen hirntot und brauchte Pausen und Kohlehydrate, aber ich war nie so gefühlt doof wie ich jetzt abends bin, wo ich mich kaum noch zu anständigen Büchern aufraffen kann.
Ich erwähnte bereits, dass sich das teilweise ziellose Rumlesen nie wie verschwendete Zeit angefühlt hat. Derzeit bin ich auf mehreren Kunden gebucht, die manchmal Texte oder Konzepte haben wollen, von denen man schon vorher weiß, dass sie Quatsch sind. Man macht sie aber trotzdem, damit der Kunde was vorgelegt bekommt, dass er dann als „Quatsch“ abtun und sich was Neues wünschen kann. Manchmal muss man Dinge halt ausformuliert oder gestaltet vor sich sehen, um zu wissen, nee, das war eine blöde Idee. Ich bin davor auch nicht gefeit, wie ich weiß, seitdem ich meine Website habe umgestalten lassen. Aber wenn man auf der anderen Seite sitzt und weiß, dass man gerade für den Papierkorb arbeitet, strengt es ungemein an. Deutlich mehr als wenn man in der Bibliothek sitzt und ziellos ein Buch nach dem anderen durchblättert, einfach weil es da ist und man Zeit hat.
Ich merke auch, dass mich meine Arbeit wieder körperlich anstrengt. Dass sie mich geistig anstrengt, ist normal und erwartbar. Auch wenn man gerne über die Dösbaddeligkeit von Werbetexten lästern kann – es kostet Mühe, sie zu schreiben, vor allem, wenn man trotz ihrer inhärenten Sinnlosigkeit möchte, dass sie gut lesbar sind, gut klingen und vielleicht doch ein winziges bisschen was zu sagen haben. Ich merke, dass ich abends wieder körperlich ausgelaugt bin, was ich nach acht Stunden Bibliothek weitaus weniger war. Ich muss mir leider eingestehen, dass ich keine 25 mehr bin und auch keine 35 mehr, wo ich das weitaus besser weggesteckt habe. Ich brauche mehr Zeit für mich selbst, mehr Zeit, den Kopf wieder für mich anzuknipsen, und das kam in letzter Zeit leider zu kurz. Wenn der Schreibtisch eh voll ist und man dann noch angekränkelt an ihm sitzt, fällt alles doppelt schwer. Deswegen passierte im Blog auch in der letzten Woche so wenig; ich hatte nicht mehr die Kraft, Nullnummern wie oben beschrieben – „gearbeitet, geschlafen“ – aufzuschreiben.
Am Freitag und Samstag dieser Woche findet mein erstes Doktorandenkolloquium statt. Ich kann zwar leider selbst noch nicht über meine Arbeit Auskunft geben, weil ich schlicht noch nichts Sinnhaftes vortragen kann außer einem tollen Plan und viel zu wenig gelesenen Seiten, aber ich freue mich wie irre darauf, von den anderen zu hören, was sie machen und worüber sie nachdenken. Seit Tagen sitze ich hier, texte vor mich hin und denke: „Nur noch drei Tage, dann siehst du endlich wieder normale Leute.“ Den Satz habe ich auf der republica zum ersten Mal gehört und ihn als wahr abgenickt. Hier stimmt der Satz jetzt wieder.
Ich freue mich ebenfalls sehr auf den Semesterbeginn im April, wo ich versuchen werde, mich wenigstens in ein paar Vorlesungen zu setzen, um nicht zu verblöden. Ich merke erschrocken, wie sehr meine Unizeit gefühlt schon in der Vergangenheit liegt, obwohl ich erst im Oktober mein Masterzeugnis bekommen habe. Aber seitdem habe ich mich so brutal wieder in Richtung Werbung gepolt, dass sich das schon wie ein anderes Leben anfühlt. War es wohl auch. Merke ich auch erst jetzt so richtig.
Ich möchte daher bewusster versuchen, mir wenigstens Reste dieses schlauen, schönen, selbstbestimmten Lebens ins Werberleben zu retten. Deswegen ja auch die Diss, die ich nicht mehr als Karrierestufe sehe, sondern als roter Faden, an dem ich mich ein bisschen langhangeln kann an schlechten Tagen oder denen, die mich übermäßig anstrengen, weil sie mit Quatsch gefüllt sind. Ich möchte versuchen, sie nicht als Pflicht anzusehen, als Ding, was auch noch erledigt werden muss neben dem ganzen Kram, der auf meinem Tisch liegt. Ich möchte versuchen, sie als großartiges Ding wahrzunehmen, dass dafür sorgt, dass ich ein winziges bisschen weiter Kunsthistorikerin spielen darf, obwohl das auf meiner Visitenkarte erst nach der Werberin kommt. Ich möchte auf meinen Alltag besser aufpassen, damit er nicht zu alltäglich wird. Sonst bin ich in fünf Jahren wieder da, wo ich schon mal war. Andererseits könnte ich dann noch einen Politik-Bachelor hintendranhängen, wär auch spannend.
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Was schön war, Samstag, 17. Februar 2018 – Zwei Museen, drei Ausstellungen, eine Sammlung
F. und ich schoben einen Kurzurlaub in Frankfurt, ja, Frankfurt ein und setzten uns Freitag abend in München in den Zug. Nachdem wir unsere Taschen im Hotel losgeworden waren, erkundeten wir drei Restaurants, die uns von einer freundlichen Frankfurterin empfohlen worden waren; eins davon bot leider nur Buffet, darauf hatte ich keine Lust, und die anderen beiden waren, fast logisch, an einem Freitagabend um 21 Uhr pickepackevoll. Google und Yelp schickten uns zum Mian-Nudelhaus, das aussieht wie eine bessere Imbissbude; wir wurden aber sehr freundlich und schnell bedient und verließen es äußerst gut gesättigt und zufrieden.
Dann schliefen wir in unserem brummenden Hotel mehr schlecht als recht, weil es ohne Ohrenstöpsel nur schwer zu ertragen war, aber es war billig, hatte ein gutes Frühstück und lag in Bahnhofsnähe. Am nächsten Morgen checkten wir aus und marschierten mit Gepäck zum ersten Ziel, der Schirn. Was da schon auf dem Weg lag! Toll.
Das europäische Patentamt in München nimmt mich emotional nicht so mit wie die europäische Zentralbank in Frankfurt. Wahrscheinlich weil nichts Blaugelbes mit Sternen davor steht.
— Anke Gröner (@ankegroener) 17. Februar 2018
„Das ist also der Römer.“ „Bekannt von Fußballweltmeisterschaften.“
— Anke Gröner (@ankegroener) 17. Februar 2018
An der Schirn kamen wir um wenige Minuten vor zehn Uhr (eigentliche Öffnungszeit) an, aber die Türen waren schon auf, also gingen wir rein und gleich zur noch leeren Garderobe durch, um unsere zwei Rucksäcke, eine kleine Sporttasche und zwei dicke Jacken loszuwerden. Die freundlichen Damen überreichten uns vier bunte Zettelchen zur späteren Abholung und wir gingen mit unseren im Interweb gekauften Tickets in den ersten Stock, wo die Ausstellung Glanz und Elend in der Weimarer Republik auf uns wartete. Die läuft nur noch bis zum 25. Februar, also geht da doch bitte schnell noch rein, ich kann die sehr empfehlen.
Da ich mich in der Diss mit der ollen NS-Zeit beschäftige, ist Weimar nicht ganz unwichtig. Ich fand die Ausstellung recht clever gehängt; sie beginnt gleich mit Politik. Normalerweise hat man ja gerne einen Rundgang, also einen klaren Anfang und ein ebensolches Ende, aber hier hat man einen langen Gebäudeflügel, den man in eine Richtung abläuft – und dann wieder zurückmuss. Das heißt, Politik steht nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende der Ausstellung und das fand ich sehr schlau.
Was mir auch gefallen hat: dass viele, ich nenne sie mal so, weibliche Themen angesprochen wurden und viele Künstlerinnen zu sehen waren. Die neue Frau mit Bubikopf, einem Job und Zigarette, ja, geschenkt. Aber dass auch die Themen Paragraf 218, Abtreibung und Prostitution explizit bildlich angesprochen bzw. per Wandtext deutlich gemacht wurden, fand ich sehr spannend. Hier mochte ich auch den Blick von Frauen auf Frauen. Meiner Meinung nach sah man Bildern, gerade von Prostituierten oder Tänzerinnen, sehr deutlich an, ob sie von einem Mann oder von einer Frau gemalt wurden. (Zumindest habe ich meist richtig geraten, bevor ich auf das Schild mit dem Künstler*innennamen geguckt habe.) Auch auffällig war der neue Blick auf Frauen, der mit der Neuen Sachlichkeit zusammenhing. Frauen wurden zwar durchaus immer noch verklärt und aufgehübscht oder neusachlich-realistisch wiedergegeben, aber eben auch bildlich verzerrt. Die angebliche Hässlichkeit, die der Moderne gerade vom NS-Regime vorgeworfen wurde, machte vor dem „schönen Geschlecht“ netterweise nicht halt.
Neu entdeckt habe ich Kate Diehn-Bitt, über die wir im ZI gerade lausige vier Kataloge haben, die aber 400 verdient gehabt hätte. Hilde Rakebrand. Hanna Nagel. Jeanne Mammen. Dodo. Über Lotte Laserstein hatten wir in unserem Rosenheim-Seminar gesprochen und ich habe mich gefreut, ein Bild, das ich dort sah, nun im Original vor der Nase gehabt zu haben. (Sowas freut mich immer, keine Ahnung warum.) Und Elfriede Lohse-Wächtler kannte ich natürlich aus der Hamburger Kunsthalle, aber hier hingen fast nur Werke von ihr, die ich ihr nie zugeschrieben hätte in ihrer bunten Wildheit. Toll.
Gleich im ersten Raum hing mein Lieblingsbild – Karl Völkers Bahnhof (1924-26) –, aber im für mich letzten Raum hatte der Bahnhof dann verloren, denn dort hingen gleich drei Werke von Carl Grossberg, auf den ich ja seit einigen Monaten besonders schaue. Das wusste ich vorher nicht, fiepste sofort fangirlmäßig auf Twitter rum und blieb sehr lange vor den starren, kühlen, bewegungslosen Industriedarstellungen Grossbergs stehen.
F. und ich unterhielten uns während der Ausstellung schon über viele Bilder, aber auch danach, als wir uns für die nächste Ausstellung im Café stärkten.
Ich so: „Immer wenn ich Kram aus Weimar gucke, bin ich auf mich selbst pissig, dass ich wissenschaftlich in der NS-Zeit hängengeblieben bin.“ F. so: *lächelt sibyllinisch*
— Anke Gröner (@ankegroener) 17. Februar 2018
Im Vorfeld hatte ich über die Jil-Sander-Ausstellung nachgedacht und mir war Jean-Michel Basquiat eigentlich eher egal, aber die erste Ausstellung in der Schirn hatte mir gut gefallen, wir waren gerade da und hatten noch üppig Zeit – also blieben wir erst einmal im gleichen Haus. Die Garderobe war ja auch schon abgegeben, wie praktisch, denn nun standen dort dreimal so viele Leute an wie vor der Kasse, wo wir zwei Karten für die gerade eröffnete Basquiat-Ausstellung erwarben und wieder in den ersten Stock gingen.
Mit Basquiat habe ich mich noch nie wissenschaftlich beschäftigt. Ich hatte ihn in den 80er-Jahren durchaus wahrgenommen, auch im Kontext mit Keith Haring, den ich sehr mag – ich verweise auf meinen weinerlichen Podcast-Einsatz ab Minute 54:20 –, aber eine echte Meinung hatte ich nicht zu ihm. Die habe ich jetzt aber nach dieser guten Ausstellung.
Sie begann mit einigen Schaukästen, die ich nur gestreift habe („im Vorbeigehen lernen“), und weil die Ausstellung so neu war, war sie dementsprechend voll, weswegen man dann nur noch im Schritttempo an einer Fotosammlung vorbeikam, in der Sätze von Basquiat zu lesen waren, die er Ende der 1970er-Jahre in New York auf Türen und Wänden hinterlassen hatte. Das war schon das erste Aha-Erlebnis für mich: was für clevere, kleine Vignetten da zu finden waren. Alleine für die hätte ich mir den Katalog kaufen müssen, wie ich inzwischen festgestellt habe, aber am Samstag dachte ich noch, och, das war nett, okay, weiter, aber diese Ausstellung rumort seitdem in mir und arbeitet und jetzt muss ich 15 Euro mehr für den Katalog zahlen, weil ich ihn dringend von meiner Buchhändlerin ordern will.
Im nächsten Raum wurde dann Basquiats erste reguläre Galerieausstellung nachgebaut, was mir sehr gut gefallen hat. Diesen ersten Eindruck von einem Künstler kriegt man ja nie wieder hin, erst recht nicht 30 Jahre später, aber diese Hängung versucht es wenigstens und das klappt meiner Meinung nach ganz gut. Überhaupt hat bei mir die Ausstellung ein neues Verständnis für Basquiat geschaffen, das ich vorher schlicht deswegen nicht hatte, weil ich nur mal hier und mal da ein Werk von ihm gesehen habe, aber nie so viel auf einmal. Alleine das war das Eintrittsgeld schon wert.
Ich will jetzt gar nicht die Ausstellung beschreiben, das können andere besser, aber für mich war das ein großer Gewinn, sie gesehen zu haben. Und gleichzeitig ist mir der Verlust dieses Künstlers wieder klargeworden. Bei dieser Ausstellung dachte ich, wie bei Haring auch schon: Was hätte aus ihm werden können. Was verdammt nochmal hätte aus ihm werden können. Wer mit Anfang und Mitte 20 schon so schlau und reflektiert und wissenshungrig und neugierig auf alles war – was wäre er mit 30, 40, 50 gewesen? Über was würde er heute nachdenken? Ich hätte gerne gesehen, wie das Internet seine Arbeit verändert hätte, die immer sehr mediengeprägt war. Und ich hätte gerne noch viele Selbstporträts von ihm gesehen; der Raum hat mir am besten gefallen. Vielleicht hätte der Mann auch mit 35 eine Burgerbude aufgemacht, auch okay. Trotzdem. Verdammt.
Gleichzeitig beschenkt und bedrückt gingen wir wieder nach unten, holten unseren Berg Gepäck ab, erstanden zwei Kataloge zur Weimar-Ausstellung, die F. den Rest des Tages heldenhaft schleppte, und dann wussten wir erstmal nicht weiter. Auf Jil Sander hatte ich jetzt doch keine Lust mehr, auf den Brutalismus im Architekturmuseum auch nicht, auch die anderen Tipps, die uns auf Twitter gegeben wurden, wollten wir nicht sehen. Also spazierten wir erst einmal über den Main – und landeten dann fast zwangsläufig im Städel. Dort hatte ich vor gefühlt ewigen Zeiten endlich die Flemaller Tafeln gesehen und schwärmte F. davon vor. Dass sie gerade ausgelagert wurden, sahen wir erst im Museum, woraufhin ich meine Laune bei niederländischen Stillleben aufbesserte und dann mit F. im Stechschritt durch die Sammlung ging. Wir guckten uns auch brav die Rubens-Ausstellung an, die mir total egal war, aber F. so: „Ischo bezahlt“, also gingen wir durch. War bestimmt toll, aber ich blieb wirklich nirgends stehen. Rubens halt. Der Barock und ich werden vermutlich keine Freunde mehr.
Stattdessen gingen wir ins Untergeschoss, wo zeitgenössische Kunst hängt und liegt und steht und rumblinkt und sich bewegt. Den Bereich des Städel hatte ich beim letzten Besuch nicht angeschaut und so war das auch alles neu für mich. Wir fanden alles toll, suchten nach den bekannten Namen, entdeckten unbekannte, und ich musste natürlich in einer Leuchtinstallation von James Turrell an den Reglern drehen und meinen Kopf in ein tiefes Rot stecken.
Irgendwann war mein Hirn dann aber wirklich voll und meine Füße nölten auch. Zur Stärkung gab es am Bahnhof ein bisschen Fine Dining bei Burger King, dann suchten wir die guten Toiletten in der Bahn-Lounge auf und ließen uns noch ein Heißgetränk servieren, bevor wir dreieinhalb Stunden lang nach München zurückschaukelten. Viel gesehen, viel gelernt. Gerne wieder.
„Und, was hat Ihnen an Frankfurt am besten gefallen?“ „Dass man nach 20 Uhr noch im Supermarkt einkaufen konnte WIE EIN NORMALER MENSCH.“
— Anke Gröner (@ankegroener) 17. Februar 2018
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Was schön war, Mittwoch, 17. Januar 2018 – 100 Metronome
Gestern abend saß ich im Herkulessaal und lauschte den Münchner Symphonikern sowie ihrem Gast Alexej Gerassimez, einem Percussionisten.
Ich war noch nie im Herkulessaal und freute mich erstmal über die Nachkriegsarchitektur, die meiner Meinung nach nur haarscharf an der NS-Architektur vorbeigeschrammt war. Dann freute ich mich über die bequemen Stühle und die Beinfreiheit im Parkett, wo ich endlich mal wieder saß. Und dann freute ich mich über die Gelbe Couch, eine kleine viertelstündige Gesprächsrunde, die bei einigen Konzerten der Symphoniker angeboten wird. Dabei erzählt der Gast dann gerne was, jedenfalls war das gestern so. Gerassimez wurde gefragt, ob er ein bisschen was zeigen könnte, woraufhin der charmante und eloquente Herr sein Smartphone zückte und erzählte, dass er gerne Rhythmen oder Klänge aufnehme. Das erste, was er uns vorspielte, waren die klackenden Schaltungen an Fußgängerampeln. Dann kam ein Geräusch, was ich nicht identifizieren konnte, aber ich glaube, das ging allen im Saal so. Ich habe es mir vermutlich nicht ganz korrekt gemerkt, aber es war etwas Ähnliches wie eine klickernde Zeitschaltuhr im Bad eines Hotelzimmers. Das letzte hielt ich für einen nicht anspringenden Trabant, aber es war der Drucker seines Freundes.
Gut gelaunt wartete ich dann auf den Beginn des Konzerts. Am Bühnenrand standen bereits 100 Metronome für das erste Stück: Poème symphonique – Musikalisches Zeremoniell für 100 Metronome von György Ligeti. Auf YouTube gibt es mehrere Versionen, ich habe mal die hier genommen. Dort werden alle Metronome gleichzeitig in Gang gesetzt (oder halbwegs gleichzeitig), es gibt auch Versionen, in denen das nach und nach passiert. Die Dinger sind auf eine bestimmte Dauer eingestellt, irgendwann hört man 100, dann ganz allmählich nur noch eins, bis auch das verstummt. Mir wurde gestern erzählt, dass bei der Uraufführung 1962 eine Panne passierte und das verdammte letzte Metronom partout nicht aufhören wollte. You go, girl!
Bei uns traten gestern acht Menschen an den Bühnenrand und setzten die Metronome halbwegs gleichzeitig in Gang. Das Publikum verstummte leider nicht so schnell wie ich es mir gewünscht hätte, obwohl das stille Orchester, das hinter den Metronomen schon Platz genommen hatte, doch deutlich machte, dass das Konzert jetzt losgeht. Ich fand es sehr spannend, welche Dynamik 100 klackernde Kästchen entwickeln; ich musste an Vogelschwärme denken (murmurations), die sich zusammenfinden, scheinbar eine Formation bilden und sie sofort wieder verlassen. So ging es mir auch, mein Gehirn wollte immer eine Struktur im Geklacker finden, ich bildete mir auch ein, für einen winzigen Augenblick eine erfasst zu haben, aber da war sie schon wieder weg. Nach und nach klickten immer weniger Metronome, ich meinte, nur noch rechts etwas zu hören, aber da war plötzlich links wieder was, aber schließlich war es wirklich nur noch eins.
In diesem Moment kamen der Dirigent und Gerassimez auf die Bühne und letzterer schlug, wenn ich das aus der 23. Reihe richtig erkannt habe, mit einem Drumstick auf ein Klangholz ein, schön im Takt vom Metronom, gefühlt minutenlang. Ich fragte mich irgendwann, wie man aus dieser Nummer jemals wieder rauskommen könnte, als er plötzlich den Takt veränderte. Wo er eben noch synchron mit dem Metronom war, spiele er jetzt quasi dagegen an. Ein kleines Metronom und ein Klangholz und der ganze Saal war ruhig. Irre meditativ und gleichzeitig hochspannend.
Dann trug die Indendantin das arme kleine klackernde Metronom hinter die Bühne, während Gerassimez weiter den Takt hielt – und plötzlich begann das zweite Stück, Frozen in Time von Avner Dorman. Das war dann eine halbe Stunde, in der ich überhaupt nicht zum Denken kam, sondern nur staunte und zuhörte. Ich war überrascht davon, wie sehr Percussion den gewohnten Klang eines klassischen Orchesters verändern kann. Mittendrin konnte ich Instrumente gar nicht mehr erkennen; irgendwann kam eine Stelle, die für mich nach Morsezeichen klang, und ich hätte nicht sagen, wer diesen Klang gerade erzeugte.
In der Pause war mein Gehirn dann wieder da und ich dachte darüber nach, was Gerassimez auf der Gelben Couch noch gesagt hatte: dass er seinen Arbeitsplatz quasi für jedes Stück neu aufbauen müsse, je nachdem, ob nun mehr Schlagzeug, mehr Vibraphon oder mehr Cowbells darin vorkämen. (Bei „Cowbells“ ging bei mir kurzfristig nichts mehr, ist klar.) Ich fand es sehr spannend, ihm beim Arbeiten zuzusehen, denn natürlich war sein Bewegungsradius größer als der der anderen Musiker*innen hinter und neben ihm, konnte dem Stück aber nicht so folgen wie ich gewohnter klassischer Musik folge. Aber genau das fand ich so toll; ich wusste nie, was in der nächsten Sekunde passierte und konnte es auch nicht vorausahnen – im Gegensatz zum Haydn, der nach der Pause kam und wo man, wenn man ein paar klassische Stücke gehört hat, grundsätzlich ahnte, wie es weitergeht. Das hier war eine klingende Wundertüte und ich habe sie sehr genossen.
Auch die Zugabe, eine Eigenkomposition Gerassimez’, war spannend; ich wusste nicht, wieviele unterschiedliche Klänge man aus einer Snare Drum herausbekommen kann.
In der Pause las ich mein neues Buch, das sich als sehr pausenkompatibel herausstellte: Es hat perfektes Handtaschenformat, und weil in ihm einzelne Aufsätze sind, kann man es in Häppchen lesen. So erfuhr ich schlaue Dinge über Ulysses, die sogar zum Konzert passten. Genau wie das Klangmeer, in das ich eben unvorbereitet geworfen wurde, lese ich Ulysses: ahnungslos, aber neugierig. Und so wie Ligeti und Dorman aus bekannten Noten etwas völlig Neues bastelten, nutzte Joyce die Sprache. Das Buch ist „eine große Chance, das Lesen wieder einzuüben, schon weil darin die Sprache selber auch zum Gegenstand wird. Ulysses wandelt die Möglichkeiten der Sprache ab, die subjektiven Versuche, die Welt und sich selbst zu benennen und mitzuteilen.“ (Fritz Senn: Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959–1983, hrsg. von Franz Cavigelli, Zürich 1983, S. 33/34.)
Der zweite Teil des Konzerts war dann etwas blasser. Die Uhr von Haydn plüschte so vor sich hin, und ich konnte im Kopf den Blogeintrag vorformulieren, aber die Rosenkavalier-Suite von Richard Strauss konnte mich dann wieder fesseln.
Auf dem Weg nach Hause stand ich an einer Bushaltestelle, wo das City Light Poster knarzend durchwechselte. Mein erster Gedanke war: Meine Güte, machst du Krach. Mein zweiter war allerdings: Gerassimez würde jetzt vermutlich sein Smartphone zücken. Und so lauschte ich grinsend diesem neuen Klang, bis mein Bus kam.
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Tagebuch, Donnerstag, 11. Januar 2018 – Fragezeichen und Candy Crush
Wie nach dem doofen Schreibtag vorgestern zu erwarten war, folgte gestern auf ihn ein guter. Ich saß mit einer Kanne Earl Grey am Schreibtisch und tippte entspannt vor mich hin, immer mit der Nase in diversen Kundendokumenten oder der Website oder Google oder womit ich mir sonst Infos suche. Erstmals hatte ich auch in den Uni-Datenbanken nach Informationen gestöbert, was ich sehr lustig fand. Best of both worlds.
Abends eine Quiche gemacht, weil die grünen Bohnen wegmussten; die faule Variante mit fertigem Blätterteig allerdings, kein Mürbeteig. Danach kein Ulysses, weil ich schon bei der abendlichen Runde Candy Crush fast eingeschlafen wäre. Das schwere Buch wäre mir vermutlich auf die Nase gefallen beim Lesen, also Licht aus.
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Nachmittags bekam ich einen seltsamen Anruf. (Keine Ahnung, ob die Anruferin hier mitliest, aber da muss sie jetzt durch.)
Wir sind in einem sozialen Netzwerk miteinander verbunden, ich kenne die Dame aber überhaupt nicht persönlich und sie mich vermutlich auch nicht. Sie arbeitet in der PR-Branche, was etwas anderes ist als Werbung. Ich selbst habe noch nie PR gemacht und will das auch nicht, daher weiß ich nicht, ob ihr Anliegen dort völlig normal ist – ich als Werbetante war ein bisschen verwirrt und irritiert.
Die Kurzfassung: Die Anruferin erkundigte sich, ob sie mich ihren Kontakten als Texterin weiterempfehlen sollte – gegen eine kleine Gebühr. Das hätte sich in ihrem Kolleg*innenkreis so eingebürgert, dass man sich gegenseitig weiterempfiehlt, aber eben gegen Geld. Wahrscheinlich habe ich im Telefonat sehr viele Geräusche à la „Hm? Was? Grmpf. Hä?“ von mir gegeben, weil ich noch nie auf die Idee gekommen bin, Geld dafür zu verlangen, dass ich jemanden weiterempfehle.
Vor dem Studium hatte ich immer wieder Anfragen, die ich ablehnen musste, weil ich ausgebucht war (ah, those were the days). Dann kam unweigerlich die Frage, ob ich jemanden empfehlen könnte, und ich hatte damals eine E-Mail als Vorlage griffbereit, die ich lustig copypastete. Darauf standen immer die selben fünf Namen von Texter*innen, die ich persönlich kannte und schätzte und mit denen ich vor allem schon mal zusammengearbeitet hatte. Ich empfahl nur Leute weiter, von denen ich wusste, dass sie a) nette Menschen sind und b) einen guten Job machen. Manchmal kam eine Mail zurück von den Leuten, die ich empfohlen hatte, in der sie sich für die Empfehlung bedankten, was mich immer freute. Und manchmal kamen Anfragen an mich, wo mich jemand empfohlen hatte, wofür ich mich dann bedankte. Für einen richtig großen Job bei einer Agentur, die mich noch nie gebucht hatte, orderte ich auch schon mal eine Flasche Schampus bei Amazon und schickte die an den Empfehlenden. Aber das war’s. Ich wollte nie Geld für eine Empfehlung und ich habe auch nie welches gegeben.
Daher war ich ehrlich verwirrt über diese seltsame Anfrage von einer Frau, die nicht viel von meiner Arbeit wusste und mich eben auch nicht persönlich kannte. Warum sollte die mich weiterempfehlen? Außer für Geld natürlich, aber das ist doch kompletter Quatsch. Das ist doch so, als ob ich Leuten Produkte empfehle, die ich selber nicht ausprobiert habe, nur weil ich Geld … oh wait.
Ich habe in meinem Werberleben bisher nur für Produkte Verkoofe gemacht, hinter denen ich moralisch stehen kann (mindestens halbwegs). Mit Alkohol habe ich kein Problem (dafür habe ich Werbung gemacht), mit Zigaretten schon eher (musste ich noch nie bewerben), mit Werbung, die sich speziell an Kinder richtet, hätte ich ein Problem (musste ich noch nicht), so langsam habe ich ein Problem mit Finanzdienstleistungen und auch der Automobilindustrie (zwei Dinge, die ich lang und breit beworben habe). Ich habe noch nie irgendein Springer-Produkt beworben, noch nie eine politische Partei und noch nie ein Frauenmagazin (oder wie ich die Dinger nenne: Anleitung zum Selbsthass). Ich habe schon vieles beworben, bei dem ich dachte, was soll der Scheiß, aber auch schon vieles, bei dem ich dachte, hätte ich gerne.
Das Schöne an der Arbeit in Agenturen ist, dass man sich hinter deren Namen verstecken kann. Mein Name steht unter keiner Kampagne, in keiner Broschüre, auf keinem Plakat. Aber wenn ich persönlich jemanden empfehle, also für ihn Werbung mache, dann ist das etwas ganz anderes. Dann bürge ich gefühlt persönlich für diesen Kollegen oder diese Kollegin. Und wenn dieser Kollege dann Mist baut, bleibt eventuell hängen, dass ich ihn empfohlen habe, was im Endeffekt heißt, dass ich Mist gebaut habe. Auch deswegen ist es mir schleierhaft, warum mich Menschen empfehlen wollen, die keine Ahnung davon haben, wie ich arbeite oder ob man es mit mir in einem Büro aushält. Geld, schon klar. Aber wegen einer luschigen Provision setze ich doch nicht meinen Namen aufs Spiel, der im Prinzip die einzige Visitenkarte ist, die in dieser Branche was taugt. Jeder von uns hat eine tolle Mappe, weil jeder von uns mit tollen Leuten zusammenarbeitet, das zeichnet mich nicht aus. Ich werde gebucht, weil andere mich als fähigen Menschen kennen und den Personaler*innen davon erzählen.
Jedenfalls glaube ich das. Oder möchte es weiterhin glauben. Ich werde weiterhin nur Schampus oder Mails verschicken und verdiene mein Geld lieber mit Texten als mit Empfehlen. Oder mit Bloggen: Ich habe meinen ersten Patreon-Förderer, yay! Dankeschön! (Eichhörnchen und so.)
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Tagebuch, Dienstag bis Donnerstag, 2. bis 4. Januar 2018 – Im Texterflöz
Ich bin für vier Tage in Hamburg gebucht, danach noch für eine Zeit vom Home Office aus (oder „remote“, wie wir Werbeschnacker neuerdings sagen). Eigentlich sollte ich nur für das Briefing hochkommen, aber ich finde es ganz nett, in einer neuen Agentur auf einem neuen Kunden und auf einem Produkt, von dem ich noch keine Ahnung habe, erstmal in Rufweite von Kreativdirektorin und Arterin zu sitzen, um dumme Fragen stellen zu können. Also packte ich am Montag mein kleines Köfferchen, stand Dienstag sehr nölig um 4 Uhr morgens auf, um den 7-Uhr-10-Flieger zu kriegen, denn wir wissen ja alle, DASS DER BEKNACKTE MÜNCHNER FLUGHAFEN RANT ENTFERNUNG EINE STUNDE S-BAHN ARSCH DER HEIDE WATZEFACK.
In Hamburg angekommen, gönnte ich mir als allererstes ein Franzbrötchen, das aber zu matschig aussah, um es zu instagrammen. Die Stadt hat mich auch schon mal enthusiastischer empfangen. Der Taxifahrer sprintete mich nach Winterhude, wo ich sogar noch zu früh ankam, was aber okay war. Ich wurde kurz rumgeführt, gab vielen Leuten die Hand (wie in der Zone, süß), mir wurden die wichtigen Stationen Küche, Klo und Drucker gezeigt und dann durfte ich in meinem Einzelbüro Platz nehmen, in dem sonst ein anderer Texter sitzt, der aber die ganze Woche frei hat. Ich hatte nicht mal als Festangestellte ein Einzelbüro und fühlte mich daher sofort wie eine kleine Prinzessin. Eine Prinzessin mit einem 21-Zoll-Mac vor der Nase, neben dem mein geliebtes MacBook auf einmal wie ein Puppenstubencomputer aussah und sich auch so anfühlte. Ich will jetzt auch einen 21-Zoll-Mac für zuhause. Man kriegt überraschend wenig Kopfschmerzen, wenn man den ganzen Tag geradeaus guckt anstatt komisch nach unten. (Ob ich den ins ZI tragen kann?)
Ich habe in den Jahren des Studiums nicht mehr viel auf der Langstrecke gearbeitet, musste also keine Broschüre mehr konzipieren oder Inhalte auf 24 bis 96 Seiten verteilen. Stattdessen bekam ich meist schon viele Vorgaben, die „nur noch“ ausgetextet werden mussten. Hier darf ich wieder konzipieren und verteilen, und ich habe es sehr genossen, dass die alten Fähigkeiten sofort wieder da waren. Ich hatte ein winziges bisschen Sorge, dass ich das verlernt haben könnte, aber anscheinend ist Verkaufsliteratur wie Fahrradfahren. So tippte ich gut gelaunt Headlines, Sublines und Copyinhalte vor mich hin, bastelte mit CDeuse und Arterin einen Seitenplan, stimmte Lines ab, korrigierte, holte mir zwischendurch einen Salat zum Mittag und einen Schokoriegel für den langen Nachmittag, verkniff mir ein „Mahlzeit“ in der Küche, versuchte mir viele Namen zu merken und musste wieder Stundenzettel ausfüllen. Deren Existenz hatte ich gnädig verdrängt.
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Es ist seltsam, wieder in dieser Stadt zu sein. Ich mache hier Dinge, für die ich mal nach Hamburg gezogen bin und die ich danach fast ausschließlich in Hamburg gemacht habe. Es fühlt sich ein bisschen an, als wären die letzten fünf Jahre gar nicht passiert, ich stapfe wieder durch den Regen zu einem Bus, der mich in eine Agentur bringt. Die blöde Busansagestimme hat sich leider in den zwei Jahren meines Wegzugs nicht verändert, die ist immer noch grauenhaft. Aber gleichzeitig hat sie eben die vergangenen Jahre kurz völlig weggewischt. Ich höre sie und bin wieder die Werberin. Ich werde mich erst wieder wie eine Kunsthistorikerin fühlen, wenn ich die völlig vernuschelten Ansagen in der Münchner U-Bahn höre.
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Was mich auch sofort wieder zurückholte: der Hamburger Regen. In München ist Regen so ein bisschen Wasser von oben, bei dem man theoretisch im T-Shirt rausgehen kann, auch wenn die Münchner*innen stets so tun, als ob die Welt untergeht. In Hamburg bringt Regen gerne noch seinen Kumpel Wind mit, der dafür sorgt, dass keine Kapuze hält und kein Schirm und man grundsätzlich immer nass wird, ganz egal, wie clever man sich anzieht. Das fand ich einerseits total nervig – aber seltsamerweise auch total schön.
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Ich habe ohne nachzudenken eins der Motel Ones in der Stadt gebucht, weil ich weiß, dass die Betten da bequem sind, das Bad hübsch ist und das W-LAN funktioniert. Als ich am Mittwoch das erste Mal vom Motel aus in Richtung Bus ging, fiel mir auf, dass ich von der Bushaltestelle aus die Alster sehen kann. Auch die hatte ich völlig vergessen. Ich bin in München immer total verzückt, wenn ich die Isar sehe, das kleine Bächlein, mehr haben wir ja nicht. Das war schön, mal wieder auf eine richtige Wasserfläche zu gucken, souverän, präsent, groß und breit, da halt, Fresse, Flüsschen.
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Und dann habe ich Kai getroffen, was mich einerseits glücklich und andererseits traurig gemacht hat, aber das war wohl zu erwarten und passt gerade ganz gut in die Gesamtstimmung, in der ich hier durch den Tag treibe. Heute wird noch gearbeitet, und morgen mache ich dann die Touristin, die sich endlich die renovierte Kunsthalle mit meinem geliebten Leibl und die Elphi anguckt (wenigstens von außen). Allerdings müssen die beiden sich schon sehr lang machen, denn gestern abend habe ich in charmanter Begleitung im ältesten Block House Deutschlands gegessen. Damit ist Hamburg quasi durchgespielt.